Language of document : ECLI:EU:C:2024:231

Rechtssache C516/22

Europäische Kommission

gegen

Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland

 Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 14. März 2024

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Versäumnisverfahren – Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft – Art. 127 Abs. 1 – Übergangszeitraum – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Urteil des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) – Vollstreckung eines Schiedsspruchs, mit dem die Zahlung von Schadensersatz zugesprochen wird – Beschluss der Europäischen Kommission, mit dem festgestellt wird, dass diese Zahlung eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe darstellt – Art. 4 Abs. 3 EUV – Loyale Zusammenarbeit – Pflicht zur Aussetzung des Verfahrens – Art. 351 Abs. 1 AEUV – Zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten vor dem Zeitpunkt ihres Beitritts zur Union geschlossene internationale Übereinkunft – Übereinkommen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten (ICSID) – Anwendung des Unionsrechts – Art. 267 AEUV – In letzter Instanz entscheidendes nationales Gericht – Verpflichtung, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen – Art. 108 Abs. 3 AEUV – Aussetzung der Durchführung der Beihilfe“

1.        Vertragsverletzungsklage – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Klage gegen einen Mitgliedstaat, der aus der Europäischen Union ausgetreten ist – Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs – Art. 87 – Zuständigkeit des Gerichtshofs für die Entscheidung über Vertragsverletzungsklagen gegen das Vereinigte Königreich, die nach dem Ende des Übergangszeitraums erhoben werden – Voraussetzungen – Vorgeworfene Vertragsverletzung vor dem Ablauf des Übergangszeitraums – Klage, die während eines begrenzten Zeitraums erhoben wurde

(Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, Art. 2 Buchst. e, Art. 87 Abs. 1, Art. 126, 127 und 185; Art. 258 AEUV)

(vgl. Rn. 50, 51, 53)

2.        Internationale Übereinkünfte – Verträge der Mitgliedstaaten – Vor dem Beitritt eines Mitgliedstaats zur Union geschlossene Verträge – Verpflichtung, die Rechte und Pflichten aus diesen Übereinkünften unberührt zu lassen – Voraussetzungen – Bestehen von Verpflichtungen, deren Erfüllung von Drittstaaten verlangt werden kann – Zuständigkeit der Unionsgerichte für die Beurteilung des Bestehens solcher Verpflichtungen – Verpflichtung eines Mitgliedstaats, einen Schiedsspruch zu vollstrecken – Fehlerhafte Auslegung des Unionsrechts durch ein nationales Gericht – Vertragsverletzung

(Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, Art. 127 Abs. 1; Art. 258 und Art. 351 Abs. 1 AEUV)

(vgl. Rn. 59-65, 68-87, 119-128, Tenor 1)

3.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit – Umsetzung des Unionsrechts – Pflichten der nationalen Gerichte – Pflicht eines nationalen Gerichts zur Aussetzung des Verfahrens, wenn die Gefahr eines Widerspruchs zwischen seiner Entscheidung und den Entscheidungen der Unionsorgane besteht – Unterlassung der Aussetzung des Verfahrens – Vertragsverletzung

(Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, Art. 127 Abs. 1; Art. 4 Abs. 3 EUV; Art. 258 AEUV)

(vgl. Rn. 94-98, 104, 116, 117, Tenor 1)

4.        Vorlagefragen – Anrufung des Gerichtshofs – Auslegungsfragen – Vorlagepflicht – Tragweite – Vorlagepflicht bei Bestehen vernünftiger Zweifel – Nationales Gericht, das festgestellt hat, dass keine vernünftigen Zweifel bestehen – Gefahr einer fehlerhaften Auslegung des Unionsrechts durch ein Gericht, das eine Entscheidung erlässt, die nach innerstaatlichem Recht unanfechtbar ist – Vertragsverletzung

(Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, Art. 127 Abs. 1; Art. 258 sowie Art. 267 Abs. 1 und 3 AEUV)

