Language of document : ECLI:EU:C:2020:750

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 24. September 2020(1)

Verbundene Rechtssachen C434/19 und C435/19

Poste Italiane SpA

gegen

Riscossione Sicilia SpA agente riscossione per la provincia di Palermo e delle altre provincie siciliane (C434/19)

und

Agenzia delle entrate – Riscossione

gegen

Poste Italiane SpA (C435/19),

unterstützt durch

Poste Italiane SpA – Bancoposta

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione [Kassationsgerichtshof, Italien])

„Vorabentscheidungsersuchen – Wettbewerb – Staatliche Beihilfen – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Unternehmen, dem von den Mitgliedstaaten besondere oder ausschließliche Rechte gewährt werden – Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) – Führung von Postgirokonten für die Eintreibung der kommunalen Grundsteuer – Von dem begünstigten Unternehmen einseitig festgelegte Gebühr“






1.        In Italien wurde von 1992 bis 2011 die kommunale Grundsteuer (Imposta comunale sugli immobili, im Folgenden: ICI) von den Steuerpflichtigen an die Konzessionäre der Steuereinzugsstelle (im Folgenden: Konzessionäre), bei denen es sich bis Oktober 2006 um private Einrichtungen handelte, gezahlt(2).

2.        Die Zahlung musste entweder in bar oder auf ein Postgirokonto erfolgen, das die Konzessionäre zwingend bei einer beliebigen Filiale der Poste Italiane SpA(3) eröffnen mussten. Diese Einrichtung erhob bei den Kontoinhabern für jede Einzahlung eine Gebühr.

3.        Die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) fragt, ob es sich bei der „gesetzlichen Monopolstellung“, die Poste Italiane für die Dienstleistung der Führung von Postgirokonten zur Einzahlung der ICI eingeräumt wird, um eine staatliche Beihilfe handelt, die gegen die Art. 106 AEUV und 107 AEUV verstößt. Sie möchte auch wissen, ob diese Regelung mit Art. 102 AEUV vereinbar ist.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

4.        Art. 14 AEUV bestimmt:

„Unbeschadet des Artikels 4 des Vertrags über die Europäische Union und der Artikel 93, 106 und 107 dieses Vertrags und in Anbetracht des Stellenwerts, den Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse innerhalb der gemeinsamen Werte der Union einnehmen, sowie ihrer Bedeutung bei der Förderung des sozialen und territorialen Zusammenhalts tragen die Union und die Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Befugnisse im Anwendungsbereich der Verträge dafür Sorge, dass die Grundsätze und Bedingungen, insbesondere jene wirtschaftlicher und finanzieller Art, für das Funktionieren dieser Dienste so gestaltet sind, dass diese ihren Aufgaben nachkommen können. Diese Grundsätze und Bedingungen werden vom Europäischen Parlament und vom Rat durch Verordnungen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren festgelegt, unbeschadet der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, diese Dienste im Einklang mit den Verträgen zur Verfügung zu stellen, in Auftrag zu geben und zu finanzieren.“

5.        Art. 102 AEUV lautet:

„Mit dem Binnenmarkt unvereinbar und verboten ist die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Binnenmarkt oder einem wesentlichen Teil desselben durch ein oder mehrere Unternehmen, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.

Dieser Missbrauch kann insbesondere in Folgendem bestehen:

a)      der unmittelbaren oder mittelbaren Erzwingung von unangemessenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen;

b)      der Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher;

c)      der Anwendung unterschiedlicher Bedingungen bei gleichwertigen Leistungen gegenüber Handelspartnern, wodurch diese im Wettbewerb benachteiligt werden;

d)      der an den Abschluss von Verträgen geknüpften Bedingung, dass die Vertragspartner zusätzliche Leistungen annehmen, die weder sachlich noch nach Handelsbrauch in Beziehung zum Vertragsgegenstand stehen.“

6.        In Art. 106 Abs. 1 und 2 AEUV heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten werden in Bezug auf öffentliche Unternehmen und auf Unternehmen, denen sie besondere oder ausschließliche Rechte gewähren, keine den Verträgen und insbesondere den Artikeln 18 und 101 bis 109 widersprechende Maßnahmen treffen oder beibehalten.

(2)      Für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind oder den Charakter eines Finanzmonopols haben, gelten die Vorschriften der Verträge, insbesondere die Wettbewerbsregeln, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Die Entwicklung des Handelsverkehrs darf nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Union zuwiderläuft.“

7.        Art. 107 Abs. 1 AEUV bestimmt:

„Soweit in den Verträgen nicht etwas anderes bestimmt ist, sind staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen gleich welcher Art, die durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Binnenmarkt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.“

8.        Art. 108 Abs. 3 AEUV lautet:

„Die Kommission wird von jeder beabsichtigten Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen so rechtzeitig unterrichtet, dass sie sich dazu äußern kann. Ist sie der Auffassung, dass ein derartiges Vorhaben nach Artikel 107 mit dem Binnenmarkt unvereinbar ist, so leitet sie unverzüglich das in Absatz 2 vorgesehene Verfahren ein. Der betreffende Mitgliedstaat darf die beabsichtigte Maßnahme nicht durchführen, bevor die Kommission eine abschließende Entscheidung erlassen hat.“

B.      Nationales Recht

1.      Vorschriften über Postgirokonten

a)      Gesetz Nr. 662 aus 1996(4)

9.        Art. 2 des genannten Gesetzes sieht vor:

„(18)      … Ab dem 1. Januar 1997 … kann [Poste Italiane] bei den Inhabern von Postgirokonten Gebühren erheben. …

(19)      Die Post- und Zahlungsdienste, für die von den gesetzlichen Bestimmungen ein gesetzliches Monopol nicht ausdrücklich vorgesehen ist, werden von … Poste Italiane und von den anderen Betreibern im Rahmen des freien Wettbewerbs erbracht. … [Poste Italiane] ist zu einer gesonderten Buchführung verpflichtet und muss dabei insbesondere zwischen den Kosten und Lasten im Zusammenhang mit der Erbringung von Dienstleistungen im Rahmen einer gesetzlichen Monopolstellung und solchen, die sich auf Dienstleistungen beziehen, die im Rahmen des freien Wettbewerbs erbracht werden, unterscheiden.

(20)      Ab dem 1. April 1997 werden die Preise für die Dienstleistungen im Sinne von Abs. 19 auch vertraglich von [Poste Italiane] unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Kunden und der Nachfragebedingungen sowie dem Erfordernis des Schutzes und der Entwicklung der Verkehrsaufkommen geregelt …“

b)      Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 144 aus 2001(5)

10.      Gemäß Art. 3 Abs. 1 werden, „soweit in diesem Dekret nichts anderes bestimmt ist, die Beziehungen zu den Kunden und die Führung des Postgirokontos vertraglich unter Einhaltung der Bestimmungen des Codice civile [(Zivilgesetzbuch)] und der Sondergesetze geregelt“.

c)      Beschluss Nr. 57/1996 des Verwaltungsrats von Poste Italiane

11.      Mit diesem Beschluss wurde eine Gebühr für jede Transaktion eingeführt, die im Rahmen der Führung von Postgirokonten von Konzessionären der Steuereinzugsstelle vorgenommen wurde. Diese Gebühr wurde für den Zeitraum vom 1. April 1997 bis zum 31. Mai 2001 auf 0,05 Euro und vom 1. Juni 2001 bis zum 31. Dezember 2003 auf 0,23 Euro festgesetzt.

