Language of document : ECLI:EU:C:2013:530

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

PEDRO CRUZ VILLALÓN

vom 5. September 2013(1)

Rechtssache C‑327/12

Ministero dello Sviluppo Economico,

Autorità per la Vigilanza sui Contratti Pubblici di lavori, servizi e forniture

gegen

Soa Nazionale Costruttori – Organismo di Attestazione Spa

(Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato [Italien])

„Private Gesellschaften, die damit beauftragt sind, die Erfüllung der Voraussetzungen zu prüfen und zu zertifizieren, die das Gesetz von Unternehmen verlangt, die sich um öffentliche Bauaufträge bewerben – Von der Regierung festgelegte verbindliche Mindestgebühren – Art. 106 AEUV – Wettbewerbsvorschriften – Begriff des ‚Unternehmens‘ – Begriff der ‚besonderen oder ausschließlichen Rechte‘ – Niederlassungsfreiheit – Art. 49 AEUV – Rechtfertigung“





1.        Der Consiglio di Stato bringt mit der im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen gestellten Frage seine Zweifel zum Ausdruck, ob die italienische gesetzliche Regelung über verbindliche Mindestgebühren, die für sogenannte „Società organismi di attestazione“ (im Folgenden: SOA) gelten, die ermächtigt sind, die Leistungsfähigkeit von Unternehmen zu zertifizieren, die an Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge teilnehmen wollen, mit dem Unionsrecht vereinbar sind.

2.        Die vorliegende Rechtssache ermöglicht es dem Gerichtshof erneut, zu einer nationalen verbindlichen Gebührenregelung Stellung zu nehmen, allerdings in einem bisher noch nicht behandelten Kontext. In der Rechtssache Arduino(2) hatte der Gerichtshof bereits Gelegenheit, sich mit der italienischen Regelung über verbindliche Mindestgebühren für Rechtsanwälte im Licht der Wettbewerbsvorschriften (Art. 101 AEUV und 106 AEUV) auseinanderzusetzen. Danach hatte sich der Gerichtshof im Rahmen der Rechtssache Cipolla(3) erneut mit dieser Regelung auseinanderzusetzen, hier allerdings unter dem Gesichtspunkt der Dienstleistungsfreiheit (Art. 54 AEUV). Die vorliegende Rechtssache hingegen betrifft halböffentliche Einrichtungen, die auf einem von Wettbewerb gekennzeichneten Markt tätig sind und deren Aufgabe die Ausstellung von Bescheinigungen von besonders hohem rechtlichen und wirtschaftlichen Wert ist; es sind diese Umstände, die für sich allein genommen diese Rechtssache von allen anderen abheben.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

3.        Die Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge räumt den Mitgliedstaaten in ihrem Art. 52 die Möglichkeit zur Einrichtung von Zertifizierungsstellen ein, die öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich sein können.

Artikel 52

Amtliche Verzeichnisse zugelassener Wirtschaftsteilnehmer und Zertifizierung durch öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Stellen

(1) Die Mitgliedstaaten können entweder amtliche Verzeichnisse zugelassener Bauunternehmer, Lieferanten oder Dienstleistungserbringer oder eine Zertifizierung durch öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Stellen einführen.

Die Mitgliedstaaten passen die Bedingungen für die Eintragung in diese Verzeichnisse sowie für die Ausstellung der Bescheinigungen durch die Zertifizierungsstellen an Artikel 45 Absatz 1 und Absatz 2 Buchstaben a bis d und g, Artikel 46, Artikel 47 Absätze 1, 4 und 5, Artikel 48 Absätze 1, 2, 5 und 6, Artikel 49 und gegebenenfalls Artikel 50 an.

Die Mitgliedstaaten passen die Bedingungen ferner an die Bestimmungen des Artikels 47 Absatz 2 und des Artikels 48 Absatz 3 an, sofern Anträge auf Eintragung von Wirtschaftsteilnehmern gestellt werden, die zu einer Gruppe gehören und sich auf die von anderen Unternehmen der Gruppe bereitgestellten Kapazitäten stützen. Diese Wirtschaftsteilnehmer müssen in diesem Falle gegenüber der das amtliche Verzeichnis herausgebenden Behörde nachweisen, dass sie während der gesamten Geltungsdauer der Bescheinigung über ihre Eintragung in ein amtliches Verzeichnis über diese Kapazitäten verfügen und dass die Eignungskriterien, die nach den in Unterabsatz 2 genannten Artikeln vorgeschrieben sind und auf die sie sich für ihre Eintragung berufen, von den betreffenden anderen Unternehmen in diesem Zeitraum fortlaufend erfüllt werden.

(2) Wirtschaftsteilnehmer, die in solchen amtlichen Verzeichnissen eingetragen sind oder über eine Bescheinigung verfügen, können dem öffentlichen Auftraggeber bei jeder Vergabe eine Bescheinigung der zuständigen Stelle über die Eintragung oder die von der zuständigen Zertifizierungsstelle ausgestellte Bescheinigung vorlegen. In diesen Bescheinigungen sind die Nachweise, aufgrund deren die Eintragung in das Verzeichnis/die Zertifizierung erfolgt ist, sowie die sich aus dem Verzeichnis ergebende Klassifizierung anzugeben.

(3) Die von den zuständigen Stellen bescheinigte Eintragung in die amtlichen Verzeichnisse bzw. die von der Zertifizierungsstelle ausgestellte Bescheinigung stellt für die öffentlichen Auftraggeber der anderen Mitgliedstaaten nur eine Eignungsvermutung in Bezug auf Artikel 45 Absatz 1 und Absatz 2 Buchstaben a bis d und g, Artikel 46, Artikel 47 Absatz 1 Buchstaben b und c sowie Artikel 48 Absatz 2 Buchstabe a Ziffer i und Buchstaben b, e, g und h für Bauunternehmer, Absatz 2 Buchstabe a Ziffer ii und Buchstaben b, c, d und j für Lieferanten sowie Absatz 2 Buchstabe a Ziffer ii und Buchstaben c bis i für Dienstleistungserbringer dar.

(4) Die Angaben, die den amtlichen Verzeichnissen bzw. der Zertifizierung zu entnehmen sind, können nicht ohne Begründung in Zweifel gezogen werden. Hinsichtlich der Zahlung der Sozialbeiträge und der Zahlung von Steuern und Abgaben kann bei jeder Vergabe von jedem in das Verzeichnis eingetragenen Wirtschaftsteilnehmer eine zusätzliche Bescheinigung verlangt werden.

Öffentliche Auftraggeber aus anderen Mitgliedstaaten wenden die Bestimmungen von Absatz 3 und des Unterabsatzes 1 des vorliegenden Absatzes nur zugunsten von Wirtschaftsteilnehmern an, die in dem Mitgliedstaat ansässig sind, in dem das amtliche Verzeichnis geführt wird.

(5) Für die Eintragung von Wirtschaftsteilnehmern aus anderen Mitgliedstaaten in ein amtliches Verzeichnis bzw. für ihre Zertifizierung durch die in Absatz 1 genannten Stellen können nur die für inländische Wirtschaftsteilnehmer vorgesehenen Nachweise und Erklärungen gefordert werden, in jedem Fall jedoch nur diejenigen, die in den Artikeln 45 bis 49 und gegebenenfalls in Artikel 50 genannt sind.

Eine solche Eintragung oder Zertifizierung kann jedoch den Wirtschaftsteilnehmern aus anderen Mitgliedstaaten nicht zur Bedingung für ihre Teilnahme an einer Ausschreibung gemacht werden. Die öffentlichen Auftraggeber erkennen gleichwertige Bescheinigungen von Stellen in anderen Mitgliedstaaten an. Sie erkennen auch andere gleichwertige Nachweise an.

(7) Die in Absatz 1 genannten Zertifizierungsstellen sind Stellen, die die europäischen Normen für die Zertifizierung erfüllen.

…“

B –    Nationales Recht

4.        Das Gesetz Nr. 109 vom 11. Februar 1994 zur Reform der italienischen Rechtsvorschriften im Bereich der öffentlichen Bauaufträge hat ein sogenanntes „einheitliches Qualifizierungssystem“ eingeführt, das zwingend auf alle Unternehmen Anwendung findet, die sich an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Bauauftrags mit einem Volumen von mehr als 150 000 Euro beteiligen möchten. Das Gesetz, das mit der den Mitgliedstaaten von Art. 52 der Richtlinie eingeräumten Möglichkeit im Einklang steht, verlangt von den betreffenden Unternehmen eine Zertifizierung, mit der die Erfüllung technischer und finanzieller Mindestvoraussetzungen bescheinigt wird und für die ausschließlich die SOA zuständig sind.

