Language of document : ECLI:EU:F:2008:21

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

LAILA MEDINA

vom 20. Juni 2024(1)

Rechtssache C197/23

S. S.A.

gegen

C. sp. z o.o.,

Streithelfer:

Prokurator Prokuratury Regionalnej w Warszawie

(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Apelacyjny w Warszawie [Berufungsgericht Warschau, Polen])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Art. 19 Abs. 1 EUV – Rechtsbehelfe – Wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz – Unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht – Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit im Innenverhältnis – Nationale Rechtsvorschriften über die Zuweisung von Rechtssachen an Richter nach dem Zufallsprinzip – Änderung der Zusammensetzung des Gerichts – Eklatante Verletzung nationaler Rechtsvorschriften – Bestimmungen, die es einem Gericht zweiter Instanz verbieten, ein erstinstanzliches Verfahren für ungültig zu erklären“






1.        Mit seiner Vorlage zur Vorabentscheidung ersucht der Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen)(2) um Auslegung von Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). Die Klage im Ausgangsverfahren wurde von der S. S.A. (im Folgenden: S) gegen die C. sp. z o.o. (im Folgenden: C) im Zusammenhang mit einem handelsrechtlichen Rahmenvertrag erhoben.

2.        Die vorliegende Rechtssache wirft im Wesentlichen zwei Fragen auf. Erstens hat der Gerichtshof über die Frage zu entscheiden, ob die vorschriftswidrige (Neu‑)Zuweisung einer konkreten Rechtssache an einen Berichterstatter in einem nationalen Verfahren in den Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV fällt. Mit anderen Worten: Ist diese vorschriftswidrige (Neu‑)Zuweisung geeignet, die Wahrnehmung der Gerichte als unabhängig und unparteiisch zu beeinträchtigen, insbesondere wenn diese vorschriftswidrige (Neu‑)Zuweisung i) eine „eklatante Verletzung“ der geltenden nationalen Rechtsvorschriften darstellt und ii) in zweiter Instanz nicht überprüft werden kann, weil die nationalen Rechtsvorschriften einen solchen Rechtsbehelf ausdrücklich verbieten? Die zweite – damit zusammenhängende – Frage lautet, ob ein solcher Regelverstoß insbesondere in Kombination mit dem Fehlen einer gerichtlichen Überprüfung oder eines Rechtsbehelfs einen Verstoß gegen die Erfordernisse eines effektiven Rechtsschutzes vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht darstellt, d. h. ob jeder Regelverstoß im Rahmen der (Neu‑)Zuweisung einer Rechtssache an einen Berichterstatter beim Einzelnen Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Richters, dem die Rechtssache (neu) zugewiesen wurde, wecken kann.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Zivilprozessordnung

3.        Art. 47 § 1 der Zivilprozessordnung(3) sieht vor, dass „[i]n erster Instanz das Gericht in Einzelrichterbesetzung [verhandelt], sofern nicht durch eine Sonderregelung etwas anderes bestimmt wird“.

4.        Nach Art. 379 Nr. 4 der Zivilprozessordnung „[ist] [d]as Verfahren ungültig, wenn das Gericht, das die Sache entscheidet, nicht gemäß den gesetzlichen Bestimmungen zusammengesetzt ist oder das Verfahren im Beisein eines Richters geführt wurde, der von Rechts wegen ausgeschlossen war“.

5.        Art. 386 § 2 der Zivilprozessordnung sieht vor, dass, „[w]enn das Verfahren für ungültig erklärt wird, das Gericht zweiter Instanz das angefochtene Urteil [aufhebt], das Verfahren [aufhebt], soweit es ungültig ist, und den Fall an das Gericht erster Instanz [zurückverweist]“.

B.      Gerichtsverfassungsgesetz

6.        Art. 45 des Gerichtsverfassungsgesetzes(4) bestimmt:

„§ 1      Ein Richter oder Richter auf Probe kann in seinem Amt durch einen Richter oder Richter auf Probe desselben Gerichts oder durch einen gemäß Art. 77 § 1 oder § 8 abgeordneten Richter ersetzt werden.

§ 2      Die Ersetzung nach § 1 kann durch eine Maßnahme des Vorsitzenden der Kammer oder des Präsidenten des Gerichts erfolgen, die auf Antrag des Richters oder des Richters auf Probe oder von Amts wegen getroffen wird, um einen ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens zu gewährleisten.

…“

7.        Nach Art. 47a § 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes „[werden] [d]ie Rechtssachen den Richtern und Richtern auf Probe in den einzelnen Kategorien von Rechtssachen nach dem Zufallsprinzip zugewiesen, soweit eine Rechtssache nicht dem Richter zuzuweisen ist, der den Bereitschaftsdienst ausübt“.

8.        Art. 47b des Gerichtsverfassungsgesetzes bestimmt:

„§ 1      Eine Änderung der Zusammensetzung eines Gerichts ist nur dann zulässig, wenn die Behandlung der Rechtssache in der bisherigen Zusammensetzung unmöglich ist oder ihr ein dauerhaftes Hindernis entgegensteht. Art. 47a gilt entsprechend.

§ 2      Müssen in einer Rechtssache Maßnahmen ergriffen werden, insbesondere wenn dies durch Sonderregelungen vorgeschrieben oder aus Gründen des ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs gerechtfertigt ist, und kann der Spruchkörper, dem die Rechtssache zugewiesen wurde, in seiner jeweiligen Besetzung dies nicht tun, so werden die Maßnahmen von dem nach dem Vertretungsplan bestimmten Spruchkörper und, wenn die Maßnahmen nicht durch den Vertretungsplan gedeckt sind, von dem nach Art. 47a bestimmten Spruchkörper getroffen.

§ 3      Die Entscheidungen in den in § 1 und § 2 genannten Sachen werden vom Präsidenten des Gerichts oder von einem von ihm hierzu ermächtigten Richter getroffen.

…“

9.        Mit dem Gesetz vom 20. Dezember 2019 wurde Art. 55 des Gerichtsverfassungsgesetzes um § 4 ergänzt, der besagt:

„Ein Richter kann über alle Sachen an seinem Dienstort und in den gesetzlich vorgesehenen Fällen in anderen Gerichten entscheiden (Zuständigkeit des Richters). Die Vorschriften über die Zuweisung von Sachen sowie über die Bestimmung und Änderung der Spruchkörper beschränken nicht die Zuständigkeit des Richters und können keine Grundlage für die Feststellung sein, dass ein Spruchkörper im Widerspruch zu Rechtsvorschriften steht, dass ein Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt ist oder dass eine Person an der Entscheidung beteiligt war, die dazu nicht befugt oder zuständig ist.“

10.      Gemäß Art. 8 des Gesetzes vom 20. Dezember 2019 ist Art. 55 § 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes auch auf Rechtssachen anzuwenden, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 20. Dezember 2019 eingeleitet oder beendet wurden.

C.      Geschäftsordnung 2015

11.      § 43 Abs. 1 der Geschäftsordnung 2015(5) bestimmt, dass „[d]ie Rechtssachen den Berichterstattern (Richtern und Richtern auf Probe) nach dem Zufallsprinzip entsprechend der festgelegten Geschäftsverteilung mittels eines IT‑Tools [‚LPS-System‘(6)] auf Basis eines Zufallszahlengenerators für jedes Register, jede Liste oder jedes andere Aufzeichnungsmittel gesondert [zugewiesen werden], sofern nicht in dieser Geschäftsordnung eine andere Zuweisungsregelung vorgesehen ist …“

12.      § 52b der Geschäftsordnung 2015 besagt:

„1.      Der Vertretungsplan benennt für jeden Arbeitstag die jeweiligen Vertreter (Richter, Richter auf Probe und Juroren).

