Language of document : ECLI:EU:C:2005:250

Rechtssache C-494/01

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Irland

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Umwelt – Abfallbewirtschaftung – Richtlinie 75/442/EWG in der durch die Richtlinie 91/156/EG geänderten Fassung – Artikel 4, 5, 8, 9, 10, 12, 13 und 14“

Leitsätze des Urteils

1.        Vertragsverletzungsverfahren – Streitgegenstand – Bestimmung während des Vorverfahrens – Genereller Verstoß gegen die Bestimmungen einer Richtlinie – Vorlage ergänzender Beweismittel beim Gerichtshof, die den generellen und fortdauernden Charakter des Verstoßes untermauern sollen – Zulässigkeit

(Artikel 226 EG)

2.        Vertragsverletzungsverfahren – Nachweis der Vertragsverletzung – Obliegenheit der Kommission – Vortrag von Tatsachen, die die Vertragsverletzung erkennen lassen – Gegenbeweis – Obliegenheit des betroffenen Mitgliedstaats

(Artikel 226 EG)

3.        Mitgliedstaaten – Verpflichtungen – Der Kommission übertragene Überwachungsaufgabe – Pflicht der Mitgliedstaaten – Mitwirkung an den Untersuchungen im Zusammenhang mit der Anwendung von Richtlinien – Prüfungs- und Informationspflicht

(Artikel 10 EG, 211 EG und 226 EG; Richtlinie 75/442 des Rates in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung)

4.        Umwelt – Abfallbeseitigung – Richtlinie 75/442 – Durchführung durch die Mitgliedstaaten – Erfolgspflicht – Verpflichtung der Wirtschaftsteilnehmer, vor einer Tätigkeit zur Beseitigung oder Verwertung von Abfällen eine Genehmigung eingeholt zu haben – Kontrollpflicht der Mitgliedstaaten

(Artikel 249 Absatz 3 EG; Richtlinie 75/442 des Rates in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung, Artikel 9 und 10)

5.        Umwelt – Abfallbeseitigung – Richtlinie 75/442 – Artikel 12 – Unterwerfung der Sammlung und der Beförderung von Abfällen unter ein System der vorherigen Genehmigung oder ein Meldeverfahren – Entscheidung eines Mitgliedstaats für das Genehmigungssystem – Auswirkung – Unerheblichkeit einer Anmeldung für die ordnungsgemäße Durchführung der Richtlinie

(Richtlinie 75/442 des Rates in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung, Artikel 12)

6.        Umwelt – Abfallbeseitigung – Richtlinie 75/442 – Artikel 5 – Verpflichtung zur Errichtung eines integrierten und angemessenen Netzes von Beseitigungsanlagen – Nichterfüllung der Verpflichtung angesichts des Vorhandenseins zahlreicher nicht genehmigter Anlagen und einer insgesamt unzureichenden Beseitigungskapazität

(Richtlinie 75/442 des Rates in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung, Artikel 5)

7.        Umwelt – Abfallbeseitigung – Richtlinie 75/442 – Aus Artikel 4 Absatz 1 fließende Verpflichtung der Mitgliedstaaten – Verpflichtung bei fortgesetztem Verstoß gegen die Artikel 9 und 10 verletzt

(Richtlinie 75/442 des Rates in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung, Artikel 4 Absatz 1, 9 und 10)

8.        Umwelt – Abfallbeseitigung – Richtlinie 75/442 – Artikel 8 – Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gegenüber Abfallbesitzern – Verpflichtungen, die auch gegenüber dem Betreiber oder Eigentümer einer illegalen Deponie gelten und nicht durch bloßes repressives Vorgehen erfüllt werden können

(Richtlinie 75/442 des Rates in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung, Artikel 8)