(vgl. Rn. 141-144, 146-154, Tenor 1)

5.        Staatliche Beihilfen – Jeweilige Zuständigkeiten der Kommission und der nationalen Gerichte – Rolle der nationalen Gerichte – Pflicht der nationalen Gerichte, keine Entscheidungen zu treffen, die einer Entscheidung der Kommission zuwiderlaufen – Verstoß gegen diese Pflicht durch ein nationales Gericht – Vertragsverletzung

(Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, Art. 127 Abs. 1; Art. 4 Abs. 3 EUV; Art. 108 Abs. 3 und Art. 258 AEUV)

(vgl. Rn. 159-165, 168-171, Tenor 1)

Zusammenfassung

Der Gerichtshof, der mit einer Vertragsverletzungsklage befasst war, entscheidet mangels Klagebeantwortung durch Versäumnisurteil, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland mit einem Urteil des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) gegen Verpflichtungen verstoßen hat, die es im Übergangszeitraum nach dem Inkrafttreten des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft(1) hatte.

Er entscheidet zu der neuen Frage, ob die Vollstreckung – durch einen Mitgliedstaat – eines Schiedsspruchs, der gegenüber einem anderen Mitgliedstaat nach den Bestimmungen des Übereinkommens zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten(2), dem die meisten Mitgliedstaaten vor ihrem Beitritt zur Union beigetreten sind und das somit für diese im Sinne von Art. 351 Abs. 1 AEUV eine frühere internationale Übereinkunft darstellt, ergangen ist, bedeutet, dass diese Mitgliedstaaten gegenüber Drittstaaten, die diesem Übereinkommen beigetreten sind, „Pflichten“ haben, so dass Letztere daraus entsprechende „Rechte“ ableiten, die durch die Bestimmungen der Verträge „berührt“ werden.

Das ICSID-Übereinkommen war für das Vereinigte Königreich und für Rumänien in Kraft getreten, bevor sie der Union beitraten. Nach diesem Übereinkommen erkennt jeder Vertragsstaat jeden im Rahmen dieses Übereinkommens erlassenen Schiedsspruch als bindend an und sorgt für die Vollstreckung der darin auferlegten finanziellen Verpflichtungen in seinem Hoheitsgebiet, als handle es sich um ein rechtskräftiges Urteil eines seiner innerstaatlichen Gerichte(3). Im Jahr 2002 hatten das Königreich Schweden und Rumänien ein bilaterales Investitionsschutzabkommen(4) geschlossen. Nach dessen Regelungen gewährleistet jede Vertragspartei jederzeit eine faire und gerechte Behandlung der Investitionen von Investoren der anderen Vertragspartei und behindert die Leitung, Aufrechterhaltung, Verwendung, Nutzung oder Veräußerung der genannten Investitionen nicht durch unsachgemäße oder diskriminierende Maßnahmen(5).

Rumänien hob im Hinblick auf seinen Beitritt zur Europäischen Union eine regionale Investitionsbeihilferegelung in Form von steuerlichen Anreizen auf. Schwedische Investoren, die geschädigt worden sein sollen, erwirkten daraufhin bei einem nach dem ICSID-Übereinkommen eingesetzten Schiedsgericht einen Schiedsspruch, mit dem Rumänien dazu verurteilt wurde, ihnen Schadensersatz in Höhe von 178 Mio. Euro zu zahlen, und versuchten, die Anerkennung und Vollstreckung des Schiedsspruchs insbesondere im Vereinigten Königreich zu erreichen.

