Language of document : ECLI:EU:C:2023:699

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 21. September 2023(1)

Rechtssache C473/22

Mylan AB

gegen

Gilead Sciences Finland Oy,

Gilead Biopharmaceutics Ireland UC,

Gilead Sciences Inc.

(Vorabentscheidungsersuchen des Markkinaoikeus [Marktgericht, Finnland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Geistiges Eigentum – Ergänzendes Schutzzertifikat (ESZ) – Richtlinie 2004/48/EG – Art. 9 Abs. 7 – Inverkehrbringen von Erzeugnissen unter Verletzung der Rechte aus einem ESZ – Einstweilige Maßnahmen auf der Grundlage eines ESZ – Spätere Nichtigerklärung des ESZ und Widerruf der Maßnahmen – Folgen – Recht auf einen angemessenen Ersatz für den durch die einstweiligen Maßnahmen verursachten Schaden – Haftung der Person, die den Erlass dieser Maßnahmen beantragt, für den durch sie verursachten Schaden – Nationale Regelung, die eine verschuldensunabhängige Haftung vorsieht“






 Einleitung

1.        Wenn der Schutz, der einem Inhaber durch ein Recht des geistigen Eigentums wie ein Patent oder ein davon abgeleitetes Recht gewährt wird, ausläuft oder wenn dieses Recht als rechtlich angreifbar gilt und für nichtig erklärt werden kann, können die Wettbewerber des Inhabers versucht sein, Erzeugnisse auf den Markt zu bringen, die dieses Recht verletzen, ohne das Ende der Gültigkeit abzuwarten. Eine solch vorzeitige Markteinführung verschafft ihnen einen Wettbewerbsvorteil, da sie Marktanteile gewinnen können, bevor andere, gewissenhaftere Wettbewerber auf den Markt kommen. Dies ist insbesondere auf dem Arzneimittelmarkt üblich, auf dem die Generikahersteller gelegentlich das Auslaufen des Schutzes des Originalpräparats nicht abwarten, um in der Hoffnung, dass dieser Schutz bald ausläuft, ihr eigenes Erzeugnis auf den Markt zu bringen.

2.        Ein solches Vorgehen wird als „launch at risk“ (gefährdete Markteinführung) bezeichnet. Denn sein Urheber setzt sich dem Risiko aus, dass ihm der Inhaber Maßnahmen zum Schutz des betreffenden Rechts des geistigen Eigentums entgegenhält, die insbesondere die Form einstweiliger Maßnahmen annehmen können, die von einem Gericht angeordnet werden und die Verletzung sofort beenden sollen. In einer solchen Situation trägt der Wettbewerber des Inhabers das Risiko finanzieller Verluste, da seine Investitionen nicht rentabel werden können.

3.        Wenn jedoch nach dem Erlass einer solchen einstweiligen Maßnahme das Recht des geistigen Eigentums, dessen Schutz diese Maßnahme gewährleisten sollte, für nichtig erklärt wird oder festgestellt wird, dass keine Verletzung dieses Rechts vorlag, stellt sich die Frage nach dem Recht desjenigen, dessen wirtschaftliche Tätigkeit auf diese Weise ungerechtfertigt behindert wurde, vom Inhaber des Rechts des geistigen Eigentums, der den Erlass der einstweiligen Maßnahmen beantragt hat, Ersatz für die erlittenen Schäden zu verlangen.

4.        Während die aus dem Völkerrecht abgeleitete unionsrechtliche Vorschrift, wonach die Mitgliedstaaten in ihren internen Rechtsordnungen ein derartiges Recht auf Schadensersatz vorzusehen haben, knapp und allgemein formuliert ist, hat der Gerichtshof ihr in seinem Urteil Bayer Pharma(2) eine präzisere Bedeutung verliehen und damit den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten stärker eingegrenzt.

5.        Im vorliegenden Fall geht es darum, im Hinblick auf die Erkenntnisse aus diesem Urteil die im finnischen Recht eingeführte Haftungsregelung, die den im innerstaatlichen Recht mehrerer anderer Mitgliedstaaten geltenden Regelungen ähnelt, nämlich eine verschuldensunabhängige Haftung, zu untersuchen.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

6.        Art. 1 Abs. 1 des Übereinkommens über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (im Folgenden: TRIPS-Übereinkommen) in Anhang 1 C des Übereinkommens zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO), das am 15. April 1994 in Marrakesch unterzeichnet und mit dem Beschluss 94/800/EG des Rates vom 22. Dezember 1994 über den Abschluss der Übereinkünfte im Rahmen der multilateralen Verhandlungen der Uruguay-Runde (1986‑1994) im Namen der Europäischen Gemeinschaft in Bezug auf die in ihre Zuständigkeiten fallenden Bereiche(3) genehmigt wurde, sieht vor:

„Die Mitglieder wenden die Bestimmungen dieses Übereinkommens an. Die Mitglieder dürfen in ihr Recht einen umfassenderen Schutz als den durch dieses Übereinkommen geforderten aufnehmen, vorausgesetzt, dieser Schutz läuft diesem Übereinkommen nicht zuwider, sie sind dazu aber nicht verpflichtet. Es steht den Mitgliedern frei, die für die Umsetzung dieses Übereinkommens in ihrem eigenen Rechtssystem und in ihrer Rechtspraxis geeignete Methode festzulegen.“

7.        Art. 50 Abs. 7 dieses Übereinkommens lautet:

„Werden einstweilige Maßnahmen aufgehoben oder werden sie aufgrund einer Handlung oder Unterlassung des Antragstellers hinfällig oder wird in der Folge festgestellt, dass keine Verletzung oder drohende Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums vorlag, so sind die Gerichte befugt, auf Antrag des Antragsgegners anzuordnen, dass der Antragsteller dem Antragsgegner angemessenen Ersatz für durch diese Maßnahmen entstandenen Schaden zu leisten hat.“

 Unionsrecht

8.        Die Art. 2, 3, 5, 13 und 15 der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel(4) in ihrer zum Zeitpunkt des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung sehen vor:

Artikel 2

Für jedes im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats durch ein Patent geschützte Erzeugnis, das vor seinem Inverkehrbringen als Arzneimittel Gegenstand eines verwaltungsrechtlichen Genehmigungsverfahrens … ist, kann nach den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen und Modalitäten ein [ergänzendes Schutzzertifikat (im Folgenden: Zertifikat oder ESZ)] erteilt werden.

Artikel 3

Das Zertifikat wird erteilt, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem die Anmeldung nach Artikel 7 eingereicht wird, zum Zeitpunkt dieser Anmeldung

a)      das Erzeugnis durch ein in Kraft befindliches Grundpatent geschützt ist;

Artikel 5

Vorbehaltlich der Bestimmungen des Artikels 4 gewährt das Zertifikat dieselben Rechte wie das Grundpatent und unterliegt denselben Beschränkungen und Verpflichtungen.

Artikel 13

(1)      Das Zertifikat gilt ab Ablauf der gesetzlichen Laufzeit des Grundpatents für eine Dauer, die dem Zeitraum zwischen der Einreichung der Anmeldung für das Grundpatent und dem Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen in der [Union] entspricht, abzüglich eines Zeitraums von fünf Jahren.