9.        Umwelt – Abfallbeseitigung – Richtlinie 75/442 – Artikel 13 und 14 – Verpflichtung, die Einrichtungen, die die Abfallbeseitigung und ‑verwertung vornehmen, regelmäßigen Überprüfungen zu unterwerfen – Gegenstand der Überprüfung – Einhaltung der in der Genehmigung festgelegten Bedingungen – Überprüfung, die nicht den Anforderungen der Richtlinie entsprechen kann, wenn die Einrichtung nicht über eine ordnungsgemäße Genehmigung verfügt

(Richtlinie 75/442 des Rates in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung, Artikel 13 und 14)

1.        Der Gegenstand einer Klage nach Artikel 226 EG wird durch das in dieser Bestimmung vorgesehene Vorverfahren eingegrenzt. Daher kann die Kommission, soweit es um einen spezifischen Sachverhalt geht, der im Vorverfahren nicht zur Sprache gebracht worden ist, nicht die Feststellung eines spezifischen Verstoßes erwirken.

Soweit jedoch mit der Klage ein genereller Verstoß gegen die Bestimmungen einer Richtlinie gerügt werden soll, der insbesondere mit der systematischen, fortdauernden Toleranzhaltung der nationalen Behörden gegenüber richtlinienwidrigen Situationen begründet wird, ist es grundsätzlich nicht unzulässig, dass die Kommission ergänzende Beweismittel vorlegt, die den Zweck haben, den generellen und fortdauernden Charakter dieses behaupteten Verstoßes im Stadium des Verfahrens vor dem Gerichtshof zu untermauern.

Da die Kommission nämlich, sofern sie nicht den Streitgegenstand ändert, ihre ursprünglichen Rügen in ihrer Klageschrift präzisieren kann, wird der Streitgegenstand durch die Vorlage neuer Beweismittel, mit denen die Kommission die in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme angeführten Rügen, die sich auf einen generellen Verstoß gegen die Bestimmungen der Richtlinie beziehen, veranschaulichen will, nicht geändert. So kann die Kommission Tatsachen, von denen sie erst nach Abgabe der mit Gründen versehenen Stellungnahme Kenntnis erlangt, sehr wohl im Rahmen der Begründung ihrer Klageschrift zur Veranschaulichung der von ihr gerügten generellen Verstöße anführen.

(vgl. Randnrn. 35-39)

2.        Im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Artikel 226 EG obliegt es der Kommission, das Vorliegen der behaupteten Vertragsverletzung nachzuweisen. Sie muss dem Gerichtshof die erforderlichen Anhaltspunkte liefern, anhand deren er das Vorliegen der Vertragsverletzung prüfen kann; dabei kann sie sich nicht auf irgendeine Vermutung stützen. Hat jedoch die Kommission genügend Anhaltspunkte für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts im Gebiet des beklagten Mitgliedstaats beigebracht, die den Nachweis ermöglichen, dass sich bei den Behörden eines Mitgliedstaats eine wiederholt angewandte, fortbestehende Praxis herausgebildet hat, die gegen die Bestimmungen einer Richtlinie verstößt, so obliegt es diesem Mitgliedstaat, diese Angaben und deren Folgen substanziiert zu bestreiten.

(vgl. Randnrn. 41, 44, 47)

3.        Die Mitgliedstaaten sind nach Artikel 10 EG verpflichtet, der Kommission die Erfüllung ihrer Aufgaben zu erleichtern, die gemäß Artikel 211 EG insbesondere darin bestehen, für die Anwendung des Vertrages sowie der von den Organen aufgrund des Vertrages getroffenen Bestimmungen Sorge zu tragen. Im Rahmen der Prüfung der Frage, ob die nationalen Bestimmungen in der Praxis korrekt angewandt werden, mit denen die wirksame Durchführung einer Richtlinie in Bereichen, in denen die Kommission – wie es bei der Richtlinie 75/442 über Abfälle in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung der Fall ist – über keine eigenen Ermittlungsbefugnisse verfügt, sichergestellt werden soll, ist die Kommission weitgehend auf die Angaben etwaiger Beschwerdeführer und des betroffenen Mitgliedstaats angewiesen. Unter solchen Umständen haben in erster Linie die nationalen Behörden im Geiste einer loyalen Zusammenarbeit die erforderlichen Prüfungen vor Ort vorzunehmen, entsprechend der Verpflichtung jedes Mitgliedstaats, der Kommission die Erfüllung ihrer allgemeinen Aufgabe zu erleichtern und ihr die zu diesem Zweck angeforderten Auskünfte zu erteilen.