2.      Vorschriften über die Steuern der Gebietskörperschaften

a)      Decreto legislativo Nr. 504 aus 1992(6)

12.      In Art. 10 Abs. 3 heißt es:

„Die Tilgung der nach Abs. 2 geschuldeten Steuer erfolgt durch direkte Zahlung an den Konzessionär der Steuereinzugsstelle, in dessen Bezirk die Gemeinde im Sinne von Art. 4 liegt, oder durch Zahlung auf ein bestimmtes, auf den Namen des Konzessionärs lautendes Postgirokonto … Die dem Konzessionär geschuldete Kommission wird von der steuererhebenden Gemeinde getragen und beträgt 1 % der vereinnahmten Beträge, mindestens jedoch [1,75 Euro] und höchstens [50,00 Euro] für jede Zahlung des Steuerpflichtigen.“

b)      Decreto del Ministro delle Finanze Nr. 567 von 1993(7)

13.      Nach den Art. 5 bis 7 können Inhaber eines Steuerkontos die Einkommensteuer, die Körperschaftsteuer – auch als Substitut –, die lokale Einkommensteuer, die Steuern, die an die Stelle der genannten Steuern treten, sowie die Mehrwertsteuer direkt an den Schaltern des Konzessionärs einzahlen oder ein Kreditinstitut unwiderruflich anweisen, sie an den Konzessionär zu zahlen.

c)      Decreto legislativo Nr. 446 von 1997(8)

14.      Art. 59 Abs. 1 behält den Gemeinden die Regelung der Erhebung der kommunalen Steuern vor, um die Modalitäten der Durchführung der Zahlungen zu rationalisieren. Neben der Zahlung an den Konzessionär sieht er die Zahlung auf ein auf den Namen der Steuerverwaltung der Gemeinde eröffnetes Postgirokonto, die direkte Zahlung an diese Steuerverwaltung und die Zahlung über das Bankensystem vor.

d)      Decreto legge Nr. 70 von 2011(9)

15.      In Art. 7 Abs. 2 Buchst. gg-septies(10) heißt es:

„Wird die Erhebung der Einnahmen [Konzessionären] übertragen, erfolgt sie über ein oder mehrere für die Einzahlung bestimmte Post- oder Bankgirokonten, die auf den Namen des Konzessionärs zu eröffnen und dem Einzug der Einnahmen des öffentlichen Auftraggebers vorbehalten sind, auf die sämtliche vereinnahmten Beträge einzuzahlen sind. …“

II.    Sachverhalt (nach den Vorlagebeschlüssen), Rechtsstreitigkeiten und Vorlagefragen

16.      Die Tätigkeiten der Poste Italiane wurden im Zuge der Privatisierung schrittweise festgelegt. Insbesondere wurde ihr im nationalen Recht die Erbringung bestimmter Dienstleistungen mit der Pflicht zur gesonderten Buchführung vorbehalten.

17.      Art. 10 Abs. 3 des Decreto legislativo Nr. 504/1992 sah als Zahlungsweise für die ICI entweder die „direkte Zahlung an den Konzessionär der Steuereinzugsstelle, in dessen Bezirk die Gemeinde [der besteuerten Immobilie] liegt“, oder die Zahlung „auf ein bestimmtes, auf den Namen dieses Konzessionärs lautendes Postgirokonto“ vor. Der Konzessionär war mithin verpflichtet, ein Postgirokonto zu eröffnen, um der gegenüber der kommunalen Steuerbehörde eingegangenen Verpflichtung nachkommen zu können.

18.      Diese Pflicht wurde nach Angaben des vorlegenden Gerichts bis 2011 auch im Zuge der Reformen, durch die die Modalitäten für die Zahlung von kommunalen Abgaben erweitert wurden (unwiderrufliche Anweisung an Banken, Einzahlung an Schaltern der Gemeinde oder auf Konten der Stadtkasse) nicht aufgehoben. Erst in diesem Jahr wurde dem Konzessionär der Steuereinzugsstelle das Recht eingeräumt, anstelle eines Postgirokontos nur ein Bankkonto zu eröffnen.

19.      Auch die Kriterien für die Festlegung der Gebühren für Postdienste und die Zahlung änderten sich im Zuge des Verfahrens zur Privatisierung der Amministrazione delle Poste(11). Insbesondere wurde

–        1996 beschlossen, eine Gebühr für jede Transaktion zu erheben, die im Rahmen der Führung der Postgirokonten mit den Konzessionären der Steuereinzugsstelle vorgenommen wurde,

–        2001 bestimmt, dass die Beziehungen zu den Kunden und die Führung des Postgirokontos, wie bereits bei den Bankkonten geschehen, vertraglich geregelt werden.

20.      In den Rechtsstreitigkeiten, die diesen Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegen, stehen sich Poste Italiane und zwei Konzessionäre gegenüber(12), von denen Poste Italiane Gebühren für jede von 1997 bis 2011 erfolgte Einzahlung von ICI auf ihren Postgirokonten verlangt:

–      Einerseits (Rechtssache C‑434/19) beantragt Poste Italiane, Riscossione Sicilia zu verurteilen, die streitige Gebühr an sie zu zahlen. Nachdem ihre Klage im ersten Rechtszug abgewiesen worden war, erkannte das Berufungsgericht Poste Italiane den Anspruch ab dem 1. Juni 2006 zu.

–      Andererseits (C‑435/19) wurde ein entsprechendes Begehren von Poste Italiane gegen die Agenzia ebenfalls im ersten Rechtszug zurückgewiesen und im zweiten Rechtszug bejaht.

21.      Nachdem bei der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) je ein Rechtsmittel eingelegt worden war, hat dieses Gericht zwei identische Vorabentscheidungsersuchen mit folgendem Wortlaut vorgelegt:

1.      Stehen unter Berücksichtigung der Entwicklung der staatlichen Regelung über die Steuererhebung, die zumindest seit 1997 Steuerpflichtigen und auch lokalen Steuerbehörden die Möglichkeit gibt, sich für die Modalitäten der Zahlung und der Erhebung der (auch lokalen) Steuern frei des Banksystems zu bedienen, Art. 14 AEUV und Art. 106 Abs. 2 AEUV sowie die Einordnung als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (DAWI) einer Vorschrift wie Art. 10 Abs. 3 des Decreto legislativo (gesetzesvertretendes Dekret) Nr. 504/1992 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 18 bis 20 des Gesetzes Nr. 662/1996 entgegen, wonach – auch infolge der Privatisierung der von Poste Italiane erbrachten „Bancoposta“-Leistungen (Postbankdienste) – Poste Italiane ein Tätigkeitsvorbehalt (gesetzliche Monopolstellung) eingeräumt und weiterhin gewährt wird, der die Führung eines Postgirokontos zum Zwecke der Eintreibung der kommunalen Grundsteuer (ICI) zum Gegenstand hat?

2.      Stehen, sollte – in Beantwortung der ersten Frage – davon auszugehen sein, dass die Einführung des gesetzlichen Monopols die Merkmale der DAWI erfüllt, Art. 106 Abs. 2 AEUV und Art. 107 Abs. 1 AEUV in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof im Hinblick auf die Anforderungen an die Unterscheidung einer rechtmäßigen Maßnahme – zum Ausgleich gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen – von einer rechtswidrigen staatlichen Beihilfe (Urteil Altmark, C‑280/00) einer Vorschrift wie Art. 10 Abs. 3 des Decreto legislativo Nr. 504/1992 in Verbindung mit Art. 2 Abs. 18 bis 20 des Gesetzes Nr. 662/1996 und Art. 3 Abs. 1 des Decreto Nr. 144/2001 entgegen, die Poste Italiane die Befugnis zur einseitigen Festlegung der Höhe der vom Konzessionär (Agent) der Steuereinzugsstelle zur Eintreibung der ICI geschuldeten „Gebühr“ einräumt, die für jeden Vorgang auf dem auf den Konzessionär/Agenten lautenden Konto erhoben wird, und zwar unter Berücksichtigung des Umstands, dass Poste Italiane mit Beschluss Nr. 57/1996 des Verwaltungsrats diese Gebühr für den Zeitraum vom 1. April 1997 bis zum 31. Mai 2001 auf 100 Lire und für den Folgezeitraum ab dem 1. Juni 2001 auf 0,23 Euro festgesetzt hat?

3.      Steht Art. 102 Abs. 1 AEUV in seiner Auslegung durch den Gerichtshof einer Gesamtregelung, bestehend aus Art. 2 Abs. 18 bis 20 des Gesetzes Nr. 662/1996, Art. 3 Abs. 1 des Dekrets Nr. 144/2001 und Art. 10 Abs. 3 des Decreto legislativo Nr. 504/1992, entgegen, wonach der Konzessionär (Agent) eine „Gebühr“ zu entrichten hat, die von Poste Italiane einseitig festgelegt und/oder geändert werden kann, und er den Girokontovertrag nicht kündigen kann, ohne gegen die Verpflichtung aus Art. 10 Abs. 3 des Decreto legislativo Nr. 504/1992 zu verstoßen, was die Nichterfüllung der gegenüber der örtlichen Steuerbehörde übernommenen Verpflichtung zur Eintreibung der ICI zur Folge hätte?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

22.      Die Vorlageentscheidung ist am 5. Juni 2019 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

23.      Poste Italiane, die Agenzia und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht und die Fragen, die der Gerichtshof ihnen als Ersatz für die auf den 22. April 2020 anberaumte und später aufgehobene mündliche Verhandlung gestellt hat, schriftlich beantwortet.

