Language of document : ECLI:EU:C:2024:231

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

14. März 2024(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Versäumnisverfahren – Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft – Art. 127 Abs. 1 – Übergangszeitraum – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Urteil des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) – Vollstreckung eines Schiedsspruchs, mit dem die Zahlung von Schadensersatz zugesprochen wird – Beschluss der Europäischen Kommission, mit dem festgestellt wird, dass diese Zahlung eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstellt – Art. 4 Abs. 3 EUV – Loyale Zusammenarbeit – Pflicht zur Aussetzung des Verfahrens – Art. 351 Abs. 1 AEUV – Zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten vor dem Zeitpunkt ihres Beitritts zur Union geschlossene internationale Übereinkunft – Übereinkommen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten (ICSID) – Anwendung des Unionsrechts – Art. 267 AEUV – In letzter Instanz entscheidendes nationales Gericht – Verpflichtung, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen – Art. 108 Abs. 3 AEUV – Aussetzung der Durchführung der Beihilfe“

In der Rechtssache C‑516/22

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 29. Juli 2022,

Europäische Kommission, vertreten durch L. Armati, P.‑J. Loewenthal und T. Maxian Rusche als Bevollmächtigte,

Klägerin,

gegen

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch S. Fuller als Bevollmächtigten,

Beklagter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter) sowie der Richter Z. Csehi, M. Ilešič, I. Jarukaitis und D. Gratsias,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 9. November 2023

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland mit dem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) vom 19. Februar 2020 in der Rechtssache Micula/Rumänien (im Folgenden: beanstandetes Urteil) gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 108 Abs. 3 AEUV, Art. 267 Abs. 1 und 3 AEUV sowie Art. 351 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des am 17. Oktober 2019 angenommenen Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (im Folgenden: Austrittsabkommen), verstoßen hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

2        Das Austrittsabkommen, das mit dem Beschluss (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020 (ABl. 2020, L 29, S. 1) im Namen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) genehmigt wurde, ist gemäß seinem Art. 185 am 1. Februar 2020 in Kraft getreten.

3        Art. 2 Buchst. e des Austrittsabkommens lautet:

„Für die Zwecke dieses Abkommens bezeichnet der Ausdruck

e)      ‚Übergangszeitraum‘ den in Artikel 126 vorgesehenen Zeitraum“.

4        Art. 86 („Vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängige Rechtssachen“) Abs. 2 des Austrittsabkommens bestimmt:

„Der Gerichtshof der Europäischen Union ist weiterhin für Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des Vereinigten Königreichs zuständig, die vor Ende des Übergangszeitraums vorgelegt werden.“

5        Art. 87 („Neue Rechtssachen vor dem Gerichtshof“) Abs. 1 des Austrittsabkommens sieht vor:

„Gelangt die Europäische Kommission zu der Auffassung, dass das Vereinigte Königreich eine Verpflichtung aus den Verträgen oder aus Teil Vier dieses Abkommens vor Ende des Übergangszeitraums nicht erfüllt hat, so kann sie den Gerichtshof der Europäischen Union im Einklang mit den Vorschriften nach Artikel 258 AEUV beziehungsweise Artikel 108 Absatz 2 Unterabsatz 2 AEUV innerhalb von vier Jahren nach Ende des Übergangszeitraums mit der Angelegenheit befassen. In diesen Fällen ist der Gerichtshof der Europäischen Union zuständig.“

6        Art. 126 („Übergangszeitraum“) des Austrittsabkommens lautet:

„Es gibt einen Übergangs- oder Durchführungszeitraum, der am Tag des Inkrafttretens dieses Abkommens beginnt und am 31. Dezember 2020 endet.“

7        In Art. 127 („Anwendungsbereich für den Übergang“) des Austrittsabkommens heißt es:

„(1)      Sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, gilt das Unionsrecht während des Übergangszeitraums für das Vereinigte Königreich sowie im Vereinigten Königreich.

(3)      Während des Übergangszeitraums entfaltet das nach Absatz 1 für das Vereinigte Königreich und im Vereinigten Königreich geltende Unionsrecht die gleichen Rechtswirkungen wie innerhalb der Union und ihrer Mitgliedstaaten und wird nach denselben Methoden und allgemeinen Grundsätzen auslegt und angewendet, die auch innerhalb der Union gelten.

(6)      Sofern in diesem Abkommen nichts anderes bestimmt ist, schließen während des Übergangszeitraums alle Bezugnahmen auf Mitgliedstaaten in dem nach Absatz 1 geltenden Unionsrecht, einschließlich der Durchführung und Anwendung durch die Mitgliedstaaten, das Vereinigte Königreich ein.“

 Völkerrecht

 ICSID-Übereinkommen

8        In Art. 53 Abs. 1 des am 18. März 1965 in Washington geschlossenen Übereinkommens zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten (im Folgenden: ICSID-Übereinkommen), das für das Vereinigte Königreich am 18. Januar 1967 und für Rumänien am 12. Oktober 1975 in Kraft getreten ist, heißt es:

„Der Schiedsspruch ist für die Partei bindend und unterliegt keiner Berufung und auch keinen anderen Rechtsmitteln als denen, die in diesem Übereinkommen vorgesehen sind. Jede Partei hat den Schiedsspruch genau zu befolgen …“

9        In Art. 54 Abs. 1 des ICSID-Übereinkommens heißt es:

„Jeder Vertragsstaat erkennt jeden im Rahmen dieses Übereinkommens erlassenen Schiedsspruch als bindend an und sorgt für die Vollstreckung der darin auferlegten finanziellen Verpflichtungen in seinem Hoheitsgebiet, als handle es sich um ein rechtskräftiges Urteil eines seiner innerstaatlichen Gerichte. …“

10      Art. 64 des ICSID-Übereinkommens lautet:

„Jede zwischen Vertragsstaaten entstehende Streitigkeit über die Auslegung oder Anwendung dieses Übereinkommens, die nicht auf gütlichem Wege beigelegt wird, ist auf Antrag einer Streitpartei dem Internationalen Gerichtshof zu unterbreiten, sofern sich die beteiligten Staaten nicht auf eine andere Art der Beilegung einigen.“

11      Art. 69 des ICSID-Übereinkommens bestimmt:

„Jeder Vertragsstaat trifft alle gesetzgeberischen oder sonstigen Maßnahmen, die erforderlich sind, um diesem Übereinkommen in seinem Hoheitsgebiet Wirksamkeit zu verleihen.“

 BIT

12      Das am 29. Mai 2002 zwischen der Regierung des Königreichs Schweden und Rumänien geschlossene sowie am 1. April 2003 in Kraft getretene bilaterale Investitionsschutzabkommen zur Förderung und zum gegenseitigen Schutz von Investitionen (im Folgenden: BIT) bestimmt in Art. 2 Abs. 3:

„Jede Vertragspartei gewährleistet jederzeit eine faire und gerechte Behandlung der Investitionen von Investoren der anderen Vertragspartei und behindert die Leitung, Aufrechterhaltung, Verwendung, Nutzung oder Veräußerung der genannten Investitionen…nicht durch unsachgemäße oder diskriminierende Maßnahmen.“

13      Nach Art. 7 BIT werden Streitigkeiten zwischen den Investoren und den Unterzeichnerländern u. a. durch ein Schiedsgericht beigelegt, das das ICSID-Übereinkommen anwendet.

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

 Das Schiedsverfahren

14      Am 22. Februar 2005 hob Rumänien im Hinblick auf seinen Beitritt zur Europäischen Union eine regionale Investitionsbeihilferegelung in Form von steuerlichen Anreizen (im Folgenden: in Rede stehende Beihilferegelung) auf.

15      Am 28. Juli 2005 beantragten die schwedischen Staatsbürger Ioan Micula und Viorel Micula sowie die von ihnen kontrollierten Gesellschaften European Food SA, Starmill SRL und Multipack SRL (im Folgenden: Investoren) gemäß Art. 7 BIT die Einsetzung eines Schiedsgerichts nach dem ICSID-Übereinkommen, um Ersatz des Schadens zu erlangen, der ihnen durch die Aufhebung der in Rede stehenden Beihilferegelung entstanden sein soll, die ihnen vor dieser Aufhebung zugutegekommen sei.

16      Das Schiedsgericht befand in seinem Schiedsspruch vom 11. Dezember 2013 (im Folgenden: Schiedsspruch), der nach dem am 1. Januar 2007 erfolgten Beitritt Rumäniens zur Union erging, dass Rumänien dadurch, dass es die in Rede stehende Beihilferegelung aufgehoben habe, das berechtigte Vertrauen der Investoren verletzt habe. Diese seien davon ausgegangen, dass die steuerlichen Anreize bis zum 31. März 2009 verfügbar sein würden. Zudem habe Rumänien nicht transparent gehandelt, weil es die Investoren nicht rechtzeitig unterrichtet habe. Ferner habe Rumänien die faire und gleiche Behandlung der von den Investoren getätigten Investitionen nicht im Sinne von Art. 2 Abs. 3 BIT sichergestellt. Deshalb verurteilte das Schiedsgericht Rumänien, an die Investoren Schadensersatz in Höhe von 791 882 452 rumänischen Lei (RON) (etwa 178 Mio. Euro) zu zahlen. Bei der Festsetzung dieses Betrags wurden hauptsächlich die Schäden berücksichtigt, die den Investoren im Zeitraum vom 22. Februar 2005 bis 31. März 2009 entstanden sein sollen.

17      Seit dem Jahr 2014 versuchen die Investoren, die Anerkennung und Vollstreckung des Schiedsspruchs in Belgien, in Frankreich, in Luxemburg, in Schweden, im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten von Amerika zu erreichen. Die Kommission ist allen diesen Verfahren als Streithelferin beigetreten, um dagegen Einwände zu erheben.

 Das Verfahren vor der Kommission

18      Am 26. Mai 2014 erließ die Kommission den Beschluss C(2014) 3192 final (Staatliche Beihilfe SA.38517 [2014/NN] – Rumänien – Schiedsspruch vom 11. Dezember 2013 in der Sache Micula/Rumänien – Anordnung zur Aussetzung der Beihilfe) (im Folgenden: Aussetzungsanordnung). Mit diesem verpflichtete sie Rumänien dazu, sofort alle Maßnahmen auszusetzen, die zur Umsetzung oder Vollstreckung des Schiedsspruchs führen könnten – weil dies unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV eine rechtswidrige staatliche Beihilfe darstellen würde –, bis die Kommission einen abschließenden Beschluss über die Vereinbarkeit dieser Maßnahme mit dem Binnenmarkt gefasst habe.

19      Am 1. Oktober 2014 erließ die Kommission den Beschluss 2014/C 393/03 (Staatliche Beihilfe – Rumänien – Staatliche Beihilfe SA.38517 [2014/C] [ex 2014/NN] – Umsetzung des Schiedsspruchs vom 11. Dezember 2013 in der Sache Micula/Rumänien – Aufforderung zur Stellungnahme nach Art. 108 Abs. 2 AEUV [ABl. 2014, C 393, S. 27]) (im Folgenden: Eröffnungsbeschluss). Mit diesem setzte sie Rumänien von ihrer Entscheidung in Kenntnis, in Bezug auf die Anfang 2014 erfolgte teilweise Vollstreckung des Schiedsspruchs durch Rumänien sowie in Bezug auf jede spätere Umsetzung oder Vollstreckung des Schiedsspruchs das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV einzuleiten.

20      Am 30. März 2015 erließ die Kommission den Beschluss (EU) 2015/1470 der Kommission vom 30. März 2015 über die von Rumänien durchgeführte staatliche Beihilfe SA.38517 (2014/C) (ex 2014/NN) – Schiedsspruch vom 11. Dezember 2013 in der Sache Micula/Rumänien (ABl. 2015, L 232, S. 43) (im Folgenden: abschließender Beschluss).

21      Unter der Überschrift „Die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen lässt die von Artikel 351 AEUV geschützten Rechte und Pflichten unberührt“ heißt es in den Erwägungsgründen 126 bis 129 des abschließenden Beschlusses, die im Wesentlichen den Rn. 51 bis 54 des Eröffnungsbeschlusses entsprechen:

„(126)      Artikel 351 AEUV sieht Folgendes vor: ‚Die Rechte und Pflichten aus Übereinkünften, die … im Falle später beigetretener Staaten vor dem Zeitpunkt ihres Beitritts zwischen einem oder mehreren Mitgliedstaaten einerseits und einem oder mehreren dritten Ländern andererseits geschlossen wurden, werden durch diese Verträge nicht berührt‘. Im vorliegenden Fall sind die Rechte und Pflichten, auf die sich die [Investoren] stützen, diejenigen, die sich aus dem BIT ergeben.