Die Europäische Kommission verpflichtete Rumänien dazu, die Vollstreckung dieses Schiedsspruchs auszusetzen, weil dies eine rechtswidrige staatliche Beihilfe darstellen würde, und erließ danach, im Jahr 2014, einen Beschluss über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens (im Folgenden: Eröffnungsbeschluss)(6). Im Jahr 2015 erließ sie einen neuen Beschluss. In diesem führte sie aus, dass Art. 351 AEUV vorliegend nicht anwendbar sei, da das BIT ein zwischen zwei Mitgliedstaaten der Union geschlossener Vertrag sei, so dass sich das fragliche Verfahren nicht auf einen Drittstaat beziehe, der dem ICSID-Übereinkommen beigetreten sei. Sodann stellte sie fest, dass die Zahlung der Entschädigung, die mit dem Schiedsspruch zugesprochen worden sei, eine „staatliche Beihilfe“ darstellen würde, die mit dem Binnenmarkt unvereinbar wäre(7) und Rumänien die Zahlung nicht vornehmen dürfe (im Folgenden: abschließender Beschluss).

Im Jahr 2019 hob das Gericht den abschließenden Beschluss im Wesentlichen mit der Begründung auf(8), dass die Kommission für dessen Erlass nach Art. 108 AEUV in zeitlicher Hinsicht nicht zuständig gewesen sei (im Folgenden: Urteil des Gerichts). Gegen dieses Urteil wurde beim Gerichtshof ein Rechtsmittel eingelegt. Bevor der Gerichtshof über dieses Rechtsmittel entscheiden konnte, ordnete der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs am 19. Februar 2020 in der Rechtssache Micula/Rumänien die Vollstreckung des Schiedsspruchs an (im Folgenden: beanstandetes Urteil). Mit dem Urteil Kommission/European Food u. a.(9) hob der Gerichtshof das Urteil des Gerichts auf und verwies die Sache an das Gericht zurück.

Nach Abschluss eines im Dezember 2020 eingeleiteten Vorverfahrens hat die Kommission gemäß Art. 258 AEUV eine Vertragsverletzungsklage mit dem Antrag erhoben, festzustellen, dass das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland mit dem beanstandeten Urteil gegen seine Verpflichtungen aus dem Unionsrecht verstoßen hat.

Würdigung durch den Gerichtshof

In einem ersten Schritt weist der Gerichtshof darauf hin, dass er nach dem Austrittsabkommen(10) innerhalb von vier Jahren nach Ende des Übergangszeitraums am 31. Dezember 2020 (im Folgenden: Übergangszeitraum) für Vertragsverletzungsklagen zuständig ist, wenn er der Ansicht ist, dass das Vereinigte Königreich eine Verpflichtung aus den Verträgen vor Ende des Übergangszeitraums nicht erfüllt hat. Da vorliegend die vorgeworfene Vertragsverletzung auf dem beanstandeten Urteil beruht, das während des Übergangszeitraums erlassen wurde, und da die betreffende Klage von der Kommission innerhalb von vier Jahren nach Ende dieses Übergangszeitraums erhoben worden ist, ist der Gerichtshof folglich für die Entscheidung über diese Klage zuständig.

In einem zweiten Schritt prüft der Gerichtshof die vier Rügen, auf die die Kommission ihre Vertragsverletzungsklage stützt, und gibt ihnen statt. Hierzu weist er zunächst darauf hin, dass das Vereinigte Königreich, auch wenn die ihm vorgeworfene Vertragsverletzung nach seinem Austritt aus der Union und vor Ablauf des Übergangszeitraums erfolgte, als „Mitgliedstaat“ anzusehen ist und im Übrigen das Unionsrecht während dieses Übergangszeitraums auf das Vereinigte Königreich anwendbar war.

i) Zur Rüge eines Verstoßes gegen Art. 351 AEUV

Der Gerichtshof führt als Erstes aus, dass feststeht, dass es sich beim ICSID-Übereinkommen, das nicht Teil des Unionsrechts ist, um einen multilateralen Vertrag handelt, der vom Vereinigten Königreich vor seinem Beitritt zur Union sowohl mit Mitgliedstaaten als auch mit Drittstaaten geschlossen wurde. Folglich kann diese internationale Übereinkunft vom Anwendungsbereich von Art. 351 AEUV erfasst werden, der insbesondere bestimmt, dass die Rechte und Pflichten aus internationalen Übereinkünften, die vor dem Zeitpunkt des Beitritts geschlossen wurden, durch das Unionsrecht nicht berührt werden.

