Language of document : ECLI:EU:T:2024:301

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTS (Achte Kammer)

8. Mai 2024(*)

„Staatliche Beihilfen – Deutscher Luftverkehrsmarkt – Von Deutschland zugunsten eines Luftfahrtunternehmens gewährte Umstrukturierungsbeihilfe – Änderung der Bedingungen für die von Deutschland gewährten Darlehen und teilweise Abschreibung von Schulden – Beschluss, keine Einwände zu erheben – Nichtigkeitsklage – Klagebefugnis – Zulässigkeit – Wahrung der Verfahrensrechte – Ernsthafte Schwierigkeiten – Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV – Rn. 67 der Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung nichtfinanzieller Unternehmen in Schwierigkeiten – Lastenverteilung“

In der Rechtssache T‑28/22,

Ryanair DAC mit Sitz in Swords (Irland), vertreten durch Rechtsanwälte E. Vahida, S. Rating und I.‑G. Metaxas-Maranghidis,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch I. Barcew, V. Bottka und J. Ringborg als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch J. Möller, P.‑L. Krüger und J. Buhl als Bevollmächtigte,

und durch

Condor Flugdienst GmbH mit Sitz in Neu-Isenburg (Deutschland), vertreten durch Rechtsanwalt A. Rosenfeld, Rechtsanwältin S. Lünenbürger, Rechtsanwalt A. Birnstiel und Rechtsanwältin S. Blazek,

Streithelferinnen,

erlässt

DAS GERICHT (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten A. Kornezov (Berichterstatter) sowie der Richter G. De Baere und K. Kecsmár,

Kanzler: S. Spyropoulos, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

auf die mündliche Verhandlung vom 22. September 2023

folgendes

Urteil(1)

1        Mit ihrer Klage nach Art. 263 AEUV beantragt die Klägerin die Nichtigerklärung des Beschlusses C(2021) 5729 final der Kommission vom 26. Juli 2021 über die staatliche Beihilfe SA.63203 (2021/N) – Deutschland – Umstrukturierungsbeihilfe zugunsten von Condor (im Folgenden: angefochtener Beschluss).

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

[nicht wiedergegeben]

10      Schließlich genehmigte die Kommission mit dem angefochtenen Beschluss gemäß Art. 107 Abs. 3 Buchst. c AEUV und den Leitlinien für staatliche Beihilfen zur Rettung und Umstrukturierung (im Folgenden: Leitlinien) eine Beihilfemaßnahme, mit der die Umstrukturierung und die Fortsetzung der Tätigkeiten von Condor gefördert werden sollten (im Folgenden: fragliche Maßnahme). Die Maßnahme umfasst zwei Teile. Der erste Teil betrifft zum einen die Änderung der Bedingungen für die Covid‑19-Darlehen aus dem Jahr 2020 und zum anderen die teilweise Abschreibung – in Höhe von 90 Mio. Euro – von Schulden aus diesen Darlehen. Der zweite Teil besteht aus der Abschreibung einer Verbindlichkeit in Höhe von 20,2 Mio. Euro für die Zinsen, die Condor aufgrund des geänderten Beschlusses über die Covid‑19-Beihilfe von 2020 zurückzahlen musste.

 Anträge der Parteien

11      Die Klägerin beantragt,

–        den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären;

–        der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

12      Die Kommission beantragt,

–        die Klage abzuweisen;

–        der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

13      Die Bundesrepublik Deutschland und Condor beantragen, die Klage abzuweisen und die Kosten des Verfahrens der Klägerin aufzuerlegen.

 Rechtliche Würdigung

[nicht wiedergegeben]

 Zur Begründetheit

[nicht wiedergegeben]

 Zum sechsten Anhaltspunkt: Fehlender Nachweis der Verhältnismäßigkeit der fraglichen Maßnahme durch die Kommission

[nicht wiedergegeben]

202    Zweitens macht die Klägerin geltend, die Kommission habe Rn. 67 der Leitlinien insofern verkannt, als sie im angefochtenen Beschluss nicht geprüft habe, ob die fragliche Maßnahme Konditionen vorsehe, die dem Mitgliedstaat einen angemessenen Anteil an künftigen Wertgewinnen von Condor zusicherten. Die Kommission hätte eine solche Prüfung vornehmen müssen, weil die fragliche Maßnahme die finanzielle Eigenkapitalposition von Condor im Sinne dieser Randnummer verbessere.