(127)      Aus dem Wortlaut von Artikel 351 AEUV ist ersichtlich, dass er im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da es sich bei dem BIT um einen zwischen zwei Mitgliedstaaten der Union, Schweden und Rumänien, geschlossenen Vertrag handelt und nicht um einen Vertrag ‚zwischen einem oder mehreren Mitgliedstaaten einerseits und einem oder mehreren dritten Ländern andererseits‘. Dementsprechend lässt die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen im vorliegenden Fall die von Artikel 351 AEUV geschützten Rechte und Pflichten unberührt.

(128)      In diesem Zusammenhang verweist die Kommission darauf, dass unionsrechtlich unterschiedliche Vorschriften für Intra-EU-BIT einerseits und BIT zwischen einem Mitgliedstaat der Union und einem dritten Land andererseits gelten. Im Falle von Intra-EU-BIT vertritt die Kommission die Ansicht, dass diese Abkommen dem Unionsrecht entgegenstehen, mit den Bestimmungen der EU-Verträge unvereinbar sind und deshalb als unwirksam betrachtet werden sollten. …

(129)      Rumänien ist auch Partei des … ICSID-Übereinkommens, dem es vor seinem Beitritt zur Union beigetreten ist. Da jedoch kein drittes Land, das Vertragspartei des ICSID-Übereinkommens ist, Partei des BIT ist, um das es im vorliegenden Fall geht, ist Artikel 351 [AEUV] hier nicht relevant.“

22      Nach Art. 1 des verfügenden Teils des abschließenden Beschlusses stellt die Zahlung der Entschädigung, die der aus den Investoren, European Drinks, Rieni Drinks, Scandic Distilleries, Transilvania General Import-Export und West Leasing International bestehenden wirtschaftlichen Einheit mit dem Schiedsspruch zugesprochen worden war, eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV dar.

23      Art. 2 des abschließenden Beschlusses verpflichtet Rumänien, die in Art. 1 des Beschlusses genannte unvereinbare Beihilfe nicht auszuzahlen und diejenigen Beihilfen, die bereits an Unternehmen dieser wirtschaftlichen Einheit ausgezahlt worden seien, wie auch an diese Unternehmen ausgezahlte Beihilfen, die der Kommission nicht nach Art. 108 Abs. 3 AEUV zur Kenntnis gebracht worden seien oder die nach dem Datum dieses Beschlusses ausgezahlt worden seien, zurückzufordern.

 Verfahren vor den Unionsgerichten

24      Mit Urteil vom 18. Juni 2019, European Food u. a./Kommission (T‑624/15, T‑694/15 und T‑704/15, EU:T:2019:423), hob das Gericht den abschließenden Beschluss vollumfänglich im Wesentlichen mit der Begründung auf, dass die Kommission für dessen Erlass nach Art. 108 AEUV in zeitlicher Hinsicht nicht zuständig gewesen sei (im Folgenden: Urteil des Gerichts).

25      Insbesondere stellte das Gericht in den Rn. 91 und 92 dieses Urteils fest, dass die Kommission nicht zwischen den Rückforderungsbeträgen, die sich auf den Zeitraum vor dem Beitritt Rumäniens zur Union bezögen, und den Rückforderungsbeträgen, die sich auf den Zeitraum nach diesem Beitritt bezögen, unterschieden habe, so dass sie ihre Befugnisse im Bereich der Kontrolle staatlicher Beihilfen überschritten habe, indem sie die ihr nach Art. 108 AEUV zustehenden Befugnisse rückwirkend auf einen Sachverhalt vor diesem Beitritt ausgeübt habe. Folglich habe die Kommission die durch den Schiedsspruch zugesprochene Zahlung von Schadensersatz nicht als „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV einstufen dürfen.

26      Des Weiteren entschied das Gericht in den Rn. 98 bis 111 dieses Urteils, dass der abschließende Beschluss, da das Unionsrecht in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar sei, da die Kommission nicht nach Art. 108 AEUV zuständig sei und da bei den zurückzufordernden Beträgen nicht danach unterschieden worden sei, ob sie sich auf den Zeitraum vor oder nach dem fraglichen Beitritt bezögen, rechtswidrig sei, soweit dieser Beschluss den zugesprochenen Schadensersatz als „Vorteil“ und „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV eingestuft habe, zumindest im Hinblick auf den Zeitraum vor dem Inkrafttreten des Unionsrechts in Rumänien.

27      Am 27. August 2019 legte die Kommission beim Gerichtshof ein Rechtsmittel ein, um die Aufhebung des Urteils des Gerichts zu erreichen.

 Das Verfahren vor den Gerichten des Vereinigten Königreichs

28      Am 17. Oktober 2014 wurde der Schiedsspruch gemäß dem Arbitration (International Investment Disputes) Act 1966 (Gesetz von 1966 über die Schiedsgerichtsbarkeit bei internationalen Investitionsstreitigkeiten), mit dem das ICSID-Übereinkommen im Vereinigten Königreich umgesetzt wurde, beim High Court of England and Wales (Hoher Gerichtshof von England und Wales, Vereinigtes Königreich) registriert.

29      Dieser wies am 20. Januar 2017 den Antrag Rumäniens auf Aufhebung dieser Registrierung zurück. Er setzte jedoch die Vollstreckung des Schiedsspruchs bis zum Abschluss des Verfahrens vor den Unionsgerichten aus.

30      Am 27. Juli 2018 entschied der Court of Appeal (Berufungsgericht, Vereinigtes Königreich), dass die Gerichte des Vereinigten Königreichs nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die sofortige Vollstreckung des Schiedsspruchs nicht anordnen könnten, solange es Rumänien durch eine Entscheidung der Kommission untersagt sei, den durch diesen Schiedsspruch zugesprochenen Schadensersatz zu zahlen. Auf dieser Grundlage wies dieses Gericht den Rechtsbehelf der Investoren gegen die vom Erstgericht angeordnete Aussetzung der Vollstreckung des Schiedsspruchs zurück.

31      Am 19. Februar 2020 ordnete der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) mit dem beanstandeten Urteil die Vollstreckung des Schiedsspruchs an. Die Kommission beteiligte sich als Streithelferin an diesem Verfahren.

 Beanstandetes Urteil

32      Mit dem beanstandeten Urteil wies der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) zunächst in den Rn. 41 bis 57 dieses Urteils den Klagegrund zurück, mit dem die Investoren geltend machten, das Urteil des Gerichts habe zur Folge, dass die Gerichte des Vereinigten Königreichs nicht mehr verpflichtet seien, wegen der Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit die Vollstreckung des Schiedsspruchs auszusetzen. Hierzu hat dieses Gericht in Rn. 56 seines Urteils ausgeführt, dass es wegen der Gefahr einander widersprechender Entscheidungen mit demselben Gegenstand zwischen denselben Parteien besorgt sei. Es könne nicht feststellen, dass kaum die Gefahr eines Widerspruchs zwischen diesen Entscheidungen bestehe. Sollte sich ein Widerspruch zwischen den verschiedenen Entscheidungen manifestieren, würde dies dazu führen, dass die Anwendung des Unionsrechts erheblich beeinträchtigt werde. Der Umstand, dass beim Gerichtshof ein Rechtsmittel anhängig sei, reiche grundsätzlich aus, die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit zu begründen.

33      Dagegen gab der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) in den Rn. 58 bis 118 des beanstandeten Urteils dem Klagegrund statt, mit dem die Investoren geltend machten, dass Art. 351 Abs. 1 AEUV auf die Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs aus dem ICSID-Übereinkommen anwendbar sei, so dass sie nicht den zwingenden Wirkungen des Unionsrechts unterlägen. Nach Ansicht dieses Gerichts muss, um festzustellen, ob diese Bestimmung in einem bestimmten Fall anwendbar ist, die betreffende frühere internationale Übereinkunft ausgelegt werden, um zu prüfen, ob sie dem betreffenden Mitgliedstaat Verpflichtungen auferlegt, deren Erfüllung von den Drittstaaten, die Vertragsparteien des Übereinkommens sind, verlangt werden kann.

34      Vorliegend sei jedoch klar, dass die Verpflichtung des Vereinigten Königreichs, den Schiedsspruch nach den Art. 54 und 69 des ICSID-Übereinkommens zu vollstrecken, nicht nur gegenüber dem Königreich Schweden, sondern auch gegenüber allen anderen Vertragsstaaten dieses Übereinkommens gelte, und zwar aus den folgenden, in den Rn. 104 bis 107 des beanstandeten Urteils dargelegten Gründen:

–        Erstens beruhe die Regelung des ICSID-Übereinkommens auf gegenseitigem Vertrauen und hänge von der Beteiligung aller Vertragsstaaten sowie von der Einhaltung der in diesem Übereinkommen festgelegten Regeln durch diese ab.

–        Zweitens ergebe sich aus den Art. 53, 54 und 69 des ICSID-Übereinkommens, dass die darin festgelegten Verpflichtungen unter keinem Vorbehalt stünden und der in Art. 64 des Übereinkommens vorgesehene Rechtsbehelf jedem Vertragsstaat offenstehe.

–        Drittens lasse das mit dem ICSID-Übereinkommen verfolgte Ziel erkennen, dass es ein Netz gegenseitig zu erfüllender Verpflichtungen gebe, von dem ein Vertragsstaat nicht ausdrücklich abweichen dürfe. Werde auf dieses Netz verzichtet, übertrage es die Last der Pflicht zur Erfüllung einem anderen Vertragsstaat.

–        Viertens gehe aus den Vorarbeiten hervor, dass die anderen Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen ergreifen könnten, wenn ein Vertragsstaat seinen Verpflichtungen aus dem ICSID-Übereinkommen nicht nachkommen sollte.

35      Nach Ansicht des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) sind die Gerichte des Vereinigten Königreichs, da die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei, nicht verpflichtet, auf eine Entscheidung über die Frage der Wirkungen des ICSID-Übereinkommens zu verzichten, indem sie das nationale Verfahren bis zum Ausgang des bei den Unionsgerichten anhängigen Verfahrens aussetzen oder dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorlegen, und zwar aus den folgenden, in den Rn. 112 bis 114 des beanstandeten Urteils dargelegten Gründen:

–        Erstens seien nach dem Unionsrecht Fragen des Bestehens und des Umfangs von Pflichten, die sich aus früheren Übereinkünften nach Art. 351 Abs. 1 AEUV ergäben, nicht den Unionsgerichten vorbehalten. Diese Fragen seien durch das Unionsrecht nicht geregelt, und der Gerichtshof sei zu ihrer Beantwortung nicht besser in der Lage als ein nationales Gericht.

–        Zweitens sei die Frage, die die Investoren vor ihm auf der Grundlage von Art. 351 AEUV aufgeworfen hätten, nicht vollständig deckungsgleich mit der Frage, mit der die Unionsgerichte befasst worden seien. Vor den Unionsgerichten hätten die Investoren nämlich u. a. geltend gemacht, dass Art. 351 AEUV den bereits bestehenden internationalen Verpflichtungen Rumäniens, an die es nach dem BIT und gemäß Art. 53 des ICSID-Übereinkommens gebunden sei, Vorrang einräume. Dagegen habe sich im Rahmen des im Vereinigten Königreich eingeleiteten Verfahrens die Rechtsfrage nach den Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs zur Umsetzung des ICSID-Übereinkommens sowie zur Anerkennung und Vollstreckung des Schiedsspruchs nach den Art. 54 und 69 des ICSID-Übereinkommens gestellt. Da diese Frage speziell den Rechtsstreit im Vereinigten Königreich betreffe, habe sie sich vor den Unionsgerichten nicht gestellt.

–        Drittens sei die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass ein Unionsgericht über die Anwendung von Art. 351 AEUV auf Verpflichtungen entscheide, die vor dem Beitritt Rumäniens zur Union bestanden hätten, sich aus dem ICSID-Übereinkommen ergäben und den Schiedsspruch beträfen. Das Gericht habe nicht über den Klagegrund, der auf einen Verstoß gegen Art. 351 Abs. 1 AEUV gestützt gewesen sei, entschieden, so dass das beim Gerichtshof anhängige Rechtsmittel auf andere Fragen beschränkt sei. Würde das Rechtsmittel zurückgewiesen, würde daher der Unionsrichter die Frage der Anwendung von Art. 351 Abs. 1 AEUV nicht prüfen. Würde dem Rechtsmittel hingegen stattgegeben, würde die Rechtssache an das Gericht zurückverwiesen, so dass diese Frage, was die Verpflichtungen Rumäniens betreffe, vom Unionsrichter geprüft werden könnte.