2.      Der Bereitschaftsplan benennt für jeden Tag die Bereitschaftsrichter und die Richter auf Probe.

3.      Der Vertretungsplan und der Bereitschaftsplan legen die Zahl der stellvertretenden und diensthabenden [Richter und Richter auf Probe] nach Zeiträumen, nach Abteilungen oder nach Art der den stellvertretenden und diensthabenden [Richtern und Richtern auf Probe] zugewiesenen Rechtssachen fest sowie für den Fall, dass es mehr als einen stellvertretenden oder diensthabenden [Richter und Richter auf Probe] gibt, die Reihenfolge der Vertretungen und der Zuweisungen der Rechtssachen an die diensthabenden [Richter und Richter auf Probe].

…“

13.      § 52c der Geschäftsordnung 2015 bestimmt:

„1.      Kann der Berichterstatter nicht an der Verhandlung teilnehmen, hebt der Vorsitzende der Kammer den Verhandlungstermin auf, sofern die betroffenen Personen informiert werden können, es sei denn, der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens erfordert zwingend die Durchführung der Verhandlung.

2.      Wird der Verhandlungstermin nicht aufgehoben, wird die Rechtssache von dem stellvertretenden Richter gemäß dem Vertretungsplan für den jeweiligen Tag verhandelt. Sofern sich der stellvertretende Richter nicht angemessen vorbereiten konnte oder die Prüfung der Rechtssache durch den stellvertretenden Richter die Wiedereröffnung eines wesentlichen Teils des Verfahrens erfordert, ordnet der Vorsitzende der Kammer die Aufhebung des Verhandlungstermins an. …

4.      Der stellvertretende Richter ist befugt, die nach Abs. 2 geprüfte Rechtssache sich selbst zuzuweisen. In diesem Fall weist ihm das IT‑Tool eine Rechtssache weniger aus derselben Kategorie zu.

…“

II.    Kurze Darstellung des Sachverhalts und des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

14.      Am 27. April 2018 erhob S eine handelsrechtliche Klage vor dem Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen). S tritt als Zessionar einer Forderung gegen C auf, die im Einzelhandel tätig ist. S begehrt die Verurteilung von C zur Zahlung eines Betrags von 4 572 648 Zloty (PLN) (ca. 1 045 000 Euro), der den Barprämien auf den in einem bestimmten Geschäftsjahr erzielten Umsatz (rückständige Margen) entspricht, die C auf der Grundlage eines mit dem Zedenten geschlossenen Rahmenvertrags erhalten hat. Nach Ansicht von S verstieß der Erhalt dieser Prämien gegen das nationale Wettbewerbsrecht.

15.      Die Rechtssache wurde der 16. Kammer für Handelssachen dieses Gerichts und im Rahmen des Software-Systems für die Zuweisung von Rechtssachen nach dem Zufallsprinzip der Richterin E. T., der stellvertretenden Vorsitzenden dieser Kammer, als Einzelrichterin zugewiesen.

16.      Da die Richterin E. T. am 25. März 2019, dem Tag der mündlichen Verhandlung, jedoch wegen eines von ihr beantragten Urlaubs abwesend war, ernannte der Vorsitzende der 16. Handelskammer die Richterin J. K., die an diesem Tag Bereitschaftsdienst hatte, zur Verhandlungsführerin, so dass die Rechtssache ihr zugewiesen wurde.

17.      Mit Urteil vom 16. September 2019 wies die Kammer des Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau) durch die Richterin J. K. als Einzelrichterin die Klage von S ab.

18.      S legte am 27. Oktober 2019 beim Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau), dem vorlegenden Gericht in dieser Rechtssache, Rechtsmittel ein.

19.      Mit ihrem Rechtsmittel macht S geltend, dass das Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht nach Art. 379 Nr. 4 der Zivilprozessordnung ungültig sei, da die Besetzung des Spruchkörpers dieses Gerichts wegen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Unabänderlichkeit der Besetzung der Spruchkörper gesetzeswidrig gewesen sei, weil die Rechtssache von der Richterin J. K. anstelle der Berichterstatterin E. T. verhandelt worden sei, die durch das LPS-System nach dem Zufallsprinzip ausgewählt worden sei.

20.      Nachdem das vorlegende Gericht umfangreiche Ermittlungen und Überprüfungen in Bezug auf das erstinstanzliche Gericht(7) durchgeführt hatte, um die Rechtmäßigkeit des Verfahrens vor diesem Gericht zu untersuchen, stellte das vorlegende Gericht fest, dass die Änderung der Besetzung des erstinstanzlichen Gerichts – aufgrund der die Rechtssache von der Richterin J. K. anstelle der ursprünglichen Berichterstatterin E. T. verhandelt wurde – unter „eklatanter Verletzung“ der nationalen Rechtsvorschriften über die Geschäftsverteilung und die Festlegung und Änderung der Zusammensetzung eines Gerichts, d. h. unter Verstoß gegen Art. 47b § 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes in Verbindung mit § 52c Abs. 4 der Geschäftsordnung 2015, erfolgt sei. Es weist auch darauf hin, dass nicht alle für eine solche Ersetzung erforderlichen Formalitäten erfüllt worden seien, und äußert den Verdacht, dass das erstinstanzliche Gericht bestimmte Dokumente geändert haben könnte, um diese Regelverstöße nachträglich zu beheben.

21.      Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts ist ihm der Grund für diese Ersetzung, die es als vorschriftswidrig und mutwillig erachte, nicht bekannt, wobei das Gericht darauf hinweist, dass ein solches Vorgehen dazu führen könne, dass eine relativ große Zahl von Rechtssachen von einem Richter auf einen anderen übertragen werde.

22.      Es betont ferner, dass es theoretisch nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Besetzung eines einzelrichterlichen Spruchkörpers in heiklen Fällen bewusst verändert werde. Dies könne der Fall sein, wenn der ursprünglich nach dem Zufallsprinzip durch das LPS-System ausgewählte Richter eine Verhandlung zu einem Termin anberaume, an dem er sich auf seinen eigenen Antrag hin im Urlaub befinde, und die Tatsache seiner Abwesenheit genutzt werde, um diesen Richter durch einen Richter zu ersetzen, der an diesem Tag auf dem Bereitschaftsplan als diensthabender Richter stehe und dessen Name im Voraus bekannt sein könne.

23.      Schließlich beruft sich das vorlegende Gericht auf Entscheidungen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen), wonach die Besetzung eines Spruchkörpers, die gegen die nationalen Rechtsvorschriften über die Geschäftsverteilung und die Festlegung und Änderung der mit der Rechtssache befassten Spruchkörper verstoße, einen Grund für die Ungültigerklärung des Verfahrens nach Art. 379 Nr. 4 der Zivilprozessordnung darstellen könne.

24.      Es weist jedoch darauf hin, dass jede diesbezügliche Überprüfung im Rahmen eines Rechtsmittels seit der Einführung von Art. 55 § 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes verboten sei.

25.      Vor diesem Hintergrund hat das vorlegende Gericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass ein erstinstanzliches Gericht eines Mitgliedstaats, das mit einem Richter dieses Gerichts als Einzelrichter besetzt ist, dem das Verfahren unter eklatanter Verletzung der nationalen Rechtsvorschriften über die Geschäftsverteilung sowie die Festlegung und Änderung der Zusammensetzung des Gerichts zugewiesen worden ist, kein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht ist, das einen wirksamen Rechtsschutz gewährleistet?