IV.    Prüfung

A.      Vorbemerkung

24.      Im Rahmen seiner Entscheidung über ein Vorabentscheidungsersuchen ist der Gerichtshof an die Angaben des vorlegenden Gerichts zum Sachverhalt und zum innerstaatlichen Recht gebunden(13).

25.      Im vorliegenden Fall wird in diesen Angaben das hervorgehoben, was das vorlegende Gericht als „gesetzliches Monopol“ von Poste Italiane für Girokontodienstleistungen für den Einzug der ICI bezeichnet. Wie in den Vorlagebeschlüssen eingeräumt wird, hindert dieses Monopol die Steuerpflichtigen jedoch nicht daran, die Steuer direkt und ohne Beteiligung von Poste Italiane an die Konzessionäre zu zahlen.

26.      Poste Italiane behauptet sowohl in ihren schriftlichen Erklärungen (Rn. 12 bis 15) als auch in ihrer Antwort auf eine spezifische Frage des Gerichtshofs, dass es darüber hinaus andere, alternative Modalitäten zur Zahlung der ICI gegeben habe, die in den Vorlagebeschlüssen nicht erwähnt seien.

27.      Konkret trägt sie vor, dass die Zahlung über „andere Kreditinstitute [als Poste Italiane], mit denen der Konzessionär eine Vereinbarung getroffen hat“(14), und seit dem Decreto legislativo Nr. 446/1997 direkt bei der Kommunalverwaltung, die die ICI erhebt, oder einem von ihr bezeichneten Finanzinstitut erfolgen könne(15).

28.      Es ist Sache der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof), diese Punkte zu klären, deren Nachweis die Prämisse, auf die sich das Vorabentscheidungsersuchen stützt, in gewisser Weise schwächen könnte.

B.      Erste Vorlagefrage

29.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Tätigkeitsvorbehalt zugunsten von Poste Italiane zur Führung von Postgirokonten zum Zwecke der Eintreibung der ICI die Eigenschaften einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse aufweist.

1.      Standpunkte der Parteien

30.      Poste Italiane ist der Ansicht, die erste Frage sei unzulässig, zum einen, weil sie sich auf Art. 14 AEUV beziehe, zum anderen, weil das nationale Gericht Art. 106 Abs. 2 AEUV unmittelbar anwenden müsse.

31.      Hilfsweise trägt sie vor, dass die gesetzliche Regelung, unter die sie falle, ihr kein ausschließliches Recht zur Erbringung der Dienstleistung der Einziehung der ICI verleihe, denn die Konzessionäre könnten auch andere Mittel verwenden. Jedenfalls seien die Voraussetzungen für die Einstufung der Führung von Postgirokonten als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse nicht erfüllt.

32.      Die Agenzia meint, die Beziehung zwischen den Konzessionären und Poste Italiane habe Monopolcharakter. Erstere treffe die unausweichliche Pflicht, bei dieser Einrichtung, die die Vertragsbedingungen einseitig ändern könne, ein Postgirokonto zu eröffnen.

33.      Die Postgirokontodienstleistung, die Poste Italiane unter diesen Bedingungen anbiete und die durch eine zwingend zu entrichtende Gebühr finanziert werde, könne von anderen – nationalen oder europäischen – Einrichtungen nicht erbracht werden, so dass einem einzelnen Unternehmen ein Vorteil entstehe. Zudem seien die Gebühren nicht objektiv und transparent festgelegt worden, und die Konzessionäre seien daran gehindert, günstigere Bedingungen auszuhandeln.

34.      Die Kommission ist der Auffassung, es sei nicht ersichtlich, dass Poste Italiane aufgrund eines Rechtsakts (im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs) verpflichtet sei, Dienstleistungen aufgrund einer Gemeinwohlverpflichtung zu erbringen.

2.      Zulässigkeit

35.      Meines Erachtens führt die Bezugnahme auf Art. 14 AEUV in den Vorlagebeschlüssen nicht zur Unzulässigkeit der ersten Frage. Ungeachtet dessen, dass, wie Poste Italiane ausführt, die Feststellung, welche Art von Auslegungszweifel diese Bestimmung im vorliegenden Fall hervorruft, nicht leichtfällt, betrifft die erste Frage jedenfalls im Wesentlichen Art. 106 AEUV: Art. 14 AEUV wird angeführt, weil beide auf „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ Bezug nehmen.

36.      Art. 14 AEUV regelt die „Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ und bestimmt, dass die Union und die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass „die Grundsätze und Bedingungen … dieser Dienste so gestaltet sind, dass diese ihren Aufgaben nachkommen können“. Art. 106 Abs. 2 AEUV sieht vor, dass die Anwendbarkeit der Vorschriften der Verträge – insbesondere die Wettbewerbsregeln – auf diese Dienste die Unternehmen, die mit ihnen betraut sind, nicht an der „Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe“ hindern dürfen.

37.      Beide Bestimmungen bilden mithin eine Sinneinheit: Sie sollen gewährleisten, dass Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse den Verträgen unterliegen, und gleichzeitig sicherstellen, dass ihre besonderen Aufgaben dadurch nicht beeinträchtigt werden.

38.      Poste Italiane führt aus, dass die Feststellung, ob die Praktiken von Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betraut sind, mit Art. 106 AEUV vereinbar sind, dem nationalen Gericht obliege. Die nationalen Gerichte haben „zu prüfen, ob diese Praktiken, falls sie gegen diese Vorschrift verstoßen, durch die Notwendigkeiten gerechtfertigt sein können, die sich aus der dem Unternehmen gegebenenfalls übertragenen besonderen Aufgabe ergeben“(16).

39.      Allerdings steht es dem nationalen Gericht im Rahmen von Art. 267 AEUV frei, den Gerichtshof um Unterstützung zu bitten und ihm seine Zweifel bezüglich der Auslegung von Art. 106 AEUV zu unterbreiten, falls es dies für erforderlich hält(17). Diese Zweifel können legitimerweise die Einstufung einer Tätigkeit als Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse betreffen.

40.      Die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) stellt letztendlich eine Frage zur Auslegung des Unionsrechts, zu deren Beantwortung der Gerichtshof grundsätzlich verpflichtet ist(18). Er kann ihre Beantwortung nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung in keinem Zusammenhang mit dem Ausgangsrechtsstreit steht, hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine Beantwortung erforderlich sind(19). Nichts davon trifft auf die erste Frage zu.

3.      Beantwortung der Frage

41.      Soeben habe ich ausgeführt, dass es das vorlegende Gericht ist, das entscheiden muss, ob Poste Italiane tatsächlich mit der Erfüllung klar definierter gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut worden ist.

42.      Ungeachtet der Würdigung, die dieses Gericht letztendlich vornimmt, stimme ich mit Poste Italiane und der Kommission darin überein, dass sich aus einer Prüfung der streitigen gesetzlichen Regelung nicht der Schluss ziehen lässt, dass die Finanzdienstleistungen, die Poste Italiane an die Konzessionäre, die mit der Eintreibung der ICI betraut sind, als im „allgemeinen wirtschaftlichen Interesse“ liegend eingestuft werden können.

43.      Die den Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Definition der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse eingeräumte Befugnis ist nicht unbeschränkt, sondern unterliegt einer Reihe von Voraussetzungen. Zunächst muss das begünstigte Unternehmen tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut sein, und diese Verpflichtungen müssen im nationalen Recht klar definiert sein(20).

44.      Mit dieser Voraussetzung „wird ein Ziel der Transparenz und der Rechtssicherheit verfolgt, das die Erfüllung von Mindestkriterien erfordert, die vom Vorliegen eines oder mehrerer Hoheitsakte abhängen, die hinreichend genau zumindest die Art, die Dauer und die Tragweite der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen definieren, die den mit der Erfüllung dieser Verpflichtungen betrauten Unternehmen obliegen“(21). So wäre es „[i]n Ermangelung einer klaren Definition solcher objektiven Kriterien … nämlich nicht möglich, zu kontrollieren, ob eine bestimmte Tätigkeit unter den Begriff der Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse fallen kann“(22).