 Vorverfahren

36      Am 3. Dezember 2020 richtete die Kommission an das Vereinigte Königreich ein Aufforderungsschreiben betreffend das beanstandete Urteil, mit dem sie dem Vereinigten Königreich einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 108 Abs. 3, Art. 267 Abs. 1 und 3 sowie Art. 351 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens, vorwarf.

37      Mit Schreiben vom 1. April beantwortete das Vereinigte Königreich dieses Aufforderungsschreiben dahin gehend, dass es sämtliche Vorwürfe der Kommission bestritt.

38      Die Kommission war der Ansicht, dass die in dieser Antwort vorgebrachten Argumente nicht ausreichten, um ihre Analyse zu ändern, und übermittelte dem Vereinigten Königreich am 15. Juli 2021 ihre mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie zu dem Schluss kam, dass das Vereinigte Königreich aufgrund des beanstandeten Urteils gegen die in ihrem Aufforderungsschreiben genannten Bestimmungen verstoßen habe.

39      Mit Schreiben vom 23. August 2021 beantragte das Vereinigte Königreich bei der Kommission eine Verlängerung der Frist zur Beantwortung dieser mit Gründen versehenen Stellungnahme. Diese wurde ihr gewährt. Das Vereinigte Königreich antwortete jedoch letztlich nicht auf die mit Gründen versehene Stellungnahme.

 Entwicklungen nach der mit Gründen versehenen Stellungnahme

40      Mit Urteil vom 25. Januar 2022, Kommission/European Food u. a. (C‑638/19 P, EU:C:2022:50), hob der Gerichtshof das Urteil des Gerichts auf. Dies begründete er – wie sich aus den Rn. 115 bis 136 seines Urteils ergibt – damit, dass das Gericht einen Rechtsfehler beging, indem es feststellte, dass die Kommission für den Erlass des abschließenden Beschlusses nach Art. 108 AEUV in zeitlicher Hinsicht nicht zuständig gewesen sei, da der in diesem Beschluss genannte Anspruch auf die staatliche Beihilfe nach dem Beitritt Rumäniens zur Union durch den Schiedsspruch zuerkannt wurde. In den Rn. 137 bis 145 desselben Urteils hat der Gerichtshof weiter ausgeführt, dass das Gericht im Übrigen auch einen Rechtsfehler beging, indem es entschied, dass das Urteil vom 6. März 2018, Achmea (C‑284/16, EU:C:2018:158), vorliegend nicht einschlägig sei, da das im EU-Vertrag und im AEU-Vertrag vorgesehene System der gerichtlichen Rechtsbehelfe ab diesem Beitritt an die Stelle dieses Schiedsverfahrens trat. Der Gerichtshof hat die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverwiesen, damit es über die beim Gericht vorgebrachten Klagegründe und Argumente entscheidet, die der Gerichtshof nicht geprüft hat. Diese Rechtssache, die unter den Aktenzeichen T‑624/15 RENV, T‑694/15 RENV und T‑704/15 RENV in das Register eingetragen wurde, ist beim Gericht anhängig.

41      Mit Beschluss vom 21. September 2022, Romatsa u. a. (C‑333/19, EU:C:2022:749), stellte der Gerichtshof in den Rn. 42 und 43 dieses Beschlusses fest, dass sich aus den Urteilen vom 6. März 2018, Achmea (C‑284/16, EU:C:2018:158), sowie vom 25. Januar 2022, Kommission/European Food u. a. (C‑638/19 P, EU:C:2022:50), ergibt, dass der Schiedsspruch mit den Art. 267 und 344 AEUV unvereinbar ist, so dass er keine Wirkung entfalten kann. Folglich entschied der Gerichtshof in Rn. 44 dieses Beschlusses, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, das mit der Zwangsvollstreckung dieses Schiedsspruchs befasst ist, diesen Schiedsspruch außer Kraft setzen muss und daher keinesfalls vollstrecken darf, um es den Begünstigten des Schiedsspruchs zu ermöglichen, die Zahlung des ihnen darin zugesprochenen Schadensersatzes zu erwirken.

42      Mit Beschluss vom 24. November 2022, European Food u. a. (C‑333/19 REC, EU:C:2022:936), wies der Gerichtshof außerdem den Antrag der Investoren auf Rücknahme oder Berichtigung des in dieser Rechtssache ergangenen Beschlusses und auf Streichung der Rechtssache C‑333/19 zurück.

 Verfahren vor dem Gerichtshof

43      Am 29. Juli 2022 hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

44      Die von der Kommission dazu eingereichte Klageschrift ist dem Vereinigten Königreich ordnungsgemäß zugestellt worden. Es hat aber innerhalb der für deren Beantwortung bis zum 14. Oktober 2022 gesetzten Frist keine Klagebeantwortung im Sinne von Art. 124 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs eingereicht und der Kanzlei informell bestätigt, dass es nicht beabsichtige, sich in diesem Stadium am Verfahren zu beteiligen. Die Kommission hat daher gemäß Art. 152 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ein Versäumnisurteil beantragt.

45      Am 14. Februar 2023 hat der Gerichtshof die Kommission ersucht, mitzuteilen, ob sie angesichts des besonderen Kontexts der vorliegenden Rechtssache bereit sei, zu akzeptieren, dass dem Vereinigten Königreich für die Einreichung seiner Klagebeantwortung eine neue Frist gesetzt wird, wobei der Gerichtshof klargestellt hat, dass er Art. 152 der Verfahrensordnung nur anwenden wird, wenn das Vereinigte Königreich bis zum Ablauf dieser neuen Frist nicht reagiert hat.

46      Mit Schreiben vom 3. März 2023 hat die Kommission dem Gerichtshof mitgeteilt, dass sie in Anbetracht der besonderen Umstände des vorliegenden Falls keine Einwände dagegen habe, dass dem Vereinigten Königreich eine neue Frist für die Einreichung einer Klagebeantwortung gesetzt wird, und hinzugefügt, dass diese Stellungnahme keinesfalls einen Präzedenzfall für andere Rechtssachen darstellen dürfe.

47      Mit Schreiben vom 8. März 2023 hat der Gerichtshof das Vereinigte Königreich daher darauf hingewiesen, dass die Kommission beim Gerichtshof keinen Antrag gemäß Art. 152 der Verfahrensordnung auf Erlass eines Versäumnisurteils in der vorliegenden Rechtssache stellen werde, wenn das Vereinigte Königreich von der im Einvernehmen mit der Kommission angebotenen Möglichkeit Gebrauch machen möchte, ungeachtet des Ablaufs der ursprünglichen Frist eine Klagebeantwortung einzureichen. Infolgedessen hat der Gerichtshof dem Vereinigten Königreich mitgeteilt, dass es innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Schreibens, verlängert um die Entfernungsfrist von zehn Tagen gemäß Art. 51 der Verfahrensordnung, eine Klagebeantwortung einreichen könne. Zugleich hat der Gerichtshof das Vereinigte Königreich ersucht, ihn in dem Fall, dass es entscheiden sollte, von dieser Gelegenheit keinen Gebrauch machen, so schnell wie möglich hierüber zu informieren, so dass das schriftliche Verfahren erneut beendet und das Versäumnisverfahren ordnungsgemäß abgeschlossen würde.

48      Mit Schreiben vom 20. April 2023 hat das Vereinigte Königreich dem Gerichtshof mitgeteilt, dass es bestätige, dass es ungeachtet der neuen Frist, die ihm gewährt worden sei, nicht beabsichtige, in der vorliegenden Rechtssache eine Klagebeantwortung einzureichen.

49      Der Gerichtshof hat daher gemäß Art. 41 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 152 der Verfahrensordnung durch Versäumnisurteil zu entscheiden. Da an der Zulässigkeit der Klage kein Zweifel besteht, hat der Gerichtshof somit gemäß Art. 152 Abs. 3 der Verfahrensordnung zu prüfen, ob die Anträge der Kommission begründet erscheinen.

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

50      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach Art. 87 Abs. 1 des Austrittsabkommens für Klagen zuständig ist, die die Kommission, wenn sie zu der Auffassung gelangt, dass das Vereinigte Königreich eine Verpflichtung aus den Verträgen vor Ende des Übergangszeitraums nicht erfüllt hat, gemäß Art. 258 AEUV innerhalb von vier Jahren nach Ende des Übergangszeitraums bei ihm erhebt. Dieser Übergangszeitraum begann gemäß Art. 2 Buchst. e in Verbindung mit den Art. 126 und 185 des Austrittsabkommens am 1. Februar und endete am 31. Dezember 2020 (im Folgenden: Übergangszeitraum).

51      Da, wie aus Rn. 1 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die Vertragsverletzung, die dem Vereinigten Königreich mit der vorliegenden Klage vorgeworfen wird, auf dem beanstandeten Urteil beruht, das am 19. Februar 2020 während des Übergangszeitraums erlassen wurde, und da diese Klage von der Kommission am 29. Juli 2022 innerhalb von vier Jahren nach Ende dieses Übergangszeitraums erhoben worden ist, ist der Gerichtshof folglich für die Entscheidung über diese Klage zuständig.

 Zur Begründetheit

52      Die Kommission stützt ihre Klage auf vier Rügen, mit denen sie geltend macht, das Vereinigte Königreich habe erstens gegen Art. 4 Abs. 3 EUV, zweitens gegen Art. 351 Abs. 1 AEUV, drittens gegen Art. 267 Abs. 1 und 3 AEUV sowie viertens gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens, verstoßen, wobei sich jeder dieser Verstöße aus dem beanstandeten Urteil ergebe.

53      Für die Zwecke der Prüfung dieser Rügen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Art. 127 Abs. 6 des Austrittsabkommens das Vereinigte Königreich, auch wenn die ihm vorgeworfene Vertragsverletzung, wie in Rn. 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nach seinem Austritt aus der Union und vor Ablauf des Übergangszeitraums erfolgte, für die Zwecke der Prüfung der von der Kommission zur Stützung ihrer Klage vorgebrachten Rügen als „Mitgliedstaat“ und nicht als Drittstaat anzusehen ist. Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens stellt im Übrigen klar, dass das Unionsrecht während dieses Übergangszeitraums auf das Vereinigte Königreich anwendbar war.

54      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs trifft die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Vorschriften des AEU-Vertrags zu beachten, alle Behörden der Mitgliedstaaten, und, im Rahmen ihrer Befugnisse, auch die Gerichte. Eine Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats kann somit grundsätzlich gemäß Art. 258 AEUV unabhängig davon festgestellt werden, welches Organ dieses Mitgliedstaats durch sein Handeln oder Unterlassen den Verstoß verursacht hat, selbst wenn es sich um ein verfassungsmäßig unabhängiges Organ handelt (Urteil vom 28. Januar 2020, Kommission/Italien [Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug], C‑122/18, EU:C:2020:41, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55      Die Begründetheit der von der Kommission erhobenen Rügen ist im Licht dieser Erwägungen zu prüfen, wobei als Erstes die zweite dieser Rügen zu prüfen ist.

 Zur zweiten Rüge: Verstoß gegen Art. 351 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens

 Vorbringen der Klägerin

56      Die Kommission wirft dem Vereinigten Königreich vor, es habe gegen Art. 351 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens verstoßen, indem der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) die Wendungen „Rechte … [eines Mitgliedstaats oder mehrerer] Mitgliedstaaten“ und „durch die Verträge … berührt“ falsch ausgelegt und angewandt und im beanstandeten Urteil entschieden habe, dass das Unionsrecht auf die Verpflichtung des Vereinigten Königreichs zur Vollstreckung des Schiedsspruchs gemäß Art. 54 des ICSID-Übereinkommens nicht anwendbar sei.

57      Zum einen impliziere diese Verpflichtung nämlich kein Recht eines Drittstaats oder mehrerer Drittstaaten, da die vorliegende Rechtssache nur Mitgliedstaaten und deren Staatsangehörige betreffe. Zum anderen berührten die Unionsverträge keine der Verpflichtungen des Vereinigten Königreichs aus dem ICSID-Übereinkommen, da alle einschlägigen Bestimmungen dieses Übereinkommens so ausgelegt werden könnten, dass sichergestellt sei, dass keine Kollision mit den einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts bestehe.

 Würdigung durch den Gerichtshof

58      Es ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 351 Abs. 1 AEUV die Rechte und Pflichten aus internationalen Übereinkünften, die vor dem Zeitpunkt ihres Beitritts zur Union zwischen einem oder mehreren Mitgliedstaaten einerseits und einem oder mehreren dritten Ländern andererseits geschlossen wurden, durch die Verträge nicht berührt werden.