2.      Sind Art. 2, Art. 6 Abs. 1 und 3 sowie Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie der Anwendung von nationalen Rechtsvorschriften wie Art. 55 § 4 Satz 2 des Gerichtsverfassungsgesetzes in Verbindung mit Art. 8 des Gesetzes vom 20. Dezember 2019 entgegenstehen, soweit diese es dem Gericht zweiter Instanz verbieten, ein vor einem erstinstanzlichen nationalen Gericht anhängiges Verfahren für ungültig zu erklären, weil der Spruchkörper dieses Gerichts gesetzwidrig zusammengesetzt war, das Gericht nicht ordnungsgemäß besetzt war oder eine Person an der Entscheidung beteiligt war, die dazu nicht befugt oder zuständig war, was eine rechtliche Sanktion darstellt, die einen effektiven Rechtsschutz für den Fall sicherstellen soll, dass das Verfahren einem Richter unter eklatanter Verletzung der nationalen Rechtsvorschriften über die Geschäftsverteilung sowie die Festlegung und Änderung der Zusammensetzung des Gerichts zugeteilt worden ist?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

26.      Schriftliche Erklärungen sind von C (der Beklagten im Ausgangsverfahren), vom Prokurator Prokuratury Regionalnej w Warszawie (Regionalstaatsanwalt Warschau, Polen, im Folgenden: Regionalstaatsanwalt), der polnischen Regierung und der Europäischen Kommission eingereicht worden. An der Sitzung vom 7. März 2024 haben mit Ausnahme des Regionalstaatsanwalts alle vorgenannten Parteien teilgenommen.

IV.    Würdigung

A.      Zuständigkeit des Gerichtshofs und Zulässigkeit der Vorlagefragen

27.      C und der Regionalstaatsanwalt haben diesbezüglich verschiedene Argumente vorgebracht(8).

28.      Erstens machen C und der Regionalstaatsanwalt im Wesentlichen geltend, dass das Vorabentscheidungsersuchen unzulässig sei, da es auf eine Auslegung des nationalen Rechts abziele und der Zusammenhang mit dem Unionsrecht nicht hinreichend deutlich sei.

29.      Insoweit ist jedoch nur auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu verweisen, wonach „Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV … u. a. auf jede nationale Einrichtung anwendbar [ist], die als Gericht über Fragen der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts und somit über Fragen aus den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu entscheiden hat“(9). Es ist unstreitig, dass dies hier der Fall ist. Sowohl das erstinstanzliche Gericht (dessen ordnungsgemäße Besetzung angezweifelt wird) als auch das zweitinstanzliche Gericht (bei dem es sich um das vorlegende Gericht handelt und dessen Befugnis zur Überprüfung eines solchen Regelverstoßes durch ein Verbot im nationalen Recht ausgeschlossen ist bzw. aufgehoben wurde) können zur Entscheidung über Fragen der Anwendung oder Auslegung des Unionsrechts berufen sein. Daher müssen sie den Anforderungen an einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz genügen.

30.      Zweitens macht der Regionalstaatsanwalt geltend, dass das Vorabentscheidungsersuchen Vorschriften über die Organisation des Justizwesens eines Mitgliedstaats betreffe, die wie alle Fragen im Zusammenhang mit der Organisation und Arbeitsweise staatlicher Einrichtungen in die ausschließliche Zuständigkeit dieses Staates fielen.

31.      Dieses Argument kann unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung zurückgewiesen werden. Denn tatsächlich „fällt die Organisation der Justiz in den Mitgliedstaaten zwar in deren Zuständigkeit, doch müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Zuständigkeit die Verpflichtungen einhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben“(10), insbesondere aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV(11).

32.      Drittens macht der Regionalstaatsanwalt geltend, dass Art. 47 der Charta, auf den sich die Vorlagefragen bezögen, nach Art. 51 der Charta unanwendbar sei, da der Fall des Ausgangsverfahrens keinen Bezug zum Unionsrecht aufweise. Diese Unanwendbarkeit werde im Fall der Republik Polen durch das Protokoll (Nr. 30) über die Anwendung der Charta auf Polen und das Vereinigte Königreich bestätigt.

33.      Der Gerichtshof hat den Unterschied zwischen den jeweiligen Anwendungsbereichen von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta erläutert: „Während … Art. 47 der Charta zur Wahrung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz jedes Einzelnen beiträgt, der sich in einem bestimmten Fall auf ein Recht beruft, das er aus dem Unionsrecht herleitet, soll Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV seinerseits sicherstellen, dass das von jedem Mitgliedstaat eingerichtete Rechtsbehelfssystem einen wirksamen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet“(12).

34.      Meines Erachtens hat der Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens selbst zugegebenermaßen wohl keinen Bezug zu einer Vorschrift des Unionsrechts. Die Klägerin (S) hat sich nämlich zur Begründung ihrer Klage gegen die Beklagte des Ausgangsverfahrens (C) ausschließlich auf eine Vorschrift des nationalen Rechts berufen, und das vorlegende Gericht hat seinerseits keinen Hinweis gegeben, der darauf schließen ließe, dass diese Vorschrift einen Bezug zum Unionsrecht aufweist. Daher ist Art. 47 der Charta als solcher nach Art. 51 Abs. 1 der Charta wohl nicht auf den Fall des Ausgangsverfahrens anwendbar.

35.      Allerdings macht die Rechtsprechung des Gerichtshofs(13) deutlich, dass in einer Situation wie der vorliegenden Art. 47 der Charta, auch wenn er als solcher nicht auf den Fall des Ausgangsverfahrens anwendbar ist, dennoch für die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 EUV relevant bleibt. Insoweit hat der Gerichtshof festgestellt: „Da Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV … alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer Rechtsschutz insbesondere im Sinne von Art. 47 der Charta gewährleistet ist, ist letztere Bestimmung bei der Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gebührend zu berücksichtigen“ (Hervorhebung nur hier).

36.      Viertens macht der Regionalstaatsanwalt im Wesentlichen geltend, dass die erste Vorlagefrage keine „echte“ Vorlagefrage sei, da die Beantwortung dieser Frage für die Entscheidung des vorlegenden Gerichts im Ausgangsverfahren nicht erforderlich sei.

37.      Meines Erachtens genügt hier der Hinweis, dass i) das vorlegende Gericht feststellt, dass die Art der fraglichen Regelverstöße die Gefahr mit sich bringe, dass die Vermutung der Unabhängigkeit des erstinstanzlichen Gerichts in Zweifel gezogen werde, und ii) das vorlegende Gericht durch eine nationale Rechtsvorschrift(14) daran gehindert wird, die Konsequenzen aus diesen Regelverstößen zu ziehen. Das vorlegende Gericht möchte daher wissen, ob diese Vorschrift nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unangewendet bleiben muss.

38.      Nach ständiger Rechtsprechung „[spricht] eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat“(15).

39.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen bin ich der Ansicht, dass die beantragte Vorabentscheidung vom Gerichtshof als „erforderlich“ angesehen werden kann, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen(16).

40.      Fünftens macht der Regionalstaatsanwalt im Wesentlichen geltend, dass das vorlegende Gericht entgegen Art. 94 Buchst. a der Verfahrensordnung des Gerichtshofs keine Begründung für die Auswahl der diversen in den Vorlagefragen angeführten Bestimmungen des Unionsrechts gegeben habe.