5.        Nach dem Dekret des Präsidenten der Republik (im Folgenden: Präsidialdekret) Nr. 34 vom 25. Januar 2000, das im Jahr 2010 durch das Präsidialdekret Nr. 207 vom 5. Oktober 2010 geändert und ergänzt worden ist, sind SOA dem Privatrecht unterliegende Aktiengesellschaften mit privatem Kapital, die, nachdem sie eine Zulassung von der Autorità per la Vigilanza sui Contratti Pubblici di lavori, servizi e forniture (Aufsichtsbehörde für öffentliche Bau-, Liefer- und Dienstleistungsaufträge; im Folgenden: nationale Aufsichtsbehörde) erhalten haben, auf dem Markt tätig sein dürfen. In dieser Regelung werden die Voraussetzungen für die Zulassung von SOA sowie die Kriterien in Bezug auf die Autonomie und die Unabhängigkeit aufgeführt, die diese bei der Ausübung ihrer Tätigkeiten gewährleisten müssen. Zugleich ist der ausschließliche Gesellschaftszweck der SOA die Zertifizierung von Unternehmen, die sich an Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge beteiligen.

6.        In Art. 70 Abs. 4 und 5 des Präsidialdekrets Nr. 207 werden im Zusammenhang mit den Gebühren der SOA folgende Regeln aufgestellt:

„(4) Für jede Eignungszertifizierung oder ihre Erneuerung sowie alle damit zusammenhängenden Überprüfungs- und Änderungstätigkeiten ist ein Entgelt zu entrichten, das in Abhängigkeit vom Gesamtvolumen und von der Zahl der allgemeinen oder speziellen Kategorien, für die die Zertifizierung beantragt wird, gemäß den in Anhang C Teil I aufgeführten Formeln festgelegt wird. Bei ständigen Kartellen vermindert sich das der SOA für die jeweilige Tätigkeit zustehende Entgelt um 50 %; bei Unternehmen, die bis zur Volumenklasse II zertifiziert werden, vermindert sich das der SOA für die jeweilige Tätigkeit zustehende Entgelt um 20 %.

(5) Die gemäß Abs. 4 festgelegten Beträge gelten als Mindestentgelte für die erbrachte Dienstleistung. Der geschuldete Betrag darf nicht mehr als das Zweifache des anhand der in Abs. 4 genannten Kriterien festgelegten Entgelts betragen. Jede entgegenstehende Vereinbarung ist nichtig. …“

7.        Das Präsidialdekret Nr. 207 legt auch das System zur Berechnung des Grundentgelts in der Weise fest, dass sich die Gebühren nach dem Umfang des Bauauftrags oder der Bauaufträge richten, an denen sich das antragstellende Unternehmen beteiligen wird, sowie der Zahl der Ausschreibungen, um die es sich bewerben will. Zu diesem Zweck sind die öffentlichen Bauaufträge in Kategorien eingeteilt, die wiederum in Unterordnungen aufgeteilt sind, damit jeder Verfahrenstyp den Voraussetzungen angepasst wird, die von der SOA zu prüfen sind.

8.        Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass in Italien zurzeit etwa 30 SOA tätig sind, die auf dem relevanten Markt miteinander im Wettbewerb stehen.

II – Sachverhalt und Ausgangsverfahren

9.        Nach dem Inkrafttreten des (auch als „Bersani-Dekret“ bezeichneten) Decreto-legge Nr. 223/2006 über die Aufhebung der verbindlichen Mindestgebühren bei der Ausübung beruflicher Tätigkeiten hat die italienische Verwaltung mit zwei Bescheiden – einem Bescheid der nationalen Aufsichtsbehörde sowie einem weiteren Bescheid des Ministerio dello Sviluppo Economico (Ministerium für Wirtschaftsentwicklung; im Folgenden: Ministerium) – festgestellt, dass das vorgenannte Decreto-legge auf die von den SOA erbrachten Dienstleistungen nicht anwendbar sei.

10.      Die SOA Nazionale Costruttori Organismo di Attestazione SpA (im Folgenden: SOA Nazionale) erhob gegen die beiden Bescheide beim Tribunale Regionale del Lazio eine verwaltungsgerichtliche Klage. Diesem Rechtsstreit traten als Streithelferinnen zur Unterstützung der beklagten Verwaltungsbehörden die beiden als SOA tätigen Unternehmen Cqop (im Folgenden: Cqop) und Associazione Unionsoa (im Folgenden: Unionsoa) bei.

11.      Aus den Akten geht hervor, dass sich die Klägerin in der ersten Instanz, die SOA Nazionale, zurzeit in Liquidation befindet.

12.      Am 18. Mai 2011 gab das Tribunale Regionale del Lazio der verwaltungsgerichtlichen Klage statt und stellte fest, dass das Decreto-legge Nr. 223/2006 auf die von den SOA erbrachten Dienstleistungen anwendbar sei.

13.      Das Ministerium und die nationale Aufsichtsbehörde, die die für nichtig erklärten Bescheide erlassen hatten, sowie die Streithelferinnen legten beim Consiglio di Stato gegen das erstinstanzliche Urteil Rechtsmittel ein.

14.      Mit Entscheidung vom 6. März 2012 hat der Consiglio di Stato beschlossen, dem Gerichtshof im Wege des Vorabentscheidungsersuchens eine Frage vorzulegen. In der betreffenden Entscheidung hat das vorlegende Gericht über das Rechtsmittel teilweise entschieden und im Übrigen – in Erwartung der Antwort des Gerichtshofs auf seine Frage, ob eine Regelung über verbindliche Mindestgebühren, wie sie die Präsidialdekrete Nr. 34 vom 25. Januar 2000 und Nr. 207 vom 5. Oktober 2010 vorsehen, mit dem Unionrecht vereinbar ist – das bei ihm anhängige Verfahren ausgesetzt.

III – Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

15.      Am 10. Juli 2012 ist bei der Kanzlei des Gerichtshof das Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato mit folgender Frage eingegangen:

Stehen die wettbewerbsrechtlichen Grundsätze der Gemeinschaft und die Art. 101, 102 und 106 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union der Anwendung der im Präsidialdekret Nr. 34 vom 25. Januar 2000 und im Präsidialdekret Nr. 207 vom 5. Oktober 2010 für die Zertifizierungstätigkeit der SOA vorgesehenen Gebühren entgegen?

16.      Schriftliche Erklärungen sind von der SOA Nazionale, der Cqop, der Unionsoa, der Italienischen Republik und der Europäischen Kommission eingereicht worden.

17.      In der mündlichen Verhandlung, die am 16. Mai 2013 abgehalten worden ist, haben die vorgenannten Parteien mündliche Erklärungen abgegeben.

IV – Zur Zulässigkeit

18.      Unionsoa hat geltend gemacht, die Vorlagefrage sei unzulässig, weil sie hypothetisch sei. In Anbetracht der Tatsache, dass sich die SOA Nazionale derzeit in Liquidation befinde, stelle sich die Frage nach den praktischen Auswirkungen einer eventuellen Vorabentscheidung des Gerichtshofs auf das vor dem Consiglio di Stato geführte Verfahren. Gegen dieses Vorbringen wendet die SOA Nazionale ein, dass die Entscheidung des Gerichtshofs in jedem Fall im Hinblick auf die zukünftige Erhebung einer Schadenshaftungsklage von Nutzen bleibe.

19.      Nach ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann das Ersuchen eines nationalen Gerichts nur zurückweisen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(4).

20.      Dies ist jedoch beim Vorabentscheidungsersuchen des Consiglio di Stato nicht der Fall, da – wie die SOA Nazionale selbst vorgetragen hat – die Antwort, die das Gericht geben wird, unabhängig von ihren möglichen Auswirkungen die zukünftige Situation der SOA Nazionale beeinflussen wird, wenn es zu einer Schadensersatzklage kommt. Deshalb bin ich der Auffassung, dass sich das Verfahren einen hinreichenden Zusammenhang mit der Realität und dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits bewahrt, die einer Einstufung als hypothetisch entgegensteht. All dies sollte den Gerichtshof meines Erachtens dazu veranlassen, die Vorlagefrage für zulässig zu erklären.