59      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bezweckt Art. 351 Abs. 1 AEUV, gemäß den Grundsätzen des Völkerrechts klarzustellen, dass die Anwendung der Unionsverträge nicht die Pflicht des betreffenden Mitgliedstaats berührt, die Rechte von Drittstaaten aus einer früher geschlossenen internationalen Übereinkunft zu wahren und seine entsprechenden Verpflichtungen zu erfüllen (vgl. u. a. Urteile vom 14. Oktober 1980, Burgoa, 812/79, EU:C:1980:231, Rn. 8, und vom 9. Februar 2012, Luksan, C‑277/10, EU:C:2012:65, Rn. 61). Diese Bestimmung hat insoweit allgemeine Tragweite, als dass sie unabhängig von ihrem Gegenstand für alle internationalen Übereinkünfte gilt, die sich auf die Unionsverträge auswirken können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. August 1993, Levy, C‑158/91, EU:C:1993:332, Rn. 11).

60      Art. 351 Abs. 1 AEUV bezweckt somit die Wahrung der Rechte von Drittstaaten (Urteil vom 13. Juli 1966, Consten und Grundig/Kommission, 56/64 und 58/64, EU:C:1966:41, S. 394), indem er den betreffenden Mitgliedstaaten ermöglicht, ihren Verpflichtungen aus einer früheren internationalen Übereinkunft nachzukommen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, Air Transport Association of America u. a., C‑366/10, EU:C:2011:864, Rn. 61).

61      Diese Bestimmung ermächtigt die Mitgliedstaaten jedoch nicht, Rechte aus solchen Übereinkünften in den Beziehungen innerhalb der Union geltend zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Juli 1996, Kommission/Luxemburg, C‑473/93, EU:C:1996:263, Rn. 40, und vom 7. Juli 2005, Kommission/Österreich, C‑147/03, EU:C:2005:427, Rn. 58).

62      Die Begriffe „Rechte und Pflichten“ in Art. 351 Abs. 1 AEUV beziehen sich daher, was die „Rechte“ anbelangt, auf die Rechte von Drittstaaten und, was die „Pflichten“ anbelangt, auf die Pflichten der Mitgliedstaaten (Urteile vom 27. Februar 1962, Kommission/Italien, 10/61, EU:C:1962:2, S. 22, und vom 2. August 1993, Levy, C‑158/91, EU:C:1993:332, Rn. 12).

63      Infolgedessen ist, um festzustellen, ob gemäß dieser Bestimmung eine Regelung des Unionsrechts gegenüber einer früher geschlossenen internationalen Übereinkunft zurückzutreten hat, zu prüfen, ob diese Übereinkunft dem betreffenden Mitgliedstaat Verpflichtungen auferlegt, deren Erfüllung noch von den Drittstaaten, die dieser Übereinkunft beigetreten sind, verlangt werden kann (vgl. u. a. Urteile vom 2. August 1993, Levy, C‑158/91, EU:C:1993:332, Rn. 13, und vom 15. September 2011, Kommission/Slowakei, C‑264/09, EU:C:2011:580, Rn. 42).

64      Eine Bestimmung des Unionsrechts hat demnach gemäß Art. 351 Abs. 1 AEUV gegenüber einer internationalen Übereinkunft nur dann zurückzutreten, wenn diese zum einen geschlossen wurde, bevor die Unionsverträge in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten sind, und wenn zum anderen der fragliche Drittstaat daraus Rechte herleiten kann, deren Beachtung er von diesem Mitgliedstaat verlangen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. März 1998, T. Port, C‑364/95 und C‑365/95, EU:C:1998:95, Rn. 61).

65      Die Mitgliedstaaten können diese Bestimmung daher nicht geltend machen, wenn in dem betreffenden Einzelfall die Rechte von Drittstaaten nicht berührt sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. September 1988, Deserbais, 286/86, EU:C:1988:434, Rn. 18, und vom 6. April 1995, RTE und ITP/Kommission, C‑241/91 P und C‑242/91 P, EU:C:1995:98, Rn. 84).

66      Im Licht dieser Grundsätze ist die Begründetheit der zweiten Rüge zu prüfen, mit der die Kommission dem Vereinigten Königreich vorwirft, es habe dadurch gegen Art. 351 Abs. 1 AEUV verstoßen, dass der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) im beanstandeten Urteil diese Bestimmung falsch ausgelegt und angewandt habe.

67      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass dieses Gericht mit dem beanstandeten Urteil im Wesentlichen entschied, dass Art. 351 Abs. 1 AEUV auf die Verpflichtung des Vereinigten Königreichs gemäß dem ICSID-Übereinkommen, insbesondere dessen Art. 54, den Schiedsspruch zu vollstrecken, anwendbar sei. Folglich sei das Unionsrecht, insbesondere die Art. 107 und 108 AEUV, die die Kommission in Bezug auf diesen Schiedsspruch in der Aussetzungsanordnung, im Eröffnungsbeschluss und im abschließenden Beschluss angewandt habe, nicht anwendbar und habe dem nicht entgegenstehen können, dass die innerstaatlichen Gerichte der Mitgliedstaaten diesen Schiedsspruch vollstreckten.

68      Um zu beurteilen, ob, wie die Kommission geltend macht, eine solche Auslegung und eine solche Anwendung von Art. 351 Abs. 1 AEUV falsch sind, ist als Erstes Folgendes festzustellen: Es steht fest, dass es sich bei dem ICSID-Übereinkommen, dem die Union nicht beigetreten ist und das daher nicht Teil des Unionsrechts ist, um einen multilateralen Vertrag handelt, der vom Vereinigten Königreich vor seinem Beitritt zur Union sowohl mit Mitgliedstaaten als auch mit Drittstaaten geschlossen wurde. Folglich kann diese internationale Übereinkunft vom Anwendungsbereich von Art. 351 Abs. 1 AEUV erfasst werden, bei dem es sich um eine Bestimmung des Unionsrechts handelt, für deren verbindliche Auslegung der Gerichtshof ausschließlich zuständig ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, Republik Moldau, C‑741/19, EU:C:2021:655, Rn. 45).

69      Wie sich aus der in den Rn. 59 bis 65 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, reicht jedoch der bloße Umstand, dass ein Mitgliedstaat eine frühere internationale Übereinkunft mit Drittstaaten geschlossen hat, für die Anwendbarkeit dieser Bestimmung nicht aus. Denn solche internationalen Übereinkünfte können in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten nur geltend gemacht werden, wenn diese Drittstaaten unter den Umständen des Einzelfalls aus ihnen Rechte ableiten, deren Beachtung sie von dem betreffenden Mitgliedstaat verlangen können.

70      Daher ist als Zweites zu prüfen, ob das ICSID-Übereinkommen in Bezug auf die Vollstreckung des Schiedsspruchs dem Vereinigten Königreich Verpflichtungen gegenüber Drittstaaten auferlegt, die diese ihm gegenüber im Sinne von Art. 351 Abs. 1 AEUV geltend machen können.

71      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Schiedsgericht, das im Rahmen des ICSID-Übereinkommens in Anwendung der Schiedsklausel gebildet wurde, die im BIT vorgesehen ist, das zwischen dem Königreich Schweden und Rumänien vor dessen Beitritt zur Union geschlossen wurde, Rumänien mit dem Schiedsspruch verurteilt hat, an die Investoren, an schwedische Staatsangehörige und an von diesen kontrollierte Gesellschaften, Ersatz des Schadens zu leisten, der diesen dadurch entstanden sein soll, dass Rumänien unter mutmaßlichem Verstoß gegen das BIT vor seinem Beitritt zur Union eine regionale Beihilferegelung aufgehoben habe.

72      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist ein solcher bilateraler Vertrag aber seit dem Beitritt Rumäniens zur Union als ein Vertrag anzusehen, der zwei Mitgliedstaaten betrifft (vgl. entsprechend Urteil vom 8. September 2009, Budějovický Budvar, C‑478/07, EU:C:2009:521, Rn. 97 und 98).

73      Daraus folgt, dass der Rechtsstreit, mit dem die Investoren vorliegend den Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) befassten, darauf abzielte, einem Mitgliedstaat, nämlich dem Vereinigten Königreich, die Verpflichtung aufzuerlegen, in Anwendung des ICSID-Übereinkommens einen Schiedsspruch zu vollstrecken, um sicherzustellen, dass ein anderer Mitgliedstaat, vorliegend Rumänien, seinen Verpflichtungen aus dem BIT gegenüber einem weiteren Mitgliedstaat, nämlich dem Königreich Schweden, nachkommt.

74      Folglich betraf dieser Rechtsstreit die mutmaßliche Verpflichtung des Vereinigten Königreichs, gegenüber dem Königreich Schweden und dessen Staatsangehörigen das ICSID-Übereinkommens einzuhalten, und dementsprechend das mutmaßliche Recht Letzterer, vom Vereinigten Königreich dessen Einhaltung zu verlangen.

75      Ein Drittstaat scheint hingegen nicht berechtigt, vom Vereinigten Königreich nach dem ICSID-Übereinkommen die Vollstreckung des Schiedsspruchs zu verlangen. Aus den vom Generalanwalt in den Nrn. 133 bis 137 seiner Schlussanträge dargelegten Gründen und wie die Kommission zur Stützung der vorliegenden Rüge vorgebracht hat, soll diese internationalen Übereinkunft trotz ihres multilateralen Charakters die bilateralen Beziehungen zwischen den Vertragsparteien in einer Weise regeln, die einem bilateralen Abkommen entspricht (vgl. entsprechend Urteil vom 2. September 2021, Republik Moldau, C‑741/19, EU:C:2021:655, Rn. 64).

76      Insoweit ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) in den Rn. 104 bis 108 des beanstandeten Urteils zwar feststellte, dass es ein solches Recht gebe, auf das sich Drittstaaten gegenüber dem Vereinigten Königreich berufen könnten, sich dieses nationale Gericht aber, wie der Generalanwalt in den Nrn. 147 bis 149 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, im Wesentlichen auf den Hinweis beschränkt, dass Drittstaaten, die Vertragsparteien des ICSID-Übereinkommen seien, ein Interesse daran haben könnten, dass ein Mitgliedstaat wie das Vereinigte Königreich seinen Verpflichtungen gegenüber einem anderen Mitgliedstaat nachkomme, indem er einen Schiedsspruch, auf den das Übereinkommen anwendbar sei, gemäß dessen Bestimmungen vollstrecke. Ein solches rein faktisches Interesse ist jedoch nicht mit einem „Recht“ im Sinne von Art. 351 Abs. 1 AEUV gleichzusetzen, das die Anwendung dieser Bestimmung rechtfertigen könnte.

77      Dagegen ist festzustellen, dass der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) im beanstandeten Urteil nicht die grundlegende Frage prüfte, inwieweit ein Drittstaat, insbesondere nach Art. 64 des ICSID-Übereinkommens, das Vereinigte Königreich wegen Verstößen gegen seine Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen im Rahmen der Vollstreckung eines Schiedsspruchs, der in einem Rechtsstreit zwischen Mitgliedstaaten ergangen ist, international haftbar machen könnte.

78      Art. 351 Abs. 1 AEUV ist eine Vorschrift, die, wenn ihr Tatbestand erfüllt ist, Abweichungen vom Unionsrecht einschließlich des Primärrechts zulassen kann (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 119 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

79      Diese Bestimmung kann somit erhebliche Auswirkungen auf die Unionsrechtsordnung haben, da sie es, wie der Generalanwalt in den Nrn. 140 und 175 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, erlaubt, vom Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts abzuweichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. März 1995, Evans Medical und Macfarlan Smith, C‑324/93, EU:C:1995:84, Rn. 26 bis 28), der ein wesentliches Merkmal des Unionsrechts ist (vgl. u. a. Urteil vom 2. September 2021, Republik Moldau, C‑741/19, EU:C:2021:655, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

80      Folgte man dem beanstandeten Urteil, könnten alle Mitgliedstaaten, die vor ihrem Beitritt zur Union Parteien des ICSID-Übereinkommens geworden sind, was bei den meisten von ihnen der Fall ist, auf der Grundlage von Art. 351 Abs. 1 AEUV in der Lage sein, Rechtsstreitigkeiten, die das Unionsrecht betreffen, der Gerichtsbarkeit der Union zu entziehen, indem sie sie den im Rahmen dieses Übereinkommens gebildeten Schiedsgerichten übertragen. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wie sie im Urteil vom 6. März 2018, Achmea (C‑284/16, EU:C:2018:158), verankert ist, ergibt sich jedoch, dass das im EU-Vertrag und im AEU-Vertrag vorgesehene System der gerichtlichen Rechtsbehelfe an die Stelle der zwischen den Mitgliedstaaten eingerichteten Schiedsverfahren getreten ist (Urteil vom 25. Januar 2022, Kommission/European Food u. a., C‑638/19 P, EU:C:2022:50, Rn. 145).