41.      Zu Art. 2 und Art. 6 Abs. 1 und 3 EUV ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht nicht begründet, warum es den Gerichtshof um die Auslegung gerade dieser Bestimmungen ersucht. Aus der Begründung des Vorlagebeschlusses geht meines Erachtens jedoch hervor, dass die Vorlagefragen im Wesentlichen die Auslegung der Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht betreffen. Was Art. 2 EUV betrifft, so konkretisiert Art. 19 EUV den dort proklamierten Wert der Rechtsstaatlichkeit(17). Unter diesen Umständen sind die Vorlagefragen im Hinblick auf Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ausgelegt im Licht von Art. 2 EUV – und unter gebührender Berücksichtigung von Art. 47 der Charta zu prüfen(18).

B.      Zum Inhalt

1.      Einleitende Bemerkungen

42.      Bevor ich mich den Vorlagefragen zuwende, ist zunächst auf einige von C und dem Regionalstaatsanwalt geltend gemachte Einwände einzugehen.

43.      Erstens beanstanden C und der Regionalstaatanwalt die Darstellung des nationalen Rechts im Vorlagebeschluss, da sie unvollständig und parteiisch sei. Der Regionalstaatsanwalt macht außerdem geltend, dass das nationale Recht den Begriff der „eklatanten Verletzung“ der Vorschriften über die Geschäftsverteilung und die Änderung der Zusammensetzung eines Gerichts nicht kenne, einen Begriff, den das vorlegende Gericht verwende und ihn in Gegensatz zum Begriff der „bloßen Abweichung“ (die versehentlich, unbewusst, unbeabsichtigt oder irrtümlich erfolge) stelle.

44.      Meines Erachtens genügt hier der Hinweis, dass nach ständiger Rechtsprechung „[a]llein das vorlegende Gericht für die Feststellung und die Würdigung des Sachverhalts des ihm vorliegenden Rechtsstreits und für die Auslegung und Anwendung des einzelstaatlichen Rechts zuständig [ist]“(19).

45.      Der Gerichtshof hat sich daher auf die Beurteilung des vorlegenden Gerichts zu verlassen, wonach die Verweisung der Rechtssache an einen anderen Berichterstatter in erster Instanz grundsätzlich zur Aufhebung des erstinstanzlich ergangenen Urteils wegen einer „eklatanten Verletzung“ und/oder eines eklatanten Regelverstoßes in diesem Verfahren führen könnte, wobei jedoch Art. 55 § 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes einer solchen potenziellen Aufhebung entgegenstehe.

46.      Zweitens machen C und der Regionalstaatsanwalt im Wesentlichen geltend, dass es sich bei den Vorschriften über die Geschäftsverteilung und die Änderung der Zusammensetzung eines Gerichts lediglich um verwaltungstechnische Vorschriften handele, deren wesentliches Ziel darin bestehe, eine gerechte Verteilung der Arbeitslast zu gewährleisten, und die naturgemäß nicht geeignet seien, eine externe Einflussnahme, insbesondere durch die Exekutive oder die Legislative, zu ermöglichen. Daher sollten solche verwaltungstechnischen Vorschriften nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen.

47.      Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass „die betreffenden Richter vor Interventionen oder Druck von außen, die ihre Unabhängigkeit gefährden könnten, zu schützen [sind]. Die für den Status der Richter und die Ausübung ihres Richteramts geltenden Vorschriften müssen es insbesondere ermöglichen, … auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten, auszuschließen, und damit auszuschließen, dass diese Richter den Eindruck vermitteln, nicht unabhängig und unparteiisch zu sein, wodurch das Vertrauen beeinträchtigt werden könnte, das die Justiz in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat bei den Rechtsunterworfenen schaffen muss“(20).

48.      Die Zweifel, die das vorlegende Gericht äußert, indem es die ernsthafte Gefahr feststellt, dass Verstöße gegen die nationalen Vorschriften über die (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen an die Spruchkörper insbesondere darauf abzielten, durch konzertiertes Vorgehen der betroffenen Richter einen Richter in einer bestimmten Rechtssache oder in bestimmten Arten von Rechtssachen an die Stelle eines anderen Richters treten zu lassen, sind ein hinreichender Grund dafür, diese Fragen nicht nur als Fragen verwaltungstechnischer Art zu betrachten, sondern als Fragen, die im Licht der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Anforderungen an die Gewährleistung eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts zu beurteilen sind.

49.      Drittens machen C und der Regionalstaatsanwalt im Wesentlichen geltend, dass die Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift, die im Fall einer gesetzwidrigen Besetzung des Spruchkörpers eines Gerichts die Ungültigkeit des Verfahrens vorsieht(21), nur bei Regelverstößen in Bezug auf die Zusammensetzung des Gerichts insgesamt, nicht aber in Bezug auf die Zusammensetzung einzelner Spruchkörper eines Gerichts angezeigt sei.

50.      Zunächst ist festzustellen, dass – wie der Gerichtshof in seinem Urteil Simpson und HG(22) ausgeführt hat „[n]ach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [(im Folgenden: EGMR)] die Einfügung des Ausdrucks ‚auf Gesetz beruhend‘ in Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK[(23)] … dafür sorgen [soll], … dass … insbesondere das Rechtsstaatsprinzip [beachtet wird,] und [dass dieser Ausdruck] nicht nur die Rechtsgrundlage für die Existenz des Gerichts [umfasst], sondern auch die Zusammensetzung des Spruchkörpers in jeder Rechtssache sowie alle weiteren Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, deren Nichtbeachtung die Teilnahme eines oder mehrerer Richter an der Verhandlung über die Rechtssache vorschriftswidrig macht, was insbesondere Vorschriften über die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit der Mitglieder des betreffenden Gerichts einschließt“. Daher sind Vorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Frage stehenden, die sich auf die (Neu‑)Zuweisung einer Rechtssache an den Berichterstatter beziehen, bei der Überprüfung, ob dem Erfordernis eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts Genüge getan wurde, zweifellos relevant.

51.      Wie die polnische Regierung in der Sitzung ausgeführt hat, muss daher dem Erfordernis der Gewährleistung eines unabhängigen und unparteiischen Gerichts, das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, durch nationale Vorschriften über die Zuweisung von Rechtssachen an Richter und die Änderung der Besetzung der Spruchkörper des Gerichts erst recht Genüge getan werden, wenn dies durch nationale Vorschriften erschwert wird, die es einem Gericht zweiter Instanz verwehren, geltend gemachte Regelverstöße bei der (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen in erster Instanz zu überprüfen.

2.      Gemeinsame Prüfung der beiden Vorlagefragen

52.      Mit den beiden Vorlagefragen, die zusammen zu behandeln sind, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof im Wesentlichen um eine Beurteilung der kumulativen Wirkung einer vorschriftswidrigen Anwendung der Vorschriften über die (Neu‑)Zuweisung einer Rechtssache an einen Berichterstatter gepaart mit dem Fehlen eines diesbezüglichen Rechtsbehelfs sowie der Vereinbarkeit dieser kumulativen Wirkung mit dem Unionsrecht, insbesondere mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ausgelegt im Licht von Art. 2 EUV – und unter Berücksichtigung von Art. 47 der Charta.