V –    Zur Vorlagefrage

A –    Vorbemerkung

21.      Der Consiglio di Stato fragt den Gerichtshof, ob die für SOA geltende Regelung über verbindliche Mindestgebühren mit den Art. 101 AEUV, 102 AEUV und 106 AEUV vereinbar sind – Vorschriften, die alle die Regelung des Wettbewerbs im Binnenmarkt betreffen. Die Kommission hingegen hat sowohl in ihren schriftlichen als auch in ihren mündlichen Erklärungen die Ansicht vertreten, dass die genannten Vorschriften nicht einschlägig seien, und stattdessen vorgeschlagen, die angegriffenen nationalen Bestimmungen unter dem Gesichtspunkt der Niederlassungsfreiheit zu prüfen. Aus den von mir nachfolgend dargelegten Gründen sprechen gewichtige Argumente für die von der Kommission vertretene vorgenannte Grundsatzposition. Nicht ohne Grund hat sich der Gerichtshof schriftlich an die Parteien des vorliegenden Verfahrens gewandt und diese ersucht, sich in der mündlichen Verhandlung zur Frage der Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit Art. 49 AEUV zu äußern.

22.      Wie ich sogleich erläutern werde, stimme ich mit der von der Kommission vertretenen Auffassung überein. Ich bin – mit anderen Worten – der Ansicht, dass die Vorlagefrage leicht umformuliert werden muss. Zunächst werde ich mich, dem Vorschlag des Consiglio di Stato folgend, mit der Anwendbarkeit der Art. 101 AEUV, 102 AEUV und 106 AEUV auseinandersetzen. Nachdem aufgezeigt worden ist, dass diese Vorschriften für die Lösung des vorliegenden Rechtsstreits nicht einschlägig sind, werde ich mich anschließend mit der Regelung über verbindliche Mindestgebühren im Licht der in Art. 49 AEUV verankerten Niederlassungsfreiheit beschäftigen. Da die Parteien Gelegenheit hatten, zu dem letztgenannten Aspekt – auf Anregung des Gerichtshofs – in der mündlichen Verhandlung Stellung zu nehmen, ist es möglich, sich mit diesem Aspekt inhaltlich auseinanderzusetzen, ohne Gefahr zu laufen, gegen den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens zu verstoßen.

B –    Die verbindlichen Mindestgebühren und die Art. 101 AEUV, 102 AEUV und 106 AEUV

23.      Der Consiglio di Stato sieht die SOA als „Unternehmen“ im Sinne der Art. 101 AEUV, 102 AEUV und 106 AEUV an. Von diesem Standpunkt ausgehend, hält es der Consiglio di Stato für erforderlich, die Frage zu klären, ob es sich um Unternehmen mit „besonderen oder ausschließlichen Rechten“ handelt und, falls ja, inwieweit die Regelung über die verbindlichen Mindestgebühren gegen den aus den Art. 101 AEUV, 102 AEUV und 106 AEUV bestehenden Regelungskomplex verstößt.

24.      Hierzu haben die am Verfahren Beteiligten gegensätzliche Ansichten vertreten. Auf der einen Seite sind Unionsoa, Cqop und die italienische Regierung mit einigen Nuancierungen der Auffassung, dass die SOA in der Tat „Unternehmen“ mit „besonderen oder ausschließlichen Rechten“ seien, deren Regelung über verbindliche Mindestgebühren durch das Ziel gerechtfertigt werde, die Unabhängigkeit und die Qualität des Dienstes zu gewährleisten. Auf der anderen Seite sieht SOA Nazionale zwar die Art. 101 AEUV, 102 AEUV und 106 AEUV als einschlägig an, gelangt aber zu dem entgegengesetzten Ergebnis. Ihrer Ansicht nach werden die Unabhängigkeit und die Qualität des Dienstes durch diejenigen Vorschriften gewährleistet, denen die SOA unterworfen sind, einschließlich einer strengen Sanktionsregelung. Der SOA Nazionale zufolge sind diese Bestimmungen allein ausreichend, um die Unabhängigkeit und Qualität des Dienstes zu gewährleisten.

25.      Die Europäische Kommission hat eine gänzlich andere Herangehensweise an das Problem vorgeschlagen. Die Art. 101 AEUV, 102 AEUV und 106 AEUV sind ihrer Ansicht nach auf das vorliegende Verfahren nicht anwendbar, weil dieses eine staatliche Normsetzungstätigkeit (die durch Dekret erlassene Regelung über die verbindlichen Mindestgebühren) zum Gegenstand habe. Die Europäische Kommission sieht unter diesen Umständen Art. 49 AEUV, der die Niederlassungsfreiheit gewährleistet, als einschlägige Vorschrift an.

26.      Auch der Umstand, dass die SOA mit öffentlicher Gewalt verbundene Aufgaben wahrnehmen, ist in den Schriftsätzen und mündlichen Ausführungen der am Verfahren Beteiligten immer wieder erwähnt worden, wenn auch unter Gesichtspunkten, die nicht immer übereinstimmen. Während für Unionsoa, Cqop und die italienische Regierung diese Zertifizierungsaufgaben, die früher vom Staat wahrgenommen worden seien, die Existenz „besonderer oder ausschließlicher Rechte“ bestätigen, die ihrerseits die in Rede stehende Regelung rechtfertige, hat dieser Umstand für die Kommission und SOA Nazionale keine Auswirkungen auf die Lösung der Rechtssache, unabhängig davon, ob Art. 106 AEUV oder Art. 49 AEUV auszulegen sei.

27.      Zwar ermöglicht es Art. 106 AEUV in Verbindung mit den Art. 101 AEUV und 102 AEUV den Mitgliedstaaten, bestimmte Unternehmen mit der Erfüllung einer Aufgabe zu betrauen, die grundsätzlich das Funktionieren des Marktes beeinträchtigen könnte. Die Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten solche Maßnahmen treffen dürfen, sind jedoch sehr streng und unterliegen einer Verhältnismäßigkeitskontrolle. Im vorliegenden Fall sind meines Erachtens die Voraussetzungen für die Anwendung der Spezialregelung des Art. 106 AEUV nicht gegeben, was es entbehrlich macht, sich mit der Verhältnismäßigkeit der streitigen Maßnahme auseinanderzusetzen.

28.      Für die Prüfung der Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit Art. 106 AEUV in Verbindung mit entweder Art. 101 AEUV oder Art. 102 AEUV ist es nämlich erforderlich, dass der von der Maßnahme Begünstigte ein „Unternehmen“ ist und „besondere oder ausschließliche Rechte“ genießt. Dies ist der Ausgangspunkt, um die Anwendbarkeit der genannten Vorschriften auf ein staatliches Handeln zu bestimmen.

29.      Es steht außer Zweifel, dass die SOA in ihrer derzeitigen Ausgestaltung Unternehmen im Sinne von Art. 106 AEUV sind. Diese Feststellung wird durch eine umfangreiche Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt. Bereits in den 90er Jahren hat der Gerichtshof in der Rechtssache Höfner und Elser ausgeführt, dass der Begriff des „Unternehmens“ „jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung“, umfasst(5). Unter einer „wirtschaftlichen Tätigkeit“ wiederum ist „jede Tätigkeit, die darin besteht, Güter oder Dienstleistungen auf einem bestimmten Markt anzubieten“, zu verstehen(6).

30.      Die Tatsache, dass das „Unternehmen“ mit öffentlicher Gewalt verbundene Aufgaben wahrnimmt, ist nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit der Nichtanwendung von Art. 106 AEUV. Soweit zu der Tätigkeit eine aktive Marktteilnahme gehört, bei der Waren und Dienstleistungen angeboten werden, mit denen unmittelbar oder mittelbar ein Gewinn erzielt wird, ist davon auszugehen, dass das Unternehmen in den Anwendungsbereich der Art. 101 AEUV, 102 AEUV und 106 AEUV fällt(7).

31.      Das trifft genau auf die SOA zu, bei denen es sich um Privatunternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht handelt, die mit der Erbringung einer technischen Zertifizierungsdienstleistung betraut sind, für die sie eine Gegenleistung erhalten. Die Tatsache, dass die Zertifizierung mit einer Rechtmäßigkeitsvermutung versehen ist, die unmittelbare Auswirkungen bei öffentlichen Vergabeverfahren hat, ändert nichts daran, dass die SOA auf einem von Wettbewerb gekennzeichneten Markt tätige Wirtschaftsteilnehmer sind. Deshalb bin ich der Auffassung, dass die von der Rechtsprechung verlangten Voraussetzungen, damit eine Einrichtung als „Unternehmen“ im Sinne der Art. 101 AEUV, 102 AEUV und 106 AEUV angesehen werden kann, eindeutig erfüllt sind.