203    Die Kommission macht im Wesentlichen geltend, sie sei nicht verpflichtet gewesen, im angefochtenen Beschluss zu prüfen, ob die Bundesrepublik Deutschland im Sinne von Rn. 67 der Leitlinien angemessen von künftigen Wertgewinnen bei Condor profitiere, da diese Anforderung nur gelte, wenn zum einen die fragliche Maßnahme eine Kapitalzuführung darstelle und zum anderen der betroffene Mitgliedstaat am Empfänger finanziell beteiligt sei, was im vorliegenden Fall nicht zutreffe.

204    Aus Rn. 65 der Leitlinien geht hervor, dass es einen Schutz der Anteilseigner und der nachrangigen Gläubiger vor den Auswirkungen ihrer Entscheidung, in das begünstigte Unternehmen zu investieren, bewirken kann, wenn staatliche Unterstützung in einer Form gewährt wird, die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens stärkt, z. B. indem der Staat Zuschüsse gewährt, Kapital zuführt oder Schulden abschreibt, was ein moralisches Risiko begründen und die Marktdisziplin untergraben kann. Daher sollten Beihilfen zur Deckung von Verlusten nur zu Bedingungen gewährt werden, die eine angemessene Einbeziehung der bestehenden Investoren in die Lastenverteilung beinhalten.

205    Nach Rn. 66 der Leitlinien bedeutet angemessene Lastenverteilung in der Regel, dass die bestehenden Anteilseigner und, bei Bedarf, nachrangige Gläubiger Verluste in voller Höhe ausgleichen müssen. Nachrangige Gläubiger sollten zum Ausgleich von Verlusten entweder durch Umwandlung des Kapitals der Schuldtitel in Eigenkapital oder durch Abschreibung des Kapitalbetrags der jeweiligen Instrumente beitragen. Daher sollte der Staat erst eingreifen, wenn die Verluste voll berücksichtigt und den bestehenden Anteilseignern und Inhabern nachrangiger Schuldtitel zugewiesen wurden.

206    Nach Rn. 67 der Leitlinien beinhaltet eine angemessene Lastenverteilung auch, dass staatliche Beihilfen, die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens verbessern, zu Konditionen gewährt werden sollten, die dem Staat einen Anteil an künftigen Wertgewinnen des Empfängers zusichern, der angesichts des Verhältnisses zwischen dem Betrag des zugeführten staatlichen Kapitals und dem verbleibenden Eigenkapital des Unternehmens nach Berücksichtigung von Verlusten angemessen ist.

207    Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die Kommission es versäumt hat, im angefochtenen Beschluss zu prüfen, ob die fragliche Maßnahme den Anforderungen von Rn. 67 der Leitlinien entspricht. Denn nichts im angefochtenen Beschluss deutet darauf hin, dass die Kommission sich mit der Frage befasst hätte, ob die fragliche Maßnahme zu Konditionen erlassen worden sei, die der Bundesrepublik Deutschland einen angemessenen Anteil am Wertgewinn von Condor zusichern.

208    Somit ist zu prüfen, ob die Kommission, wie von ihr behauptet, ohne Bedenken zu hegen davon ausgehen konnte, dass die fragliche Maßnahme nicht unter Rn. 67 der Leitlinien falle, so dass sie im angefochtenen Beschluss nicht zu prüfen hatte, ob die Maßnahme der Anforderung dieser Randnummer entsprach.

209    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts nicht nur deren Wortlaut, sondern auch der Zusammenhang, in dem sie steht, sowie die Zwecke und Ziele, die mit dem Rechtsakt, zu dem sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen sind (vgl. Urteil vom 22. Juni 2023, Pankki S, C‑579/21, EU:C:2023:501, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

210    Insoweit ist erstens in Bezug auf die wörtliche Auslegung von Rn. 67 der Leitlinien darauf hinzuweisen, dass dem Wortlaut dieser Randnummer zufolge die Anforderung, dass Konditionen vorzusehen sind, die dem Staat einen angemessenen Anteil an künftigen Wertgewinnen des Empfängers zusichern, für „staatliche Beihilfen [gilt], die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens verbessern“.

