Language of document : ECLI:EU:C:2015:575

Rechtssache C‑81/14

Nannoka Vulcanus Industries BV

gegen

College van gedeputeerde staten van Gelderland

(Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht vom Raad van State [Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 1999/13/EG – Anhang II B – Luftverschmutzung – Flüchtige organische Verbindungen – Emissionsminderung – Verwendung organischer Lösungsmittel bei bestimmten Tätigkeiten und in bestimmten Anlagen – Pflichten, die für bestehende Anlagen gelten – Fristverlängerung“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 10. September 2015

1.        Umwelt – Luftverschmutzung – Begrenzung von Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen, die bei der Verwendung organischer Lösungsmittel entstehen –Richtlinie 1999/13 – Anforderungen an bereits bestehende Anlagen – Umsetzung eines Emissionsreduzierungsplans – Möglichkeit, eine Fristverlängerung für die Entwicklung von Ersatzstoffen einzuräumen – Umfang

(Richtlinie 1999/13 des Rates, Anhang II B Nr. 2 Abs. 1 Buchst. i)

2.        Umwelt – Luftverschmutzung – Begrenzung von Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen, die bei der Verwendung organischer Lösungsmittel entstehen –Richtlinie 1999/13 – Anforderungen an bereits bestehende Anlagen – Umsetzung eines Emissionsreduzierungsplans – Möglichkeit, eine Fristverlängerung für die Entwicklung von Ersatzstoffen einzuräumen – Erforderlichkeit eines Antrags des Betreibers und einer Genehmigung der zuständigen Behörden – Ermessensspielraum der zuständigen Behörden – Zu berücksichtigende Gesichtspunkte

(Richtlinie 1999/13 des Rates, Anhang II B Nr. 2 Abs. 1 Buchst. i)

1.        Anhang II B der Richtlinie 1999/13 über die Begrenzung von Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen, die bei bestimmten Tätigkeiten und in bestimmten Anlagen bei der Verwendung organischer Lösungsmittel entstehen, ist dahin auszulegen, dass dem Betreiber einer „Anlage“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie auch dann, wenn für diese Anlage ein konstanter Gehalt an Feststoffen angenommen und zur Festlegung des Bezugspunkts für die Emissionsreduzierungen herangezogen werden kann, zur Umsetzung seines Emissionsreduzierungsplans flüchtiger organischer Verbindungen die in Nr. 2 Abs. 1 Buchst. i des betreffenden Anhangs vorgesehene Fristverlängerung eingeräumt werden kann, wenn lösungsmittelarme oder lösungsmittelfreie Ersatzstoffe noch in der Entwicklung sind.

Die Möglichkeit, einem Betreiber eine Fristverlängerung einzuräumen, setzt nämlich notwendigerweise voraus, dass alle in dieser Richtlinie genannten Fristen, u. a. diejenige, die zum 31. Oktober 2007 für bereits bestehende Anlagen ausläuft, verlängert werden können. Eine andere Auslegung würde Anhang II B Nr. 2 Abs. 1 Buchst. i der genannten Richtlinie seinen Regelungscharakter nehmen und diese Bestimmung auf eine bloße Erläuterung der Bemessung der Fristen reduzieren.

Außerdem trifft es zu, dass nach Anhang II B Nr. 2 Abs. 2 der Richtlinie 1999/13 der Standardplan auf Anlagen anzuwenden ist, bei denen ein konstanter Gehalt an Feststoffen angenommen und zur Festlegung des Bezugspunkts für die Emissionsreduzierungen herangezogen werden kann. Dieser Plan stellt jedoch keine Spezialregelung dar, die die Einräumung einer Fristverlängerung für die Betreiber solcher Anlagen ausschließt. Die Möglichkeit, eine Fristverlängerung für alle Anlagentypen unabhängig vom verwendeten Reduzierungsplan einzuräumen, wird außerdem durch die ratio legis bestätigt, die den Bestimmungen der Richtlinie 1999/13 über die Fristverlängerung und die Anlagen, die einen konstanten Gehalt an Feststoffen aufweisen, zugrunde liegt. Diese Fristverlängerung stellt nämlich zum einen eine Ausprägung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit dar. Wie sich zum anderen aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 1999/13 ergibt, beruht die Richtlinie auf der Annahme, dass die Emissionen organischer Verbindungen durch bestehende oder im Laufe der nächsten Jahre verfügbare weniger schädliche Ersatzstoffe vermieden oder reduziert werden können. Insoweit steht das mit der Einführung des Kriteriums in Bezug auf das Vorliegen eines konstanten Gehalts des Feststoffs verfolgte Ziel in keinerlei Zusammenhang mit der ratio legis, die den Bestimmungen der Richtlinie 1999/13 zur Möglichkeit zugrunde liegt, eine Fristverlängerung einzuräumen, wenn lösungsmittelarme oder lösungsmittelfreie Ersatzstoffe noch in der Entwicklung sind.