81      Art. 351 Abs. 1 AEUV ist daher nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eng auszulegen, damit die allgemeinen Regelungen der Unionsverträge nicht ausgehöhlt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 120).

82      Unter diesen Umständen war der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) jedenfalls verpflichtet, bevor er zu der Schlussfolgerung kam, dass aufgrund von Art. 351 Abs. 1 AEUV das Unionsrecht auf die Verpflichtung des Vereinigten Königreichs nach dem ICSID-Übereinkommen, den Schiedsspruch zu vollstrecken, nicht anwendbar sei, eingehend zu prüfen, ob eine solche Verpflichtung trotz dessen, dass sie sich auf einen Schiedsspruch bezieht, mit dem ein Verstoß eines Mitgliedstaats gegen einen mit einem anderen Mitgliedstaat geschlossenen bilateralen Vertrag festgestellt wurde, auch Rechte impliziert, auf die sich Drittstaaten gegenüber diesen Staaten berufen könnten.

83      Eine solche eingehende Prüfung, die den Grundsatz berücksichtigt, wonach jede Ausnahme vom Vorrang des Unionsrechts eng auszulegen ist, fehlt jedoch im beanstandeten Urteil, das daher die Erwägungen in den Rn. 73 bis 75 des vorliegenden Urteils nicht in Frage stellen kann.

84      Daher ist, ohne dass das Vorbringen der Kommission zur Tragweite der Wendung in Art. 351 Abs. 1 AEUV „durch die Verträge … berührt“ geprüft zu werden braucht, festzustellen, dass der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) mit dem beanstandeten Urteil diese Bestimmung falsch auslegte und anwandte, indem er ihr einen weiten Anwendungsbereich in dem Sinne verlieh, dass sie auf die Verpflichtung des Vereinigten Königreichs nach dem ICSID-Übereinkommen zur Vollstreckung des Schiedsspruchs anwendbar war, so dass das Unionsrecht aufgrund seiner Nichtanwendbarkeit dieser Vollstreckung nicht entgegenstehen konnte.

85      Es ist jedoch nicht hinnehmbar, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats, zumal ein Gericht, dessen Entscheidungen nach innerstaatlichem Recht unanfechtbar sind, wie vorliegend der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs), eine falsche Auslegung des Unionsrechts vornehmen kann, deren Zweck und Wirkung darin besteht, die Anwendung des gesamten Unionsrechts bewusst auszuschließen.

86      Eine solche Auslegung, die, wie bereits aus den Rn. 78 und 79 des vorliegenden Urteils hervorgeht, dazu führt, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, der eines seiner wesentlichen Merkmale ist, nicht zum Tragen kommt, ist nämlich geeignet, die Kohärenz, die volle Geltung und die Autonomie des Unionsrechts sowie letztlich den eigenen Charakter des durch die Verträge geschaffenen Rechts in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, Republik Moldau, C‑741/19, EU:C:2021:655, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

87      Daraus ergibt sich, dass der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) mit dem beanstandeten Urteil die Unionsrechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt hat.

88      Infolgedessen ist der zweiten Rüge, mit der ein Verstoß gegen Art. 351 Abs. 1 AEUV in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens geltend gemacht wird, stattzugeben.

 Zur ersten Rüge: Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens

 Vorbringen der Klägerin

89      Mit ihrer ersten Rüge wirft die Kommission dem Vereinigten Königreich einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens vor. Der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) habe mit dem beanstandeten Urteil über die Auslegung von Art. 351 Abs. 1 AEUV und über die Anwendung dieser Bestimmung auf die Vollstreckung des Schiedsspruchs entschieden, obwohl die diese Auslegung betreffende Frage durch einen Beschluss der Kommission beantwortet worden und vor den Unionsgerichten anhängig sei.

90      Werde ein nationales Gericht mit einer Rechtssache befasst, die bereits Gegenstand einer Untersuchung durch die Kommission oder eines Gerichtsverfahrens vor den Unionsgerichten sei, sei dieses nationale Gericht aufgrund der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit verpflichtet, das Verfahren auszusetzen, es sei denn, es bestehe kaum die Gefahr eines Widerspruchs zwischen seinem künftigen Urteil und dem künftigen Rechtsakt der Kommission oder dem künftigen Urteil der Unionsgerichte.

91      Der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) sei jedoch durch das vorliegend von den Investoren im Vereinigten Königreich eingeleitete Vollstreckungsverfahren mit einem Rechtsbehelf befasst worden, der es erfordert habe, dieselbe Bestimmung des Unionsrechts im Hinblick auf dieselbe Maßnahme auszulegen, zu der die Kommission bereits Stellung genommen habe und über die die Unionsgerichte zu entscheiden hätten.

92      Der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) habe zwar zunächst anerkannt, dass die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit in Anbetracht des gegen das Urteil des Gerichts eingelegten Rechtsmittels bis zum Erlass des endgültigen Urteils der Unionsgerichte fortbestehe. Schließlich sei er jedoch unter Berufung auf fehlerhafte Gründe zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Verpflichtung vorliegend nicht anwendbar sei, wodurch die Gefahr eines Widerspruchs zwischen seinem Urteil und den Entscheidungen der Kommission und/oder des Gerichtshofs zu derselben Frage entstanden sei.

 Würdigung durch den Gerichtshof

93      Es ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 2 und 3 EUV zum einen alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen ergreifen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben, sowie zum anderen die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe unterstützen und alle Maßnahmen unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.

94      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich aus dem in dieser Bestimmung verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, dass die Mitgliedstaaten und insbesondere die nationalen Gerichte alle geeigneten Maßnahmen zu treffen haben, um die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten (vgl. u. a. Urteil vom 8. März 2022, Kommission/Vereinigtes Königreich [Bekämpfung von Betrug durch Unterbewertung], C‑213/19, EU:C:2022:167, Rn. 584).

95      Insbesondere beruht die Anwendung der in den Art. 107 und 108 AEUV vorgesehenen unionsrechtlichen Vorschriften im Bereich der staatlichen Beihilfen auf einer Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten einerseits sowie der Kommission und den Unionsgerichten andererseits, in deren Rahmen jeder entsprechend der ihm durch den Vertrag zugewiesenen Rolle handelt (Urteil vom 4. März 2020, Buonotourist/Kommission, C‑586/18 P, EU:C:2020:152, Rn. 89).

96      Insoweit ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung, dass die nationalen Gerichte im Bereich staatlicher Beihilfen mit Rechtsstreitigkeiten befasst werden können, die sie verpflichten, den in Art. 107 Abs. 1 AEUV genannten Begriff „Beihilfe“ auszulegen und anzuwenden, insbesondere um zu ermitteln, ob eine staatliche Maßnahme unter Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV eingeführt wurde. Dagegen sind innerstaatliche Gerichte nicht zuständig, darüber zu befinden, ob eine staatliche Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist. Für die Beurteilung der Vereinbarkeit von Beihilfemaßnahmen oder einer Beihilferegelung mit dem Binnenmarkt ist nämlich ausschließlich die Kommission zuständig, die dabei der Kontrolle der Unionsgerichte unterliegt (Urteil vom 4. März 2020, Buonotourist/Kommission, C‑586/18 P, EU:C:2020:152, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung).

97      Bei dieser notwendigen Zusammenarbeit, auf der die Anwendung dieser Bestimmungen beruht, müssen die nationalen Gerichte alle zur Erfüllung der unionsrechtlichen Verpflichtungen geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art treffen und alle Maßnahmen unterlassen, die die Verwirklichung der mit dem Vertrag verfolgten Ziele gefährden können, wie aus Art. 4 Abs. 3 EUV hervorgeht (Urteil vom 12. Januar 2023, DOBELES HES, C‑702/20 und C‑17/21, EU:C:2023:1, Rn. 77). Insbesondere müssen sie es unterlassen, Entscheidungen zu treffen, die einer Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen, selbst wenn diese Entscheidung nur vorläufigen Charakter hat (Urteil vom 21. November 2013, Deutsche Lufthansa, C‑284/12, EU:C:2013:755, Rn. 41).

98      Demnach folgt, wenn die Entscheidung des bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreits von der Gültigkeit des Beschlusses der Kommission abhängt, aus der Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit, dass dieses Gericht, um nicht eine dem Beschluss der Kommission zuwiderlaufende Entscheidung zu erlassen, das Verfahren aussetzen sollte, bis die Unionsgerichte eine endgültige Entscheidung über die Nichtigkeitsklage erlassen haben, es sei denn, es hält es unter den gegebenen Umständen für gerechtfertigt, dem Gerichtshof eine Vorabentscheidungsfrage nach der Gültigkeit des Beschlusses der Kommission vorzulegen (Urteil vom 25. Juli 2018, Georgsmarienhütte u. a., C‑135/16, EU:C:2018:582, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

99      Für die Rechtsakte der Unionsorgane gilt grundsätzlich die Vermutung der Rechtmäßigkeit, solange sie nicht für nichtig erklärt oder zurückgenommen worden sind (vgl. u. a. Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 139).

100    Vorliegend vertrat die Kommission mit dem abschließenden Beschluss, den sie im Rahmen des Verfahrens gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV im Anschluss an die Aussetzungsanordnung und den Eröffnungsbeschluss erließ, die Auffassung, dass die Zahlung des durch den Schiedsspruch zugesprochenen Schadensersatzes eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV darstelle.

101    Die Kommission stellte, wie sich aus Rn. 21 des vorliegenden Urteils ergibt, zu diesem Zweck sowohl in den Erwägungsgründen 51 bis 54 des Eröffnungsbeschlusses als auch in den Erwägungsgründen 126 bis 129 des abschließenden Beschlusses fest, dass Art. 351 Abs. 1 AEUV der Anwendung der Art. 107 und 108 AEUV auf die Vollstreckung des Schiedsspruchs nicht entgegenstehe. Insbesondere könne die Anwendung der Vorschriften des AEU-Vertrags über staatliche Beihilfen auf den in diesem Schiedsspruch zugesprochenen Schadensersatz keine Auswirkungen auf die Rechte und Pflichten nach Art. 351 Abs. 1 AEUV haben, da zum einen das BIT ein zwischen zwei Mitgliedstaaten geschlossener Vertrag sei und zum anderen kein Drittstaat, der das ICSID-Übereinkommen unterzeichnet und ratifiziert habe, Partei des BIT sei, das Gegenstand des fraglichen Verfahrens sei.

102    Die Investoren hatten zur Stützung ihrer Klage auf Nichtigerklärung des abschließenden Beschlusses, die sie beim Gericht nach Art. 263 AEUV erhoben hatten, mit ihren ersten Klagegründen in den Rechtssachen T‑624/15 und T‑694/15 sowie mit ihrem dritten Klagegrund in der Rechtssache T‑704/15 geltend gemacht, dass diese Begründung der Kommission fehlerhaft sei. Das Urteil des Gerichts erklärte diesen Beschluss jedoch aus einem anderen Grund für nichtig, nämlich, weil die Kommission nach Art. 108 AEUV in zeitlicher Hinsicht nicht zuständig gewesen sei, und ging auf diese Klagegründe nicht ein.

103    Vor diesem Hintergrund stellten die Investoren beim Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) einen Antrag auf Vollstreckung des Schiedsspruchs im Vereinigten Königreich gegenüber Rumänien und damit auf Zahlung des mit diesem Schiedsspruch zugesprochenen Schadensersatzes. Diesen Antrag begründeten sie damit, dass weder die gemäß den Art. 107 und 108 AEUV bei den Organen der Union anhängigen Verfahren noch Art. 351 Abs. 1 AEUV einer solchen Vollstreckung entgegenstünden.

104    Daraus ergibt sich, dass, wie der Generalanwalt in Nr. 79 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die bei den Unionsorganen und beim Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) anhängigen Verfahren dieselbe Frage betrafen, nämlich im Wesentlichen die Vollstreckung des Schiedsspruchs in der Union, die Auslegung derselben Bestimmungen, insbesondere der Art. 107 und 108 AEUV sowie von Art. 351 Abs. 1 AEUV, und die Gültigkeit oder die Wirksamkeit der Beschlüsse, die die Kommission nach den Art. 107 und 108 AEUV erließ, um eine solche Vollstreckung zu verhindern.