45.      Bezüglich ihrer Banktätigkeit ist nicht ersichtlich, dass Poste Italiane formell verpflichtet ist, bestimmte Leistungen als gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen unter Bedingungen, die ihre Art und Tragweite hinreichend genau definieren, zu erbringen, so dass das weiter oben genannte Ziel der Transparenz und der Rechtssicherheit nicht erfüllt ist. Dieser Umstand würde bereits für sich allein genügen, um ausschließen zu können, dass es sich um eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse handelt.

46.      Etwas anderes ist es, dass Poste Italiane in ihrer Eigenschaft als Betreiber des Universalpostdiensts in diesem spezifischen Bereich eine Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbringt, was unstreitig ist. Der Gerichtshof hat bereits festgestellt, dass die von Postunternehmen erbrachten Finanzdienstleistungen nicht unter die in der Richtlinie 97/67/EG(23) geregelten Postdienste fallen, nicht einmal die, „die die Anbieter von Postdiensten zusätzlich erbringen“(24).

47.      Zusammenfassend scheinen die Finanzdienstleistungen, die Poste Italiane an ihre Kunden unter Ausnutzung dessen erbringt, was das vorlegende Gericht als Engmaschigkeit ihres Filialnetzes auf italienischem Gebiet bezeichnet, nicht als Dienstleistung von allgemeinem Interesse im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs ausgestaltet zu sein(25). Im Rahmen dieser Dienstleistungen wird Dritten (u. a. den Konzessionären, die mit der Eintreibung der ICI beauftragt sind) die Möglichkeit gegeben, Girokonten – Postgirokonten oder Girokonten sonstiger Art – zu eröffnen und zu führen.

C.      Zweite Vorlagefrage

48.      Die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) stellt die zweite Frage für den Fall, dass davon auszugehen ist, dass das „gesetzlich[e] Monopo[l] [von Poste Italiane] die Merkmale der DAWI erfüllt“.

49.      In Übereinstimmung mit ihren Erklärungen zur ersten Frage machen sowohl Poste Italiane als auch die Kommission geltend, dass die Beantwortung der zweiten Frage nicht statthaft sei: Wenn es nicht möglich sei, die Existenz einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse festzustellen, sei es unnötig, eine Frage zu beantworten, die diese Existenz voraussetze.

50.      Die Kommission prüft jedoch hilfsweise, ob in dieser Rechtssache die sogenannten „Altmark-Kriterien“(26) erfüllt sind. Sie ist der Ansicht, dass, sollte dies nicht der Fall sein, die streitigen Gebühren als mit Art. 107 AEUV nicht vereinbare staatliche Beihilfe einzustufen seien.

51.      Meines Erachtens ist in Anbetracht der Antwort, die ich für die erste Frage vorschlage, die zweite Frage, die genau das voraussetzt, was im Rahmen der ersten verneint wird, nicht zu prüfen.

52.      Für alle Fälle werde ich ebenso wie die Kommission die zweite Frage hilfsweise prüfen. Ich halte den Hinweis für dienlich, dass das vorlegende Gericht im Rahmen dieser Frage die Poste Italiane eingeräumte Befugnis, die Höhe der bei dem Konzessionär erhobenen Gebühr einseitig festzusetzen, hervorhebt. Dieser Umstand wäre im Rahmen der Fragestellung für die Feststellung, ob die streitigen Bestimmungen mit den Art. 106 Abs. 2 AEUV und 107 Abs. 1 AEUV vereinbar sind, entscheidend.

53.      Damit eine staatliche Maßnahme als „Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 AEUV eingestuft werden kann, müssen sämtliche Voraussetzungen, die ich sogleich prüfe, vorliegen(27).

1.      Staatliche Maßnahme oder Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel

54.      Durch das Decreto legislativo Nr. 504/1992 wurden die Konzessionäre verpflichtet, für die Eintreibung der von den Steuerpflichtigen zu zahlenden ICI Postgirokonten zu eröffnen. Poste Italiane hatte das entsprechende (ihr durch das Gesetz Nr. 662/1996 eingeräumte) Recht, für die Führung dieser Konten eine Gebühr zu erheben, deren Höhe durch den Beschluss Nr. 57/1996 festgesetzt wurde.

55.      Die von den Konzessionären an Poste Italiane entrichteten Gebühren sind grundsätzlich geeignet, das erste Altmark-Kriterium zu erfüllen, wenn die Mittel, aus denen sie stammen, als „staatlich“ (d. h. staatlicher Herkunft) eingestuft werden können.

56.      Den Verfahrensakten lässt sich jedoch nicht eindeutig entnehmen, wer tatsächlich und letztendlich diese Gebühren zu tragen hat. Sowohl Poste Italiane als auch die Agenzia haben auf Fragen des Gerichtshofs bestätigt, dass sie grundsätzlich von den Konzessionären zu tragen sind.

57.      Es bestehen jedoch Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Konzessionäre einen Teil der Beträge, die die Gemeinden für die Erhebung der ICI an sie entrichten, für diese Zahlung verwenden können(28). Eine Gemeinde, die sie mit der Steuererhebung beauftragt hat, muss diese Aufgabe logischerweise vergüten. Wenn die Unternehmen, die Konzessionäre sind, einen Teil dieser unzweifelhaft öffentlichen Vergütung für die Entrichtung der Gebühr an Poste Italiane verwenden, könnte es sich um staatliche Mittel handeln.

58.      Dies wäre auch der Fall, wenn die steuererhebenden Gemeinden die Gebühr, die Poste Italiane geschuldet wird, übernehmen würden, wenn die Konzessionäre selbst öffentliche Unternehmen wären (wie die Kommission in ihrer Antwort auf die Fragen des Gerichtshofs betont) oder, schließlich, wenn Poste Italiane die erhobenen Gebühren unter Bedingungen verwalten müsste, die die öffentliche Gewalt vorgegeben hat.

59.      Diese Umstände zu klären und sodann zu prüfen, ob das erste Altmark-Kriterium erfüllt ist, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

2.      Mögliche Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten und Wettbewerbsverzerrung

60.      Da Poste Italiane bei der Erbringung der Postgirokontodienstleistung auf einem dem Wettbewerb offenstehenden Sektor (dem Bankensektor) tätig ist, muss das vorlegende Gericht auch prüfen, ob die Erhebung der streitigen Gebühr geeignet war, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen und den Wettbewerb zu verfälschen(29).

61.      Vorbehaltlich der vorstehenden Ausführungen(30) muss das vorlegende Gericht, wenn sich bestätigt, dass ab 1997 für die Erhebung der ICI die nationalen Vorschriften, die die Einzahlung von lokalen Steuern auf ein bei einer Bank geführtes Girokonto statt auf ein Postgirokonto erlaubten, nicht galten, abwägen, inwieweit sich dieser Ausschluss auf die Tätigkeit anderer Bankinstitute auswirkte. Nur so lässt sich einschätzen, ob durch die streitige Maßnahme der Wettbewerb auf dem Sektor der Verwaltung dieser Steuern verfälscht werden konnte.

62.      Das vorlegende Gericht muss ebenfalls prüfen, ob die Vorteile aufgrund der Ausdehnung des territorialen Netzes von Poste Italiane einen ausreichenden Grund dafür darstellten, ihr die Führung der Postgirokonten der Konzessionäre, die die ICI vereinnahmten, unmittelbar und ausschließlich zuzuweisen. Es kann nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass ein öffentliches Vergabeverfahren hätte organisiert werden können, an dem Wirtschaftsteilnehmer aus anderen Mitgliedstaaten hätten teilnehmen können(31).

3.      Gewährung eines Vorteils

63.      Die Bereitstellung öffentlicher Mittel muss sich in einem wirtschaftlichen Vorteil niederschlagen, den das begünstigte Unternehmen unter normalen marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht erhalten hätte(32).

64.      Die staatliche Beihilfe, die Art. 107 AEUV regelt, ist mithin eine Beihilfe, durch die ein Vorteil gewährt wird, und nicht eine rein kompensatorische Beihilfe. Damit sie keine „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 AEUV ist, muss sie eine Beihilfe sein, die einen Ausgleich für Leistungen bildet, die zur Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen erbracht werden(33).

