Language of document : ECLI:EU:T:2010:214

Rechtssache T‑258/06

Bundesrepublik Deutschland

gegen

Europäische Kommission

„Auf öffentliche Aufträge anwendbare Vorschriften – Vergabe öffentlicher Aufträge, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen – Mitteilung der Kommission zu Auslegungsfragen – Anfechtbare Handlung – Handlung, die Rechtswirkungen entfalten soll“

Leitsätze des Urteils

1.      Nichtigkeitsklage – Anfechtbare Handlungen – Begriff – Handlungen mit verbindlichen Rechtswirkungen – Mitteilung der Kommission zu Auslegungsfragen in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht, das für die Vergabe öffentlicher Aufträge gilt, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen

(Art. 230 EG; Mitteilung 2006/C 179/02 der Kommission)

2.      Öffentliche Aufträge der Europäischen Gemeinschaften – Vergabe öffentlicher Aufträge, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen – Pflicht des öffentlichen Auftraggebers, die Vorschriften und Grundsätze des Vertrags einzuhalten

(Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates 2004/17, neunter Erwägungsgrund, und 2004/18, zweiter Erwägungsgrund; Mitteilung 2006/C 179/02 der Kommission)

3.      Öffentliche Aufträge der Europäischen Gemeinschaften – Vergabe öffentlicher Aufträge, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen – Pflicht des öffentlichen Auftraggebers, die Vorschriften und Grundsätze des Vertrags einzuhalten

(Mitteilung 2006/C 179/02 der Kommission)

4.      Öffentliche Aufträge der Europäischen Gemeinschaften – Vergabe öffentlicher Aufträge, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen – Pflicht des öffentlichen Auftraggebers, die Vorschriften und Grundsätze des Vertrags einzuhalten

(Art. 12 EG, 43 EG, 47 EG und 49 EG; Mitteilung 2006/C 179/02 der Kommission)

5.      Öffentliche Aufträge der Europäischen Gemeinschaften – Vergabe öffentlicher Aufträge, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen – Pflicht des öffentlichen Auftraggebers, die Vorschriften und Grundsätze des Vertrags einzuhalten

(Mitteilung 2006/C 179/02 der Kommission)

1.      Die Nichtigkeitsklage ist gegen alle Handlungen der Organe gegeben, die dazu bestimmt sind, Rechtswirkungen zu erzeugen, ohne dass es auf ihre Rechtsnatur oder ‑form ankäme. Um beurteilen zu können, ob eine Mitteilung der Kommission, die in Teil C des Amtsblatts veröffentlicht wurde und zur Kundmachung der allgemeinen Vorgehensweise der Kommission bei der Anwendung aller Grundanforderungen an die Vergabe öffentlicher Aufträge, die sich unmittelbar aus den Vorschriften und Grundsätzen des Vertrags ergeben, auf die Vergabe von Aufträgen, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen, dient, Rechtswirkungen erzeugen soll, die gegenüber denen, die sich aus der Anwendung der tragenden Grundsätze des Vertrags ergeben, neu sind, ist ihr Inhalt zu prüfen. Die Mitteilung der Kommission zu Auslegungsfragen in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht, das für die Vergabe öffentlicher Aufträge gilt, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen, erläutert aber nur die Bestimmungen über den freien Warenverkehr, die Niederlassungsfreiheit, den freien Dienstleistungsverkehr, das Diskriminierungsverbot, die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit sowie die Regeln der Transparenz und der gegenseitigen Anerkennung, die für Aufträge gelten, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen, und legt gegenüber diesen Bestimmungen, Grundsätzen und Regeln in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs keine spezifischen oder neuen Verpflichtungen fest. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese Mitteilung verbindliche Rechtswirkungen erzeugt, die geeignet sind, die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten zu berühren.

(vgl. Randnrn. 25-28, 162)

2.      Die in den Gemeinschaftsrichtlinien zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge vorgesehenen besonderen, strengen Verfahren gelten nur für Verträge, deren Auftragswert den in der jeweiligen Richtlinie ausdrücklich festgelegten Schwellenwert überschreitet. Die Vorschriften dieser Richtlinien gelten daher nicht für Aufträge, deren Wert den dort festgelegten Schwellenwert nicht erreicht. Das heißt jedoch nicht, dass solche Aufträge vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ausgenommen sind. Bei der Vergabe dieser Aufträge sind die Auftraggeber nämlich gleichwohl verpflichtet, die Grundregeln des Vertrags im Allgemeinen und das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Besonderen zu beachten.