Jedoch reicht der bloße Umstand, dass ein Mitgliedstaat eine frühere internationale Übereinkunft mit Drittstaaten geschlossen hat, für die Anwendbarkeit dieser Bestimmung nicht aus. Solche internationalen Übereinkünfte können in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten nur geltend gemacht werden, wenn diese Drittstaaten daraus Rechte ableiten, deren Beachtung sie von dem betreffenden Mitgliedstaat verlangen können.

Der Gerichtshof prüft als Zweites, ob das ICSID-Übereinkommen dem Vereinigten Königreich Verpflichtungen gegenüber Drittstaaten auferlegt, die diese ihm gegenüber geltend machen können. Insoweit weist der Gerichtshof darauf hin, dass ein Schiedsgericht, das im Rahmen des ICSID-Übereinkommens in Anwendung der Schiedsklausel gebildet wurde, die im BIT vorgesehen ist, das zwischen dem Königreich Schweden und Rumänien vor dessen Beitritt zur Union geschlossen wurde, Rumänien verurteilt hat, an die schwedischen Investoren Schadensersatz zu leisten. Das BIT ist aber seit dem Beitritt Rumäniens zur Union als ein Vertrag anzusehen, der zwei Mitgliedstaaten betrifft.

Vorliegend betraf der Rechtsstreit, mit dem der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs befasst wurde, die mutmaßliche Verpflichtung des Vereinigten Königreichs, gegenüber dem Königreich Schweden und dessen Staatsangehörigen das ICSID-Übereinkommen einzuhalten, und dementsprechend das mutmaßliche Recht Letzterer, vom Vereinigten Königreich dessen Einhaltung zu verlangen.

Ein Drittstaat scheint hingegen nicht berechtigt, vom Vereinigten Königreich nach dem ICSID-Übereinkommen die Vollstreckung des Schiedsspruchs zu verlangen. Diese internationale Übereinkunft soll nämlich trotz ihres multilateralen Charakters die bilateralen Beziehungen zwischen den Vertragsparteien in einer Weise regeln, die einem bilateralen Abkommen entspricht. Der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs beschränkt sich im Wesentlichen auf den Hinweis, dass Drittstaaten, die Vertragsparteien des ICSID-Übereinkommens seien, ein Interesse daran haben könnten, dass das Vereinigte Königreich seinen Verpflichtungen gegenüber einem anderen Mitgliedstaat nachkomme, indem es einen Schiedsspruch vollstrecke. Ein solches rein faktisches Interesse ist jedoch nicht mit einem „Recht“ im Sinne von Art. 351 AEUV gleichzusetzen, das die Anwendung dieser Bestimmung rechtfertigen könnte.

Die grundlegende Frage, inwieweit ein Drittstaat das Vereinigte Königreich wegen Verstößen gegen seine Verpflichtungen aus dem ICSID-Übereinkommen im Rahmen der Vollstreckung eines Schiedsspruchs, der in einem Rechtsstreit zwischen Mitgliedstaaten ergangen ist, international haftbar machen könnte, prüfte der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs im beanstandeten Urteil jedoch nicht.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass Art. 351 AEUV eine Vorschrift ist, die Abweichungen vom Unionsrecht einschließlich des Primärrechts zulassen kann. Diese Bestimmung kann somit erhebliche Auswirkungen auf die Unionsrechtsordnung haben, da sie es erlaubt, vom Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts abzuweichen. Folgte man dem beanstandeten Urteil, könnten alle Mitgliedstaaten, die vor ihrem Beitritt zur Union Parteien des ICSID-Übereinkommens geworden sind, auf der Grundlage dieses Artikels in der Lage sein, Rechtsstreitigkeiten, die das Unionsrecht betreffen, der Gerichtsbarkeit der Union zu entziehen, indem sie sie den Schiedsgerichten übertragen. An die Stelle der zwischen den Mitgliedstaaten eingerichteten Schiedsverfahren ist jedoch das in den Verträgen vorgesehene System der gerichtlichen Rechtsbehelfe getreten. Art. 351 AEUV ist daher eng auszulegen, damit die allgemeinen Regelungen der Unionsverträge nicht ausgehöhlt werden.