Artikel 15

(1)      Das Zertifikat ist nichtig,

a)      wenn es entgegen den Vorschriften des Artikels 3 erteilt wurde;

…“

9.        Art. 3 der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums(5) lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten sehen die Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe vor, die zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums, auf die diese Richtlinie abstellt, erforderlich sind. Diese Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe müssen fair und gerecht sein, außerdem dürfen sie nicht unnötig kompliziert oder kostspielig sein und keine unangemessenen Fristen oder ungerechtfertigten Verzögerungen mit sich bringen.

(2)      Diese Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe müssen darüber hinaus wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein und so angewendet werden, dass die Einrichtung von Schranken für den rechtmäßigen Handel vermieden wird und die Gewähr gegen ihren Missbrauch gegeben ist.“

10.      Art. 9 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die zuständigen Gerichte die Möglichkeit haben, auf Antrag des Antragstellers

a)      gegen den angeblichen Verletzer eine einstweilige Maßnahme anzuordnen, um eine drohende Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums zu verhindern oder einstweilig und, sofern die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften dies vorsehen, in geeigneten Fällen unter Verhängung von Zwangsgeldern die Fortsetzung angeblicher Verletzungen dieses Rechts zu untersagen oder die Fortsetzung an die Stellung von Sicherheiten zu knüpfen, die die Entschädigung des Rechtsinhabers sicherstellen sollen; …

(3)      Im Falle der Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 müssen die Gerichte befugt sein, dem Antragsteller aufzuerlegen, alle vernünftigerweise verfügbaren Beweise vorzulegen, um sich mit ausreichender Sicherheit davon überzeugen zu können, dass der Antragsteller der Rechtsinhaber ist und dass das Recht des Antragstellers verletzt wird oder dass eine solche Verletzung droht.

(4)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die einstweiligen Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 in geeigneten Fällen ohne Anhörung der anderen Partei angeordnet werden können, insbesondere dann, wenn durch eine Verzögerung dem Rechtsinhaber ein nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen würde. In diesem Fall sind die Parteien spätestens unverzüglich nach der Vollziehung der Maßnahmen davon in Kenntnis zu setzen.

Auf Antrag des Antragsgegners findet eine Prüfung, die das Recht zur Stellungnahme einschließt, mit dem Ziel statt, innerhalb einer angemessenen Frist nach der Mitteilung der Maßnahmen zu entscheiden, ob diese abgeändert, aufgehoben oder bestätigt werden sollen.

(7)      Werden einstweilige Maßnahmen aufgehoben oder werden sie auf Grund einer Handlung oder Unterlassung des Antragstellers hinfällig … oder wird in der Folge festgestellt, dass keine Verletzung oder drohende Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums vorlag, so sind die Gerichte befugt, auf Antrag des Antragsgegners anzuordnen, dass der Antragsteller dem Antragsgegner angemessenen Ersatz für durch diese Maßnahmen entstandenen Schaden zu leisten hat.“

 Finnisches Recht

11.      Aus § 11 in Kapitel 7 der Oikeudenkäymiskaari (Prozessordnung), der Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 in finnisches Recht umsetzt, geht hervor, dass dann, wenn eine einstweilige Maßnahme auf Antrag einer Partei unnötig erwirkt wurde, diese Partei der Gegenpartei den durch diese Maßnahme und ihre Durchführung entstandenen Schaden einschließlich der entstandenen Kosten zu ersetzen hat. Dem vorlegenden Gericht zufolge wird diese Vorschrift in der Rechtsprechung der finnischen Gerichte im Sinne einer verschuldensunabhängigen Haftung ausgelegt.

 Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, Verfahren und Vorlagefragen

12.      Am 3. Dezember 2009 erteilte das Patentti- ja rekisterihallitus (Patent- und Registeramt, Finnland) auf der Grundlage des in Finnland validierten europäischen Patents Nr. FI/EP 0 915 894 (im Folgenden: in Rede stehendes Grundpatent) das ESZ Nr. 266 „Tenofovir Disoproxil (TD) und seine Salze, Hydrate, Tautomere und Solvate, in Kombination mit Emtricitabin“ (im Folgenden: in Rede stehendes ESZ) für ein antiretrovirales Arzneimittel, das für die Behandlung von Personen mit dem Human Immunodeficiency Virus (HIV) indiziert ist.

13.      Die Mylan AB bot im Frühjahr 2017 ihr Arzneimittel „EMTRICITABIN/TENOFOVIR DISOPROXIL MYLAN 200 mg/245 mg, Filmtablette“ (Generikum auf der Grundlage von Tenofovir Disoproxil und Emtricitabin, im Folgenden: in Rede stehendes Generikum) in öffentlichen Ausschreibungen zweier finnischer Gesundheitsbezirke an. Sie erhielt in diesen beiden Ausschreibungen den Zuschlag.

14.      Das in Rede stehende Grundpatent lief am 25. Juli 2017 aus. Gleichzeitig trat das in Rede stehende ESZ in Kraft.

15.      Am 15. September 2017 erhoben die Gilead Sciences Finland Oy, die Gilead Biopharmaceutics Ireland UC und die Gilead Sciences, Inc. (im Folgenden zusammen: Gilead u. a.) beim Markkinaoikeus (Marktgericht, Finnland) eine Klage gegen Mylan wegen Verletzung des in Rede stehenden ESZ und stellten einen Antrag auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen; Mylan trat der Klage und dem Antrag entgegen. Am 30. November 2017 erhob Mylan eine Klage auf Nichtigerklärung des in Rede stehenden ESZ.

16.      Mit Beschluss vom 21. Dezember 2017 gab das Markkinaoikeus (Marktgericht) dem Antrag auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen statt und untersagte Mylan unter Androhung einer Geldbuße, das in Rede stehende Generikum während der Geltungsdauer des in Rede stehenden ESZ anzubieten, in Verkehr zu bringen und zu verwenden sowie es zu diesen Zwecken einzuführen, herzustellen und zu besitzen.

17.      Am 25. Juli 2018 erließ der Gerichtshof das Urteil Teva UK u. a.(6) betreffend die Auslegung von Art. 3 der Verordnung Nr. 469/2009. Aus diesem Urteil ergibt sich, dass ein ESZ, das dem in Rede stehenden entspricht und im Vereinigten Königreich für dasselbe Markenarzneimittel erteilt wurde, für nichtig erklärt werden musste, da es entgegen dieser Vorschrift erteilt worden war.

18.      Die von Gilead u. a. gegen Mylan erwirkten einstweiligen Maßnahmen wurden auf Antrag von Mylan mit Beschluss des Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) vom 11. April 2019 aufgehoben.

19.      Mit Urteil vom 25. September 2019 erklärte das Markkinaoikeus (Marktgericht) das in Rede stehende ESZ für nichtig. Gegen dieses Urteil wurde ein Rechtsmittel beim Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) eingelegt, der mit Beschluss vom 13. November 2020 den Antrag auf Zulassung des Rechtsmittels von Gilead u. a. zurückwies und damit das Urteil des Markkinaoikeus (Marktgericht) bestätigte.