105    So stellte der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) in Rn. 51 des beanstandeten Urteils selbst fest, dass das Urteil des Gerichts „die bestehende Untersuchung der Kommission in Bezug auf staatliche Beihilfen nicht berühr[e]“, so dass „die Wirkungen des Eröffnungsbeschlusses fortdauern [würden]“, und dass er „nicht sicher sein [könne]“, dass das Urteil des Gerichts die Möglichkeit ausschließe, dass die Kommission „ihre Untersuchung in der vorliegenden Rechtssache neu ausricht[e], um Fehler zu vermeiden, die zur Nichtigerklärung des abschließenden Beschlusses geführt [hätten]“.

106    Unter diesen Umständen wies der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs), wie bereits in Rn. 32 des vorliegenden Urteils ausgeführt, in Rn. 56 des beanstandeten Urteils darauf hin, dass er „wegen der Gefahr einander widersprechender Entscheidungen mit demselben Gegenstand zwischen denselben Parteien besorgt“ sei, da es „ihm unmöglich [sei], festzustellen, dass kaum die Gefahr eines Widerspruchs [bestehe]“ und dass wenn sich diese Gefahr verwirklichen sollte, dies „eine erhebliche Behinderung der Anwendung des Unionsrechts“ zur Folge hätte, so dass „ein beim Gerichtshof anhängiges Rechtsmittel, das reale Aussichten auf Erfolg [habe], für sich genommen ausreich[e], um die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit zu begründen“.

107    Es zeigt sich somit, dass sich der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) vollkommen dessen bewusst war, dass die Entscheidung, die Vollstreckung des Schiedsspruchs im Vereinigten Königreich zuzulassen, sollte er sie treffen, sowohl das bei der Kommission gemäß den Art. 107 und 108 AEUV eingeleitete Verwaltungsverfahren als auch das vor den Unionsgerichten nach Art. 263 AEUV eingeleitete Gerichtsverfahren konterkarieren würde.

108    Zwar war der abschließende Beschluss zu dem Zeitpunkt, zu dem der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) das beanstandete Urteil erließ, durch das Urteil des Gerichts für nichtig erklärt worden.

109    Eine solche Nichtigerklärung hat jedoch keine Auswirkung auf die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, die für den Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens bestand.

110    Zum einen hatte, wie die Kommission zu Recht feststellt, die Nichtigerklärung des abschließenden Beschlusses nicht zur Folge, dass die Aussetzungsanordnung oder der Eröffnungsbeschluss in Frage gestellt wurden. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs berührt die Nichtigerklärung eines Rechtsakts der Union nicht notwendig die vorbereitenden Handlungen, da das Verfahren zur Ersetzung des für nichtig erklärten Akts grundsätzlich genau an dem Punkt wieder aufgenommen werden kann, an dem die Rechtswidrigkeit eingetreten ist (Urteil vom 21. September 2017, Riva Fire/Kommission, C‑89/15 P, EU:C:2017:713, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

111    Vorliegend erklärte das Gericht mit seinem Urteil den abschließenden Beschluss zwar mit der Begründung für nichtig, dass die Kommission nach Art. 108 AEUV in zeitlicher Hinsicht nicht zuständig gewesen sei. Zuvor stellte es jedoch in Rn. 108 dieses Urteils fest, wie bereits in Rn. 25 des vorliegenden Urteils ausgeführt, dass die Kommission nicht zwischen den zurückzufordernden Schadensersatzbeträgen, die sich auf den Zeitraum vor dem Beitritt Rumäniens zur Union bezögen, und denjenigen, die sich auf den Zeitraum nach diesem Beitritt bezögen, unterschieden habe.

112    Daraus folgt, dass das Urteil des Gerichts, wie bereits in Rn. 105 des vorliegenden Urteils ausgeführt und wie der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) in Rn. 51 des beanstandeten Urteils selbst feststellte, die Kommission nicht daran hinderte, das förmliche Prüfverfahren nach Art. 108 Abs. 2 AEUV unter Beschränkung auf den Schadensersatz für die Zeit nach diesem Beitritt wieder aufzunehmen.

113    Vor diesem Hintergrund entfaltete der Eröffnungsbeschluss, der die Relevanz von Art. 351 Abs. 1 AEUV ausschließt, somit weiterhin seine Wirkungen, was auch der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) in Rn. 51 anerkannte.

114    Zum anderen hatten die Unionsgerichte, da die Kommission vor Erlass des beanstandeten Urteils ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts eingelegt hatte, auch wenn ein Rechtsmittel gemäß Art. 278 AEUV keine aufschiebende Wirkung hat, zu dem Zeitpunkt, zu dem der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) mit dem beanstandeten Urteil entschied, noch keine endgültige Entscheidung über die Gültigkeit des abschließenden Beschlusses getroffen.

115    Es war nämlich nicht auszuschließen, dass der Gerichtshof wiederum das Urteil des Gerichts aufhebt und an das Gericht zurückverweist, damit es die weiteren Klagegründe betreffend die Nichtigerklärung des abschließenden Beschlusses prüft, darunter diejenigen, die auf einen Verstoß gegen Art. 351 Abs. 1 AEUV gestützt wurden. Diese Situation ist im Übrigen im Anschluss an das Urteil vom 25. Januar 2022, Kommission/European Food u. a. (C‑638/19 P, EU:C:2022:50) eingetreten, das nach dem betreffenden Urteil und der mit Gründen versehenen Stellungnahme erging.

116    Aus dem Vorstehenden ergibt sich somit, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) das beanstandete Urteil erließ, die Frage der Auswirkungen von Art. 351 Abs. 1 AEUV auf die Anwendung des Unionsrechts, insbesondere der Art. 107 und 108 AEUV, auf die Vollstreckung des Schiedsspruchs Gegenstand einer vorläufigen Prüfung durch die Kommission in ihrem Eröffnungsbeschluss war, in dessen Rahmen sie, wie in Rn. 101 des vorliegenden Urteils festgestellt, die Anwendung von Art. 351 Abs. 1 AEUV ausgeschlossen hatte, und durch den Unionsrichter im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens nach Art. 263 AEUV, mit dem die Nichtigerklärung des abschließenden Beschlusses erwirkt werden sollte, noch beurteilt werden konnte.

117    Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass zu dem Zeitpunkt, zu dem der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) das beanstandete Urteil erließ, die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen bestand. Diese Gefahr hat sich im Übrigen konkretisiert, da in diesem Urteil die Anwendung von Art. 351 Abs. 1 AEUV und die Verpflichtung, den Schiedsspruch nach dem ICSID-Übereinkommen zu vollstrecken, bejaht wurde, wohingegen der Eröffnungsbeschluss ebenso wie der abschließende Beschluss, dessen Rechtmäßigkeit zum Zeitpunkt des Erlasses dieses Urteils Gegenstand eines Rechtsmittels war, zu völlig entgegengesetzten Feststellungen kam.

118    Diese Schlussfolgerung kann durch keinen der in Rn. 35 des vorliegenden Urteils angeführten Gründe in Frage gestellt werden, die der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) vorgebracht hat, um vorliegend die Anwendung der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit abzulehnen.

119    Was erstens den Grund betrifft, wonach für die Zwecke der Anwendung von Art. 351 Abs. 1 AEUV die Fragen nach dem Bestehen und des Umfangs der Pflichten aus früheren internationalen Übereinkünften, denen die Union nicht beigetreten ist, nicht den Unionsgerichten vorbehalten oder gar ihrer Zuständigkeit entzogen sind, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV keineswegs auf der Prämisse beruht, dass bestimmte Fragen in die ausschließliche Zuständigkeit der Unionsgerichte oder der nationalen Gerichte fielen, sondern im Gegenteil voraussetzt, dass ein und dieselbe Frage in die konkurrierende Zuständigkeit jedes dieser Gerichte fallen kann, so dass die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen besteht.

120    Die Frage, mit der vorliegend zugleich zum einen der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) und zum anderen die Kommission und die Unionsgerichte befasst wurden, betraf jedoch die Tragweite von Art. 351 Abs. 1 AEUV, bei dem es sich um eine Bestimmung des Unionsrechts handelt, deren verbindliche Auslegung, wie bereits in Rn. 68 des vorliegenden Urteils dargelegt, in die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs fällt, da das Urteil, das der Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV erlässt, die nationalen Gerichte bei der Entscheidung der bei ihnen anhängigen Rechtsstreitigkeiten bindet (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 5. Juli 2016, Ognyanov, C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 33).

121    Insoweit ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass Art. 351 Abs. 1 AEUV keinen Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten oder auf das Völkerrecht enthält, so dass davon auszugehen ist, dass es sich bei den in dieser Bestimmung enthaltenen Begriffen um autonome Begriffe des Unionsrechts handelt, die im gesamten Unionsgebiet einheitlich auszulegen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Juni 2021, Venezuela/Rat [Betroffenheit eines Drittstaats], C‑872/19 P, EU:C:2021:507, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).

122    Daraus folgt, dass die Unionsgerichte für die Feststellung zuständig sind, ob eine frühere zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten geschlossene internationale Übereinkunft wie das ICSID-Übereinkommen dem betreffenden Mitgliedstaat, vorliegend dem Vereinigten Königreich, Verpflichtungen auferlegt, deren Einhaltung ein Drittstaat verlangen kann, und ob im Sinne von Art. 351 Abs. 1 AEUV diese Rechte und Pflichten durch die Verträge der Union berührt werden.

123    Dies ist, wie der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) in Rn. 99 des beanstandeten Urteils anerkannte, im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV oder einer Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV der Fall. Der Unionsrichter muss nämlich, damit er nicht den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes verletzt, bei der Entscheidung über die Begründetheit eines Vorbringens, mit dem geltend gemacht wird, dass ein Unionsorgan bzw. ein Mitgliedstaat im Hinblick auf eine frühere internationale Übereinkunft gegen Art. 351 Abs. 1 AEUV verstoßen habe, notwendigerweise die Tragweite dieser Übereinkunft prüfen, um über den bei ihm anhängigen Rechtsbehelf zu entscheiden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. April 1995, RTE und ITP/Kommission, C‑241/91 P und C‑242/91 P, EU:C:1995:98, Rn. 84, sowie vom 15. September 2011, Kommission/Slowakei, C‑264/09, EU:C:2011:580, Rn. 40 und 42).

124    Dies gilt entgegen den Ausführungen des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) in Rn. 99 des beanstandeten Urteils auch, wenn der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV angerufen wird.

125    Zwar hat der Gerichtshof entschieden, dass es in einem solchen Rahmen Sache des nationalen Gerichts ist, festzustellen, welche Verpflichtungen der betroffene Mitgliedstaat aus einer früheren internationalen Übereinkunft hat, und deren Grenzen so abzustecken, dass ermittelt werden kann, inwieweit diese Verpflichtungen der Anwendung des Unionsrechts entgegenstehen (vgl. u. a. Urteile vom 2. August 1993, Levy, C‑158/91, EU:C:1993:332, Rn. 21, und vom 14. Januar 1997, Centro-Com, C‑124/95, EU:C:1997:8, Rn. 58).

126    Diese Rechtsprechung, die die unterschiedlichen Rollen widerspiegelt, die dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens grundsätzlich zugewiesen sind, ist jedoch nicht so zu verstehen, dass dem Gerichtshof dadurch jede Befugnis genommen würde, gemäß Art. 267 AEUV die Tragweite der Bestimmungen einer internationalen Übereinkunft wie des ICSID-Übereinkommens zu prüfen, um festzustellen, ob sie unter Art. 351 Abs. 1 AEUV fallen kann.

127    Dies gilt umso mehr, wenn – wie unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache – die Anwendung der letztgenannten Bestimmung auf eine solche internationale Übereinkunft entscheidende Auswirkungen auf den Ausgang einer parallelen direkten Klage haben kann, die bei den Unionsgerichten nach Art. 263 AEUV erhoben wurde und auf die Nichtigerklärung eines Beschlusses der Kommission – wie des abschließenden Beschlusses – gerichtet ist, in dem ebenso wie im Eröffnungsbeschluss festgestellt wurde, dass Art. 351 Abs. 1 AEUV auf die Verpflichtung des Vereinigten Königreichs, den Schiedsspruch nach dem ICSID-Übereinkommen zu vollstrecken, nicht anwendbar sei.