Da schließlich eine andere Auslegung des Anhangs II B der Richtlinie 1999/13 dem Wortlaut dieses Anhangs nicht klar zu entnehmen ist, liefe eine solche Auslegung dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, der verlangt, dass eine unionsrechtliche Regelung den Betroffenen ermöglicht, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen, und dass sie ihre Pflichten eindeutig erkennen und sich darauf einstellen können.

(vgl. Rn. 50, 53, 55-58, 61, 62, 64 und Tenor 1)

2.        Anhang II B Nr. 2 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 1999/13 über die Begrenzung von Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen, die bei bestimmten Tätigkeiten und in bestimmten Anlagen bei der Verwendung organischer Lösungsmittel entstehen, ist dahin auszulegen, dass eine Fristverlängerung zur Umsetzung eines Emissionsreduzierungsplans flüchtiger organischer Verbindungen eine Genehmigung der zuständigen Behörden erfordert, die einen vorherigen Antrag des betreffenden Betreibers voraussetzt.

Insoweit ist als Ausnahme zu den allgemeinen Bestimmungen der Richtlinie 1999/13 die in Anhang II B Nr. 2 Abs. 1 der Richtlinie vorgesehene Fristverlängerung eng auszulegen unter Berücksichtigung der mit diesem Anhang verfolgten Ziele, nämlich zum einen, die Entwicklung von Ersatzstoffen zu fördern, und zum anderen, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Darüber hinaus ergibt sich schon aus dem Wortlaut des Anhangs selbst, der nur eine „Verlängerung“ der Frist vorsieht, dass die Anwendung eines auf diesen Anhang gestützten Reduzierungsplans zeitlich beschränkt sein muss.

Um daher entscheiden zu können, ob einem Betreiber für die Umsetzung eines Reduzierungsplans der Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen eine Fristverlängerung einzuräumen ist, und das Ausmaß der eventuell eingeräumten Fristverlängerung zu bestimmen, obliegt es diesen zuständigen Behörden, im Rahmen ihres Ermessensspielraums u. a. zu überprüfen, ob tatsächlich Ersatzstoffe entwickelt werden, die geeignet sind, in den betreffenden Anlagen verwendet zu werden und die Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen zu mindern, und ob die laufenden Arbeiten im Hinblick auf die vorgelegten Unterlagen geeignet sind, diese Stoffe fertigzustellen, und ob keine Alternativmaßnahme existiert, die geeignet ist, vergleichbare oder sogar höhere Emissionsreduzierungen zu niedrigeren Kosten zu erreichen, und insbesondere ob nicht schon andere Ersatzstoffe verfügbar sind. Darüber hinaus ist das Verhältnis zwischen der durch die Ersatzstoffe, die noch in der Entwicklung sind, erreichbaren Emissionsminderung sowie deren Kosten zum einen und den durch die Fristverlängerung anfallenden zusätzlichen Emissionen sowie den Kosten etwaiger Alternativmaßnahmen zum anderen zu berücksichtigen. Die Fristverlängerung darf nicht über das für die Entwicklung der Ersatzstoffe Erforderliche hinausgehen. Dies ist im Hinblick auf alle einschlägigen Unterlagen und insbesondere auf die Höhe der durch die Fristverlängerung anfallenden zusätzlichen Emissionen und die Kosten etwaiger Alternativmaßnahmen im Vergleich zur Höhe der Emissionsminderungen, die die in der Entwicklung befindlichen Ersatzstoffe ermöglichen werden, sowie den Kosten dieser Stoffe zu beurteilen.

(vgl. Rn. 73-77, 83 und Tenor 2)