(vgl. Randnrn. 42-43, 45, 197-198)

4.        Die Artikel 9 und 10 der Richtlinie 75/442 über Abfälle in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung erlegen den Mitgliedstaaten klar und eindeutig formulierte Erfolgspflichten auf, wonach alle Unternehmen oder Anlagen, die im Hoheitsgebiet dieser Mitgliedstaaten Tätigkeiten zur Beseitigung oder Verwertung von Abfällen ausüben, einer Genehmigung bedürfen. Folglich hat ein Mitgliedstaat seine Verpflichtungen aus diesen Bestimmungen erst erfüllt, wenn er nicht nur diese ordnungsgemäß in innerstaatliches Recht umgesetzt hat, sondern auch überprüft, dass die Wirtschaftsteilnehmer, bevor sie eine Beseitigung oder Verwertung vornehmen, über eine gemäß Artikel 9 erteilte Genehmigung verfügen, wofür die bloße Antragstellung nicht schon genügt. Der Mitgliedstaat hat sich daher zu vergewissern, dass die eingeführte Genehmigungsregelung tatsächlich angewandt und eingehalten wird, indem er hierzu insbesondere geeignete Kontrollen vornimmt und sicherstellt, dass die ohne Genehmigung ausgeübten Tätigkeiten eingestellt und geahndet werden

(vgl. Randnrn. 116-118)

5.        Artikel 12 der Richtlinie 75/442 über Abfälle in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung sieht u. a. vor, dass Anlagen oder Unternehmen, die gewerbsmäßig Abfälle einsammeln oder befördern, bei den zuständigen Behörden gemeldet sein müssen, sofern sie keine Genehmigung benötigen. Danach müssen die Mitgliedstaaten somit zwischen einem Genehmigungssystem und einem Meldeverfahren wählen.

Hat sich ein Mitgliedstaat für das Genehmigungssystem entschieden, kann er nicht mit der Begründung, die Stellung eines Genehmigungsantrags sei einer Anmeldung gleichwertig, mit Erfolg behaupten, seine Verpflichtungen erfüllt zu haben, wenn die Wirtschaftsteilnehmer wegen ihm zurechenbarer Verspätungen zum maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht einmal über eine Genehmigung verfügt haben.

(vgl. Randnrn. 142, 144-145)

6.        Zu den Zielen, die mit der Richtlinie 75/442 über Abfälle in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung verfolgt werden, zählt gemäß ihrem Artikel 5 die Errichtung eines integrierten und angemessenen Netzes von Beseitigungsanlagen, die den derzeit modernsten, keine übermäßig hohen Kosten verursachenden Technologien Rechnung tragen, wobei dieses Netz es gestatten muss, dass die Abfälle in einer der am nächsten gelegenen geeigneten Entsorgungsanlagen beseitigt werden. Ein Mitgliedstaat verstößt daher gegen diese Bestimmung, wenn er es hinnimmt, dass zahlreiche Abfallbeseitigungsanlagen ohne Genehmigung betrieben werden, und wenn in seinem Hoheitsgebiet das Netz von Beseitigungsanlagen insgesamt einer Überlastung nahe ist und nicht mehr ausreicht, um die darin produzierten Abfälle aufzunehmen.