65.      Nur in diesem Fall ist davon auszugehen, dass das Unternehmen, dem sie zugutekommt, „in Wirklichkeit keinen finanziellen Vorteil [erhält] und die genannte Maßnahme somit nicht bewirkt, dass [es] gegenüber den mit ihnen im Wettbewerb stehenden Unternehmen in eine günstigere Wettbewerbsstellung [gelangt]“(34).

66.      Hierzu müssen vier spezifische Kriterien erfüllt sein, die auch im Urteil Altmark genannt sind(35). Dieses Urteil behandelt daher zwei Gruppen von Kriterien:

–      auf der einen Seite die, die allgemein vorliegen müssen, damit eine Beihilfe als „staatlich“ im Sinne von Art. 107 AEUV eingeordnet werden kann(36).

–      Auf der anderen Seite die, die erforderlich sind, damit spezifisch davon ausgegangen werden kann, dass die dritte allgemeine Voraussetzung (Beihilfe, die einen Vorteil verschafft) nicht erfüllt ist.

67.      Dass es sich in beiden Fällen um vier Kriterien handelt, kann irreführend sein, wenn ohne Umschweife von den „Altmark-Kriterien“ die Rede ist. Zur Vermeidung von Missverständnissen spreche ich im Folgenden von den „allgemeinen Altmark-Kriterien“ und den „spezifischen Altmark-Kriterien“.

68.      Die spezifischen Altmark-Kriterien sind folgende:

–      „Erstens muss das begünstigte Unternehmen tatsächlich mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut sein, und diese Verpflichtungen müssen klar definiert sein.“(37)

–      „Zweitens sind die Parameter, anhand deren der Ausgleich berechnet wird, zuvor objektiv und transparent aufzustellen, um zu verhindern, dass der Ausgleich einen wirtschaftlichen Vorteil mit sich bringt, der das Unternehmen, dem er gewährt wird, gegenüber konkurrierenden Unternehmen begünstigt.“(38)

–      „Drittens darf der Ausgleich nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Kosten der Erfüllung der gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen unter Berücksichtigung der dabei erzielten Einnahmen und eines angemessenen Gewinns aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen ganz oder teilweise zu decken. Nur bei Einhaltung dieser Voraussetzung ist gewährleistet, dass dem betreffenden Unternehmen kein Vorteil gewährt wird, der dadurch, dass er die Wettbewerbsstellung dieses Unternehmens stärkt, den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht.“(39)

–      „Wenn viertens die Wahl des Unternehmens, das mit der Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen betraut werden soll, im konkreten Fall nicht im Rahmen eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge erfolgt, das die Auswahl desjenigen Bewerbers ermöglicht, der diese Dienste zu den geringsten Kosten für die Allgemeinheit erbringen kann, so ist die Höhe des erforderlichen Ausgleichs auf der Grundlage einer Analyse der Kosten zu bestimmen, die ein durchschnittliches, gut geführtes Unternehmen, das so angemessen … ausgestattet ist, dass es den gestellten gemeinwirtschaftlichen Anforderungen genügen kann, bei der Erfüllung der betreffenden Verpflichtungen hätte, wobei die dabei erzielten Einnahmen und ein angemessener Gewinn aus der Erfüllung dieser Verpflichtungen zu berücksichtigen sind.“(40)

69.      Die Prüfung, ob eine Beihilfe als „staatlich“ im Sinne von Art. 107 AEUV eingestuft werden kann, muss vor der Feststellung erfolgen, ob diese Beihilfe für die Erbringung der Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erforderlich und damit die in Art. 106 Abs. 2 AEUV geregelte Ausnahmeregelung anwendbar ist.

70.      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs gilt jedoch das erste spezifische Altmark-Kriterium – also das Vorliegen eines tatsächlichen und klaren Auftrags zur Erfüllung einer gemeinwirtschaftlichen Verpflichtung – „auch in dem Fall, dass die in Art. 106 Abs. 2 AEUV vorgesehene Ausnahmeregelung geltend gemacht worden ist“(41).

71.      An diesem Punkt laufen die ersten beiden Fragen des vorlegenden Gerichts also zusammen.

72.      Ausgehend von diesen Prämissen muss für die Feststellung, ob die von Poste Italiane erhaltene Gebühr eine Beihilfe ist, durch die ein Vorteil gewährt wird (und sie damit das dritte allgemeine Altmark-Kriterium erfüllt), geprüft werden, ob sie möglicherweise Ausgleichscharakter hat.

73.      Da in den Vorlagebeschlüssen Art. 106 Abs. 2 AEUV angeführt wird, muss insbesondere geprüft werden, ob die nationalen Behörden Poste Italiane zur Erbringung einer Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse verpflichtet haben.

74.      Ich habe diesen Punkt bereits verneint. Jedenfalls ging die von Poste Italiane eingegangene Verpflichtung im Hinblick auf ihre Bankentätigkeit nicht über die Eröffnung und die Führung der auf den Namen der Konzessionäre lautenden Postgirokonten hinaus. Konkret ist nicht ersichtlich, dass für diese Konten gegenüber denen der übrigen Kunden von Poste Italiane besondere Vertragsbestimmungen gelten. Dies wurde in Antwort auf die diesbezügliche Frage des Gerichtshofs bestätigt.

75.      Da also das Vorliegen einer echten Dienstleistung von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse ausgeschlossen ist, könnten die streitigen Gebühren nicht als Ausgleichszahlungen für die mit ihrer Erbringung zusammenhängenden Belastungen eingestuft werden.

76.      In einem anderen Zusammenhang wäre es angebracht, dass ich das Vorliegen der drei anderen spezifischen Altmark-Kriterien prüfe, ein Punkt, über den der Gerichtshof schwerlich entscheiden kann (abgesehen von dem Hinweis auf die allgemeinen Aspekte dieser Kriterien), sowohl, weil die Prüfung des Sachverhalts in die ausschließliche Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts fällt, als auch, weil sich den Unterlagen, die im vorliegenden Fall verfügbar sind, die insoweit einschlägigen Informationen nicht entnehmen lassen.

77.      Der Umstand, dem, wie ich bereits ausgeführt habe, das vorlegende Gericht größere Bedeutung beizumessen scheint (die einseitige Festlegung der Entgeltbedingungen für das Postgirokonto) ändert als solcher nichts an den bisherigen Ausführungen.

78.      Die Vorlagebeschlüsse enthalten keine Angaben dazu, ob sich in den im Beschluss Nr. 57/1996 tatsächlich festgelegten Gebühren die Verwaltungskosten für die Erbringung des Postgirokontodiensts angemessen niederschlagen.

79.      Den Antworten auf die Fragen des Gerichtshofs zufolge sind diese Gebühren dieselben, die Poste Italiane unterschiedslos bei ihren sonstigen Kunden im Rahmen eines Systems der Publizität und der Transparenz des Girokontendiensts erhob(42). Sollte dies der Fall sein, dürften sie nicht signifikant von denen abweichen, die Poste Italiane oder andere Bankinstitute für andere Steuereinnahmen erheben. Darüber hinaus ist nicht ersichtlich, dass diese Regelung Vertragsbedingungen enthält, die die Kunden in ungerechtfertigterweise belasten.

80.      Jedenfalls, so möchte ich betonen, muss das vorlegende Gericht diese Gesichtspunkte berücksichtigen, da seine Nähe zum Sachverhalt es in eine bessere Lage versetzt, um sie unter sämtlichen Aspekten beurteilen zu können.

D.      Dritte Vorlagefrage

81.      Bei der dritten Frage geht es zusammenfassend darum, ob die gesetzliche Regelung, unter die sie fällt, Poste Italiane eine beherrschende Stellung verschaffte, deren missbräuchliche Ausnutzung gegen Art. 102 AEUV verstößt.

1.      Standpunkte der Parteien

82.      Poste Italiane ist der Ansicht, die dritte Frage sei nicht zulässig, da das vorlegende Gericht nicht darlege, weshalb die angewandten Vorschriften mit Art. 102 AEUV unvereinbar seien. Abgesehen davon, dass sie unzulässig sei, gehe die Frage in die falsche Richtung, wenn es in ihr heiße, dass Poste Italiane Inhaberin eines exklusiven oder besonderen Rechts im Sinne von Art. 106 Abs. 1 AEUV sei, und sich ihr auch nicht entnehmen lasse, auf welche Weise sie sich gehalten sehen könne, ihre beherrschende Stellung zu missbrauchen.