211    Rn. 65 der Leitlinien nennt drei Beispiele für staatliche Beihilfen, die „in einer Form gewährt [werden], die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens stärkt“, nämlich Zuschüsse, Kapitalzuführungen und Schuldenabschreibungen.

212    Im vorliegenden Fall wird die fragliche Maßnahme namentlich in Form einer teilweisen Abschreibung der Schulden gewährt, so dass sie im Sinne von Rn. 67 der Leitlinien als „staatliche Beihilf[e], die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens verbesser[t,]“ zu qualifizieren ist.

213    Der Wortlaut des einleitenden Teils von Rn. 67 der Leitlinien legt in Verbindung mit dem einleitenden Teil von Rn. 65 der Leitlinien somit nahe, dass die fragliche Maßnahme von Rn. 67 der Leitlinien erfasst wird.

214    Folglich läuft die von der Kommission befürwortete Auffassung, wonach Rn. 67 der Leitlinien nicht auf Kapitalzuführungen und nur dann anwendbar sei, wenn der betroffene Staat am Empfänger finanziell beteiligt sei, dem Wortlaut des einleitenden Teils dieser Randnummer in Verbindung mit Rn. 65 der Leitlinien zuwider, woraus hervorgeht, dass die Anforderung von Rn. 67 sowohl auf Kapitalzuführungen als auch auf Schuldenabschreibungen und damit sowohl bei finanzieller Beteiligung des Staates am Empfänger als auch dann anwendbar ist, wenn der Staat dessen Gläubiger ist.

215    Allerdings weist die Kommission zu Recht auch darauf hin, dass sich die Satzpassage „angesichts des Verhältnisses zwischen dem Betrag des zugeführten staatlichen Kapitals und dem verbleibenden Eigenkapital des Unternehmens nach Berücksichtigung von Verlusten“ am Ende von Rn. 67 der Leitlinien nur auf den Fall einer Kapitalzuführung bezieht.

216    Mithin scheint es insofern eine gewisse Inkohärenz im Wortlaut von Rn. 67 der Leitlinien zu geben, als dieser zum einen seinem einleitenden Teil zufolge auf „staatliche Beihilfen, die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens verbessern“, anzuwenden ist, nämlich auf Zuschüsse, Kapitalzuführungen und Schuldenabschreibungen, während zum anderen im Schlussteil der Randnummer auf den „Betrag des zugeführten staatlichen Kapitals“ verwiesen wird.

217    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass diese letzte Satzpassage unmittelbar auf die Anforderung folgt, dass dem Staat ein „Anteil“ an künftigen Wertgewinnen zugesichert werden muss, der „angemessen“ ist. Sie kann daher als ein Hinweis darauf aufgefasst werden, was mengenmäßig einen „angemessenen Anteil“ darstellt, was anhand der Quote zu bestimmen ist, die dem vom Staat gezahlten Betrag im Verhältnis zu dem Betrag der verbleibenden Eigenmittel des Empfängers nach Berücksichtigung der Verluste entspricht. Diese Auslegung würde es somit ermöglichen, den einleitenden Teil und den Schlussteil von Rn. 67 der Leitlinien miteinander in Einklang zu bringen.

218    Jedenfalls ist festzustellen, dass die oben in Rn. 215 aufgezeigte Inkohärenz im Wortlaut von Rn. 67 der Leitlinien bei der Kommission, die diese Inkohärenz überdies als Verfasserin dieser Leitlinien zu vertreten hat, zu Bedenken hinsichtlich der Frage, ob die fragliche Maßnahme von Rn. 67 der Leitlinien erfasst wird, hätte führen und sie zur gründlicheren Prüfung dieser Bestimmung im Licht des Kontexts, in dem diese Randnummer steht, und der mit dieser verfolgten Ziele hätte veranlassen müssen, was sie jedoch unterlassen hat.

219    Wenn nämlich der Wortlaut einer unionsrechtlichen Bestimmung Schwierigkeiten bei der Auslegung aufwirft, ist diese Bestimmung im Licht der Zielsetzungen des Rechtsakts zu prüfen, zu dem sie gehört, und wenn für sie mehrere Auslegungsmöglichkeiten bestehen, ist derjenigen der Vorzug zu geben, die die praktische Wirksamkeit der Bestimmung zu wahren geeignet ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. Februar 2000, Kommission/Frankreich, C‑434/97, EU:C:2000:98, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 4. Oktober 2001, Italien/Kommission, C‑403/99, EU:C:2001:507, Rn. 28).

