Language of document : ECLI:EU:C:2022:592


 


 



Beschluss des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 12. Juli 2022 – Minister for Justice and Equality (Durch Gesetz errichtetes Gericht im Ausstellungsmitgliedstaat – II)

(Rechtssache C480/21)(1)

(Vorabentscheidungsersuchen – Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 1 Abs. 3 – Übergabe zwischen den Mitgliedstaaten – Vollstreckungsvoraussetzungen – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 Abs. 2 – Grundrecht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht – Systemische oder allgemeine Mängel – Zweistufige Prüfung – Anwendungskriterien – Pflicht der vollstreckenden Justizbehörde, konkret und genau zu prüfen, ob ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass der Betroffene im Fall der Übergabe einer echten Gefahr der Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht ausgesetzt sein wird)

Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, an die ausstellenden Justizbehörden – Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze zu achten – Recht auf Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen, zuvor durch Gesetz errichteten Gericht – Systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats – Mängel des Verfahrens zur Ernennung der Mitglieder der Justiz – Vermutung der Verletzung dieses Rechts – Fehlen – Prüfung durch die vollstreckende Justizbehörde – Umfang – Folgen

(Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 47 Abs. 2; Rahmenbeschluss des Rates 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung, Art. 1 Abs. 2 und 3)

(vgl. Rn. 34-45, 47-58 und Tenor)

Tenor

Art. 1 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person zu entscheiden hat, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, wenn sie über Anhaltspunkte für das Bestehen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaates verfügt, insbesondere was das Verfahren zur Ernennung der Mitglieder der Justiz betrifft, die Übergabe dieser Person nur dann verweigern darf, wenn sie

–        bei einem zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehl feststellt, dass es unter den besonderen Umstände des Falles ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass, insbesondere unter Berücksichtigung der Angaben dieser Person zur Zusammensetzung des Spruchkörpers, der mit ihrer Strafsache befasst war, oder zu jedem anderen für die Beurteilung der Unabhängigkeit oder Unparteilichkeit dieses Spruchkörpers relevanten Umstand, das in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte verankerte Grundrecht dieser Person auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht verletzt wurde, und

–        bei einem zur Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehl feststellt, dass es unter den besonderen Umständen des Falles ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person insbesondere unter Berücksichtigung ihrer Angaben zu ihrer persönlichen Situation, der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat, dem Sachverhalt, auf dem der Europäische Haftbefehl beruht, oder jedem anderen Umstand, der für die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Spruchkörpers, der voraussichtlich mit dem Verfahren gegen sie befasst sein wird, relevant ist, im Fall der Übergabe einer echten Gefahr der Verletzung dieses Grundrechts ausgesetzt ist.


1 ABl. C 391 vom 27.9.2021.