Unter diesen Umständen war der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs verpflichtet, vor einer Entscheidung eingehend zu prüfen, ob eine solche Verpflichtung auch Rechte impliziert, auf die sich Drittstaaten gegenüber diesen Staaten berufen könnten. Eine solche eingehende Prüfung fehlt jedoch im beanstandeten Urteil, so dass der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs diese Bestimmung falsch auslegte und anwandte, indem er ihr einen weiten Anwendungsbereich verlieh, dessen Zweck und Wirkung darin bestand, die Anwendung des gesamten Unionsrechts bewusst auszuschließen. Eine solche Auslegung, die dazu führt, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts, der eines seiner wesentlichen Merkmale ist, nicht zum Tragen kommt, ist geeignet, die Kohärenz, die volle Geltung und die Autonomie des Unionsrechts sowie letztlich den eigenen Charakter des durch die Verträge geschaffenen Rechts in Frage zu stellen. Somit hat der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs die Unionsrechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt.

ii) Zur Rüge eines Verstoßes gegen Art. 4 EUV

Als Erstes weist der Gerichtshof darauf hin, dass, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von der Gültigkeit des Beschlusses der Kommission abhängt, aus der in Art. 4 EUV genannten Verpflichtung zu loyaler Zusammenarbeit folgt, dass das nationale Gericht das Verfahren aussetzen sollte, bis die Unionsgerichte eine endgültige Entscheidung über die Nichtigkeitsklage erlassen haben, es sei denn, es hält es unter den gegebenen Umständen für gerechtfertigt, dem Gerichtshof eine Vorabentscheidungsfrage nach der Gültigkeit des Beschlusses der Kommission vorzulegen.

Vorliegend betrafen die bei den Unionsorganen und beim Obersten Gerichtshof des Vereinigten Königreichs anhängigen Verfahren dieselbe Frage sowie die Auslegung derselben Bestimmungen und die Gültigkeit oder die Wirksamkeit der Beschlüsse der Kommission. Somit war zu dem Zeitpunkt, zu dem der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs das beanstandete Urteil erließ, die Frage der Auswirkungen von Art. 351 AEUV auf die Anwendung des Unionsrechts Gegenstand einer vorläufigen Prüfung durch die Kommission und konnte durch den Unionsrichter noch beurteilt werden. Unter diesen Umständen bestand die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen. Diese Gefahr hat sich konkretisiert, da der Eröffnungsbeschluss ebenso wie der abschließende Beschluss, dessen Rechtmäßigkeit zum Zeitpunkt des Erlasses des beanstandeten Urteils Gegenstand eines Rechtsmittels war, zu Feststellungen kam, die denen in diesem Urteil völlig entgegengesetzt waren.

Als Zweites stellt der Gerichtshof fest, dass diese Schlussfolgerung durch keinen der Gründe in Frage gestellt werden kann, die der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs vorgebracht hat, um die Anwendung der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit abzulehnen.

Was den Grund betrifft, wonach die Fragen nach dem Bestehen und dem Umfang der Pflichten aus früheren internationalen Übereinkünften nicht den Unionsgerichten vorbehalten oder gar ihrer Zuständigkeit entzogen seien, weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Verpflichtung der nationalen Gerichte zur loyalen Zusammenarbeit voraussetzt, dass ein und dieselbe Frage in die konkurrierende Zuständigkeit der Unionsgerichte und der nationalen Gerichte fallen kann, so dass die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen besteht.