Der Grundsatz der Gleichbehandlung und das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in ihrer Auslegung durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs schließen insbesondere eine Verpflichtung zur Transparenz ein, damit die konzessionserteilende öffentliche Stelle feststellen kann, ob diese Grundsätze beachtet worden sind. Bestätigt wird dies durch den neunten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/17 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste und durch den zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/18 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge. Demnach haben die Mitgliedstaaten und ihre ausschreibenden Stellen diese Transparenzpflicht, kraft deren zugunsten aller potenziellen Bieter ein angemessener Grad von Öffentlichkeit sichergestellt werden muss, der den Markt dem Wettbewerb öffnet und die Nachprüfung ermöglicht, ob die Vergabeverfahren unparteiisch durchgeführt wurden, bei der Vergabe sämtlicher öffentlicher Aufträge zu beachten. Diese Pflicht umfasst eine Form der Bekanntmachung vor der Vergabe des betreffenden öffentlichen Auftrags, mit anderen Worten eine vorherige Bekanntmachung. Eine nachträgliche Bekanntgabe kann eine angemessene Bekanntmachung nämlich nicht gewährleisten.

(vgl. Randnrn. 73-74, 76-77, 79-80)

3.      Da die Grundregeln des Vertrags auf alle öffentlichen Aufträge Anwendung finden, auch wenn diese nicht von den Vergaberichtlinien erfasst werden, kann nicht allein deshalb, weil ein öffentlicher Auftrag die Schwellenwerte für die Anwendung dieser Richtlinien unterschreitet, davon ausgegangen werden, dass seine Auswirkungen auf den Binnenmarkt nahezu unbedeutend wären. Solche Aufträge sind nämlich nicht vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts ausgeschlossen. Könnte jede Auswirkung dieser Aufträge auf den Binnenmarkt von vornherein ausgeschlossen werden, fände das Gemeinschaftsrecht keine Anwendung.

Zwar ist es durchaus vorstellbar, dass wegen besonderer Umstände, etwa einer sehr geringen wirtschaftlichen Bedeutung, vernünftigerweise angenommen werden könnte, dass ein Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, dem die einen bestimmten öffentlichen Auftrag ausschreibende Stelle angehört, kein Interesse an dem in Rede stehenden Auftrag hätte und dass die Auswirkungen auf die betreffenden Grundfreiheiten daher zu zufällig und zu mittelbar wären, als dass auf ihre Verletzung geschlossen werden könnte. Die Schlussfolgerung, dass keine Verletzung der Grundfreiheiten vorliegt, kann sich jedoch nur aus einer Prüfung der Umstände des jeweiligen Falls ergeben, und sie kann nicht allein darauf gestützt werden, dass der Wert des fraglichen Auftrags eine bestimmte Schwelle nicht überschreitet.

Insoweit ist es grundsätzlich Sache des öffentlichen Auftraggebers, vor der Festlegung der Bedingungen der Bekanntmachung ein etwaiges grenzüberschreitendes Interesse an einem Auftrag zu prüfen, dessen geschätzter Wert unter dem in den Gemeinschaftsvorschriften vorgesehenen Schwellenwert liegt, wobei diese Prüfung der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Dies schließt nicht aus, dass durch eine Regelung auf nationaler oder lokaler Ebene objektive Kriterien aufgestellt werden können, die für ein eindeutiges grenzüberschreitendes Interesse sprechen, und ebenso wenig, dass die administrativen Möglichkeiten der ausschreibenden Stelle Berücksichtigung finden.

(vgl. Randnrn. 85, 87-88, 93-95)

4.      Im Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags müssen in jedem Stadium einschließlich dem der Auswahl der Bewerber im Rahmen eines nicht offenen Verfahrens sowohl der Grundsatz der Gleichbehandlung potenzieller Bieter als auch die Transparenzpflicht gewahrt sein, damit alle Betroffenen bei der Abfassung ihrer Teilnahmeanträge oder Angebote über die gleichen Chancen verfügen.