220    Was zweitens die systematische Auslegung von Rn. 67 der Leitlinien angeht, ist somit festzustellen, dass diese Randnummer zu Abschnitt 3.5.2.2 („Lastenverteilung“) der Leitlinien gehört. Dieser Abschnitt wird eingeleitet durch Rn. 65, die – wie oben in Rn. 204 ausgeführt – ohne Unterscheidung Zuschüsse, Kapitalzuführungen und Schuldenabschreibungen als Form staatlicher Beihilfen betrifft, die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens stärken.

221    Im Wortlaut von Rn. 66 der Leitlinien, die zum selben Abschnitt wie Rn. 65 gehört und die im Wesentlichen vorsieht, dass der Staat erst eingreifen sollte, wenn die Verluste voll berücksichtigt und den bestehenden Anteilseignern und Inhabern nachrangiger Schuldtitel zugewiesen wurden, deutet auch nichts darauf hin, dass diese Regel nur auf bestimmte Formen staatlicher Beihilfen anzuwenden wäre, auf andere dagegen nicht. Vielmehr legen die allgemeine Bezugnahme auf ein staatliches Eingreifen („sollte der Staat erst eingreifen“) und das Fehlen anderer Angaben nahe, dass Rn. 66 unabhängig von der Form dieses Eingreifens anzuwenden ist.

222    So stimmt der einleitende Teil von Rn. 67 der Leitlinien insofern, als er auf „staatliche Beihilfen, die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens verbessern,“ abstellt, mit den Anwendungsbereichen der Rn. 65 und 66 dieser Leitlinien überein.

223    Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass die Anforderung aus Rn. 67 der Leitlinien die in den Rn. 65 und 66 dieser Leitlinien vorgesehenen Anforderungen ergänzt: Verdeutlicht wird dies etwa durch die Präzisierung „[e]ine angemessene Lastenverteilung beinhaltet auch“. Ebenso wichtig ist der Hinweis darauf, dass die Mitgliedstaaten und die Kommission keinen Beurteilungsspielraum in Bezug auf ihre Verpflichtung haben, der Anforderung aus Rn. 67 der Leitlinien nachzukommen, da diese Randnummer vorsieht, dass „[alle] staatliche[n] Beihilfen“, die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens verbessern, zu Konditionen gewährt werden „sollten“, die dem Staat einen Anteil an künftigen Wertgewinnen des Empfängers zusichern, der angemessen ist. Diese Auslegung wird durch Rn. 68 der Leitlinien bestätigt, wonach Ausnahmen von der vollständigen Umsetzung der Anforderungen aus Rn. 66 der Leitlinien zugelassen werden können, nicht aber von der Anforderung aus Rn. 67. Dass in einem bestimmten Fall die Anforderungen aus den Rn. 65 und 66 der Leitlinien erfüllt sind, befreit somit die Mitgliedstaaten und die Kommission nicht davon, sich zu vergewissern, dass auch die Anforderung aus Rn. 67 der Leitlinien erfüllt ist.

224    Folglich sehen die Rn. 66 und 67 der Leitlinien zwei autonome Anforderungen vor, die sich hinsichtlich ihres Inhalts und ihrer zeitlichen Geltung unterscheiden. Zum einen betrifft die Anforderung aus Rn. 66 den Ausgleich von Verlusten des Empfängers durch die bestehenden Anteilseigner und Inhaber nachrangiger Schuldtitel: Dieser Ausgleich sollte vor einem Eingreifen des Staates erfolgen. Zum anderen betrifft Rn. 67 eine in der Zukunft liegende Situation, nämlich den künftigen Wertgewinn des Empfängers, und sieht im Hinblick darauf vor, dass der Staat einen angemessenen Anteil an diesem Wertgewinn erhalten sollte.