128    Da der Unionsrichter im Rahmen einer Nichtigkeitsklage über die Gültigkeit eines Unionsrechtsakts zu entscheiden hat, entspricht es nämlich der Rollenverteilung zwischen den nationalen Gerichten und dem Unionsrichter, dass nur der Gerichtshof die Zuständigkeit dafür besitzt, die maßgebliche frühere internationale Übereinkunft auszulegen, um zu ermitteln, ob Art. 351 Abs. 1 AEUV der Anwendung des Unionsrechts durch diesen Rechtsakt entgegensteht, da nach ständiger Rechtsprechung ausschließlich der Gerichtshof befugt ist, die Ungültigkeit einer Handlung der Union festzustellen (Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).

129    Zweitens ist zu dem Grund, wonach die im vorliegenden Fall die vor den nationalen Gerichten und den Unionsgerichten aufgeworfenen Fragen in Bezug auf die betreffenden Bestimmungen des ICSID-Übereinkommens und der beteiligten Mitgliedstaaten nicht übereinstimmen, festzustellen, dass zum einen sowohl das von der Kommission gemäß den Art. 107 und 108 AEUV geführte Verfahren sowie das vor den Unionsgerichten angestrengte Verfahren als auch zum anderen das Verfahren, mit dem die Gerichte im Vereinigten Königreich befasst waren, die Vollstreckung des gegen einen Mitgliedstaat ergangenen Schiedsspruchs durch einen anderen Mitgliedstaat nach diesem Übereinkommen zum Gegenstand hatten und dieselbe Frage aufwarfen, inwieweit Art. 351 Abs. 1 AEUV in einem solchen Kontext die Anwendung des Unionsrechts ausschließen kann, da alle diese Mitgliedstaaten vor ihrem Beitritt zur Union Parteien dieses Übereinkommens geworden sind.

130    Insoweit ist es unerheblich, dass unterschiedliche Bestimmungen des ICSID-Übereinkommens, nämlich dessen Art. 53 oder Art. 54, vor den nationalen Gerichten und den Organen der Union geltend gemacht worden seien oder dass es um verschiedene Mitgliedstaaten gehe, nämlich je nach Fall das Vereinigte Königreich oder Rumänien, die Vertragsstaaten des ICSID-Übereinkommens sind, da diese Verfahren zu einander widersprechenden Entscheidungen führen konnten.

131    Jedenfalls wird im beanstandeten Urteil zu Unrecht angedeutet, dass Art. 54 des ICSID-Übereinkommens vor den Unionsgerichten nicht zum Tragen komme. Aus den Erwägungsgründen 31 und 32 des abschließenden Beschlusses geht nämlich hervor, dass die Investoren auf der Grundlage dieses Artikels die Zwangsvollstreckung des Schiedsspruchs in Rumänien beantragt haben, so dass vor dem Gericht nicht nur Art. 53, sondern auch Art. 54 des ICSID-Übereinkommens geltend gemacht wird, was im Übrigen der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) in Rn. 113 des beanstandeten Urteils selbst feststellte.

132    Drittens genügt in Bezug auf den Grund, wonach die Wahrscheinlichkeit sehr gering sei, dass ein Unionsgericht über die Anwendung von Art. 351 Abs. 1 AEUV auf Verpflichtungen entscheide, die vor dem Beitritt bestanden hätten, sich aus dem ICSID-Übereinkommen ergäben und den Schiedsspruch beträfen, die Feststellung, dass der Gerichtshof in dem Fall, dass er dem von der Kommission gegen das Urteil des Gerichts eingelegten Rechtsmittel stattgibt, gemäß Art. 61 Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs den Rechtsstreit entweder selbst endgültig entscheiden oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen konnte, was in beiden Fällen bedeutet, dass der Unionsrichter die im ersten Rechtszug vorgebrachten, auf einen Verstoß gegen Art. 351 Abs. 1 AEUV gestützten Klagegründe prüfen muss. Da der Gerichtshof im vorliegenden Fall das Urteil des Gerichts aufhob und die Sache an das Gericht zurückverwies, sind diese Klagegründe somit beim Gericht anhängig.

133    Im umgekehrten Fall der Zurückweisung dieses Rechtsmittels wäre die Kommission verpflichtet gewesen, das Verfahren betreffend die Anwendung der Art. 107 und 108 AEUV auf die Zahlung des im Schiedsspruch festgesetzten Schadensersatzes wieder aufzunehmen und in diesem Zusammenhang erneut die Frage der Auswirkungen von Art. 351 Abs. 1 AEUV und damit des ICSID-Übereinkommens auf dieses Verfahren zu beurteilen, unbeschadet der späteren Erhebung einer Klage nach Art. 263 AEUV vor dem Unionsrichter.

134    Daraus ergibt sich, dass unabhängig vom Ausgang des von der Kommission gegen das Urteil des Gerichts eingelegten Rechtsmittels zum Zeitpunkt des Erlasses des beanstandeten Urteils durch den Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) nicht davon ausgegangen werden konnte, dass die Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Unionsgericht die Frage der Anwendung von Art. 351 Abs. 1 AEUV auf die Vollstreckung des Schiedsspruchs nach dem ICSID-Übereinkommen prüfen würde, gering war.

135    Infolgedessen ist der ersten Rüge, mit der ein Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 EUV in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens geltend gemacht wird, stattzugeben.

 Zur dritten Rüge: Verstoß gegen Art. 267 Abs. 1 und 3 AEUV in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens

 Vorbringen der Klägerin

136    Die Kommission beanstandet, das Vereinigte Königreich habe gegen Art. 267 Abs. 1 und 3 AEUV in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens verstoßen, da der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) das beanstandete Urteil erlassen habe, ohne zuvor dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung zum einen zur Gültigkeit der Aussetzungsanordnung und des Eröffnungsbeschlusses sowie zum anderen zur Auslegung der Bestimmung von Art. 351 Abs. 1 AEUV vorgelegt zu haben, bei der es sich weder um einen „acte clair“ noch um einen „acte éclairé“ handele.

137    Was als Erstes das Fehlen eines Vorabentscheidungsersuchens zur Beurteilung der Gültigkeit betrifft, macht die Kommission geltend, das beanstandete Urteil habe dazu geführt, dass sowohl die Aussetzungsanordnung als auch der Eröffnungsbeschluss ins Leere gegangen seien. Der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) habe nämlich, indem er es abgelehnt habe, diesen Entscheidungen, nach denen die Zahlung der fraglichen Beihilfe gemäß Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV auszusetzen sei, Wirkung zu verleihen, so gehandelt, als seien diese Entscheidungen ungültig gewesen. Jedoch sei allein der Gerichtshof befugt, Unionsrechtsakte für ungültig zu erklären.

138    Was als Zweites das Fehlen eines Vorabentscheidungsersuchens zur Auslegung betrifft, trägt die Kommission vor, dass der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) als letztinstanzliches nationales Gericht mit zwei Fragen befasst gewesen sei, die ihn zu der Feststellung hätten veranlassen müssen, dass er zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet gewesen sei, nämlich erstens die Frage der Auslegung von Art. 351 Abs. 1 AEUV im Hinblick auf Verpflichtungen aus multilateralen Übereinkünften, denen sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Drittstaaten beigetreten seien, und zum anderen die Frage der Zuständigkeit der nationalen Gerichte und der Unionsgerichte für die Auslegung dieser Bestimmung.

 Würdigung durch den Gerichtshof

139    Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof gemäß Art. 86 des Austrittsabkommens weiterhin für Vorabentscheidungsersuchen der Gerichte des Vereinigten Königreichs zuständig ist, die vor Ende des Übergangszeitraums vorgelegt werden. Wie bereits in Rn. 51 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ist das beanstandete Urteil in diesem Zeitraum ergangen.

140    Wird eine Frage zur Auslegung in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können – was beim Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) der Fall ist – so ist dieses Gericht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet.

141    Jedoch kann die Wirkung, die von einer durch den Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV gegebenen Auslegung ausgeht, den inneren Grund der Verpflichtung gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV entfallen und sie somit sinnlos erscheinen lassen, und zwar insbesondere dann, wenn die gestellte Frage tatsächlich bereits in einem gleichgelagerten Fall – und erst recht im Rahmen derselben nationalen Rechtssache – Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen ist, oder wenn eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst ist, gleich in welcher Art von Verfahren sich diese Rechtsprechung gebildet hat, und selbst dann, wenn die strittigen Fragen nicht vollkommen identisch sind (Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 36).

142    Des Weiteren kann nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein einzelstaatliches Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, davon absehen, dem Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen, und darf sie stattdessen in eigener Verantwortung lösen, wenn die richtige Auslegung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel bleibt. Das in letzter Instanz entscheidende einzelstaatliche Gericht darf jedoch nur dann davon ausgehen, dass ein solcher Fall vorliegt, wenn es unter Berücksichtigung der Eigenheiten des Unionsrechts, der besonderen Schwierigkeiten seiner Auslegung und der Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Union überzeugt ist, dass auch für die übrigen letztinstanzlichen Gerichte der Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 39 bis 41).

143    Wenn dem in letzter Instanz entscheidenden einzelstaatlichen Gericht das Vorliegen voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen – von Gerichten ein und desselben Mitgliedstaats oder zwischen Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten – zur Auslegung einer auf den betreffenden Rechtsstreit anwendbaren Vorschrift des Unionsrechts zur Kenntnis gebracht wird, muss es bei seiner Beurteilung der Frage, ob es an einem vernünftigen Zweifel in Bezug auf die richtige Auslegung der fraglichen Unionsrechtsvorschrift fehlt, besonders sorgfältig sein und dabei insbesondere das mit dem Vorabentscheidungsverfahren angestrebte Ziel, die einheitliche Auslegung des Unionsrechts zu gewährleisten, berücksichtigen (Urteil vom 6. Oktober 2021, Consorzio Italian Management und Catania Multiservizi, C‑561/19, EU:C:2021:799, Rn. 49).

144    Im vorliegenden Fall ist jedoch als Erstes festzustellen, dass es sich bei der Frage, ob die Vollstreckung – durch einen Mitgliedstaat – eines Schiedsspruchs, der gegenüber einem anderen Mitgliedstaat nach den Bestimmungen des ICSID-Übereinkommens, dem die meisten Mitgliedstaaten vor ihrem Beitritt zur Union beigetreten sind und das somit für diese im Sinne von Art. 351 Abs. 1 AEUV eine frühere internationale Übereinkunft darstellt, ergangen ist, bedeutet, dass diese Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaaten, die diesem Übereinkommen beigetreten sind, im Sinne dieser Bestimmung „Pflichten“ haben, so dass Letztere daraus entsprechende „Rechte“ ableiten, die durch die Bestimmungen der Verträge „berührt“ werden, um eine Frage handelt, die bisher noch nicht Gegenstand der Rechtsprechung des Gerichtshofs war.

145    Denn zwar war der Gerichtshof, wie aus den Rn. 58 bis 65 des vorliegenden Urteils hervorgeht, bereits veranlasst, die Tragweite von Art. 351 Abs. 1 AEUV klarzustellen, doch handelt es sich bei der Frage, ob die Vollstreckung eines Schiedsspruchs durch einen Vertragsstaat des ICSID-Übereinkommens nach den Regelungen dieses Übereinkommens nicht nur von den Vertragsstaaten, die unmittelbar an dem betreffenden Rechtsstreit beteiligt sind, sondern auch von allen anderen Vertragsstaaten des Übereinkommens verlangt werden kann, um eine Frage von gewisser Komplexität, mit der sich der Gerichtshof noch nicht befasst hatte, als der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) das beanstandete Urteil erließ.

146    Zudem hat der Gerichtshof die Tragweite der Wendung „durch die Verträge … berührt“ in Art. 351 Abs. 1 AEUV noch nicht klargestellt.

147    Wie in den Rn. 78 und 79 des vorliegenden Urteils ausgeführt, kann jedoch Art. 351 Abs. 1 AEUV, da er den Mitgliedstaaten erlaubt, das Unionsrecht nicht anzuwenden und damit vom Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, der eins von dessen wesentlichen Merkmalen ist, abzuweichen, erhebliche Auswirkungen auf die Unionsrechtsordnung haben, indem er die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt.

148    Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus den Rn. 21 und 101 des vorliegenden Urteils ergibt, die Kommission im Eröffnungsbeschluss und im abschließenden Beschluss Art. 351 Abs. 1 AEUV in einer Weise ausgelegt hat, die der Auslegung widerspricht, die der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) im beanstandeten Urteil vorgenommen hat.