Im Rahmen der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen, müssen die Mittel zur Erreichung der gleichen Wettbewerbsbedingungen dazu dienen, dass sowohl diese Grundsätze als auch der freie Dienstleistungsverkehr gewahrt werden.

Unter diesen Mitteln ergibt sich das Erfordernis einer diskriminierungsfreien Beschreibung des Auftragsgegenstands aus dem Gleichbehandlungsgrundsatz. Das Ziel, den Wirtschaftsteilnehmern unabhängig von ihrer Herkunft gleichen Zugang zu den ausgeschriebenen Aufträgen zu sichern, ergibt sich aus der Beachtung der Grundsätze der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs sowie des freien Wettbewerbs und insbesondere des Gleichbehandlungsgrundsatzes in seiner Ausprägung durch das in Art. 12 EG aufgestellte Verbot von Diskriminierungen aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise bringt nur einen den Grundfreiheiten des Vertrags innewohnenden Grundsatz zum Ausdruck, wobei diesem Grundsatz nicht dadurch ein Teil seiner rechtlichen Bedeutung genommen wird, dass Richtlinien für die gegenseitige Anerkennung von Diplomen erlassen werden. Der Zweck des Erfordernisses angemessener Fristen, die es Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten ermöglichen sollen, eine fundierte Einschätzung vorzunehmen und ein Angebot zu erstellen, besteht darin, die Gefahr einer gegen das Diskriminierungsverbot verstoßenden Bevorzugung einheimischer Bieter oder Bewerber auszuschalten. Das Erfordernis einer transparenten und objektiven Vorgehensweise bezweckt, allen potenziellen Bietern vor der Vorbereitung ihrer Angebote Kenntnis von den Zuschlagskriterien, denen diese Angebote entsprechen müssen, und der relativen Bedeutung dieser Kriterien zu verschaffen um sicherzustellen, dass alle potenziellen Bieter bei der Abfassung ihrer Teilnahmeanträge oder Angebote über die gleichen Chancen verfügen.

Demnach dienen diese Mittel den oben genannten Grundsätzen und stellen keine neuen Verpflichtungen dar.

(vgl. Randnrn. 111, 113, 116, 120, 122, 124-125, 128)

5.      Die Mitgliedstaaten und ihre ausschreibenden Stellen sind an die Vorschriften und Grundsätze des Vertrags gebunden. Soweit sich demnach aus diesen Vorschriften und Grundsätzen Ausnahmen von der Verpflichtung zur vorherigen Bekanntmachung ergeben, können sich die Mitgliedstaaten oder die ausschreibenden Stellen, die einen öffentlichen Auftrag vergeben, der nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fällt, ipso iure auf diese Ausnahmen berufen.

Die Grundsätze des Vertrags sind dann nicht berührt, wenn ein Mitgliedstaat oder eine ausschreibende Stelle sich auf eine Vorschrift des Vertrags berufen kann, die – wie Art. 86 Abs. 2 EG oder die Art. 296 EG oder 297 EG – die Anwendung des Primärrechts generell ausschließt, wenn einer der ausdrücklich in diesem Vertrag vorgesehenen Rechtfertigungsgründe greift (wie z. B. die öffentliche Ordnung und die Gesundheit nach den Art. 46 EG und 55 EG sowie die öffentliche Gewalt nach den Art. 45 EG und 55 EG) oder wenn die Voraussetzungen eines von der Rechtsprechung anerkannten Rechtfertigungsgrundes gegeben sind. In solchen Fällen findet daher die aus den Grundsätzen des Vertrags resultierende Bekanntmachungspflicht auf die Vergabe eines öffentlichen Auftrags keine Anwendung. Es kann keine Bekanntmachungspflicht bestehen, wenn in den Vergaberichtlinien eine Ausnahme ausdrücklich zugelassen ist, die Voraussetzungen für diese Ausnahme vorliegen und ein Verhandlungsverfahren ohne vorherige Veröffentlichung einer Aufforderung zur Einreichung eines Angebots möglich ist. Die sich aus dem Vertrag ergebenden Grundsätze können demnach kein Öffentlichkeitserfordernis für Aufträge aufstellen, die nicht oder nur teilweise unter die Vergaberichtlinien fallen.

(vgl. Randnrn. 139-141)