53.      Im Rahmen meiner Befassung mit den Vorlagefragen werde ich a) prüfen, ob das Erfordernis der Gewährleistung eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts Vorschriften über die (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen an Richter umfasst, b) der Frage nachgehen, ob das unionsrechtliche Erfordernis, dass ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht „einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleisten“ muss, auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, c) das Verfahren erörtern, das bei der Prüfung der Frage anzuwenden ist, ob die vorschriftswidrige (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen an Richter die Gewährleistung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht gefährden kann und ob sie die Aufhebung des erstinstanzlichen Verfahrens zur Folge haben sollte, und schließlich d) mich mit den Auswirkungen des Urteils Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern)(24) auf den vorliegenden Fall befassen.

a)      Das Erfordernis der Gewährleistung eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts umfasst Vorschriften über die (Neu)Zuweisung von Rechtssachen an Richter

54.      Zunächst ist das Augenmerk auf die bestehenden internationalen Leitlinien und die Rechtsprechung in Bezug auf die Gewährleistung eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts zu richten, soweit sie sich auf Systeme zur (Neu‑)Zuweisung von Fällen beziehen. Insoweit wurden nationale Vorschriften über die Festlegung und Änderung der Spruchkörper eines Gerichts bereits insbesondere von der Venedig-Kommission(25) und dem EGMR geprüft.

55.      Die Venedig-Kommission legt in ihrem Bericht vom 16. März 2010(26) bestimmte Standards fest, die die Staaten erfüllen sollten. Sie empfiehlt unter anderem, dass die (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen an Richter durch objektive und transparente, gesetzlich festgelegte Kriterien geregelt werden sollte. Die Venedig-Kommission betont ferner, dass der Begriff eines durch Gesetz errichteten Gerichts nationale Vorschriften voraussetzt, die die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht nur des Gerichts insgesamt, sondern auch eines einzelnen Richters gewährleisten(27). Meines Erachtens erstreckt sich dieses Erfordernis notwendigerweise nicht nur auf diese Vorschriften als solche, sondern auch auf ihre Anwendung, die ebenfalls auf objektive und transparente – d. h. nicht auf willkürliche – Weise zu erfolgen hat.

56.      Darüber hinaus ergibt sich aus der Rechtsprechung des EGMR, dass die Zweifel eines Verfahrensbeteiligten an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Richters dann begründet sind, wenn das innerstaatliche Recht keine ausreichenden Verfahrensgarantien vorsieht, um eine richterliche Einflussnahme zu verhindern(28).

57.      Ein solcher Rechtsrahmen fehlte in der Rechtssache Miracle Europe Kft./Ungarn, in der der Richter, der die Fälle anderen Richtern zuwies, über ein weites Ermessen verfügte. In diesem Urteil(29) befand der EGMR, dass es sich bei dem betreffenden Gericht wegen einer im Rahmen einer Ermessensentscheidung erfolgten Neuzuweisung der Rechtssache nicht um ein durch Gesetz errichtetes Gericht gehandelt habe, und urteilte daher, dass eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 EMRK vorgelegen habe. Diese Feststellungen des EGMR machen deutlich, wie wichtig es ist, dass (Neu‑)Zuweisungen von Rechtssachen an Richter streng nach dem Gesetz und auf objektive und transparente Weise erfolgen(30).

58.      Zudem kann die bestehende Rechtsprechung des Gerichtshofs herangezogen werden.

59.      Der Gerichtshof entschied in seinem Urteil Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter)(31) u. a. über nationale Vorschriften, die dem Präsidenten der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) das Ermessen einräumten, das Disziplinargericht zu bestimmen, das für die Entscheidung über ein Disziplinarverfahren gegen einen Richter der ordentlichen Gerichtsbarkeit örtlich zuständig war, ohne dass die Kriterien für eine solche Bestimmung in der anwendbaren Regelung festgelegt worden wären.

60.      Der Gerichtshof befand, dass „ein solches Ermessen ohne derartige Kriterien insbesondere dazu genutzt werden [könnte], bestimmte Fälle bestimmten Richtern zuzuweisen und ihre Zuweisung an andere Richter zu vermeiden, oder um Druck auf die so ausgewählten Richter auszuüben“(32).

61.      Meines Erachtens sind diese Feststellungen, wenn sie im Licht des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit bewertet werden, nicht nur in einem Fall relevant, in dem keine Kriterien für die (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen an Richter gesetzlich festgelegt worden sind, sondern auch in Fällen, in denen keine gerichtliche Überprüfung stattfindet, obwohl entsprechende Kriterien gesetzlich vorgegeben sind, diese jedoch überhaupt nicht oder nicht in objektiver und transparenter Weise angewandt werden, da in solchen Situationen vergleichbare nachteilige Auswirkungen auftreten können.

62.      Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass das Erfordernis der Gewährleistung eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ausgelegt im Licht des in Art. 2 EUV verankerten Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit – verlangt, dass, wenn ein Mitgliedstaat Vorschriften über die (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen an Richter erlassen hat, diese Vorschriften wirksam sein und in objektiver und transparenter Weise angewendet werden müssen.

b)      Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, der ausdrücklich verlangt, dass „ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ gewährleistet wird, ist auf den vorliegenden Fall anwendbar

63.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „müssen [die Mitgliedstaaten] … ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorsehen, mit dem in [den vom Unionsrecht erfassten] Bereichen eine wirksame gerichtliche Kontrolle gewährleistet ist“(33). Genauso steht es auch in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV.

64.      Bei der Einrichtung eines solchen Systems müssen die Mitgliedstaaten dem Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes, der ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, volle Wirkung verschaffen. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof festgestellt, dass „mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV der in Art. 2 EUV verankerte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert und den Mitgliedstaaten insoweit die Verpflichtung auferlegt [wird], ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf wirksamen Rechtsschutz in allen vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet, wobei der Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts ist, der jetzt in Art. 47 der Charta verankert ist“(34).

65.      Aus meiner obigen Würdigung (Nrn. 54 bis 62 der vorliegenden Schlussanträge), aus dem Wortlaut des Vertrags über die Europäische Union selbst und aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs (Nrn. 63 und 64 der vorliegenden Schlussanträge) ergibt sich, dass in einer Situation, in der die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines Gerichts, wie sie in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV gefordert wird, in Frage gestellt wird, weil eine Rechtssache vorschriftswidrig einem Richter (neu) zugewiesen wurde, das Bestehen eines Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und die Zuständigkeit eines Gerichts für die Durchsetzung dieses Rechts zur Überprüfung eines solchen geltend gemachten Regelverstoßes von wesentlicher Bedeutung sind, um eine effektive Anwendung des Erfordernisses der Gewährleistung eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts sicherzustellen.

66.      Im vorliegenden Fall sieht anscheinend eine nationale Rechtsvorschrift(35) vor, dass die Vorschriften über die (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen in ihrer Gesamtheit jeglicher gerichtlichen Überprüfung im Rahmen eines Rechtsbehelfs entzogen sind. Daher ist zu prüfen, ob Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ausgelegt im Licht von Art. 2 EUV, soweit er den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verankert, und unter gebührender Berücksichtigung von Art. 47 der Charta, der das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts postuliert – der Anwendung einer solchen nationalen Vorschrift mit Blick auf eine vorschriftswidrige (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen entgegensteht, weil sie mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unvereinbar ist.