149    Die von der Kommission vorgenommene Auslegung wird im Übrigen von den Investoren im Rahmen der Begründung ihrer Klage vor dem Gericht auf Nichtigerklärung des abschließenden Beschlusses in Frage gestellt, wobei das Gericht diesen Beschluss mit seinem Urteil jedoch nicht mit der Begründung für nichtig erklärte, dass Art. 351 Abs. 1 AEUV die Anwendung des Unionsrechts ausschließe, sondern mit der Begründung, dass der Beschluss gegen Art. 108 AEUV verstoße. In Anbetracht des Rechtsmittels, das beim Gerichtshof gegen dieses Urteil eingelegt wurde, bleibt bei den Unionsgerichten die Frage anhängig, wie sich Art. 351 Abs. 1 AEUV auf die Vollstreckung des Schiedsspruchs auswirkt.

150    Als Drittes ist darauf hinzuweisen, dass, wie der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) in den Rn. 29, 32, 91 und 94 des beanstandeten Urteils feststellte, sowohl der High Court of England and Wales (Hoher Gerichtshof von England und Wales) als auch der Court of Appeal (Berufungsgericht), die zuvor von den Investoren angerufen worden waren, es in der vorliegenden Rechtssache abgelehnt hatten, über die Frage der Anwendung von Art. 351 Abs. 1 AEUV zu entscheiden, da diese Frage bei den Unionsgerichten anhängig sei und daher die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen bestehe.

151    Als Viertes ist festzustellen, dass das Nacka tingsrätt (Gericht erster Instanz Nacka, Schweden) mit Urteil vom 23. Januar 2019, auf das sich die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen im Verfahren vor dem Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) bezogen hatte, entschied, dass Art. 351 Abs. 1 AEUV auf die Vollstreckung des Schiedsspruchs nicht anwendbar sei, und folglich die Vollstreckung dieses Schiedsspruchs in Schweden mit der Begründung ablehnte, dass er einen Schiedsspruch, mit dem den Investoren Schadensersatz zugesprochen werde, ebenso wenig ohne Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV und Art. 4 Abs. 3 EUV vollstrecken könne wie eine nationale Gerichtsentscheidung, mit der den Investoren Schadensersatz zugesprochen werde.

152    Ferner war die Frage der Vollstreckung des Schiedsspruchs, wie aus dem Beschluss vom 21. September 2022, Romatsa u. a. (C‑333/19, EU:C:2022:749), hervorgeht, zum Zeitpunkt der Entscheidung des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) vor den belgischen Gerichten anhängig, was die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen vor dem Supreme Court ebenfalls vorgetragen hatte.

153    Aus dem Vorstehenden ergibt sich somit, dass vorliegend hinreichende Anhaltspunkte bestanden, die Zweifel an der Auslegung von Art. 351 Abs. 1 AEUV wecken konnten. Diese Zweifel hätten angesichts der Auswirkungen dieser Bestimmung auf eins der wesentlichen Merkmale des Unionsrechts und angesichts der Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen innerhalb der Union den Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) zu der Feststellung veranlassen müssen, dass die Auslegung der genannten Bestimmung nicht derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt.

154    Unter diesen Umständen ist, ohne dass über die Begründetheit des weiteren Vorbringens, auf das die Kommission die vorliegende Rüge stützt, entschieden zu werden braucht, festzustellen, dass der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) als nationales Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, verpflichtet war, den Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV zur Auslegung von Art. 351 Abs. 1 AEUV zu befragen, um die Gefahr einer fehlerhaften Auslegung des Unionsrechts auszuschließen, zu der er, wie aus den Rn. 71 bis 84 des vorliegenden Urteils hervorgeht, in dem beanstandeten Urteil tatsächlich gelangt ist (vgl. entsprechend Urteil vom 4. Oktober 2018, Kommission/Frankreich [Steuervorabzug für ausgeschüttete Dividenden], C‑416/17, EU:C:2018:811, Rn. 113).

155    Bereits aus diesem Grund ist somit der dritten Rüge, mit der ein Verstoß gegen Art. 267 Abs. 1 und 3 AEUV in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens geltend gemacht wird, stattzugeben.

 Zur vierten Rüge: Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens

 Vorbringen der Klägerin

156    Die Kommission macht geltend, mit dem beanstandeten Urteil sei gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens verstoßen worden, da damit Rumänien aufgegeben worden sei, gegen seine unionsrechtlichen Verpflichtungen aus der Aussetzungsanordnung und aus dem Eröffnungsbeschluss zu verstoßen.

157    Der Schiedsspruch sei nämlich vollstreckbar geworden, indem die Aussetzung seiner Vollstreckung von den Gerichten der unteren Instanzen des Vereinigten Königreichs, die über die fragliche Rechtssache entschieden hätten, aufgehoben worden sei. Die Entscheidung des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) habe somit die Zahlung des im Schiedsspruch festgesetzten Schadensersatzes ermöglicht. Diese Wirkung stehe in direktem Widerspruch zu der Aussetzungspflicht gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV, wie sie in der Aussetzungsanordnung und dem Eröffnungsbeschluss festgestellt worden sei.

158    Der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) habe außerdem die Rechtsprechung des Gerichtshofs verkannt, wie sie sich aus dem Urteil vom 18. Juli 2007, Lucchini (C‑119/05, EU:C:2007:434, Rn. 62 und 63), ergebe, wonach das Verbot der Gewährung nicht ordnungsgemäß genehmigter staatlicher Beihilfen geltend gemacht werden könne, um die Vollstreckung rechtskräftiger Urteile nationaler Gerichte zu verhindern, die gegen dieses Verbot verstoßen würden.

 Würdigung durch den Gerichtshof

159    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wie sie in den Rn. 95 und 97 des vorliegenden Urteils wiedergegeben ist, beruht die Anwendung der unionsrechtlichen Vorschriften im Bereich der staatlichen Beihilfen auf einer Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten einerseits sowie der Kommission und den Unionsgerichten andererseits, so dass die nationalen Gerichte es unterlassen müssen, Entscheidungen zu treffen, die einer Entscheidung der Kommission im Bereich der staatlichen Beihilfen, sei sie auch nur vorläufig, zuwiderliefen.

160    In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten zum einen verpflichtet sind, bei der Kommission alle Maßnahmen anzumelden, mit denen eine Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV eingeführt oder umgestaltet werden soll, und zum anderen, gemäß Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV solche Maßnahmen nicht durchzuführen, solange die Kommission nicht abschließend über sie entschieden hat (Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 56).

161    Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist eine Beihilfemaßnahme, die unter Verstoß gegen die sich aus dieser Bestimmung ergebenden Verpflichtungen durchgeführt wird, rechtswidrig (Urteil vom 19. März 2015, OTP Bank, C‑672/13, EU:C:2015:185, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

162    Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass das in Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV angeordnete Verbot der Durchführung von Beihilfevorhaben unmittelbare Wirkung hat und dass die unmittelbare Anwendbarkeit des in dieser Bestimmung enthaltenen Durchführungsverbots jede Beihilfemaßnahme betrifft, die durchgeführt wird, ohne dass sie angezeigt worden ist (Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 88).

163    Wie sich aus der in Rn. 96 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, ist es folglich Sache der nationalen Gerichte, die Folgerungen aus einer Verletzung von Art. 108 Abs. 3 AEUV nach ihrem nationalen Recht zu ziehen, und zwar sowohl für die Gültigkeit von Handlungen zur Durchführung der Beihilfemaßnahmen als auch für die Einziehung der unter Verstoß gegen diese Bestimmung gewährten finanziellen Unterstützungen (Urteil vom 19. März 2015, OTP Bank, C‑672/13, EU:C:2015:185, Rn. 69 und die dort angeführte Rechtsprechung).

164    Die nationalen Gerichte sind daher befugt, die Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe von ihren Empfängern anzuordnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. März 2019, Eesti Pagar, C‑349/17, EU:C:2019:172, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).

165    Im Übrigen müssen die nationalen Gerichte, wenn sie mit einem Antrag auf Zahlung einer rechtswidrigen Beihilfe befasst sind, diesen Antrag grundsätzlich zurückweisen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Januar 2023, DOBELES HES, C‑702/20 und C‑17/21, EU:C:2023:1, Rn. 121).

166    Vorliegend vertrat die Kommission im abschließenden Beschluss die Auffassung, dass die Zahlung des Schadensersatzes, der mit dem ihr nicht angezeigten Schiedsspruch zugesprochen worden sei, eine rechtswidrige und mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstelle. Dieser Beschluss wurde zwar durch das Urteil des Gerichts für nichtig erklärt, doch war gegen dieses Urteil zu dem Zeitpunkt, als der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) das beanstandete Urteil erließ, ein Rechtsmittel beim Gerichtshof anhängig.

167    Wie bereits in den Rn. 110 bis 113 des vorliegenden Urteils ausgeführt, berührte das Urteil des Gerichts zudem nicht die Rechtmäßigkeit der Aussetzungsanordnung und des Eröffnungsbeschlusses, mit denen die Kommission ebenfalls festgestellt hatte, dass die Zahlung des im Schiedsspruch zugesprochenen Schadensersatzes eine rechtswidrige und mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstellte, und Rumänien aufgab, den Schiedsspruch bis zum Erlass ihres abschließenden Beschlusses nicht zu vollstrecken.

168    Das beanstandete Urteil verlangt jedoch, indem es die Vollstreckung des Schiedsspruchs anordnet, dass Rumänien unter Verstoß gegen die Verpflichtungen aus Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV den durch diesen Schiedsspruch zugesprochenen Schadensersatz zahlt.

169    Daraus folgt, dass Rumänien somit widersprüchlichen Entscheidungen in Bezug auf die Vollstreckung dieses Schiedsspruchs gegenübersteht. Das beanstandete Urteil, das keineswegs die Einhaltung von Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV gemäß der in den Rn. 163 bis 165 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gewährleistet, verstößt daher gegen diese Bestimmung, indem es einen anderen Mitgliedstaat anweist, gegen sie zu verstoßen.

170    Insoweit ist es unerheblich, dass Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV eine Verpflichtung zulasten des „betreffenden Mitgliedstaats“ vorsieht, d. h. grundsätzlich zulasten des Mitgliedstaats, der die Beihilfe auszahlt, vorliegend Rumänien.

171    Wie die Kommission zu Recht geltend macht, waren das Vereinigte Königreich und insbesondere seine innerstaatlichen Gerichte aufgrund der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit, die der Anwendung der unionsrechtlichen Vorschriften im Bereich der staatlichen Beihilfen zugrunde liegt, verpflichtet, Rumänien die Einhaltung seiner Verpflichtungen aus Art. 108 Abs. 3 AEUV zu erleichtern, um dieser Bestimmung nicht ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. September 1988, Matteucci, 235/87, EU:C:1988:460, Rn. 19).

172    Diese Schlussfolgerung wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass der Schiedsspruch rechtskräftig geworden sei. Die Regel der ausschließlichen Zuständigkeit der Kommission für die Beurteilung der Vereinbarkeit einer staatlichen Beihilfe mit dem Binnenmarkt gilt nämlich infolge des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts in der innerstaatlichen Rechtsordnung. Nach dem Unionsrecht darf aber die Anwendung des Grundsatzes der Rechtskraft die nationalen Gerichte nicht daran hindern, alle Konsequenzen aus dem Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV zu ziehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Juli 2007, Lucchini, C‑119/05, EU:C:2007:434, Rn. 62 und 63, sowie vom 4. März 2020, Buonotourist/Kommission, C‑586/18 P, EU:C:2020:152, Rn. 94 und 95).

173    Auch Art. 351 Abs. 1 AEUV kann der Anwendung von Art. 108 Abs. 3 AEUV nicht entgegenstehen, da Art. 351 Abs. 1 AEUV, wie aus den Rn. 71 bis 84 des vorliegenden Urteils hervorgeht, nicht auf den Rechtsstreit anwendbar war, mit dem der Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) befasst war, so dass die unionsrechtlichen Vorschriften im Bereich staatlicher Beihilfen nicht durch die Wirkung der letztgenannten Bestimmung außer Kraft gesetzt werden konnten.

174    Infolgedessen ist der vierten Rüge, mit der ein Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens geltend gemacht wird, stattzugeben.

175    Nach alledem ist festzustellen, dass das Vereinigte Königreich mit dem beanstandeten Urteil gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 108 Abs. 3, Art. 267 Abs. 1 und 3 sowie Art. 351 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des Austrittsabkommens, verstoßen hat.

 Kosten

176    Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Vereinigte Königreich unterlegen ist, sind ihm gemäß dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland hat mit dem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) vom 19. Februar 2020 in der Rechtssache Micula/Rumänien gegen seine Verpflichtungen aus Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 108 Abs. 3, Art. 267 Abs. 1 und 3 sowie Art. 351 Abs. 1 AEUV, jeweils in Verbindung mit Art. 127 Abs. 1 des am 17. Oktober 2019 angenommenen Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, verstoßen.

2.      Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland trägt die Kosten.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Englisch.