Die Frage, mit der vorliegend zugleich der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs, die Kommission und die Unionsgerichte befasst wurden, betraf aber die Tragweite von Art. 351 AEUV, bei dem es sich um eine Bestimmung des Unionsrechts handelt. Ihre verbindliche Auslegung fällt daher in die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass dieser Artikel keinen Verweis auf das Recht der Mitgliedstaaten oder auf das Völkerrecht enthält, so dass davon auszugehen ist, dass es sich bei den darin enthaltenen Begriffen um autonome Begriffe des Unionsrechts handelt. Daraus folgt, dass die Unionsgerichte für die Feststellung zuständig sind, ob das ICSID-Übereinkommen Verpflichtungen festlegt, deren Einhaltung ein Drittstaat verlangen kann, und ob diese Rechte und Pflichten durch die Verträge der Union berührt werden. Dies ist im Rahmen einer Nichtigkeitsklage, einer Vertragsverletzungsklage oder auch eines Vorabentscheidungsersuchens der Fall. Im letztgenannten Fall kann die Zuständigkeit des nationalen Gerichts dem Gerichtshof nicht jede Zuständigkeit für die Prüfung dieser Fragen nehmen. Dies gilt umso mehr, wenn die Anwendung von Art. 351 AEUV auf eine solche internationale Übereinkunft entscheidende Auswirkungen auf den Ausgang einer parallelen Nichtigkeitsklage haben kann, die auf die Nichtigerklärung eines abschließenden Beschlusses der Kommission gerichtet ist.

Da der Unionsrichter über die Gültigkeit eines Unionsrechtsakts zu entscheiden hat, entspricht es nämlich der Rollenverteilung zwischen den nationalen Gerichten und dem Unionsrichter, dass nur der Gerichtshof die Zuständigkeit dafür besitzt, die maßgebliche frühere internationale Übereinkunft auszulegen, um zu ermitteln, ob Art. 351 AEUV der Anwendung des Unionsrechts durch diesen Rechtsakt entgegensteht, da ausschließlich der Gerichtshof befugt ist, die Ungültigkeit einer Handlung der Union festzustellen.

iii) Zur Rüge eines Verstoßes gegen Art. 267 AEUV

Der Gerichtshof stellt erstens fest, dass es sich bei der Frage der Tragweite von Art. 351 AEUV unter den Umständen der vorliegenden Rechtssache um eine Frage handelt, die bisher noch nicht Gegenstand der Rechtsprechung des Gerichtshofs war, und dass der Gerichtshof die Tragweite der Wendung „durch die Verträge … berührt“ in diesem Artikel noch nicht geklärt hat. Dieser Artikel kann jedoch erhebliche Auswirkungen auf die Unionsrechtsordnung haben.

Zweitens legte die Kommission im Eröffnungsbeschluss und im abschließenden Beschluss Art. 351 AEUV in einer Weise aus, die der Auslegung widersprach, die der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs im beanstandeten Urteil vornahm. Die von der Kommission vorgenommene Auslegung wird im Übrigen von den Investoren im Rahmen der Begründung ihrer Klage vor dem Gericht auf Nichtigerklärung des abschließenden Beschlusses in Frage gestellt. In Anbetracht des Rechtsmittels, das beim Gerichtshof gegen dieses Urteil eingelegt worden ist, bleibt bei den Unionsgerichten die Frage anhängig, wie sich Art. 351 AEUV auf die Vollstreckung des Schiedsspruchs auswirkt.

Drittens hatten sowohl der High Court of England and Wales (Hoher Gerichtshof von England und Wales) als auch der Court of Appeal (Berufungsgericht), die zuvor von den Investoren angerufen worden waren, es abgelehnt, über die Frage der Anwendung von Art. 351 AEUV zu entscheiden, da die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen bestehe.