20.      Auf der Grundlage von § 11 in Kapitel 7 der Prozessordnung beantragte Mylan daraufhin bei diesem Gericht, dem vorlegenden Gericht in der hiesigen Rechtssache, Gilead u. a. zu verurteilen, an sie Schadensersatz in Höhe von 2 367 854,99 Euro zuzüglich Verzugszinsen als Ausgleich für Schäden aufgrund dieser einstweiligen Maßnahmen zu zahlen, die unnötig auf der Grundlage eines später für nichtig erklärten ESZ erwirkt worden seien.

21.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach der finnischen Rechtsprechung § 11 in Kapitel 7 der Prozessordnung eine verschuldensunabhängige Haftung, d. h. eine Gefährdungshaftung, vorsehe. Somit ist jeder, der eine einstweilige Maßnahme erwirkt, schadensersatzpflichtig, wenn das Schutzrecht des geistigen Eigentums, auf dessen Grundlage diese einstweilige Maßnahme erlassen wurde, später für nichtig erklärt wird. Unter Berücksichtigung der vom Gerichtshof im Urteil Bayer Pharma entwickelten Rechtsprechung fragt sich das vorlegende Gericht jedoch, ob eine verschuldensunabhängige Haftung als mit Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 vereinbar angesehen werden kann.

22.      Unter diesen Umständen hat das Markkinaoikeus (Marktgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist eine in Finnland geltende und auf verschuldensunabhängiger Haftung beruhende Schadensersatzregelung als mit Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 vereinbar anzusehen?

2.      Falls die erste Frage verneint wird: Auf welcher Art von Schadenshaftung beruht dann die Haftung nach Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48? Ist anzunehmen, dass es sich bei dieser Haftung um eine Form von Verschuldenshaftung, eine Form von Haftung wegen Rechtsmissbrauch oder eine Haftung aus sonstigem Grunde handelt?

3.      Bezugnehmend auf die zweite Frage: Welche Umstände sind für die Beurteilung, ob eine Haftung besteht, zu berücksichtigen?

4.      Ist, insbesondere was die dritte Frage betrifft, die Beurteilung allein auf der Grundlage der beim Erwirken einer einstweiligen Maßnahme bekannten Umstände vorzunehmen, oder darf z. B. berücksichtigt werden, dass das Recht des geistigen Eigentums, mit dessen angeblicher Verletzung die einstweilige Maßnahme begründet wurde, später, nach ihrer Erwirkung, von Beginn an nichtig erklärt wurde, und, wenn ja, welche Bedeutung wäre letztgenanntem Umstand beizumessen?

23.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 15. Juli 2022 beim Gerichtshof eingereicht worden. Schriftliche Erklärungen sind von den Parteien des Ausgangsverfahrens, der finnischen und der niederländischen Regierung sowie der Europäischen Kommission eingereicht worden. Der Gerichtshof hat beschlossen, ohne mündliche Verhandlung über die Rechtssache zu entscheiden.

 Würdigung

24.      Das vorlegende Gericht stellt vier Vorabentscheidungsfragen. Der ersten Vorlagefrage kommt die größte Bedeutung zu, da sie im Licht des Urteils Bayer Pharma die Vereinbarkeit einer verschuldensunabhängigen Haftung für Schäden, die durch unnötig erwirkte einstweilige Maßnahmen verursacht wurden, mit Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 betrifft. In den drei übrigen Vorlagefragen geht es darum, auf welche Grundlage im Fall der Unvereinbarkeit einer solchen Regelung die in dieser Vorschrift vorgesehene Haftung gestützt werden sollte. Ich werde die Vorlagefragen in der Reihenfolge prüfen, in der sie gestellt wurden.

 Zur ersten Vorlagefrage

25.      Zur Erinnerung: Im Ausgangsverfahren wurde die gegen Mylan gerichtete einstweilige Maßnahme zugunsten von Gilead u. a. erlassen, um das von diesen Unternehmen aus dem in Rede stehenden ESZ abgeleitete Recht auf geistiges Eigentum zu schützen. Da dieses ESZ anschließend für nichtig erklärt wurde, erwies sich das Recht des geistigen Eigentums als inexistent, so dass es keine Verletzung dieses Rechts gab. Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht daher im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die in den von dieser Vorschrift erfassten Situationen eine verschuldensunabhängige Haftung desjenigen vorsieht, der einstweilige Maßnahmen beantragt.

26.      Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine Auslegung der genannten Vorschrift im Licht des Urteils Bayer Pharma. Ich werde meine Würdigung daher mit einer Zusammenfassung der aus diesem Urteil gewonnenen Erkenntnisse beginnen.

 Urteil Bayer Pharma

27.      In der Rechtssache, in der das Urteil Bayer Pharma ergangen ist, ging es um die Frage, ob Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 einer im innerstaatlichen Recht eines Mitgliedstaats vorgesehenen Haftungsregelung entgegensteht, nach der dem Antragsgegner aufgrund einer unbegründeten einstweiligen Maßnahme kein Ersatz gewährt wurde, wenn der Schaden durch das Verhalten des Antragsgegners eingetreten war, sofern derjenige, der den Antrag (auf Erlass der einstweiligen Maßnahme) gestellt hat, so gehandelt hat, wie es von einer Person in seiner Lage erwartet werden darf.

28.      In seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache stellte Generalanwalt Pitruzzella zunächst fest, dass Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 darauf abziele, Art. 50 Abs. 7 des TRIPS-Übereinkommens, wonach den Unterzeichnerstaaten ein weites Ermessen eingeräumt sei und die Haftungsregelung im innerstaatlichen Recht dieser Staaten unberührt gelassen werde, auf der Ebene des Unionsrechts umzusetzen. Dasselbe muss seiner Ansicht nach auch für die Auslegung von Art. 9 Abs. 7 dieser Richtlinie gelten, vorausgesetzt, dass diese Haftungsregelung es einerseits erlaube, dem Antragsgegner zu ermöglichen, Ersatz für den gesamten erlittenen Schaden zu erwirken, und andererseits die Inhaber der Rechte des geistigen Eigentums nicht ungerechtfertigt davon abhalte, einstweilige Maßnahmen gemäß Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie zu beantragen(7).

29.      Ferner kam Generalanwalt Pitruzzella speziell in Bezug auf die Haftungsregelung, um die es in der Rechtssache ging, in der das Urteil Bayer Pharma ergangen ist, zu dem Schluss, dass Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 zwar dem nicht entgegenstehe, das Verhalten des Antragsgegners bei der Bestimmung des Rechts auf Ersatz und der Höhe des Schadensersatzes zu berücksichtigen, er jedoch dem entgegenstehe, allein den Umstand, dass dieser Antragsgegner ein Erzeugnis, das ein Recht des geistigen Eigentums verletze, auf den Markt gebracht habe, ohne die Nichtigerklärung dieses Rechts abzuwarten, ausreichen zu lassen, um ihm das Recht auf Schadensersatz zu versagen(8).

30.      Der Gerichtshof ist in seinem Urteil jedoch zu einer Lösung gelangt, die den Inhabern der Rechte des geistigen Eigentums einen umfassenderen Schutz bietet(9).