67.      Mit der vorgenannten Verbotsregelung scheint der nationale Gesetzgeber ohne Einschränkung entschieden zu haben, dass Regelverstöße im Zusammenhang mit der (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen in der ersten Instanz jeder Überprüfung im Rechtsmittelverfahren entzogen sind, obwohl, wie das vorlegende Gericht im Vorlagebeschluss geltend macht, nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass die fraglichen Regelverstöße die Gefahr einer erheblichen Beeinträchtigung der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit des Spruchkörpers bergen. In Anbetracht der Rolle, die den nationalen Gerichten im Rahmen der Rechtsordnung der Europäischen Union und insbesondere bei der Gewährleistung der Rechtsstaatlichkeit zukommt, müssen diese Gerichte auf allen Ebenen jederzeit als unabhängig und unparteiisch wahrgenommen werden. Das bedeutet notwendigerweise, dass in einem Fall, in dem ein nationales Gericht zweiter Instanz angerufen wird, weil es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass diese Wahrnehmung in Bezug auf das erstinstanzliche Gericht in Frage gestellt ist (wie es im Ausgangsverfahren prima facie der Fall zu sein scheint), der Partei, die eine entsprechende Überprüfung beantragt, ein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung stehen muss.

68.      Daher würde ein absolutes Verbot von Rechtsbehelfen in einer solchen Situation meines Erachtens gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen, wonach die Mitgliedstaaten über ihre nationalen Gerichte „die erforderlichen Rechtsbehelfe [schaffen müssen], damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist“. Allein die Tatsache, dass ein nationales Gericht angerufen werden kann, um Unionsrecht auszulegen und anzuwenden, reicht aus, um die Anwendung dieser Bestimmung auszulösen(36).

69.      Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht festgestellt, dass nicht nur eine „eklatante Verletzung“ der Vorschriften über die (Neu‑) Zuweisung von Rechtssachen an Richter vorliegt, sondern dass diese durch das Verbot der Einlegung eines Rechtsbehelfs noch schwerer wiegt. Die kumulative Wirkung dieser beiden Elemente ist geeignet, beim Einzelnen begründete Zweifel daran zu wecken, dass das erstinstanzliche Gericht gegen interne und externe Einflussnahme gefeit und in Bezug auf die ihm vorgetragenen Interessen neutral ist. Solche Zweifel können, wie das vorlegende Gericht festgestellt hat, dazu führen, dass dieser Spruchkörper nicht als unabhängig oder unparteiisch angesehen wird, was wiederum geeignet ist, das Vertrauen zu beeinträchtigen, das die Justiz in einer demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft bei diesen Personen wecken sollte(37).

70.      Außerdem würde ein solches absolut und umfassend geltendes Verbot der Überprüfung Vorschriften über die (Neu‑)Zuweisung im Rahmen eines Rechtsmittelverfahrens den Grundsatz, dass Gerechtigkeit nicht nur geübt werden muss, sondern es auch nach außen erkennbar sein muss, dass sie geübt wird, in seinem Kern missachten.

c)      Verfahren zur Überprüfung von Regelverstößen bei der (Neu)Zuweisung von Rechtssachen an Richter, die die Gewährleistung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht gefährden

71.      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass nicht jeder Regelverstoß zwangsläufig dazu führt, dass das Gericht der zweiten Instanz das Verfahren in erster Instanz für ungültig erklärt, und dass Regelverstöße, die keine wesentlichen Auswirkungen auf das Bestehen eines wirksamen Rechtsbehelfs haben, gegebenenfalls nicht durch eine Ungültigerklärung geahndet werden(38).

72.      Tatsächlich führt nicht jeder Regelverstoß, der im Rahmen der Zuweisung einer Rechtssache an einen Spruchkörper oder ihrer Neuzuweisung an einen anderen Spruchkörper begangen wird, ipso facto zu einem Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und muss dementsprechend nicht jeder solche Verstoß der gerichtlichen Überprüfung in einem Rechtsmittelverfahren unterliegen.

73.      Wie die Kommission in der Sitzung ausgeführt hat, dürfte beispielsweise eine fehlerhafte Zusammenstellung der Vertretungsrichter im Vertretungsplan oder die Reihenfolge der Namen in diesem Vertretungsplan (z. B. nicht in alphabetischer Reihenfolge geordnet, sondern nach dem Geburtsdatum) auf den ersten Blick von untergeordneter Bedeutung sein. Solche Regelverstöße erscheinen nämlich grundsätzlich nicht geeignet, das Funktionieren des nationalen Gerichtssystems und die Gewährleistung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV zu beeinträchtigen. Zweck dieser letztgenannten Bestimmung ist es, nur Probleme von gewissem Gewicht und/oder systemischer Natur zu erfassen, für die das nationale Rechtssystem wahrscheinlich keine angemessene Abhilfe schaffen kann(39).

74.      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass in der Rechtsprechung des EGMR die Frage nach der Schwere der Regelverstöße, die eine Verletzung des Rechts auf ein „auf Gesetz beruhendes Gericht“ darstellen können, im Wege des „Schwellentests“ geprüft wird(40). Der EGMR spricht in seinem Urteil Miracle Europe von einer „eklatanten Verletzung“ des geltenden nationalen Rechts. Wie bereits erwähnt, stellt der Grundsatz des wirksamen Rechtsschutzes der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, und somit das Erfordernis der Gewährleistung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Gerichte einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und der nun auch in Art. 47 der Charta verankert ist(41). Es ist darauf hinzuweisen, dass mit Art. 52 Abs. 3 der Charta die notwendige Kohärenz zwischen den in der Charta enthaltenen Rechten und den entsprechenden durch die EMRK garantierten Rechten gewährleistet werden soll, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird. Bei der Auslegung der Charta sind somit die entsprechenden Rechte der EMRK als Mindestschutzstandard zu berücksichtigen(42). Eine solche kohärente Auslegung ist von größter Bedeutung für das Verständnis dessen, was einen Verstoß gegen die Anforderungen an einen wirksamen Rechtsschutz vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht darstellt.

75.      Daher sollte meines Erachtens ein strenger Maßstab angelegt werden, und nur im Fall der Geltendmachung „eklatanter Verletzungen“ der nationalen Vorschriften über die (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen an Richter sollte das Recht auf gerichtliche Überprüfung im Rahmen eines Rechtsbehelfs gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ausgelegt im Licht von Art. 2 EUV und Art. 47 der Charta – eröffnet werden, da nur solche Verletzungen geeignet sind, die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts in Frage zu stellen.

76.      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, über die geltend gemachten Verletzungen unter Berücksichtigung der folgenden Erwägungen zu entscheiden. Meines Erachtens folgt aus dem Urteil Simpson und HG, dass, wenn es sich um einen nach Art und Ausmaß schweren Regelverstoß handelt, der Eindruck entsteht, dass andere Organe das ihnen eingeräumte Ermessen missbraucht haben, indem sie die Integrität des Ergebnisses, das das jeweilige Verfahren vorantreibt, gefährdet haben, wodurch bei den Parteien und Einzelpersonen begründete Zweifel an der Unabhängigkeit eines Berichterstatters oder eines Gerichts geweckt werden.

77.      Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, wie schwer der Regelverstoß nach Art und Umfang wiegt, und zu untersuchen, ob die (Neu‑)Zuweisung der Rechtssache an den Richter in erster Instanz dem geltenden nationalen Recht und dem Erfordernis eines wirksamen Rechtsschutzes vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ausgelegt im Licht von Art. 2 EUV – und unter gebührender Berücksichtigung von Art. 47 der Charta entsprach. Das vorlegende Gericht muss seine Beurteilung im Licht aller relevanten Umstände vornehmen. Es muss nicht nur die Vereinbarkeit der Änderung der Zusammensetzung eines Gerichts mit dem nationalen Recht prüfen, sondern unter anderem auch die Umstände, unter denen diese Änderung stattgefunden hat, sowie die Frage, ob sie auf willkürlichen Erwägungen beruhte.