(vgl. Randnrn. 149-158)

7.        Zwar ist es grundsätzlich nicht möglich, aus der Unvereinbarkeit einer tatsächlichen Situation mit den in Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 75/442 über Abfälle in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung festgelegten Zielen unmittelbar abzuleiten, dass ein Mitgliedstaat gegen die ihm durch diese Vorschrift auferlegten Verpflichtungen – nämlich die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die Abfälle beseitigt werden, ohne die menschliche Gesundheit zu gefährden oder die Umwelt zu schädigen – verstoßen haben muss; das Fortbestehen einer solchen tatsächlichen Situation, namentlich wenn dies zu einer signifikanten Beeinträchtigung der Umwelt über einen längeren Zeitraum führt, ohne dass die zuständigen Behörden eingreifen, kann jedoch unstreitig darauf hinweisen, dass dieser Mitgliedstaat das durch diese Vorschrift eingeräumte Ermessen überschritten hat.

Der Umstand, dass ein Mitgliedstaat generell und fortgesetzt gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, die ordnungsgemäße Durchführung der Artikel 9 und 10 der Richtlinie sicherzustellen, die die Regelungen zur Genehmigung von Tätigkeiten zur Beseitigung und Verwertung von Abfällen enthalten, genügt allein schon für die Feststellung, dass er ebenfalls generell und fortgesetzt gegen die Anforderungen des Artikels 4 der Richtlinie verstoßen hat, der mit deren Artikeln 9 und 10 eng zusammenhängt.

(vgl. Randnrn. 169-171)

8.        Nach Artikel 8 der Richtlinie 75/442 über Abfälle in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung, der insbesondere die Durchführung des Grundsatzes der Vorsorge sicherstellt, haben die Mitgliedstaaten zu überprüfen, ob die Besitzer von Abfällen diese einem privaten oder öffentlichen Sammelunternehmen oder einem Unternehmen übergeben, das die Abfallbeseitigung und ‑verwertung vornimmt, oder ob sie die Verwertung oder Beseitigung unter Einhaltung der Bestimmungen der Richtlinie selbst vornehmen.

Die Mitgliedstaaten haben diese Maßnahmen auch gegenüber dem Betreiber oder dem Eigentümer einer illegalen Deponie zu ergreifen, der als Besitzer der Abfälle im Sinne dieses Artikels anzusehen ist. Diese Verpflichtung ist nicht erfüllt, wenn ein Mitgliedstaat lediglich die Zwangsverwaltung der illegalen Deponie angeordnet und ein Strafverfahren gegen deren Betreiber eingeleitet hat.

(vgl. Randnrn. 179, 181-182)

9.        Nach Artikel 13 der Richtlinie 75/442 über Abfälle in der durch die Richtlinie 91/156 geänderten Fassung müssen sich die in dieser Bestimmung vorgeschriebenen regelmäßigen angemessenen Überprüfungen u. a. auf die Anlagen oder Unternehmen beziehen, die die in den Artikeln 9 und 10 der Richtlinie genannten Maßnahmen durchführen und denen nach den beiden genannten Bestimmungen zuvor eine bestimmte Vorschriften und Bedingungen enthaltende Einzelgenehmigung erteilt worden sein muss.

Wenn solche Genehmigungen nicht erteilt und damit gegenüber einem Unternehmen oder einer bestimmten Anlage keine Vorschriften und Bedingungen festgelegt worden sind, können die bei diesen Unternehmen oder Anlagen durchgeführten Überprüfungen von vornherein nicht den Anforderungen von Artikel 13 der Richtlinie entsprechen. Ein wesentliches Ziel der in dieser Bestimmung vorgesehenen Überprüfungen ist es nämlich, sicherzustellen, dass die Vorschriften und Bedingungen, die in der gemäß den Artikeln 9 und 10 der Richtlinie erteilten Genehmigung festgelegt worden sind, eingehalten worden sind. Gleiches gilt für die Führung von Registern durch die in diesen Bestimmungen genannten Anlagen oder Unternehmen, in denen, wie Artikel 14 der Richtlinie klarstellt, u. a. die Mengen und die Art der Abfälle sowie die Art ihrer Behandlung verzeichnet werden müssen.

(vgl. Randnrn. 190-192)