31.      Zunächst hat der Gerichtshof festgestellt, dass das TRIPS-Übereinkommen es ausdrücklich zulässt, dass seine Unterzeichner einen umfassenderen Schutz der Rechte des geistigen Eigentums als den in diesem Übereinkommen geforderten vorsehen, und dass dies genau die Wahl des Unionsgesetzgebers bei der Annahme der Richtlinie 2004/48 war. Er hat daher festgestellt, dass der Begriff „angemessener Ersatz“ in Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48, um dessen Auslegung das vorlegende Gericht in dieser Rechtssache ersucht hatte, einen autonomen Begriff des Unionsrechts darstellt, der in verschiedenen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen ist(10).

32.      Sodann hat der Gerichtshof befunden, dass es Sache der nationalen Gerichte ist, zu beurteilen, „ob der Antragsteller zu verurteilen ist, dem Antragsgegner Ersatz zu leisten“(11), wobei ein solcher Ersatz nur dann als „angemessen“ angesehen werden kann, wenn er im Hinblick auf die besonderen Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt ist. Der bloße Umstand, dass die in Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 festgelegten Bedingungen für einen solchen Ersatz erfüllt waren, d. h. die Aufhebung oder Nichtanwendung der einstweiligen Maßnahmen aufgrund der Handlung oder Unterlassung des Antragstellers oder die spätere Feststellung, dass keine Verletzung oder drohende Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums vorliegt, bedeutet nicht, dass die nationalen Gerichte automatisch und in jedem Fall verpflichtet wären, den Antragsteller zum Ersatz jedweden Schadens zu verurteilen, der dem Antragsgegner aufgrund dieser einstweiligen Maßnahmen entstanden ist(12).

33.      In seinen weiteren Ausführungen hat der Gerichtshof unter Bezugnahme auf den Kontext von Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 und insbesondere deren 22. Erwägungsgrund darauf hingewiesen, dass das Ziel dieser Vorschrift darin besteht, dem Antragsgegner den Ersatz eines Schadens zu garantieren, der ihm durch einen ungerechtfertigten Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen entstanden ist. Die Feststellung, ob ein solcher Antrag ungerechtfertigt war, setzt vor allem die Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens für den Inhaber eines Rechts des geistigen Eigentums im Fall der Verzögerung beim Erlass dieser Maßnahmen voraus(13).

34.      In Bezug auf die besonderen Umstände des Ausgangsverfahrens in der Rechtssache, in der das Urteil Bayer Pharma ergangen ist und die denen des Ausgangsverfahrens in der vorliegenden Rechtssache ähnlich sind, hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Vermarktung eines patentverletzenden Arzneimittels auf den ersten Blick die Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens darstellt, so dass der als Reaktion auf ein solches Verhalten gestellte Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen nicht von vornherein als ungerechtfertigt eingestuft werden kann(14).

35.      Da es sich um eine spätere Aufhebung der einstweiligen Maßnahmen handelte(15), hat der Gerichtshof festgestellt, dass dieser Umstand zwar eine der Voraussetzungen darstellt, die für die Ausübung der Befugnis der nationalen Gerichte zur Anordnung eines Ersatzes erforderlich sind, dass er jedoch nicht als solcher als ausreichender Beleg dafür betrachtet werden kann, dass der Antrag, der den aufgehobenen einstweiligen Maßnahmen zugrunde lag, ungerechtfertigt war. Er fügte hinzu, eine andere Auslegung könnte die Inhaber im Widerspruch zu den Zielen der Richtlinie 2004/48 davon abhalten, auf Maßnahmen nach Art. 9 Abs. 1 ff. dieser Richtlinie zurückzugreifen(16).

36.      Schließlich hat der Gerichtshof den nationalen Gerichten im Hinblick auf Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/48 die Verpflichtung auferlegt, dafür zu sorgen, dass die einstweiligen Maßnahmen von den Inhabern der Rechte des geistigen Eigentums nicht missbräuchlich verwendet werden. Zu diesem Zweck müssen die nationalen Gerichte nochmals alle Umstände der Rechtssache, über die sie zu entscheiden haben, berücksichtigen(17).

37.      Im Licht des Urteils Bayer Pharma soll die erste Vorlagefrage beantwortet werden.

 Anwendung der im Urteil Bayer Pharma gewählten Lösung auf die vorliegende Rechtssache

38.      Vor diesem Hintergrund ist nunmehr zu prüfen, ob Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 in der Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil Bayer Pharma dem entgegensteht, dass die darin vorgesehene Haftung desjenigen, der den Erlass der einstweiligen Maßnahmen beantragt hat, in der innerstaatlichen Rechtsordnung eines Mitgliedstaats eine verschuldensunabhängige Haftung ist.

39.      Ich muss gleich zu Beginn darauf hinweisen, dass dies meines Erachtens der Fall zu sein scheint.

40.      Es ist zwar klar, dass Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48, wie die Beteiligten, die in der vorliegenden Rechtssache Erklärungen abgegeben haben, hervorheben, die in den Mitgliedstaaten im Rahmen der Umsetzung dieser Vorschrift zu erlassende Haftungsregelung nicht positiv bestimmt und dass das Urteil Bayer Pharma daran nichts ändert.

41.      Gleichwohl steht fest, dass eine verschuldensunabhängige Haftung, die auch als „Gefährdungshaftung“, „objektive Haftung“ oder im Englischen als „strict liability“ bezeichnet wird, dadurch gekennzeichnet ist, dass die Haftung der betreffenden Person allein aufgrund der Eigenschaft dieser Person ausgelöst wird(18), ohne dass die geschädigte Partei irgendein Fehlverhalten dieser Person nachweisen muss. Mit anderen Worten, die verschuldensunabhängige Haftung erfolgt automatisch und unabhängig von den besonderen Umständen des Einzelfalls. Insbesondere wird die haftbar gemachte Person von dieser Haftung nicht frei, wenn ihr kein Verschulden vorzuwerfen ist. Nur in einigen Rechtsordnungen wird dieser Grundsatz objektiver Haftung durch außergewöhnliche Umstände wie höhere Gewalt oder einen entscheidenden Beitrag des Geschädigten oder eines Dritten zum Schadenseintritt abgeschwächt(19).

42.      Genau dem steht jedoch Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 in der Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil Bayer Pharma entgegen. Nach den Ausführungen des Gerichtshofs verlangt diese Vorschrift nämlich, dass das nationale Gericht, das befugt ist, gegenüber der einstweilige Maßnahmen beantragenden Person anzuordnen, dem Antragsgegner den durch diese Maßnahmen entstandenen Schaden zu ersetzen, wenn sie unnötig erwirkt wurden, alle Umstände des Einzelfalls prüfen kann, um zu beurteilen, ob ein solcher Ersatz anzuordnen ist. Dies ist der Fall, wenn der Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen ungerechtfertigt war, wobei zu beachten ist, dass die bloße Aufhebung dieser Maßnahmen oder die Feststellung, dass keine Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums vorliegt, nicht ausreicht, um zu belegen, dass dieser Antrag ungerechtfertigt war.