78.      Bei einer solchen Beurteilung muss das vorlegende Gericht berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs „[d]as Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, zwei Aspekte [umfasst]. Der erste [betrifft] das Außenverhältnis … [und] [d]er zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Der letztgenannte Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht(43).

79.      Meines Erachtens sind diese beiden Aspekte – Außenverhältnis und Innenverhältnis – Teil der Prüfung, ob in der konkreten Situation, in der die Rechtssache in der ersten Instanz einem Berichterstatter (neu) zugewiesen wurde, ein nach Art und Ausmaß so schwerer Regelverstoß vorliegt, dass die tatsächliche Gefahr besteht, dass a) andere Personen oder Verwaltungsstellen innerhalb der Justiz selbst ihr Ermessen in unzulässiger Weise ausüben könnten, so dass die Integrität des Ergebnisses der (Neu)Zuweisung der Rechtssachen an Richter gefährdet sein könnte, und b) das Ergebnis einer solchen (Neu‑)Zuweisung die Objektivität und das Fehlen eines „Interesses am Ausgang des Rechtsstreits“ in Frage stellen und somit bei Einzelpersonen begründete Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des/der betreffenden Richter(s) wecken könnte.

80.      Es ist somit Sache des vorlegenden Gerichts, unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu entscheiden, ob die vorschriftswidrige Anwendung der nationalen Vorschriften über die (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen an Richter im Ausgangsverfahren einen Verstoß gegen das Erfordernis der Gewährleistung eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts darstellt, der die Ungültigerklärung des erstinstanzlichen Verfahrens verlangt, um einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten.

d)      Auswirkungen des Urteils Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern)

81.      Am 5. Juni 2023 – nach Eingang des Vorabentscheidungsersuchens in der vorliegenden Rechtssache – hatte der Gerichtshof Gelegenheit, festzustellen, dass Art. 55 § 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes (genau die Bestimmung, um die es auch im Ausgangsverfahren geht) gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta verstößt.

82.      Insbesondere stellte der Gerichtshof im Urteil Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern)(44) fest, dass dieser Verstoß darauf zurückzuführen ist, dass Art. 55 § 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes Verbote festlegt, die von allgemeinerer Geltung sind, ungeachtet etwaiger Einwände Einzelner, mit denen geltend gemacht wird, dass die nationalen Bestimmungen über die Zuweisung von Rechtssachen oder die Bestimmung oder Änderung von Spruchkörpern oder die Anwendung dieser Bestimmungen mit den unionsrechtlichen Anforderungen an das Recht auf ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht unvereinbar seien.

83.      Nach diesem Urteil, mit dem Art. 55 § 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes für mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta unvereinbar erklärt wurde, müssen die polnischen nationalen Gerichte diesen Art. 55 § 4 so lange unangewendet lassen(45), bis er vom polnischen Gesetzgeber in Übereinstimmung mit Art. 260 Abs. 1 AEUV(46) und dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) aufgehoben wird. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs macht deutlich, dass dieses Erfordernis aus dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts folgt, der „ein nationales Gericht … [verpflichtet], … jede … nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet [zu] lassen“(47). Nach ständiger Rechtsprechung hat Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV diese Wirkung(48).

84.      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die polnischen Gerichte nunmehr (im Anschluss an das Urteil Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern]) Art. 55 § 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes unangewendet lassen müssen und somit im vorliegenden Fall Art. 379 Nr. 4 der Zivilprozessordnung und/oder eine andere nationale Vorschrift anwenden können, um zu überprüfen, ob eine Rechtssache in erster Instanz ordnungsgemäß, d. h. in Übereinstimmung mit den geltenden nationalen Vorschriften sowie den Anforderungen an ein unabhängiges, unparteiisches und zuvor durch Gesetz errichtetes Gericht, einem Berichterstatter (neu) zugewiesen wurde, um so einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz im Sinne von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ausgelegt im Licht von Art. 2 EUV – und unter gebührender Berücksichtigung von Art. 47 der Charta zu gewährleisten.

V.      Ergebnis

85.      Ich schlage dem Gerichtshof vor, die ihm vom Sąd Apelacyjny w Warszawie (Berufungsgericht Warschau, Polen) zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – ausgelegt im Licht von Art. 2 EUV – und unter gebührender Berücksichtigung von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union,

ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Bestimmung entgegensteht, die ein absolutes Verbot eines Rechtsbehelfs gegen einen Verstoß gegen die nationalen Vorschriften über die (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen an Richter enthält, wenn ein solcher Verstoß die tatsächliche Gefahr begründet, dass a) andere Personen oder Verwaltungsstellen innerhalb der Justiz selbst ihr Ermessen in unzulässiger Weise ausüben könnten, so dass die Integrität des Ergebnisses der (Neu‑)Zuweisung der Rechtssachen an Richter gefährdet sein könnte, und b) das Ergebnis einer solchen (Neu‑)Zuweisung die Objektivität und die strikte Anwendung der Rechtsnormen ohne jedes Interesse am Ausgang des Rechtsstreits in Frage stellen und somit bei Einzelpersonen begründete Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des/der betreffenden Richter(s) wecken könnte.

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, eine solche Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen und Art. 379 Nr. 4 der Zivilprozessordnung und/oder eine andere nationale Bestimmung anzuwenden, um unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zu überprüfen, ob die vorschriftswidrige Anwendung der nationalen Vorschriften über die (Neu‑)Zuweisung von Rechtssachen an Richter nach Art und Ausmaß des Regelverstoßes einen Verstoß gegen das Erfordernis der Gewährleistung eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts darstellt und es rechtfertigt, das erstinstanzliche Verfahren für ungültig zu erklären, um so einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen zu gewährleisten.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Der Vorlagebeschluss datiert vom 28. April 2022, ist aber erst am 24. März 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.


3      Ustawa z 17 listopada 1964 r. Kodeks postępowania cywilnego (Gesetz vom 17. November 1964 – Zivilprozessordnung, einheitliche Fassung Dz.U. 2021, Pos. 1805, mit Änderungen, im Folgenden: Zivilprozessordnung).


4      Ustawa z 27 lipca 2001 r. Prawo o ustroju sądów powszechnych (Gesetz vom 27. Juli 2001 über die Verfassung der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, einheitliche Fassung Dz.U. 2020, Pos. 2072, im Folgenden: Gerichtsverfassungsgesetz) in der durch die Ustawa o zmianie ustawy – Prawo o ustroju sądów powszechnych, ustawy o Sądzie Najwyższym oraz niektórych innych ustaw z 20 grudnia 2019 r. (Gesetz über die Änderung des Gesetzes über die Verfassung der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit, des Gesetzes über das Oberste Gericht sowie einiger anderer Gesetze vom 20. Dezember 2019, Dz.U. 2020, Pos. 190, im Folgenden: Gesetz vom 20. Dezember 2019) geänderten Fassung.


5      Rozporządzenie Ministra Sprawiedliwości z 23 grudnia 2015 r. Regulamin urzędowania sądów powszechnych (Verordnung des Justizministers vom 23. Dezember 2015 – Geschäftsordnung der ordentlichen Gerichte, Dz.U. 2015, Pos. 2316, im Folgenden: Geschäftsordnung 2015).