32.      Größere Schwierigkeiten könnte das zweite Erfordernis bereiten, dass die Zuerkennung von „besonderen oder ausschließlichen Rechten“ durch den Staat betrifft. Die Rechtsprechung hat bei der Definition dieser Rechte einen gewissen Spielraum gelassen, aber die Hauptwesenszüge dieser Rechte sind bereits hinreichend festgelegt. In der Rechtssache Ambulanz Glöckner(8) hat der Gerichtshof nämlich – dem Vorschlag von Generalanwalt Jacobs folgend – ausgeführt, dass unter „besonderen und ausschließlichen Rechten“ die Verleihung eines „Schutzes“ an „eine begrenzte Zahl von Unternehmen durch Rechtsvorschrift“ zu verstehen ist, „der die Fähigkeit anderer Unternehmen, die fragliche wirtschaftliche Tätigkeit im selben Gebiet zu im Wesentlichen gleichen Bedingungen auszuüben, wesentlich beeinträchtigen kann“.

33.      Diese Definition der „besonderen oder ausschließlichen Rechte“ passt zu der Entwicklung, die sich in der Rechtsprechung feststellen lässt(9). Im Großen und Ganzen müssen die Rechte durch eine materielle „Rechtsvorschrift“, die eine bestimmte Förmlichkeit und Beständigkeit aufweist, zuerkannt werden. Außerdem muss sich es sich um „Rechte“ handeln, die so konzipiert sind, dass sie auch ein Privileg einschließen, d. h. sie müssen einigen Wirtschaftsteilnehmern einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den anderen verschaffen. Dieser Vorteil kann sich infolge einer selektiven Zuerkennung an einige Wirtschaftsteilnehmer ergeben; diese Fallgestaltung wird von der Kategorie der „besonderen Rechte“ erfasst(10). Wird der Vorteil einem einzigen Wirtschaftsteilnehmer zuerkannt, würde es sich deshalb um ein „ausschließliches Recht“ handeln.

34.      Die SOA zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine Befugnis ausüben, die zuvor der italienische Staat wahrgenommen hat: die Ex-ante-Bewertung der Unternehmen hinsichtlich ihrer technischen und wirtschaftlichen Fähigkeit, einen öffentlichen Bauauftrag auszuführen. Im Fall der SOA hat diese Bewertung gegebenenfalls eine Zertifizierung in Gestalt einer Urkunde zur Folge, die zwar eine Privaturkunde ist, der das Gesetz aber besondere Beweiskraft beigibt. Insoweit nehmen die SOA eine Aufgabe wahr, die ausdrücklich durch eine „Rechtsvorschrift“ übertragen worden ist und aufgrund deren die Unternehmen über besondere Befugnisse verfügen, die anderen Wirtschaftsteilnehmern nicht eingeräumt sind.

35.      Die SOA sind jedoch auf einem Markt tätig, der insofern stark eingegrenzt ist, als kein wechselseitiger Wettbewerb mit anderen Dienstleistungen besteht. Das heißt, die Zertifizierung von für öffentliche Bauaufträge geeigneten Unternehmen ist eine Dienstleistung, die weder unmittelbar noch mittelbar mit irgendeiner anderen Dienstleistung im Wettbewerb steht, da es keine ähnlichen Dienstleistungen gibt, die ein Unternehmen in Anspruch nehmen kann, damit es sich an der Ausschreibung eines öffentlichen Bauauftrags in Italien beteiligen kann. In einem solchen Kontext eines Marktes, der sich als „abgeschlossen“ bezeichnen lässt, schließt der Umstand, dass alle SOA die besonderen Befugnisse wahrnehmen, die nach dem Willen des Gesetzgebers dem Privatsektor übertragen worden sind, jegliche Gefahr eines Wettbewerbsvorteils zulasten eines anderen Marktteilnehmers aus. Es gibt keinen Wirtschaftsbereich, der dadurch beeinträchtigt würde, dass den SOA durch Gesetz die Befugnis übertragen worden ist, die vorliegend in Rede stehenden Zertifizierungen vorzunehmen. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, dass der italienische Staat den SOA „besondere oder ausschließliche Rechte“ im Sinne von Art. 106 AEUV zuerkannt hat. Somit steht auch – offensichtlich – fest, dass diese Vorschrift im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist.

36.      Unbeschadet dieser Feststellung, und wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat, bedeutet der Umstand, dass sich Art. 106 AEUV als nicht anwendbar erweist, nicht zwangsläufig, dass die staatliche Tätigkeit, bei der es sich im vorliegenden Fall um eine Regelung über verbindliche Mindestgebühr handelt, jeglicher Kontrolle im Licht der Vertragsbestimmungen über den Wettbewerb entzogen wäre. Unabhängig davon, ob ein Mitgliedstaat einem oder mehreren „Unternehmen“ „besondere oder ausschließliche Rechte“ zuerkennt, kann die staatliche Tätigkeit gegen Art. 101 AEUV oder 102 AEUV verstoßen, wenn sie in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV, d. h. im Licht der Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit, ausgelegt werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs dürfen die Mitgliedstaaten aufgrund der Wettbewerbsvorschriften in Verbindung mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit keine Maßnahmen – auch nicht in Form von Gesetzen oder Verordnungen – treffen oder beibehalten, die die Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben könnten. Dies wäre nach der Rechtsprechung der Fall, „wenn ein Mitgliedstaat Kartellabsprachen vorschreibt oder erleichtert oder seiner eigenen Regelung dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, dass er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt“(11).

37.      Der Gerichtshof hatte bereits Gelegenheit, diese Rechtsprechung auf einen Fall von verbindlichen Mindestgebühren anzuwenden, nämlich die Gebührenregelung für italienische Rechtsanwälte, die von der Regierung auf Vorschlag eines repräsentativen Berufsverbands erlassen worden war. In der Rechtssache Arduino und danach in der Rechtssache Cipolla gelangte der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Entscheidung der Regierung, auf Vorschlag einer berufsständischen Vereinigung eine Regelung über verbindliche Mindestgebühren zu erlassen, keine „Übertragung der Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen auf private Wirtschaftsteilnehmer“ darstellt, weil es der Regierung jederzeit freistand, von dem Vorschlag abzuweichen und eine als geeigneter anzusehende Gebührenregelung zu erlassen.

38.      Im Unterschied zu der vorhergehenden Fallgestaltung lässt sich im vorliegenden Fall noch nicht einmal feststellen, dass die SOA oder eine der sie vertretenden Organisationen am Verfahren zum Erlass der verbindlichen Mindestgebühren beteiligt sind. Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Unterlagen geht hervor, dass es sich um eine rein öffentliche Entscheidung handelt, die der Regierung unter Beachtung vorgegebener Kriterien zusteht. Schließlich macht das Fehlen einer Konzertierung bei diesem Entscheidungsprozess aus der Gebührenregelung für die SOA keine staatliche Maßnahme, die privaten Wirtschaftsteilnehmern übertragen worden ist, und hierin liegt auch kein Vorschreiben oder Erleichtern von „Kartellabsprachen“ im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung. Deshalb bin ich der Ansicht, dass Art. 102 AEUV oder 102 AEUV in Verbindung mit Art. 4 EUV ebenfalls nicht anwendbar ist.

39.      Im Ergebnis gelange ich in Anbetracht des Vorstehenden zu der Auffassung, dass sich im allgemeinen Status der SOA keine Zuerkennung von besonderen oder ausschließlichen Rechten widerspiegelt, wodurch die Anwendung von Art. 106 Abs. 1 AEUV auf den vorliegenden Fall ausgeschlossen ist. In Anbetracht des konkreten Gegenstands des vorliegenden Rechtsstreits können auch die Art. 101 AEUV und 102 AEUV in Verbindung mit Art. 4 EUV keine Anwendung finden, da die für SOA geltende italienische Regelung über verbindliche Mindestgebühren Kartellabsprachen weder vorschreibt oder erleichtert noch der eigenen Regelung dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, dass er die Verantwortung für in die Wirtschaft eingreifende Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt.

C –    Die verbindlichen Mindestgebühren und Art. 49 AEUV

40.      Unbeschadet der vorstehenden Erwägungen ist die Europäische Kommission der Ansicht, dass die vorliegende Rechtssache unter dem Gesichtspunkt der Niederlassungsfreiheit geprüft werden müsse. In diesem Sinne hat sie angeregt, der Gerichtshof möge im vorliegenden Fall über die Auslegung von Art. 49 AEUV entscheiden. Wie bereits erwähnt, hat der Gerichtshof in Anbetracht dieser Anregung der Europäischen Kommission den Parteien vor der mündlichen Verhandlung eine schriftliche Frage zugesandt und diese ersucht, zu diesem Aspekt Stellung zu nehmen.