43.      Natürlich kann man versuchen, wie es einige Beteiligte, die in der vorliegenden Rechtssache Erklärungen eingereicht haben, tun, haarspalterisch nach diesem oder jenem Merkmal einer bestimmten verschuldensunabhängigen Haftung zu suchen, um darzutun, dass sie mit Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 und dem Urteil in der Rechtssache Bayer Pharma in Einklang steht.

44.      Meiner Ansicht nach schließt die Auslegung dieser Vorschrift, wie sie in Nr. 41 der vorliegenden Schlussanträge zusammengefasst wird, jedoch schlichtweg aus, dass die Haftung gemäß dieser Vorschrift eine verschuldensunabhängige Haftung darstellt. Die besonderen Merkmale einer bestimmten Haftungsregelung können an dieser Feststellung nichts ändern.

45.      Dies gilt insbesondere für den vom vorlegenden Gericht hervorgehobenen Umstand, dass im finnischen System das Verhalten des Antragsgegners bei der Bestimmung der Höhe des Ersatzes berücksichtigt werden kann. Der Gerichtshof hat im Urteil Bayer Pharma ausdrücklich gefordert, dass die nationalen Gerichte bei der Beurteilung, ob ein Ersatz zu gewähren ist, die Umstände jedes Einzelfalls berücksichtigen müssen. Eine Verringerung der Höhe des Ersatzes dann, wenn die Haftung im Grundsatz aufrechterhalten wird, reicht nicht aus, um diese Anforderung zu erfüllen.

 Ergänzende Erwägungen

46.      Ich möchte hinzufügen, dass die sich aus dem Urteil Bayer Pharma ergebende Auslegung von Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 meines Erachtens vollkommen im Einklang mit Sinn und Systematik dieser Richtlinie steht. Denn es ist wichtig, diese Vorschrift unter Berücksichtigung der verschiedenen Bestandteile ihres Kontexts auszulegen.

47.      Zunächst müssen sämtliche in Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 enthaltenen Vorschriften berücksichtigt werden.

48.      Der Gerichtshof hat im Urteil Bayer Pharma ausgeführt, dass dann, wenn die Aufhebung der einstweiligen Maßnahmen als solche als ausreichender Beleg dafür betrachtet würde, dass der Antrag, der diesen Maßnahmen zugrunde lag, ungerechtfertigt war, der Inhaber des in jener Rechtssache fraglichen Patents davon abgehalten werden könnte, auf Maßnahmen nach Art. 9 der Richtlinie 2004/48 zurückzugreifen, was dem Ziel dieser Richtlinie, der Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für geistiges Eigentum, zuwiderliefe(20). Diese Erwägung verdient meiner Meinung nach weitere Ausführungen.

49.      In dem fraglichen Artikel ist das Recht der Inhaber verankert, zum Schutz ihrer Rechte des geistigen Eigentums einstweilige Maßnahmen gegen jeden Verletzer, einschließlich eines potenziellen Verletzers, zu beantragen, um eine drohende Verletzung dieser Rechte zu verhindern. Das ist der Hauptzweck jenes Artikels.

50.      Nur zu dem Zweck der Abwägung der Interessen aller Beteiligten sieht Art. 9 Abs. 5 bis 7 der Richtlinie 2004/48 Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Antragsgegner vor, indem es dort heißt, dass die einstweiligen Maßnahmen aufgehoben werden müssen, wenn der Antragsteller in der Sache untätig bleibt, und dass etwaige Schäden, die dem Antragsgegner aufgrund der unnötigerweise erwirkten einstweiligen Maßnahmen entstanden sind, vom Antragsteller ersetzt werden müssen. Diese Vorschriften sollen dem missbräuchlichen Rückgriff auf einstweilige Maßnahmen vorbeugen.

51.      Die genannten Vorschriften würden jedoch der praktischen Wirksamkeit von Art. 9 der Richtlinie 2004/48 insgesamt zuwiderlaufen, wenn sie so ausgelegt und in nationales Recht umgesetzt würden, dass dem Antragsteller ein unverhältnismäßiges Risiko auferlegt würde, der anderen Partei aufgrund der Maßnahmen, die ihm zum Schutz seiner Rechte des geistigen Eigentums gewährt wurden, Ersatz leisten zu müssen. Nach der Logik dieses Artikels wird das Risiko nicht gleichmäßig zwischen dem Inhaber der Rechte des geistigen Eigentums und dem Verletzer – oder potenziellen Verletzer – dieser Rechte verteilt. Letzterer ist es, der ein Risiko eingeht, wenn er ein Recht des geistigen Eigentums auch nur potenziell verletzt. Er kann dies bewusst tun, wenn er die Stellung des Inhabers für schwach hält, z. B. aufgrund der Angreifbarkeit seines Rechts. Er entscheidet jedoch in voller Kenntnis der Sachlage, ob er dieses Risiko tragen will oder nicht.

52.      Andererseits würde es dem Sinn und dem Ziel von Art. 9 der Richtlinie 2004/48 zuwiderlaufen, wenn aus der Verteidigung der Rechte des geistigen Eigentums durch den Inhaber eine risikobehaftete Tätigkeit gemacht würde. Solange ihm kein Fehlverhalten vorgeworfen werden kann, sollte es dem Inhaber freistehen, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen, einschließlich der in Art. 9 der Richtlinie vorgesehenen, in vollem Umfang zu nutzen, ohne durch die Aussicht der negativen Folgen einer Inanspruchnahme dieser Maßnahmen davon abgehalten zu werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich das betreffende Recht des geistigen Eigentums aus einer behördlichen Entscheidung ergibt, wie etwa – was in der vorliegenden Rechtssache der Fall ist – einem Patent oder einem ESZ, und die Hinfälligkeit der einstweiligen Maßnahmen das Ergebnis der Nichtigerklärung dieses Rechts ist. Der Inhaber sollte auf eine solche Entscheidung vertrauen können und nicht das Risiko eines möglichen Mangels tragen müssen.

53.      Außerdem greifen die in Art. 9 der Richtlinie 2004/48 vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen per definitionem dem Ausgang des Rechtsstreits in der Sache nicht vor. Wenn aber eine automatische Haftung der Partei, die solche einstweiligen Maßnahmen beantragt hat, jedes Mal vorgesehen würde, wenn sie aus irgendeinem Grund in der Sache nicht obsiegt, würde der einstweilige Charakter dieser Maßnahmen verfälscht, was wie gesagt dem Ziel dieser Vorschrift zuwiderliefe.

54.      Zweitens müssen alle Vorschriften dieser Richtlinie und insbesondere ihre allgemeinen Regeln berücksichtigt werden.

55.      Die finnische Regierung erläutert in ihren Erklärungen, dass die verschuldensunabhängige Haftung desjenigen, der den Erlass der einstweiligen Maßnahmen beantrage, nach finnischem Recht das Gegenstück dafür sei, dass diese Maßnahmen, die quasi automatisch gewährt würden, sehr leicht zu erlangen seien. Würde der Grundsatz der verschuldensunabhängigen Haftung aufgegeben, wären nach Ansicht dieser Regierung die Gerichte gezwungen, die Begründetheit der Ansprüche des Antragstellers genauer zu prüfen, was keine willkommene Entwicklung wäre.