6      System Losowego Przydziału Spraw (System der Zuweisung an Richter nach dem Zufallsprinzip).


7      Nicht weniger als 36 Ziffern des Vorlagebeschlusses sind den durchgeführten Ermittlungen und Überprüfungen gewidmet (vgl. Ziff. 21 bis 56 des Vorlagebeschlusses).


8      In der Sitzung hat die polnische Regierung ihre schriftlichen Erklärungen, einschließlich der Einrede der Unzulässigkeit, zurückgezogen und völlig neue Erklärungen vorgelegt. Sie hat im Wesentlichen geltend gemacht, dass i) das Erfordernis eines unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts ausschließe, dass die Rechtssache von einem neuen Richter verhandelt werde, der unter „eklatanter Verletzung“ der nationalen Rechtsvorschriften über die Geschäftsverteilung zum Berichterstatter ernannt worden sei, und dass ii) das Unionsrecht das Gericht der zweiten Instanz verpflichte, nationale Vorschriften unangewendet zu lassen, die es daran hinderten, zu prüfen, ob das genannte Erfordernis in der ersten Instanz erfüllt gewesen sei.


9      Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, im Folgenden: Urteil Miasto Łowicz, Rn. 33 und 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


10      Urteil vom 18. April 2024, OT u. a. (Abschaffung eines Gerichts) (C‑634/22, EU:C:2024:340, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


11      Urteil Miasto Łowicz (Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).


12      Urteil vom 20. April 2021, Repubblika (C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 52). Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Rantos in der Rechtssache Krajowa Rada Sądownictwa (Verbleib eines Richters im Amt) (C‑718/21, EU:C:2023:150, Nr. 20 und Fn. 26 bis 28).


13      Urteil vom 22. Februar 2022, RS (Wirkung der Entscheidungen eines Verfassungsgerichts) (C‑430/21, EU:C:2022:99, im Folgenden: Urteil RS, Rn. 36 und 37).


14      Art. 55 § 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes.


15      Vgl. Urteil Miasto Łowicz (Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


16      Ebd. (Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17      Vgl. Urteil RS (Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).


18      Vgl. Urteil vom 29. März 2022, Getin Noble Bank (C‑132/20, EU:C:2022:235, Rn. 77 bis 79).


19      Urteil vom 8. Juni 2016, Hünnebeck (C‑479/14, EU:C:2016:412, Rn. 36). Vgl. auch Urteil vom 6. Dezember 2018, Preindl (C‑675/17, EU:C:2018:990, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


20      Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia „Forumul Judecătorilor din România“ u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 197 und die dort angeführte Rechtsprechung).


21      Wie z. B. Art. 379 Nr. 4 der Zivilprozessordnung.


22      Urteil vom 26. März 2020, Überprüfung Simpson/Rat und HG/Kommission (C‑542/18 RX‑II und C‑543/18 RX‑II, EU:C:2020:232, im Folgenden: Urteil Simpson und HG, Rn. 73 und die dort angeführte Rechtsprechung). Hervorhebung nur hier.


23      Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, unterzeichnet am 4. November 1950 in Rom, im Folgenden: EMRK.


24      Urteil vom 5. Juni 2023 (C‑204/21, EU:C:2023:442, im Folgenden: Urteil Kommission/Polen [Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern]).


25      Die Venedig-Kommission, offiziell „Europäische Kommission für Demokratie durch Recht“, ist ein Beratungsorgan des Europarats.


26      Report on the independence of the judicial system – Part I: The independence of judges, angenommen von der Venedig-Kommission bei ihrer 82. Plenartagung, Venedig, 12. – 13. März 2010, Nr. 81 und Nr. 82 Abs. 16.


27      Ebd. (Nrn. 77 und 79).


28      Vgl. Sillen, J., „The concept of ‚internal judicial independence‘ in the case law of the European Court of Human Rights“, European Constitutional Law Review, Nr. 15, 2019, S. 121, mit zahlreichen Verweisen auf die einschlägige Rechtsprechung des EGMR.


29      EGMR, 12. Januar 2016, CE:ECHR:2016:0112JUD005777413, im Folgenden: Urteil Miracle Europe, § 58.


30      In der juristischen Fachliteratur wird erläutert, dass „eine Rechtssache, die einem Richter zugewiesen wurde, … grundsätzlich nicht einem anderen Richter oder Gericht ohne dessen Zustimmung zugewiesen werden kann, es sei denn, eine solche Neuzuweisung ist durch Gründe der guten Rechtspflege gerechtfertigt“, d. h. „wenn beispielsweise der Richter oder die Kammer, dem bzw. der Rechtssachen, die eine schnellere Bearbeitung als üblich erfordern (z. B. Familiensachen oder in Strafverfahren), zugewiesen werden, mit unerwarteten Umständen konfrontiert wird, durch die voraussichtlich die Dauer des Verfahrens auf Kosten der Interessen der Rechtsuchenden erheblich verlängert würde“ (Adam, S., „Good administration of justice from an EU law perspective: striking balance between disciplinary liability and judicial independence“, in Adam, S., Derveaux, I., Grasso, I. und Vaz Ventura, F. (Hrsg.), The Rule of law and good administration of justice in the digital era, Bruylant, 2024, S. 158).


31      Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (C‑791/19, EU:C:2021:596, im Folgenden: Urteil Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], Rn. 172).


32      Ebd. (Rn. 173).


33      Urteil vom 27. Februar 2018, Associação Sindical dos Juízes Portugueses (C‑64/16, EU:C:2018:117, Rn. 34).


34      Urteil Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (Rn. 269 und 286).


35      Art. 55 § 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes.


36      Vgl. Prechal, S., „Article 19 TEU and national courts: A new role for the principle of effective judicial protection?“, in Bonelli, M., Eliantonio, M. und Gentile, G. (Hrsg.), Article 47 of the EU Charter and Effective Judicial Protection, Volume 1: The Court of Justice’s Perspective, Oxford, 2022, S. 23.


37      Vgl. entsprechend Urteil Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (Rn. 112).


38      Vgl. entsprechend Urteil Simpson und HG (Rn. 75 bis 80).


39      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in den verbundenen Rechtssachen Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim u. a. (C‑748/19 bis C‑754/19, EU:C:2021:403, Nrn. 143 ff.). Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Tanchev in der Rechtssache Kommission/Polen (Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte) (C‑192/18, EU:C:2019:529, Nr. 115) und in den verbundenen Rechtssachen Miasto Łowicz und Prokuratur Generalny (C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2019:775, Nr. 125); vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Rantos, auf die ich in Fn. 12 der vorliegenden Schlussanträge Bezug nehme.


40      Vgl. EGMR, 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island, CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, §§ 235 bis 290.


41      Urteil Kommission/Polen (Disziplinarordnung für Richter) (Rn. 52).


42      Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 124 und die dort angeführte Rechtsprechung).


43      Urteil RS (Rn. 41); Hervorhebung nur hier.


44      Rn. 226 und 227.


45      Vgl. auch Urteil vom 13. Juli 2023, YP u. a. (Aufhebung der Immunität und Suspendierung eines Richters) (C‑615/20 und C‑671/20, EU:C:2023:562, Rn. 61 bis 64 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Urteil Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (Rn. 271).


46      In der Sitzung wurde deutlich, dass diese Bestimmung zum 7. März 2024 noch nicht aufgehoben war.


47      Urteil Kommission/Polen (Unabhängigkeit und Privatleben von Richtern) (Rn. 228 und die dort angeführte Rechtsprechung).


48      Ebd. (Rn. 78 und die dort angeführte Rechtsprechung).