41.      In der mündlichen Verhandlung sind nur die Europäische Kommission und die italienische Regierung diesem Ersuchen nachgekommen, wobei sie allerdings entgegengesetzte Positionen vertreten haben. Während die Europäische Kommission die von den SOA durchgeführte Tätigkeit nicht als eine mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbundene Tätigkeit ansieht, geht die italienische Regierung davon aus, dass dies der Fall ist. Was den Verstoß gegen diese Grundfreiheit betrifft, hat die Kommission die Auffassung vertreten, dass es sich insoweit um eine nicht gerechtfertigte Beschränkung handele, als sie über das zur Erreichung der im Allgemeininteresse verfolgten legitimen Ziele Erforderliche hinausgehe. Die italienische Regierung ist hingegen der Ansicht, dass es die Gewährleistung von Qualität und Unabhängigkeit bei der Erbringung der Dienstleistungen der SOA mehr als rechtfertige, verbindliche Mindestgebühren vorzuschreiben.

42.      Bevor auf die Frage selbst eingegangen werden kann, ist ein Aspekt anzusprechen, auf den die Italienische Republik während der mündlichen Verhandlung hingewiesen hat. Nach Auffassung dieses Mitgliedstaats wird der hier angesprochene Fall dadurch gekennzeichnet, dass sich der gesamte Sachverhalt innerhalb eines einzigen Staates abgespielt hat. Die SOA Nazionale, eine in Liquidation befindliche Gesellschaft mit Sitz in Italien, fechte eine italienische Maßnahme an, ohne dass ihre unmittelbaren Wettbewerber Unternehmen mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten wären oder dass sie Dienstleistungen in Italien erbracht hätte. Deshalb gibt es nach Ansicht der italienischen Regierung keinen grenzüberschreitenden Anknüpfungspunkt, der die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit begründen würde.

43.      Obgleich sich alle Anknüpfungspunkte in der vorliegenden Rechtssache auf das Hoheitsgebiet eines einzigen Staates beschränken, bin ich der Meinung, dass der Gerichtshof für eine Entscheidung in Bezug auf die Niederlassungsfreiheit zuständig ist. Denn es ist ständige und gefestigte Rechtsprechung, dass der Gerichtshof zu einer rein innerstaatlichen Frage Stellung nehmen darf, wenn seine Antwort in diesem Fall dem vorlegenden Gericht ermöglicht, eine umgekehrte Diskriminierung im Licht seines innerstaatlichen Rechts zu lösen. Diese Möglichkeit, die in der Rechtsprechung des Gerichtshofs seit der Rechtssache Guimont(12) besteht, findet ausschließlich auf die Verkehrsfreiheiten Anwendung, und zwar einschließlich – seit den Urteilen in den Rechtssachen Cipolla, Blanco Pérez und Chao Gómez sowie Duomo Gpa u. a.(13) – der Niederlassungsfreiheit. Deshalb ist der Gerichtshof unter strikter Beschränkung auf die Zwecke der Auslegung von Art. 49 AEUV zuständig, zur Auslegung dieser Vorschrift in einer Rechtssache wie der vorliegenden Stellung zu nehmen.

1.      Die Ausnahme des Art. 51 AEUV wegen Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind

44.      Die italienische Regierung und mittelbar auch Unionsoa und Cqop sind der Auffassung, dass die von den SOA durchgeführten Tätigkeiten eine Übertragung öffentlicher Befugnisse mit sich brächten, die diese Tätigkeiten dem Anwendungsbereich der Freiheiten entzögen. Ihrer Ansicht nach nehmen die SOA eine Verwaltungstätigkeit im materiellen Sinne wahr, die diese Einrichtungen in eine Vergabebehörde verwandeln, zumindest was die Bewertung der technischen und finanziellen Anforderungen angeht, die von den Bieterunternehmen verlangt werden können.

45.      Zwar haben die SOA eine Aufgabe übernommen, die herkömmlicherweise von der italienischen öffentlichen Verwaltung wahrgenommen wurde; der Gerichtshof hatte jedoch in seiner Rechtsprechung bereits aus verschiedenen Anlässen Gelegenheit, zu Art. 51 AEUV Stellung zu nehmen, ohne dass er sich bislang für eine Anwendung dieser Vorschrift auf eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgesprochen hätte. In der Tat ist die Rechtsprechung dadurch gekennzeichnet, dass sie die genannte Vorschrift in einer insgesamt restriktiven Weise auslegt; ein repräsentatives Beispiel hierfür ist der Fall der Notare, deren Tätigkeit vom Gerichtshof nicht als Ausübung öffentlicher Gewalt eingestuft worden ist(14).

46.      In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen lässt sich schwerlich die Schlussfolgerung ziehen, dass eine SOA, deren Gewinnerzielungsabsicht auf einem vom Wettbewerb gekennzeichneten Markt offensichtlich ist, in den Genuss des Art. 51 AEUV kommen könnte. Dass die Tätigkeit der SOA keine Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne dieser Vorschrift ist, wird durch die Urteile des Gerichtshofs in den Rechtssachen Kommission/Portugal(15) und Kommission/Deutschland(16) bestätigt, die beide Unternehmen betreffen, die durch Gesetz mit der Durchführung von Zertifizierungstätigkeiten betraut waren.

47.      Im Urteil Kommission/Portugal musste der Gerichtshof nämlich entscheiden, ob die Tätigkeit von Unternehmen zur technischen Überwachung von Fahrzeugen mit der Ausübung „öffentlicher Gewalt“ im Sinne des Art. 51 AEUV einherging. Die Überwachungstätigkeit ist bekanntermaßen eine Form der Zertifizierungstätigkeit, die privaten Unternehmen übertragen worden ist. In dieser Rechtssache wies der Gerichtshof allerdings darauf hin, dass „die Entscheidung über die Erteilung oder Versagung der Bescheinigung der technischen Überprüfung, die im Wesentlichen nur das Protokoll über die Ergebnisse der technischen Besichtigung umsetzt, zum einen der Entscheidungsautonomie entbehrt, die der Ausübung hoheitlicher Befugnisse eigen ist, und zum anderen im Rahmen einer unmittelbaren staatlichen Aufsicht ergeht“(17). Deshalb gelangte der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die überwachenden Unternehmen den die Verkehrsfreiheiten betreffenden Regelungen des Vertrags unterworfen blieben.

48.      Zu demselben Ergebnis gelangte der Gerichtshof bei der Prüfung der Frage, ob private Kontrollstellen für Erzeugnisse des ökologischen Landbaus eine Tätigkeit durchführen, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist. Ebenso wie in der Rechtssache Kommission/Portugal wurde im Urteil Kommission/Deutschland die Bedeutung der staatlichen Aufsicht über die privaten Zertifizierungsstellen betont. Der Gerichtshof hob hervor, dass „die privaten Kontrollstellen ihre Tätigkeit unter aktiver Überwachung durch die zuständige Behörde ausüben, die letztlich die Verantwortung für die Kontrollen und Entscheidungen dieser Stellen trägt, wie die in der vorstehenden Randnummer [dieses Urteils] genannten Pflichten dieser Behörde belegen“(18). Infolgedessen verblieb die eigentliche öffentliche Aufgabe in den Händen des Staates und nicht in denen der Zertifizierungsunternehmen, so dass diese den Verkehrsfreiheiten unterworfen blieben.

49.      Wenn wir uns nun mit der von den SOA wahrgenommenen Tätigkeit beschäftigen, ist festzustellen, dass ihre Aufgabe in der Tat darin besteht, Zertifizierungen vorzunehmen, die sich auf die Erfüllung gesetzlich vorgegebener technischer Anforderungen gründen. Zwar weist die Ausgabe dieser Zertifizierungen weiterhin einige der Merkmale auf, die die Tätigkeit früher kennzeichneten, als sie noch vom Staat wahrgenommen wurde, da es sich um Rechtsakte handelt, für die eine ähnliche Rechtmäßigkeitsvermutung gilt wie für Maßnahmen der Verwaltung. Dennoch handelt es sich zugleich um eine geregelte, technische Tätigkeit. Die SOA verfügen zwar über einen Beurteilungsspielraum, aber über einen Beurteilungsspielraum technischer Art, der sich innerhalb eines Rahmens von Kriterien bewegt, die durch Normen vorgegeben sind, welche vom Gesetzgeber und von der Regierung erlassen worden sind. Darüber hinaus ist die Tatsache, dass strenge Verfahren der öffentlichen Aufsicht über die von den SOA wahrgenommenen Aufgaben bestehen – eine mit disziplinarischen Sanktionen verknüpfte Aufsicht hinsichtlich der Erfüllung ebenfalls gesetzlich vorgegebener Anforderungen –, ein weiterer Beleg dafür, dass die öffentliche Gewalt im Bereich der Zertifizierung von für öffentliche Bauaufträge geeigneten Unternehmen weiterhin eine bedeutende Rolle spielt, allerdings als Überwachungsinstanz.