Viertens weist der Gerichtshof darauf hin, dass das Nacka tingsrätt (Gericht erster Instanz Nacka, Schweden) entschieden hatte, dass Art. 351 AEUV auf die Vollstreckung des Schiedsspruchs nicht anwendbar sei, und folglich die Vollstreckung dieses Schiedsspruchs in Schweden abgelehnt hatte.

Fünftens war die Frage der Vollstreckung des Schiedsspruchs zum Zeitpunkt der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs vor den belgischen Gerichten anhängig.

In Anbetracht dieser Feststellungen kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass vorliegend hinreichende Anhaltspunkte bestanden, die Zweifel an der Auslegung von Art. 351 AEUV wecken konnten. Diese Zweifel hätten angesichts der Auswirkungen dieser Bestimmung auf eins der wesentlichen Merkmale des Unionsrechts und angesichts der Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen innerhalb der Union den Obersten Gerichtshof des Vereinigten Königreichs zu der Feststellung veranlassen müssen, dass die Auslegung der genannten Bestimmung nicht derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt.

Unter diesen Umständen entscheidet der Gerichtshof, dass der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs als nationales Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, verpflichtet war, den Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen zur Auslegung von Art. 351 AEUV zu befragen, um die Gefahr einer fehlerhaften Auslegung des Unionsrechts auszuschließen, zu der er in dem beanstandeten Urteil tatsächlich gelangt ist.

iv) Zur Rüge eines Verstoßes gegen Art. 108 AEUV

Der Gerichtshof stellt fest, dass das beanstandete Urteil verlangt, dass Rumänien – unter Verstoß gegen die Verpflichtungen aus Art. 108 AEUV, ein Beihilfevorhaben nicht durchzuführen, bevor die Kommission einen abschließenden Beschluss erlassen hat – den durch den Schiedsspruch zugesprochenen Schadensersatz zahlt. Rumänien steht somit widersprüchlichen Entscheidungen in Bezug auf die Vollstreckung dieses Schiedsspruchs gegenüber. Das beanstandete Urteil verstößt daher gegen die genannte Bestimmung, indem es einen anderen Mitgliedstaat anweist, gegen sie zu verstoßen.

Insoweit ist es unerheblich, dass der vorgenannte Artikel eine Verpflichtung zulasten des „betreffenden Mitgliedstaats“ vorsieht, d. h. vorliegend zulasten Rumäniens. Die innerstaatlichen Gerichte des Vereinigten Königreichs mussten nämlich aufgrund der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit Rumänien die Einhaltung seiner Verpflichtungen aus Art. 108 AEUV erleichtern, um dieser Bestimmung nicht ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen.


1      Am 17. Oktober 2019 angenommenes Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft, das mit dem Beschluss (EU) 2020/135 des Rates vom 30. Januar 2020 (ABl. 2020, L 29, S. 1) im Namen der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (EAG) genehmigt wurde und am 1. Februar 2020 in Kraft getreten ist (im Folgenden: Austrittsabkommen).


2      Am 18. März 1965 in Washington geschlossenes Übereinkommen zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten zwischen Staaten und Angehörigen anderer Staaten (im Folgenden: ICSID-Übereinkommen).


3      Art. 54 Abs. 1 des ICSID-Übereinkommens.


4      Am 29. Mai 2002 zwischen der Regierung des Königreichs Schweden und Rumänien geschlossenes bilaterales Investitionsschutzabkommen (im Folgenden: BIT), das am 1. Juli 2003 in Kraft trat.


5      Art. 2 Abs. 3 BIT.


6      Gemäß Art. 108 Abs. 2 AEUV.


7      Vgl. Art. 107 Abs. 1 AEUV.


8      Urteil vom 18. Juni 2019, European Food u. a./Kommission (T‑624/15, T‑694/15 und T‑704/15, EU:T:2019:423).


9      Urteil vom 25. Januar 2022, Kommission/European Food u. a. (C‑638/19 P, EU:C:2022:50).


10      Art. 87 Abs. 1 des Austrittsabkommens.