83.      Poste Italiane hat ein ums andere Mal wiederholt, dass die Konzessionäre sich für die Erbringung der Zahlungsdienste im Zusammenhang mit der Grundsteuer anderer Kreditinstitute bedienen könnten(43).

84.      Die Agenzia führt aus, Poste Italiane verfüge auf dem Markt der Zahlungsdienste für Grundsteuern über eine beherrschende Stellung, die sie missbraucht habe, indem sie Gebühren verlangt habe, deren Höhe einseitig und ohne objektive Grundlage festgelegt worden sei.

85.      Die Kommission ist der Ansicht, relevanter (Produkt‑)Markt sei der Markt der entgeltlichen Erbringung der Dienstleistung der Führung von Postgirokonten, die die Konzessionäre der Steuereinzugsstelle verwendeten. Sein Umfang sei begrenzt, denn die Steuerpflichtigen könnten auch unmittelbar an den Konzessionär zahlen.

86.      Sie meint, es sei Sache des vorlegenden Gerichts, den betroffenen Markt zu untersuchen und festzustellen, ob Poste Italiane eine beherrschende Stellung auf ihm innehatte. Diese Prüfung beinhalte die Feststellung, ob andere Bankinstitute dieselbe Dienstleistung erbringen könnten wie Poste Italiane.

87.      Sie merkt an, dass die Befugnis, die streitige Gebühr einseitig festzulegen, die Gefahr in sich bergen könne, dass Poste Italiane ihre (vermeintlich) beherrschende Stellung missbräuchlich ausnutze. Da die Steuerpflichtigen die ICI aber direkt an die Konzessionäre zahlen könnten, hätten Letztere die Möglichkeit, Anreize zu schaffen, damit die zweite Option attraktiver werde. Konkret könnten sie dies als Reaktion auf eine Politik von Poste Italiane tun, durch die überhöhte Gebühren für die Benutzung des Postgirokontos festgelegt würden.

88.      Daher sei es nach Auffassung der Kommission nicht erwiesen, dass die Marktkräfte nicht ausreichten, um die streitigen Dienstleistungen genauso effizient anbieten zu können wie Poste Italiane.

2.      Zulässigkeit

89.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs muss das vorlegende Gericht unabhängig davon, ob einem Unternehmen besondere oder ausschließliche Rechte gewährt wurden, angeben, auf welchem relevanten Markt und auf welche Weise das in Rede stehende Unternehmen eine beherrschende Stellung einnehmen soll(44).

90.      Insbesondere hat der Gerichtshof wiederholt ausgeführt, dass für die Zwecke von Art. 102 AEUV „der relevante Produkt- oder Dienstleistungsmarkt … die Erzeugnisse oder Dienstleistungen [umfasst], die dem fraglichen Erzeugnis oder der fraglichen Dienstleistung substituierbar oder hinreichend mit diesen austauschbar sind, und zwar nicht nur aufgrund ihrer objektiven Merkmale, aufgrund deren sie sich zur Befriedigung eines gleichbleibenden Bedarfs der Verbraucher besonders eignen, sondern auch aufgrund der Wettbewerbsbedingungen sowie der Struktur der Nachfrage und des Angebots auf dem Markt“(45).

91.      Die Vorlageentscheidungen weisen in Bezug auf diese Frage mithin Darstellungsmängel auf, die den Gerichtshof an einer sachdienlichen Antwort hindern. Trotz der Erklärungen der an dem Vorabentscheidungsverfahren Beteiligten, die der Gerichtshof aufforderte, bestimmte Informationen zur Bestimmung des Dienstleistungsmarkts, des relevanten geografischen Markts und des Vorhandenseins von Ersatzdiensten beizubringen, konnte diesen Mängeln nicht abgeholfen werden(46).

92.      Das vorlegende Gericht hätte gegenüber dem Gerichtshof genaue Angaben zu den Merkmalen des relevanten Markts, seiner geografischen Ausdehnung oder des möglichen Vorhandenseins gleichwertiger (Ersatz‑)Dienste machen müssen. Da dies nicht erfolgt ist, ist die dritte Vorlagefrage unzulässig.

93.      Zu demselben Ergebnis gelangt man aus anderer Perspektive im Rahmen der Feststellung, dass anhand des Inhalts dieser Beschlüsse, soweit es um die dritte Vorlagefrage geht, nicht eindeutig ermittelt werden kann, worauf sie abzielt.

94.      Auf den ersten Blick entsteht der Eindruck, dass das vorlegende Gericht davon ausgeht, dass bereits die Einführung des „gesetzlichen Monopols“ zugunsten von Poste Italiane zwangsläufig die missbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung durch dieses Unternehmen zur Folge hat. Poste Italiane würde die beherrschende Stellung missbräuchlich ausnutzen, weil sie das streitige gesetzliche Monopol innehabe(47).

95.      Sollte dies die zutreffende Auslegung der genannten Beschlüsse sein, müsste man zu dem Schluss kommen, dass sie auf einer unrichtigen Prämisse beruhen, die mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht im Einklang steht(48), da sie offenbar die beherrschende Stellung mit ihrer missbräuchlichen Ausnutzung gleichsetzen. Nur die letztgenannte Verhaltensweise ist im Sinne von Art. 102 AEUV rechtswidrig(49).

96.      Eine andere Auslegung dieses Teils der Beschlüsse ließe den Schluss zu, dass das vorlegende Gericht nicht nur das Bestehen einer beherrschenden Stellung, sondern auch ihre missbräuchliche Ausnutzung durch Poste Italiane für erwiesen hält, da diese den Konzessionären die Gebühren für die Erhebung in Höhe der Beträge, die das Gericht selbst nennt, vorgab. Sollte dies der Fall sein, wäre die Frage an den Gerichtshof bereits nach ihrem Wortlaut überflüssig, denn mit ihr wird nach etwas gefragt, das das vorlegende Gericht bereits entschieden hat.

97.      Die sinnvollste Auslegung dieses (knapp gefassten) Teils des Vorlagebeschlusses ist die, die den Schwerpunkt darauf legt, dass die Befugnis, die Zahlungsgebühr einseitig festzulegen, ein Fall einer durch Art. 102 AEUV verbotenen „zwangsläufigen Verleitung zum Missbrauch“ sein könnte(50).

98.      Es ginge mithin um die Feststellung, ob diese Hypothese tatsächlich plausibel ist, mit anderen Worten, ob die Voraussetzungen dafür vorliegen, dass die streitige gesetzliche Regelung Poste Italiane unausweichlich zum Missbrauch einer beherrschenden Stellung veranlasst.

99.      Auch wenn man davon ausgeht, dass dies die zutreffendste Auslegung der Frage des vorlegenden Gerichts ist, fehlen doch weiterhin Eckdaten, damit sich der Gerichtshof mit minimaler Genauigkeit zu diesem Zweifel äußern kann. Der Mangel zeigt sich vor allem in Bezug auf die Feststellung, ob der Missbrauch i) vor dem Hintergrund eines relevanten Markts, der nicht genau spezifiziert worden ist, ii) unter Wettbewerbsbedingungen zwischen Bankinstituten und iii) angesichts von Diensten, die die von Poste Italiane erbrachten Dienste möglicherweise ersetzen können, unvermeidbar war.

100. Vor diesem Hintergrund komme ich zu dem Ergebnis, dass die dritte Vorlagefrage unzulässig ist. Dennoch werde ich für den Fall, dass der Gerichtshof anderer Ansicht ist, kurz meine Meinung zu ihr darlegen.

3.      Beantwortung der Frage

101. Die Kommission hat in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt, dass die Konzessionäre angesichts der einschlägigen gesetzlichen Regelung ein eventuelles missbräuchliches Verhalten von Poste Italiane umgehen könnten und sich mithin die Hypothese der notwendigen Verleitung zum Missbrauch nicht bestätigt habe.

102. Zu diesem Punkt haben Poste Italiane und die Agenzia auf Aufforderung des Gerichtshofs Stellung genommen. Erstere ist der These der Kommission beigetreten. Letztere hat den Standpunkt der Kommission als „unrealistisch“ bezeichnet.

103. Ein Missbrauch der beherrschenden Stellung könnte, soweit es hier von Bedeutung ist, eintreten, wenn Poste Italiane den Konzessionären ungerechte Preise auferlegen würde, die sie zwingend zahlen müssten, ohne die Möglichkeit zu haben, auf andere Modalitäten der Eintreibung der ICI zurückzugreifen. Dadurch würde Poste Italiane gegenüber ihren Wettbewerbern einen ungerechtfertigten Vorteil erlangen.