50.      Deshalb bin ich in Anbetracht der vorstehenden Argumente der Auffassung, dass die SOA keine Unternehmen sind, die mit der Durchführung einer Tätigkeit betraut sind, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne von Art. 51 AEUV verbunden ist.

2.      Die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV

a)      Zur Beschränkung der Freiheit

51.      Die Kommission und die italienische Regierung sind sich einig, dass eine Regelung über verbindliche Mindestgebühren die Niederlassungsfreiheit insoweit einschränkt, als es sich um eine Maßnahme handelt, die geeignet ist, die Ansiedlung einer wirtschaftlichen Tätigkeit weniger attraktiv zu machen. Diese Beschränkung ist, wie im Verlauf des Verfahrens eingeräumt worden ist, offensichtlich, da das Fehlen der Möglichkeit, den Preis für eine Dienstleistung zu senken, zu einem Wettbewerbsnachteil zugunsten der nationalen Wirtschaftsteilnehmer führen kann, die schon auf dem Markt ansässig sind und sich in einer offensichtlich günstigeren Lage befinden. Zum gleichen Ergebnis gelangte der Gerichtshof in der Rechtssache Cipolla in Bezug auf die verbindlichen Mindesthonorare von Rechtsanwälten, die „den Zugang von in einem anderen Mitgliedstaat als der Italienischen Republik niedergelassenen Rechtsanwälten zum italienischen Markt für juristische Dienstleistungen erschweren [können] und … somit geeignet [sind], die Ausübung ihrer Dienstleistungstätigkeiten in diesem Mitgliedstaat zu beschränken“(19).

b)      Zur Rechtfertigung

52.      Da es sich um eine Beschränkung handelt, die ohne Unterschied auf jedes Unternehmen Anwendung findet, das die Tätigkeit einer SOA in Italien ausübt, bleibt zu prüfen, ob diese Beschränkung aus irgendeinem zwingenden Grund des Allgemeininteresses als gerechtfertigt angesehen werden kann. Insoweit vertreten sowohl Unionsoa als auch Cqop und die italienische Regierung die Auffassung, dass die verbindlichen Mindestgebühren eine unverzichtbare Voraussetzung seien, um die Qualität und die Unabhängigkeit der von den SOA erbrachten Dienstleistungen zu gewährleisten. Hingegen sind sowohl die Europäische Kommission als auch SOA Nazionale der Ansicht, dass diese Rechtfertigung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht standhalten könne.

53.      Der Gerichtshof hat bei verschiedenen Gelegenheiten festgestellt, dass der Schutz der Dienstleistungsempfänger ebenso wie die Qualität der betreffenden Dienstleistungen einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann, der geeignet ist, die Beschränkung einer Verkehrsfreiheit zu rechtfertigen(20). Es ist aber auch ständige Rechtsprechung, dass eine an diesen Zielen ausgerichtete Regelung über das Erforderliche hinausgehen kann, wenn sie die berufliche Ausübung einer Tätigkeit unverhältnismäßigen Anforderungen unterwirft. Im vorliegenden Fall ist der Zweck der verbindlichen Mindestgebühren hauptsächlich, zum einen die Qualität der Zertifizierungsdienstleistung und zum anderen die Unabhängigkeit der SOA bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben sicherzustellen. Meines Erachtens handelt es sich um vollkommen legitime Zielsetzungen, die zu jedem Privatisierungsprozess gehören, da der Staat, wenn er eine öffentliche Tätigkeit auf den Privatsektor überleitet, logischerweise sicherstellen möchte, dass die Dienstleistung weiterhin Qualitäts- und Objektivitätsstandards aufweist, die den Standards gleichwertig sind, die zuvor von der öffentlichen Gewalt angewandt wurden. Es ist jedoch nicht die Zulässigkeit des angestrebten Zwecks, die im vorliegenden Verfahren in Frage steht, sondern die Verhältnismäßigkeit des Mittels, der verbindlichen Mindestgebühren, im Hinblick auf die genannten Ziele.

54.      Was die Qualität der Dienstleistung betrifft, haben sowohl die italienische Regierung als auch Unionsoa und Cqop die Auswirkungen der Arbeit der SOA bei der Ausführung öffentlicher Bauaufträge deutlich gemacht. Insoweit ist unbestreitbar, wie die vorgenannten Parteien geltend machen, dass sich die effiziente Wahrnehmung der Arbeiten der SOA unmittelbar auf die Ausführung öffentlicher Bauaufträge auswirkt, da nur, wenn die technische und finanzielle Leistungsfähigkeit aller sich bewerbenden Unternehmen gewährleistet ist, die wirksame Ausführung des Auftrags sichergestellt werden kann. Die Verpflichtung zur Beachtung bestimmter Mindestgebühren erfüllt insoweit eine Gewährleistungsfunktion hinsichtlich der finanziellen Integrität der SOA, so dass die SOA, weil sie mit Gebühren rechnen kann, die jedenfalls die Kosten der Dienstleistung decken, stets über die erforderlichen Mittel verfügt, um ihre Prüfungstätigkeit ordnungsgemäß durchzuführen.

55.      Die Unabhängigkeit der SOA ist ein anderer Grund, der zur Rechtfertigung der Beschränkung angeführt worden ist. Um ihre Dienstleistungen effizient erbringen zu können, müssen die SOA über eine hinreichende Autonomie gegenüber ihren Kunden verfügen. Ein Zertifizierungssystem ist wertlos, wenn der Zertifizierende bei der Prüfung, ob ein Unternehmen die Voraussetzungen erfüllt, um zertifiziert werden zu können, keine Unparteilichkeit gewährleisten kann. An dieser Stelle kommen die verbindlichen Mindestgebühren ins Spiel, weil sie auf diese Weise der SOA ausreichende finanzielle Mittel gewährleisten, die ihre Entscheidungsautonomie sichert.

56.      In Bezug auf die Prüfung der Eignung dieses Mittels im Hinblick auf die verfolgten Ziele ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bei verschiedenen Gelegenheiten festgestellt hat, dass ein System von Mindestgebühren, das auf eine berufliche Tätigkeit Anwendung findet, abstrakt betrachtet ein geeignetes Mittel ist, um legitime Ziele – wie das Ziel, hochwertige Dienstleistungen zu erlangen – sicherzustellen(21). Aber diese Erwägung ist nur der Ausgangspunkt und erfordert anschließend eine eingehendere Prüfung des Kontexts, auf den das Mittel Anwendung findet, hinsichtlich – wie aus der Rechtsprechung hervorgeht – des relevanten Marktes und der Art der in Rede stehenden Dienstleistungen. Wenn diese Beurteilung im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens vorgenommen werden muss, bedarf es zudem einer gemeinsamen Bemühung des Gerichtshofs und des nationalen Gerichts, um diese Prüfung zu leisten.

57.      Was den Markt betrifft, ist zunächst festzustellen, dass die SOA im Rahmen eines freien Wettbewerbs tätig sind, bei dem es keinen numerus clausus der zugelassenen SOA gibt. Es handelt sich insoweit um einen von Wettbewerb gekennzeichneten Markt, auf dem jedes Unternehmen, das die vorgeschriebenen Bedingungen erfüllt, die Zertifizierungsdienstleistung erbringen darf. Aufgrund der Merkmale der Tätigkeit und der Strenge der Voraussetzungen, die für die Erbringung der Dienstleistung verlangt werden, darf es nicht überraschen, dass die Zahl der SOA vergleichsweise gering ist. Obgleich es sich nicht um einen auf zwei oder drei Wirtschaftsteilnehmer beschränkten Markt handelt, geht aus den Akten hervor, dass die Zahl der SOA zurzeit etwa 30 beträgt. Deshalb handelt es sich nicht um einen Markt mit einer sehr hohen Zahl von Marktteilnehmern oder mit einem Informationsungleichgewicht zwischen dem Erbringer der Dienstleistung und deren Empfänger. Diese beiden Faktoren waren in der Rechtssache Cipolla bei der Bewertung der Umstände des italienischen Rechtsanwaltsmarkts ausschlaggebend. In der vorliegenden Rechtssache ist jedoch die entgegengesetzte Situation gegeben: Zu der vergleichsweisen geringen Zahl von Wirtschaftsteilnehmern tritt noch der Umstand hinzu, dass die Empfänger der Dienstleistung zur Wahrung eines vorgeschriebenen Abstands verpflichtet sind, um der SOA ein vollständig autonomes Tätigwerden zu ermöglichen. Das Verhältnis des Dienstleistungserbringers zum Dienstleistungsempfänger ist bei den SOA vollständig anders als das, das bei dem Verhältnis des Anwalts zu seinem Mandanten auftreten kann; in der letztgenannten Situation sind Vertrauen und die Wahrnehmung eines gemeinsamen Interesses ausschlaggebende Kriterien. Im Fall der SOA dürfen ein solches Vertrauen und eine solche Interessenwahrnehmung nicht nur nicht vorkommen, sondern würden auch die SOA in ihrer Existenz selbst beschädigen.