56.      Ich teile diese letzte Ansicht nicht. Die Haltung der finnischen Regierung zeugt sozusagen etwas von einem „Wildwest“-Ansatz in Bezug auf die durch Art. 9 der Richtlinie 2004/48 geschaffenen Beziehungen: auf der einen Seite der Sheriff (der Inhaber eines Rechts des geistigen Eigentums), auf der anderen Seite der Pistolero (der Verletzer oder potenzielle Verletzer), und möge der am schnellsten Ziehende (d. h. im Wesentlichen derjenige mit den besten Anwälten) gewinnen. Diese Vorstellung von der Verteidigung der Rechte des geistigen Eigentums als juristischem O.K. Corral(21) scheint mir jedoch nicht diejenige des Unionsgesetzgebers bei der Verabschiedung der Richtlinie 2004/48 und insbesondere ihres Art. 9 gewesen zu sein.

57.      Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/48 verlangt nämlich, dass die darin vorgesehenen Maßnahmen wirksam und abschreckend sein müssen, aber auch verhältnismäßig und so angewendet, dass die Errichtung von Schranken für den rechtmäßigen Handel vermieden wird und die Gewähr gegen ihren Missbrauch gegeben ist. Die Anwendung dieser Maßnahmen unterliegt hauptsächlich der Verantwortung der nationalen Gerichte. Es sind also die nationalen Gerichte, die sich vergewissern müssen, dass die von den Inhabern der Rechte des geistigen Eigentums beantragten Maßnahmen und insbesondere die einstweiligen Maßnahmen prima facie gerechtfertigt sind. Nur eine richterliche Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Antrags kann sicherstellen, dass die erlassenen einstweiligen Maßnahmen verhältnismäßig sind, keine Hindernisse für den rechtmäßigen Handel schaffen und nicht missbräuchlich sind.(22) Dies ist im Übrigen ausdrücklich in Art. 9 Abs. 3 dieser Richtlinie vorgesehen, der die Gerichte ermächtigt, von demjenigen, der den Erlass einstweiliger Maßnahmen beantragt, alle Beweise zu verlangen, dass sein Antrag gerechtfertigt ist. Diese Vorschrift wäre gegenstandslos, wenn diese Maßnahmen automatisch erlassen werden müssten.

58.      Die Berücksichtigung der Begründetheit des Antrags und allgemeiner der Abwägung der Interessen zweier Parteien beim Erlass einstweiliger Maßnahmen erscheint mir daher im Hinblick auf die Ziele der Richtlinie 2004/48 erforderlich. Die Wachsamkeit der für die Anordnung der einstweiligen Maßnahmen zuständigen Gerichte muss daher den ersten Schutz gegen die missbräuchliche Nutzung dieser Maßnahmen durch die Inhaber der Rechte des geistigen Eigentums bilden(23).

59.      Was hingegen das Bemühen um ein zügiges Verfahren betrifft, weise ich darauf hin, dass Art. 9 Abs. 4 der Richtlinie 2004/48 in äußerst dringenden Fällen den Erlass einstweiliger Maßnahmen ohne Anhörung des Antragsgegners gestattet, vorbehaltlich einer Prüfung auf Antrag des Antragsgegners, die zur Abänderung, Aufhebung oder Bestätigung dieser Maßnahmen führen kann. Damit die praktische Wirksamkeit dieser Vorschrift gewährleistet ist, darf die etwaige Abänderung oder Aufhebung dieser Maßnahmen nach der Prüfung selbstverständlich nicht zu dem Schluss führen, dass der Antragsteller automatisch haftet.

60.      Die nationalen Gerichte müssten daher gemäß Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2004/48 mit einer gewissen Vorsicht die in dieser Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen, darunter die in Art. 9 Abs. 1 und 2 der genannten Richtlinie erwähnten einstweiligen Maßnahmen, anordnen. Diese Vorsicht sollte sich sodann in der in Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie aufgenommenen Haftungsregelung widerspiegeln.

61.      In der Regel kommt die verschuldensunabhängige Haftung in drei Fallgestaltungen zur Anwendung: aufgrund einer risikobehafteten Tätigkeit, die u. a. mit der Verwendung im Rahmen einer Tätigkeit der „Naturgewalten“ zusammenhängt, die ihr Nutzer nicht vollständig beherrscht, aufgrund von Handlungen Dritter, für die der Betroffene haftet, wie Angestellte oder minderjährige Kinder, und schließlich aufgrund von „Nachbarschaftsstreitigkeiten“, d. h. Schäden im Zusammenhang mit der Nutzung eines Gebäudes. Dagegen entspricht es meines Erachtens nicht dem Sinn und der Logik der Richtlinie 2004/48, dass die Antragsteller der in Art. 9 dieser Richtlinie vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen automatisch für die diese Maßnahmen betreffenden Beschlüsse haftbar gemacht werden, die nach eingehender Prüfung des Antrags von den nationalen Gerichten getroffen werden. Die Haftung dieser Antragsteller sollte vielmehr, wie sich aus dem Urteil Bayer Pharma ergibt, auf Fehler bei ihrem eigenen Verhalten, insbesondere bei der Stellung des Antrags auf Erlass einstweiliger Maßnahmen, beschränkt werden.

62.      Schließlich sind drittens sämtliche Vorschriften des Unionsrechts im Bereich des geistigen Eigentums zu berücksichtigen.

63.      Auch wenn sich die Richtlinie 2004/48 stark an Teil III des TRIPS-Übereinkommens(24) anlehnt und dessen Umsetzung auf der Ebene des Unionsrechts darstellt, ist sie doch Teil des viel umfassenderen Vorhabens der Harmonisierung der materiellen Vorschriften über die verschiedenen Kategorien von Rechten des geistigen Eigentums, insbesondere Patenten, Marken, Mustern und Modellen sowie Urheberrechten und verwandten Schutzrechten. Ihre Aufgabe besteht darin, den Schutz dieser Rechte auf einem hohen, gleichwertigen und homogenen Niveau zu gewährleisten(25).

64.      Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 muss daher nicht nur im Kontext des Arzneimittelmarkts oder des Patentrechts, sondern auch in verschiedenen Bereichen des Rechts des geistigen Eigentums und in verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten einheitlich ausgelegt werden. Die Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien des Rechtsstreits hinsichtlich dieser verschiedenen Rechte des geistigen Eigentums sind jedoch sehr unterschiedlich. Somit erlaubt es meines Erachtens nur die Berücksichtigung aller Umstände einer Rechtssache durch das mit der Anordnung eines etwaigen Ersatzes befasste Gericht, zu einer jeder Situation angemessenen Lösung zu gelangen. Es ist daher unerlässlich, dass das innerstaatliche Recht eines jeden Mitgliedstaats eine solche Berücksichtigung dieser Umstände gestattet.