104. Die Kommission führt aus, dass es zu dieser missbräuchlichen Ausnutzung der (möglichen) beherrschenden Stellung nicht komme, wenn es den Steuerzahlern freistehe, die ICI direkt an die Konzessionäre zu zahlen. Diese könnten ihnen Bedingungen anbieten, die hinreichend attraktiv seien(51), dass sie dieser Option den Vorzug gäben, statt die Zahlung auf das Postgirokonto vorzunehmen.

105. Erneut ist es Sache des vorlegenden Gerichts, über diese gegensätzlichen Standpunkte zu entscheiden, die der Gerichtshof angesichts des Fehlens der Beurteilungskriterien, auf die ich bereits Bezug genommen habe, kaum bewerten kann.

106. Im Rahmen seiner Beurteilung könnte es in jedem Fall sachdienlich sein, zu prüfen, ob die wirtschaftlichen Kosten der Angebote der Konzessionäre, auf die die Kommission Bezug nimmt – mit anderer Bezeichnung oder in einem anderen Gewand –, in Wirklichkeit denen entsprächen, die ihnen entstünden, wenn sie die einseitig von Poste Italiane festgelegte Gebühr zahlen würden.

107. Das vorlegende Gericht muss darüber hinaus abwägen, ob die Stellung von Poste Italiane auf dem Bankenmarkt gegenüber ihren Wettbewerbern von dem Augenblick an, in dem ab 1997 sämtliche kommunalen Steuern mit Ausnahme der ICI über Girokonten gezahlt werden konnten, begünstigt werden konnte.

108. Konkret müsste festgestellt werden, ob Poste Italiane aufgrund ihrer beherrschenden Stellung im Bereich der Zahlung der ICI deren Auswirkungen unweigerlich auf den Markt für die Zahlung der übrigen kommunalen Steuern im Besonderen und auf die Gesamtheit der Bankentätigkeit im Allgemeinen ausdehnen musste.

109. Bei dieser Beurteilung darf, wie die Agenzia im Rahmen der Beantwortung einer der Fragen des Gerichtshofs selbst einräumt(52), ungeachtet des Volumens der Einzugsvorgänge (zehntausende) nicht vergessen werden, dass die Vertragsbedingungen für die Postgirokonten – einschließlich der wirtschaftlichen Bedingungen –, die für die mit der der Grundsteuererhebung betrauten Konzessionäre galten, dieselben waren, die im Allgemeinen für jeden Inhaber eines Girokontos galten, der eine juristische Person war.

110. Bestätigt sich dieser Umstand, könnte er ein Indiz sein, das gegen die Unvermeidbarkeit des Missbrauchs der beherrschenden Stellung spricht. Auf einem Markt liberalisierter Bankdienstleistungen bestünden für Poste Italiane keine Anreize, den Inhabern von Girokonten im Allgemeinen (sowohl den Konzessionären, für die diese Regelung gilt, als auch den übrigen) Zahlungsgebühren aufzuerlegen, die wesentlich nachteiliger sind als die, die andere Kreditinstitute festgelegt haben.

111. Schließlich könnte es für die Entscheidung über die missbräuchliche Ausnutzung der beherrschenden Stellung entscheidend sein, dass andere Bankinstitute den Konzessionären entsprechende (ersetzbare) Dienstleistungen anbieten, die sie in Anspruch nehmen können, damit die Steuerzahler ihre Grundsteuerbeiträge einzahlen können; ein Aspekt, den das vorlegende Gericht prüfen muss.

V.      Ergebnis

112. Angesichts des Vorstehenden schlage ich dem Gerichtshof vor, der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) wie folgt zu antworten:

1.      Die Girokontodienstleistung, die die Poste Italiane SpA im Bereich ihrer Tätigkeit der Erbringung von Finanzdienstleistungen den mit der Erhebung der lokalen Grundsteuer betrauten Konzessionären von 1992 bis 2011 zur Verfügung stellte, weist nicht die Merkmale der Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Art. 106 Abs. 2 AEUV auf, sofern kein förmlicher Rechtsakt zur Auferlegung klar festgelegter gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen existiert. Dies festzustellen, ist Sache des nationalen Gerichts.

2.      In Anbetracht der Antwort auf die erste Vorlagefrage erübrigt sich die Beantwortung der zweiten Vorlagefrage.

3.      Die dritte Vorlagefrage ist unzulässig.


1      Originalsprache: Spanisch.


2      Seit dem 1. Oktober 2006 ist die Steuererhebung ausschließlich der Agenzia delle entrate, einer staatlichen Einrichtung, übertragen. 2017 wurde die öffentliche Einrichtung „Agenzia delle entrate-Riscossione“ geschaffen, die die Aufgaben der Steuereintreibung für Rechnung der lokalen Verwaltungen (Regionen, Provinzen und Gemeinden) übernahm.


3      Die Poste Italiane SpA (im Folgenden: Poste Italiane) ist eine Gesellschaft privaten Rechts mit öffentlicher Mehrheitsbeteiligung, die im Zuge des Umwandlungsprozesses zunächst der Amministrazione autonoma delle Poste e delle Telecomunicazioni (Autonome Post-und Telekommunikationsverwaltung) in ein öffentlich-rechtliches Wirtschaftsunternehmen und im Anschluss daran in eine Aktiengesellschaft gegründet wurde.


4      Legge 23 dicembre 1996, n. 662 – Misure di razionalizzazione della finanza pubblica (Gesetz Nr. 662 über Maßnahmen zur Rationalisierung der öffentlichen Finanzen vom 23. Dezember 1996, GURI Nr. 303 vom 28. Dezember 1996, Supplemento ordinario Nr. 233, im Folgenden: Gesetz Nr. 662/1996).


5      Decreto del Presidente della Repubblica 14 marzo 2001, n. 144 – Regolamento recante norme sui servizi di bancoposta (Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 144 vom 14. März 2001 über Postbankdienste, GURI Nr. 94 vom 23. April 2001, im Folgenden: Dekret Nr. 144/2001).


6      Decreto legislativo 30 dicembre 1992, n. 504 – Riordino della finanza degli enti territoriali a norma dell’articolo 4 della legge 23 ottobre 1992, n. 421 (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 504 zur Neueröffnung der Finanzierung der Gebietskörperschaften in Anwendung von Art. 4 des Gesetzes Nr. 421 vom 23. Oktober 1992, GURI Nr. 305 vom 30. Dezember 1992, Supplemento ordinario Nr. 137, im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 504/1992).


7      Decreto del Ministro delle Finanze 28 dicembre 1993, n. 567 – Regolamento di attuazione dell’articolo 78, commi da 27 a 38, della legge 30 dicembre 1991, n. 413, concernente l’istituzione del conto fiscale (Dekret des Finanzministers Nr. 567 – Verordnung zur Durchführung von Art. 78 Abs. 27 bis 38 des Gesetzes Nr. 413 vom 30. Dezember 1991 zur Einführung des Steuerkontos, GURI Nr. 306 vom 31. Dezember 1993).


8      Decreto legislativo 15 dicembre 1997, n. 446 – Istituzione dell’imposta regionale sulle attività produttive, revisione degli scaglioni, della aliquote e delle detrazioni dell’Irpef e istituzione di una addizionale regionale a tale imposta, nonche’ riordino della disciplina dei tributi local (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 446 zur Einführung der regionalen Steuer auf produktive Tätigkeiten, Neuordnung von Steuerklassen, Steuersätzen und Abzügen im Rahmen der Einkommensteuer und zur Einführung eines regionalen Zusatzes zu dieser Steuer sowie zur Neuordnung des lokalen Steuerwesens vom 15. Dezember 1997, GURI Nr. 298 vom 23. Dezember 1997, Supplemento ordinario Nr. 252).