58.      Infolgedessen muss die Eignung der verbindlichen Mindestgebühren im vorliegenden Fall im Kontext eines Marktes bewertet werden, der eine geringe Größe hat und in dem es erforderlich ist, die Entscheidungsautonomie der SOA gegenüber möglichen Forderungen oder Interessen ihrer Kunden aufrecht zu erhalten. So gesehen stellt sich der Umstand, dass der Staat zwingend eine Regelung über verbindliche Mindestgebühren vorschreibt, als eine Maßnahme dar, die mit der Zielsetzung übereinstimmt, die Qualität der Dienstleistung und die Unabhängigkeit der mit der Zertifizierung betrauten Unternehmen zu gewährleisten.

59.      Größere Zweifel bestehen hinsichtlich der Notwendigkeit der Maßnahme. Dass die verbindlichen Mindestgebühren ein geeignetes Mittel für die redliche Erbringung der Dienstleistung sind, bedeutet nicht automatisch, dass es keine weniger einschränkenden Mittel gibt, die derartige Zwecke gleichermaßen garantieren. So hat die Kommission in ihren schriftlichen und mündlichen Stellungnahmen geltend gemacht, dass es übermäßig starre Bestimmungen gebe, die eine verbindliche Mindestgebühr nicht rechtfertigen würden. Die SOA Nazionale wiederum hat darauf hingewiesen, dass die Qualität der Dienstleistung und die Unabhängigkeit der SOA durch eine besonders strenge Disziplinarregelung, die in den Händen der öffentlichen Verwaltung liege, gewährleistet würden. Diese Disziplinarregelung reicht nach Ansicht der SOA Nazionale aus, um die genannten Zwecke zu erreichen.

60.      Für meinen Antwortvorschlag in Bezug auf diesen Gesichtspunkt werde ich zunächst den Regelungszusammenhang, in dem die SOA stehen, und, wie vorstehend ausgeführt, die Disziplinarregelung, die auf diese Unternehmen Anwendung findet, analysieren. Den Akten zufolge sehen die Präsidialdekrete Nr. 34/2000 und Nr. 207/210 Disziplinarmaßnahmen vor, zu denen finanzielle Sanktionen und der Entzug der Zulassung für die SOA gehören. Die Überwachung und die Anwendung dieser Disziplinarmaßnahmen obliegen der nationalen Aufsichtsbehörde.

61.      Unter bestimmten Umständen kann eine Regelung über verbindliche Mindestgebühren, die neben einer Disziplinarregelung besteht, eine übermäßige Belastung der Wirtschaftsteilnehmer darstellen. Der Fall der SOA stellt sich jedoch als ein sehr spezifischer Fall dar, der wegen ihrer Unabhängigkeit eine eingehende Betrachtung verdient. In der Tat findet die von den SOA zu verlangende Unabhängigkeit ihren Niederschlag in der Wahrung eines Abstands gegenüber dem Dienstleistungsempfänger, der Unparteilichkeit und Entscheidungsautonomie bei der Erbringung der Dienstleistung. Gerade weil die SOA im Rahmen einer verstärkten Autonomie gegenüber den Bietern tätig werden muss, ist das Vorhandensein einer Disziplinarregelung möglicherweise nicht ausreichend. Diese genannte verstärkte Autonomie verlangt gerade eine hinreichend vollständige Regelung, die die Unabhängigkeit des Dienstleistungserbringers gewährleistet. Eine solche Vollständigkeit lässt sich mit einer strengen Disziplinarregelung, der verbindliche Mindestgebühren zur Seite gestellt werden, erreichen.

62.      Auf einem Markt, auf dem mehrere SOA sowohl hinsichtlich der Qualität als auch hinsichtlich der Preise miteinander im Wettbewerb stehen, birgt die Möglichkeit, einen Preis mit den künftigen Bietern auszuhandeln, nämlich die Gefahr, dass die vorgeschriebene Unabhängigkeit, die ein Unternehmen dieser Art auszeichnen soll, beeinträchtigt wird. Und auch wenn die Verhandlung über den Preis nicht zwangsläufig bedeutet, dass die SOA ihre Unabhängigkeit oder ihre äußere Erscheinung als unabhängige Einrichtung verliert, kann eine solche Verhandlung doch auf ein ähnliches Ergebnis hinauslaufen, sofern der am Ende vereinbarte Preis außergewöhnlich niedrig ist. Deshalb bin ich der Auffassung, dass eine Regelung über verbindliche Mindestgebühren, die eine Disziplinarregelung in den Händen der öffentlichen Verwaltung vervollständigen soll, eine erforderliche Maßnahme ist, um die vorgeschriebene Unabhängigkeit der SOA auf einem Markt, wie er in Italien besteht, zu gewährleisten.

63.      Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen halte ich eine ergänzende Klarstellung für erforderlich. Der Umstand, dass die Regelung über verbindliche Mindestgebühren im Allgemeinen erforderlich ist, bedeutet nicht, dass es das derzeit geltende Berechnungssystem in sämtlichen Aspekten ist. Wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat, besteht der Schwachpunkt der vorliegend in Rede stehenden Regelung in der Methode zur Berechnung der Gebühren, die nach Ansicht der Kommission nicht immer verhältnismäßig ist.

64.      Es ist nämlich daran zu erinnern, wie sich die verbindlichen Mindestgebühren nach der für sie geltenden Regelung bei öffentlichen Bauaufträgen mit einem Volumen von mehr als 150 000 Euro berechnen, bei denen eine Formel zur Anwendung kommt, die im Wesentlichen auf das einschlägige Volumen, die Zahl der Aufträge, um die sich der Bieter bewirbt, und einen Verbraucherpreiskoeffizienten (ISTAT) abstellt. Dadurch erhöht sich, wenn sich ein Unternehmen an mehreren Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge beteiligt, die verbindliche Mindestgebühr automatisch in Abhängigkeit von der Zahl der Aufträge. Aus den Akten geht hervor, dass es kein Kriterium gibt, um den gemäß der Formel berechneten verbindlichen Mindestbetrag zu ermäßigen.

65.      Meines Erachtens wirft dieses System ernsthafte Zweifel hinsichtlich der Erforderlichkeit des Mittels in Fällen auf, in denen die Zertifizierung für verschiedene öffentliche Bauaufträge beantragt wird. Wie ich bereits ausgeführt habe, stellt es sich als gerechtfertigt dar, dass ein Bieterunternehmen eine verbindliche Mindestgebühr entrichtet, sobald es sich einer Zertifizierung durch die SOA unterzieht, also eine Prüfungstätigkeit, die die SOA in Bezug auf die technischen und finanziellen Voraussetzungen des Unternehmens im Hinblick auf den öffentlichen Bauauftrag durchführt, um den sich das Unternehmen bewirbt. Wofür es keine hinreichende Erklärung gibt oder was zumindest die an diesem Verfahren Beteiligten nicht angemessen begründen konnten, ist der Umstand, dass eine SOA den Betrag seiner Gebühren automatisch deshalb vervielfachen kann, weil sich ein Unternehmen an mehreren Ausschreibungen beteiligt. Die Struktur, die Tätigkeit, das Personal, die materiellen Mittel sowie die anderen Merkmale des Unternehmens sind gewöhnlich gleich, da es normal ist, dass ein Unternehmen mit ausreichenden Mitteln in der Lage ist, verschiedene öffentliche Bauaufträge gleichzeitig auszuführen, seien es wenige oder ein große Anzahl.