 Vorschlag zur Beantwortung der ersten Vorlagefrage

65.      Meines Erachtens schließen sowohl die vom Gerichtshof im Urteil Bayer Pharma entwickelten Lösungen als auch die Systematik und die Ziele der Richtlinie 2004/48 aus, dass die in Art. 9 Abs. 7 dieser Richtlinie vorgesehene Haftung unter eine verschuldensunabhängige Haftungsregelung fällt, wie sie in das finnische Recht aufgenommen wurde. Da es jedoch Sache der Mitgliedstaaten ist, diese Haftungsregelung auszugestalten, muss die Antwort auf diese Frage abstrakter formuliert werden, damit ihr Handlungsspielraum nicht unangemessen eingeschränkt wird.

66.      Ich schlage daher vor, auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die in den in dieser Vorschrift geregelten Fällen eine Haftung desjenigen, der den Erlass einstweiliger Maßnahmen beantragt, vorsieht und die es dem mit einer Klage auf Ersatz des durch diese Maßnahmen verursachten Schadens befassten Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob dieser Ersatz anzuordnen ist, nicht gestattet, neben den in dieser Vorschrift aufgeführten Voraussetzungen dieser Haftung auch andere relevante Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.

 Zur zweiten bis zur vierten Vorlagefrage

67.      Die Vorlagefragen 2 bis 4 sind für den Fall gestellt worden, dass sich aus der Antwort auf die erste Vorlagefrage ergeben sollte, dass Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 einer verschuldensunabhängigen Haftung für Schäden entgegensteht, die durch unnötig erwirkte einstweilige Maßnahmen verursacht wurden. In Anbetracht der von mir vorgeschlagenen Antwort auf die erste Frage sind die zweite, die dritte und die vierte Vorlagefrage zu prüfen.

 Zur zweiten Vorlagefrage

68.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, welche Art von Haftungsregelung mit Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 vereinbar ist.

69.      Wie ich bereits erwähnt habe, schreibt diese Vorschrift kein konkretes Haftungssystem vor, so dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, diese Regelung festzulegen und zu gestalten.

70.      Aus meinem Antwortvorschlag auf die erste Vorlagefrage ergibt sich jedoch ohne Weiteres, dass die Haftungsregelung nach Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 es dem mit einem Antrag auf Ersatz des durch unnötig erwirkte einstweilige Maßnahmen entstandenen Schadens befassten Gericht gestatten muss, neben den in dieser Vorschrift aufgezählten Voraussetzungen dieser Haftung auch andere relevante Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, um zu beurteilen, ob dieser Ersatz anzuordnen ist. Sollte der Gerichtshof diesem Antwortvorschlag folgen, bedarf es damit meines Erachtens keiner gesonderten Antwort auf die zweite Vorlagefrage.

 Zur dritten und zur vierten Vorlagefrage

71.      Mit seiner dritten und seiner vierten Frage, für die ich eine gemeinsame Prüfung vorschlage, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, welche Umstände das mit einem Antrag auf Schadensersatz nach Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 befasste Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob dieser Ersatz anzuordnen ist, berücksichtigen muss.

72.      Wie die Kommission zu Recht bemerkt, können schwerlich alle Umstände erschöpfend aufgezählt werden, zu deren Berücksichtigung das Gericht in einer solchen Situation veranlasst sein könnte. Das Urteil Bayer Pharma liefert hierzu jedoch einige Hinweise allgemeiner Art.

73.      Gemäß diesem Urteil folgt die Haftung desjenigen, der den Erlass einstweiliger Maßnahmen beantragt hat, daraus, dass die von ihm beantragten Maßnahmen ungerechtfertigt sind. Die Frage, ob sie gerechtfertigt sind, beurteilt sich danach, ob die Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens besteht, der ihm ohne solche einstweilige Maßnahmen entstanden wäre. Der Umstand, dass die einstweiligen Maßnahmen aufgehoben wurden – oder allgemeiner, dass die Voraussetzungen, unter denen die Haftung des Antragstellers gemäß Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 vorgesehen ist, erfüllt sind –, stellt für sich genommen keinen Beweis dafür dar, dass dieser Antrag ungerechtfertigt war(26)

74.      Daraus folgt erstens, dass das mit einer Schadensersatzklage nach Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 befasste Gericht die Umstände zu berücksichtigen hat, aufgrund deren es beurteilen kann, ob der Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen gerechtfertigt war. Der Vollständigkeit halber sei ergänzt: Eine solche Beurteilung muss sich meines Erachtens nicht nur auf den ursprünglichen Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen erstrecken, sondern auch auf das spätere Verhalten des Antragstellers hinsichtlich der etwaigen Aufrechterhaltung, Verlängerung oder Erneuerung dieser Maßnahmen. Denn ob ein solcher Antrag gerechtfertigt war, kann sich je nach den Umständen wie der Entwicklung des Rechtsstreits zwischen dem Antragsteller und seiner Gegenpartei ändern.

75.      Zweitens muss das Gericht ganz offensichtlich die Umstände berücksichtigen, die nach dem Antrag, dem Erlass und dem Vollzug der einstweiligen Maßnahmen eingetreten sind. Es handelt sich insbesondere um die in Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 genannten Umstände, nämlich die Aufhebung einstweiliger Maßnahmen (und die Gründe für diese Aufhebung) und die Feststellung, dass keine Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums vorlag. Diese Umstände sind jedoch nicht als eine nachträgliche Bestätigung dafür, dass der Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen ungerechtfertigt war, zu berücksichtigen, sondern bei der Beurteilung der Frage, ob der Antrag zum Zeitpunkt seiner Einreichung (oder zum Zeitpunkt der Stellung von Folgeanträgen) gerechtfertigt war.

76.      Beispielsweise kann die Nichtigerklärung des betreffenden Rechts des geistigen Eigentums nach dem Erlass einstweiliger Maßnahmen ein Indiz für den Irrtum des Antragstellers bei der Beurteilung der Begründetheit seiner Ansprüche sein. Sollte sich dieser Irrtum jedoch in einem bestimmten Fall als entschuldbar erweisen, kann er nicht zur Haftung des Antragstellers führen, da sonst die praktische Wirksamkeit von Art. 9 der Richtlinie 2004/48 insgesamt in Frage gestellt würde(27).

77.      Die Frage, ob ein Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen gerechtfertigt ist, ist drittens vor dem Hintergrund der Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens für den Antragsteller, d. h. definitionsgemäß anhand der Wahrscheinlichkeit eines solchen Schadens, zu beurteilen. Diese Wahrscheinlichkeit betrifft nicht nur den Eintritt eines die Interessen des Antragstellers schädigenden Ereignisses, sondern auch die Legitimität dieser Interessen selbst, insbesondere die Gültigkeit des betreffenden Rechts des geistigen Eigentums. Die etwaige spätere Nichtigerklärung dieses Rechts bedeutet daher nicht, dass zum Zeitpunkt des Antrags auf Erlass einstweiliger Maßnahmen die Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens nicht bestand.

78.      Schließlich können viertens die Aufhebung der vorläufigen Maßnahmen oder die Feststellung, dass keine Verletzung oder drohende Verletzung eines Rechts des geistigen Eigentums vorliegt, ein Indiz dafür sein, dass derjenige, der diese Maßnahmen beantragt hat, missbräuchlich gehandelt hat. Ein solcher Missbrauch ist meines Erachtens mit einem ungerechtfertigten Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen gleichzusetzen und verpflichtet zum Ersatz der durch diesen Antrag verursachten Schäden, wie der Gerichtshof im Urteil Bayer Pharma im Wesentlichen befunden hat(28).