9      Decreto legge 13 maggio 2011, n. 70 – Semestre Europeo – Prime disposizioni urgenti per l’economia (Gesetzesdekret Nr. 70 über das europäische Semester – erste Eilbestimmungen zugunsten der Wirtschaft vom 13. Mai 2011, GURI Nr. 110 vom 13. Mai 2011). Es wurde später (mit Änderungen) zur Legge 12 luglio 2011, n. 106 (Gesetz Nr. 106 vom 12. Juli 2011, GURI Nr. 160 vom 12. Juli 2011), später geändert durch das Decreto legge 6 dicembre 2011, n. 201 (Gesetzesdekret Nr. 201 vom 6. Dezember 2011), wiederum (mit Änderungen) umgewandelt in die Legge 22 dicembre 2011, n. 214 (Gesetz Nr. 214 vom 22. Dezember 2011) (im Folgenden: Decreto legge Nr. 70/2011).


10      In der Fassung durch Art. 5 Abs. 8bis des Decreto legge 2 marzo 2012, n. 16 (Gesetzesdekret Nr. 16 vom 2. März 2012), umgewandelt (mit Änderungen) in die Legge 26 aprile 2012, n. 44 (Gesetz Nr. 44 vom 26. April 2012).


11      Vorgesehen wurde das  Verbot der unentgeltlichen Erbringung von Dienstleistungen im Auftrag der öffentlichen Verwaltungen und öffentlicher Einrichtungen, die Reorganisation der Abstimmung mit den zuständigen Ministern und die Abschaffung der tariflichen oder sozialen Verpflichtungen für im Wettbewerb stehende Dienstleistungen.


12      Riscossione Sicilia SpA agente riscossione per la Provincia di Palermo e delle altre provincie siciliane (im Folgenden: Riscossione Sicilia) (Rechtssache C‑434/19) und Agenzia delle entrate – Riscossione (im Folgenden: Agenzia) (Rechtssache C‑435/19).


13      Siehe statt aller Urteil vom 2. April 2020, Coty Germany (C‑567/18, EU:C:2020:267, Rn. 22).


14      Sie beruft sich insoweit auf den ministeriellen Erlass vom 12. Mai 1993, geändert durch ministeriellen Erlass vom 10. Dezember 2001, wonach „sich der Steuerpflichtige [der ICI] zur Zahlung der mit dem mit der Erhebung betrauten Konzessionär konzertierten Kreditinstitute bedienen kann“.


15      Zur Bestätigung ihrer These führt sie das Rundschreiben des Ministero dell’Economia e delle Finanze (Ministerium für Wirtschaft und Finanzen) Nr. 4 vom 30. Mai 2002 mit dem Titel „Klarstellungen für die Zwecke der Zahlung der ICI“ an.


16      Urteil vom 18. Juni 1991, ERT (C‑260/89, EU:C:1991:254, Rn. 34).


17      „Ebenso hat nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen.“ Urteil vom 27. Juni 2017, Congregación de Escuelas Pías Provincia Betania (C‑74/16, EU:C:2017:496, Rn. 24).


18      Ebd.


19      Vgl. statt aller Urteil vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a. (C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 25).


20      Urteil vom 20. Dezember 2017, Comunidad Autónoma del País Vasco u. a./Kommission (C‑66/16 P bis C‑69/16 P, EU:C:2017:999, im Folgenden: Urteil Comunidad Autónoma del País Vasco u. a./Kommission, Rn. 72).


21      Urteil Comunidad Autónoma del País Vasco u. a./Kommission (Rn. 73).


22      Ebd.


23      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Dezember 1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarkts der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität (ABl. 1998, L 15, S. 14) in der durch die Richtlinie 2008/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Februar 2008 (ABl. 2008, L 52, S. 3) geänderten Fassung.


24      Urteile vom 11. März 2004, Asempre und Asociación Nacional de Empresas de Externalización y Gestión de Envíos y Pequeña Paquetería (C‑240/02, EU:C:2004:140, Rn. 31), und vom 22. Oktober 2015, EasyPay und Finance Engineering (C‑185/14, EU:C:2015:716, Rn. 30).


25      Vgl. in diesem Sinne Rn. 1 und 2 des Urteils vom 13. September 2013, Poste Italiane/Kommission (T‑525/08, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:481): „Poste Italiane gewährleistet den Universalpostdienst und übt Banktätigkeiten im gesamten italienischen Hoheitsgebiet aus … Die Banktätigkeiten der Klägerin [Poste Italiane] gehören nicht zu ihren Verpflichtungen zur Erbringung von Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse.“


26      Urteil vom 24. Juli 2003, Altmark Trans und Regierungspräsidium Magdeburg (C‑280/00, EU:C:2003:415, im Folgenden: Urteil Altmark).


27      Urteil vom 9. November 2017, Viasat Broadcasting UK/Kommission (C‑657/15 P, EU:C:2017:837, Rn. 32), und Urteil Altmark (Rn. 75).


28      In Art. 10 Abs. 3 des Decreto legislativo Nr. 504/1992 wurde die Vergütung für die Konzessionäre auf 1 % der erhobenen Beträge, mindestens aber 1,75 Euro und höchstens 50 Euro für jede von den Steuerpflichtigen geleistete Zahlung, festgesetzt.


29      Urteil vom 10. Januar 2006, Cassa di Risparmio di Firenze u. a. (C‑222/04, EU:C:2006:8, Rn. 140).


30      Nrn. 24 bis 28 dieser Schlussanträge.


31      Urteil vom 29. Juli 2019, Azienda Napoletana Mobilità (C‑659/17, EU:C:2019:633, Rn. 38).


32      Urteil Altmark (Rn. 84).


33      Urteil Altmark (Rn. 87).


34      Ebd.  


35      Urteil Altmark (Rn. 89 bis 93).


36      Urteil Altmark (Rn. 75).


37      Urteil Altmark (Rn. 89).


38      Urteil Altmark (Rn. 90).


39      Urteil Altmark (Rn. 92).


40      Urteil Altmark (Rn. 93).


41      Urteil Comunidad Autónoma del País Vasco u. a./Kommission (Rn. 56).


42      Siehe unten, Nrn. 109 und 110.


43      Siehe wiederum Nrn. 24 bis 28 dieser Schlussanträge.


44      Urteil vom 13. Dezember 2007, United Pan-Europe Communications Belgium u. a. (C‑250/06, EU:C:2007:783, Rn. 21).


45      Urteil vom 1. Juli 2008, MOTOE (C‑49/07, EU:C:2008:376, Rn. 32).


46      Der Gerichtshof befragte sie u. a. zu i) den Ersatzdiensten für die von Poste Italiane an die Konzessionäre, die mit der Eintreibung der ICI betraut sind, erbrachten Dienstleistungen, ii) den Bedingungen des Angebots für diese Ersatzdienste, iii) den Teilen des Hoheitsgebiets, in denen Poste Italiane ihre Dienstleistungen an die ICI-Konzessionäre erbrachte, und vi) möglichen Strategien der Konzessionäre, um Anreize für die Zahlung der ICI an sich selbst statt über Poste Italiane zu schaffen.


47      Dieser Auffassung vertritt die Kommission in Rn. 90 ihrer schriftlichen Erklärungen.


48      Urteil vom 1. Juli 2008, MOTOE (C‑49/07, EU:C:2008:376, Rn. 48): „die bloße Schaffung oder Stärkung einer beherrschenden Stellung durch die Gewährung besonderer oder ausschließlicher Rechte [ist] als solche nicht mit Art. [102 AEUV] unvereinbar“.


49      Ebd. (Rn. 49). Insoweit ist es unerlässlich, dass das Unternehmen „durch die bloße Ausübung der ihm übertragenen besonderen oder ausschließlichen Rechte seine beherrschende Stellung missbräuchlich ausnutzt oder … durch diese Rechte eine Lage geschaffen werden könnte, in der dieses Unternehmen einen solchen Missbrauch begeht“. Hervorhebung nur hier.


50      Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑435/19, S. 19 a. E. des italienischen Originals. Hervorhebung im Original.


51      Rn. 110 und 111 der schriftlichen Erklärungen der Kommission. Zu den „Strategien“, die sich die Kommission ausgedacht hat, damit die Konzessionäre Poste Italiane von der Versuchung abbringen können, missbräuchlich von ihrer Stellung Gebrauch zu machen und ihnen überhöhte Tarife aufzuerlegen, gehört die Einrichtung eines Netzes von Vertretern, die befugt sind, Direktzahlungen der Steuer entgegenzunehmen, oder die Möglichkeit, Steuerpflichtigen, die sich für diesen Weg entscheiden, (auf ihre Kosten) Ermäßigungen anzubieten.


52      Antwort auf die vierte Frage des Gerichtshofs.