66.      Wenn sich ein Unternehmen um mehrere öffentliche Bauaufträge bewirbt, muss die SOA eine individuelle Situation im Licht mehrerer öffentlicher Aufträge bewerten. Logischerweise ist die Arbeitsbelastung für die SOA höher, und es ist akzeptabel, dass die verbindliche Mindestgebühr unter diesen Umständen die erhöhte Verantwortung widerspiegelt. Trotzdem entspricht ein System, wonach sich der Betrag der verbindlichen Mindestgebühr automatisch in Abhängigkeit von der Zahl der Aufträge, um die sich ein Unternehmen bewirbt, vervielfacht, nicht in objektiver Weise dieser größeren Belastung für die SOA. Ein solches System ermöglicht es den SOA vielmehr, die Bewertung eines einzigen Unternehmens durchzuführen, aber dafür eine verbindliche Mindestgebühr anzusetzen, die viel höher ist als das, was verlangt werden darf, wenn sich das Unternehmen nur an einer Ausschreibung beteiligt hätte.

67.      Insoweit ginge in Anbetracht der vorstehenden Ausführungen eine Berechnungsformel wie die dargestellte, wonach sich, wenn sie auf einen Antrag auf Zertifizierung für mehrere öffentliche Aufträge angewandt wird, der Gebührenbetrag automatisch in Abhängigkeit von der Zahl der Ausschreibungen vervielfacht, über das zur Erreichung der angestrebten Ziele der Qualität und der Unabhängigkeit Erforderliche hinaus. Infolgedessen halte ich in diesem speziellen Punkt die auf die SOA anwendbare Regelung über verbindliche Mindestgebühren und insbesondere ihre Berechnungsformel für den Fall eines Antrags auf Zertifizierung für mehrere öffentliche Aufträge für nicht aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt und deshalb für nicht mit Art. 49 AEUV vereinbar.

VI – Ergebnis

68.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage des Consiglio di Stato wie folgt zu beantworten:

Die Art. 101 AEUV, 102 AEUV und 106 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie auf eine Regelung über verbindliche Mindestgebühren wie die für die Società organismi di attestazioni vorgesehene keine Anwendung findet.

Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung über verbindliche Mindestgebühren wie der für die Società organismi di attestazioni vorgesehenen entgegensteht, soweit diese eine Berechnungsformel vorsieht, nach der sich die Gebühr automatisch gemäß der Zahl der öffentlichen Bauaufträge, um die sich das Bieterunternehmer bewirbt, vervielfacht; ob dies der Fall ist, ist vom vorlegenden Gericht zu prüfen.


1 – Originalsprache: Spanisch.


2 – Urteil vom 19. Februar 2002 (C-55/99, Slg. 2002, I-1529).


3 – Urteile vom 5. Dezember 2006 (C-94/04 und C-202/04, Slg. 2006, I-11421.)


4 – Stellvertretend für zahlreiche andere Entscheidungen sei auf das Urteil vom 22. Juni 2010, Melki und Abdeli (C‑188/10 und C‑189/10, Slg. 2010, I‑5667, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung), verwiesen.


5 – Urteile vom 23. April 1991, Höfner und Elser (C‑41/90, Slg. 1991, I‑1979, Randnr. 21), vom 16. November 1995, Féderation française des sociétés d’assurance u. a. (C‑244/94, Slg. 1995, I‑4013, Randnr. 21), vom 18. Juni 1998, Kommission/Italien (C‑35/96, Slg. 1998, I‑3851, Randnr. 36) und vom 12. September 2000, Pavlov u. a. (C‑180/98 bis C‑184/98, Slg. 2000, I‑6451, Randnr. 74).


6 – Urteile vom 16. Juni 1987, Kommission/Italien (118/85, Slg. 1987, 2599, Randnr. 7), vom 18. Juni 1998, Kommission/Italien (C‑35/96, Slg. 1998, I‑3851, Randnr. 35), und vom 12. September 2000, Pavlov u. a. (C‑180/98 bis C‑184/98, Slg. 2000, I‑6451, Randnr. 75).


7 – Kein Unternehmen sind Tätigkeiten des Umweltschutzes (Urteil vom 18. März 1997, Diego Calì & Figli, C‑343/95, Slg. 1997, I‑1547, Randnr. 16) oder der Luftverkehrskontrolle (Urteile vom 19. Januar 1994, SAT Fluggesellschaft, C‑364/92, Slg. 1994, I‑43, Randnr. 30, und vom 26. März 2009, SELEX Sistemi Integrati/Kommission, C‑113/07 P, Slg. 2009, I‑2207, Randnrn. 91 und 92).


8 – Urteil vom 25. Oktober 2001 (C-475/99, Slg. 2001, I-8089).


9 – Urteile vom 13. Dezember 1991, GB‑Inno‑BM (C‑18/88, Slg. 1991, I‑5941), vom 18. Juni 1991, ERT (C‑260/89, Slg. 1991, I‑2925), vom 27. April 1994, Almelo (C‑393/92, Slg. 1994, I‑1477), vom 5. Oktober 1994, Centre d’insémination de la Crespelle (C‑323/93, Slg. 1994, I‑5077), vom 14. Dezember 1995, Banchero (C‑387/93, Slg. 1995, I‑4663), und vom 16. Januar 1997, USSL n. 47 di Biella (C‑134/95, Slg. 1997, I‑195).


10 – Buendía Sierra, J. L., Exclusive Rights and State Monopolies under EC Law, Oxford University Press, Oxford, 2000, S. X.


11 – Vgl. u. a. Urteile vom 29. Januar 1985, Cullet (231/83, Slg. 1985, 305, Randnr. 16), vom 10. Januar 1985, Leclerc (229/83, Slg. 1985, 1, Randnr. 14), vom 21. September 1988, Van Eycke (267/86, Slg. 1988, 4769, Randnr. 16), vom 17. November 1993, Meng (C‑2/91, Slg. 1993, I‑5751, Randnrn. 14 und 15), vom 9. September 2003, CIF (C‑198/01, Slg. 2003, I‑8055, Randnrn. 45 und 46), vom 17. Februar 2005, Mauri (C‑250/03, Slg. 2005, I‑1267, Randnrn. 29 bis 31), und vom 5. Oktober 1995, Centro Servizi Spediporto (C‑96/94, Slg. 1995, I‑2883, Randnrn. 20 und 21).


12 – Urteil vom 5. Dezember 2000 (C‑448/98, Slg. 2000, I‑10663, Randnr. 23), gefolgt u. a. von den Urteilen vom 5. März 2002, Reisch u. a. (C‑515/99, C‑519 bis C‑524/99 und C‑526/99 bis C‑540/99, Slg. 2002, I‑2157, Randnr. 26) vom 11. September 2003, Anomar u. a. (C‑6/01, Slg. 2003, I‑8621, Randnr. 41), und vom 30. März 2006, Servizi Ausiliari Dottori Commercialisti (C‑451/03, Slg. 2006, I‑2941, Randnr. 29).


13 – Urteile vom 5. Dezember 2006 (C‑94/04 und C‑202/04, Slg. 2006, I‑11421, Randnr. 30), vom 1. Juni 2010 (C‑570/07 und C‑571/07, Slg. 2010, I‑4629, Randnr. 39), und vom 10. Mai 2012 (C‑357/10 bis C‑359/10, Randnr. 28).


14 – Als Beispiel für die verschiedenen den Notarberuf betreffenden Entscheidungen sei das Urteil vom 24. Mai 2011, Kommission/Belgien (C‑47/08, Slg. 2011, I-4105), genannt.


15 – Urteil vom 22. Oktober 2009, Kommission/Portugal (C‑438/08, Slg. 2009, I-10219).


16 – Urteile vom 29. November 2007, Kommission/Österreich (C‑393/05, Slg. 2007, I‑10195, Randnr. 29), und Kommission/Deutschland (C‑404/05, Slg. 2007, I‑10239).


17 – Urteil Kommission/Portugal, Randnr. 41.


18 – Ebd., Randnr. 44.


19 – Urteil Cipolla, Randnr. 58.


20 – Vgl. u. a. Urteil vom 25. Juli 1991, Säger (C‑76/90, Slg. 1991, I‑4221, Randnr. 16): „Dazu ist zunächst darauf hinzuweisen, dass eine nationale Regelung wie die vom vorlegenden Gericht beschriebene offensichtlich die Empfänger der betreffenden Dienstleistungen vor Schäden bewahren soll, die ihnen dadurch entstehen könnten, dass sie Rechtsrat von Personen erhalten, die nicht die erforderliche berufliche oder persönliche Qualifikation besitzen.“


21 – Urteil Cipolla, Randnr. 67.