79.      Somit macht Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 zwar keine näheren Angaben zu den konkreten Gründen für die von ihm vorgesehene Haftung, doch ist es dennoch möglich, den zuständigen Gerichten Hinweise zu den Umständen zu geben, die bei ihrer Beurteilung zu berücksichtigen sind. Ich schlage daher vor, auf die dritte und die vierte Vorlagefrage zu antworten, dass das mit einer Schadensersatzklage nach Art. 9 Abs. 7 dieser Richtlinie befasste Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob dieser Ersatz anzuordnen ist, neben den in dieser Vorschrift aufgezählten Voraussetzungen dieser Haftung auch andere relevante Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen hat, die sowohl vor als auch nach dem fraglichen Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen eingetreten sind und die ihm die Beurteilung der Frage ermöglichen, ob der Antrag im Hinblick auf die Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens, der dem Antragsteller ohne solche Maßnahmen entstanden wäre, gerechtfertigt war.

 Ergebnis

80.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Markkinaoikeus (Marktgericht, Finnland) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums

ist dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, die in den in dieser Vorschrift geregelten Fällen eine Haftung desjenigen, der den Erlass einstweiliger Maßnahmen beantragt, vorsieht und die es dem mit einer Klage auf Ersatz des durch diese Maßnahmen verursachten Schadens befassten Gericht bei der Beurteilung der Frage, ob dieser Ersatz anzuordnen ist, nicht gestattet, neben den in dieser Vorschrift aufgeführten Voraussetzungen dieser Haftung auch andere relevante Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen.

2.      Das mit einer Schadensersatzklage nach Art. 9 Abs. 7 der Richtlinie 2004/48 befasste Gericht hat bei der Beurteilung der Frage, ob dieser Ersatz anzuordnen ist, neben den in dieser Vorschrift aufgezählten Voraussetzungen dieser Haftung auch andere relevante Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, die sowohl vor als auch nach dem fraglichen Antrag auf Erlass einstweiliger Maßnahmen eingetreten sind und die ihm die Beurteilung der Frage ermöglichen, ob der Antrag im Hinblick auf die Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Schadens, der dem Antragsteller ohne solche Maßnahmen entstanden wäre, gerechtfertigt war.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Urteil vom 12. September 2019 (C‑688/17, im Folgenden: Urteil Bayer Pharma, EU:C:2019:722).


3      ABl. 1994, L 336, S. 1.


4      ABl. 2009, L 152, S. 1.


5      ABl. 2004, L 157, S. 45, Berichtigung, ABl. 2004, L 195, S. 16.


6      C‑121/17, EU:C:2018:585.


7      Schlussanträge des Generalanwalts Pitruzzella in der Rechtssache Bayer Pharma (C‑688/17, EU:C:2019:324, Nrn. 26 bis 48).


8      Schlussanträge des Generalanwalts Pitruzzella in der Rechtssache Bayer Pharma (C‑688/17, EU:C:2019:324, Nrn. 49 bis 60).


9      Eine solche Auslegung des Bayer-Pharma-Urteils findet sich auch in der Literatur. Siehe u. a. Dijkman, L., „CJEU rules that repeal of provisional measure does not automatically create liability for wrongful enforcement“, Journal of Intellectual Property Law & Practice, Nr. 12, 2019, S. 917; de Haan, T., „The CJEU sides with IP right holders: the Bayer Pharma judgment (C‑688/17) and the consequences of the Europeanisation of provisional and precautionary measures relating to IP rights“, European Intellectual Property Review, Nr. 11, 2020, S. 767; Tilmann, W., „Consequences of the CJEU’s Bayer v Richter decision“, Journal of Intellectual Property Law & Practice, Nr. 6, 2022, S. 526; kritisch Felthun, R., u. a., „Compensating wrongly restrained defendants in pharmaceutical patent cases: recent developments in the EU, England and Australia“, Bio-Science Law Review, Nr. 6, 2020, S. 234, und Sztoldman, A., „Compensation for a wrongful enforcement of a preliminary injunction under the Enforcement Directive (2004/48/EC)“, European Intellectual Property Review, Nr. 11, 2020, S. 721.


10      Urteil Bayer Pharma (Rn. 47 bis 49).


11      Urteil Bayer Pharma (Rn. 51) (Hervorhebung nur hier).


12      Urteil Bayer Pharma (Rn. 51 und 52).


13      Urteil Bayer Pharma (Rn. 60 bis 62).


14      Urteil Bayer Pharma (Rn. 63).


15      Im Ausgangsverfahren in dieser Rechtssache wurden diese einstweiligen Maßnahmen wegen eines Verfahrensmangels für nichtig erklärt, später jedoch nicht erneuert, da das Verfahren zur Nichtigerklärung des Patents, das die Grundlage für diese Maßnahmen bildete, vorangeschritten war und das Patent schließlich für nichtig erklärt wurde (vgl. Urteil Bayer Pharma, Rn. 23 bis 26).


16      Urteil Bayer Pharma (Rn. 64 und 65).


17      Urteil Bayer Pharma (Rn. 68 bis 70).


18      Und natürlich des Eintretens eines Schadens.


19      Zur verschuldensunabhängigen Haftung siehe beispielhaft Knetsch, J., „The Role of Liability without Fault“, in Borghetti, J.‑S., Whittaker, S. (Hrsg.), French Civil Liability in Comparative Perspective, Hart Publishing, Oxford, 2019, S. 123 bis 142, und Szpunar, A., „La responsabilité sans faute dans le droit civil polonais“, Revue internationale de droit comparé, Nr. 1, 1959, S. 19 bis 33.


20      Urteil Bayer Pharma (Rn. 64 und 65). Eine vergleichbare Bemerkung enthielten bereits die Schlussanträge des Generalanwalts Pitruzzella in der Rechtssache Bayer Pharma (C‑688/17, EU:C:2019:324, Nr. 47).


21      Ich beziehe mich hier natürlich auf den berühmten Western von John Sturges aus dem Jahr 1957 Gunfight at the O.K. Corral.


22      Siehe in diesem Sinne Sikorski, R., „Patent Injunctions in the European Union Law“, in Sikorski, R. (Hrsg.), Patent Law Injunctions, Kluwer Law International, 2018, S. 22.


23      Darauf hat der Gerichtshof im Übrigen bereits im Urteil Bayer Pharma (Rn. 66 bis 70) hingewiesen.


24      Dieser Teil trägt den Titel „Durchsetzung der Rechte des geistigen Eigentums“.


25      Vgl. u. a. Erwägungsgründe 3 und 10 der Richtlinie 2004/48.


26      Urteil Bayer Pharma (Rn. 60, 62 und 64).


27      Vgl. Nrn. 48 bis 52 der vorliegenden Schlussanträge und Urteil Bayer Pharma (Rn. 65).


28      Rn. 66 bis 70.