225    Nichts deutet indessen darauf hin, dass die Rn. 65, 66 und 67 der Leitlinien sich hinsichtlich ihrer Anwendungsbereiche je nachdem unterscheiden müssten, in welcher Form die staatliche Unterstützung erfolgt, sofern sie die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens stärkt bzw. verbessert. Insbesondere die Systematik der in den Rn. 66 und 67 der Leitlinien vorgesehenen Anforderungen und ihr kumulativer Charakter legen nahe, dass sie – wie auch Rn. 65 der Leitlinien – auf jedwede staatliche Beihilfe angewendet werden können, die eine solche Stärkung bzw. Verbesserung zum Ziel hat. Denn die Verpflichtung zum Ausgleich von Verlusten vor dem Eingreifen des Staates und das Erfordernis, ihm einen angemessenen Anteil an künftigen Wertgewinnen des Empfängers zuzusichern, verstärken und ergänzen sich gegenseitig, da das Verlustmanagement beim Empfänger und die Unterstützung des Staates eine unerlässliche Voraussetzung sind, um später die Rückkehr zur Rentabilität des Empfängers und damit seine Profitabilität sicherzustellen. Daher ist kein legitimer Grund ersichtlich, dessentwegen bestimmte Beihilfeformen vom Anwendungsbereich der in Rn. 67 der Leitlinien vorgesehenen Verpflichtung ausgenommen werden könnten.

226    Was drittens die teleologische Auslegung von Rn. 67 der Leitlinien betrifft, geht namentlich aus den Rn. 9, 11, 65, 87 und 90 dieser Leitlinien hervor, dass durch die Bestimmungen zur angemessenen Lastenverteilung vor allem ein moralisches Risiko vermieden werden soll. So kann, wie oben in Rn. 204 ausgeführt, nach Rn. 65 der Leitlinien, wenn die staatliche Unterstützung in einer Form gewährt wird, die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens stärkt, z. B. wenn der Staat Zuschüsse gewährt, Kapital zuführt oder Schulden abschreibt, dies einen Schutz der Anteilseigner und der nachrangigen Gläubiger vor den Auswirkungen ihrer Entscheidung, in das begünstigte Unternehmen zu investieren, bewirken. Dies kann ein moralisches Risiko begründen und die Marktdisziplin untergraben.

227    Allerdings erbringt die Kommission keinen Nachweis dafür, dass das Problem eines moralischen Risikos nur bestünde, wenn ein Mitgliedstaat dem begünstigten Unternehmen Kapital zuführt, nicht aber, wenn er Schulden dieses Unternehmens abschreibt oder ihm einen Zuschuss gewährt. Eine derartige Schlussfolgerung kann den Leitlinien tatsächlich an keiner Stelle entnommen werden. Vielmehr besteht ein solches Risiko Rn. 65 der Leitlinien zufolge bei staatlichen Beihilfen, die in einer Form gewährt werden, die die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens stärkt, etwa Zuschüsse, Kapitalzuführungen und Schuldenabschreibungen.

228    Überdies ist – wie sich u. a. aus Rn. 9 der Leitlinien ergibt – darauf hinzuweisen, dass das Problem eines moralischen Risikos darin besteht, dass Unternehmen, die davon ausgehen, bei Auftreten von Schwierigkeiten gerettet und umstrukturiert zu werden, zu übermäßig riskanten und nicht tragfähigen Geschäftsstrategien neigen können. Sowohl die Anforderung aus Rn. 66 der Leitlinien zum Ausgleich von Verlusten des Empfängers durch dessen bestehende Anteilseigner und nachrangige Gläubiger als auch die Anforderung aus Rn. 67 dieser Leitlinien, wonach dem Staat ein Anteil an künftigen Wertgewinnen des Empfängers zuzusichern ist, tragen dazu bei, die Anreize zu verringern, die ein Unternehmen womöglich, um die Gewinne zu steigern, zu übermäßig riskantem Verhalten verleiten.

229    Folglich könnte das Rn. 67 der Leitlinien zugrunde liegende Ziel nicht vollständig erreicht werden, wenn bestimmte Beihilfemaßnahmen, etwa die Abschreibung von Schulden, vom Anwendungsbereich dieser Randnummer ausgeschlossen werden müssten, obwohl sie die Eigenkapitalposition des begünstigten Unternehmens verbessern und sich aus ihnen dasselbe moralische Risiko wie bei einer Kapitalzuführung ergibt.

230    Darüber hinaus ist festzustellen, dass sowohl die Leitlinien als auch die Mitteilung COM(2012) 209 final der Kommission vom 8. Mai 2012 zur Modernisierung des EU-Beihilfenrechts, auf die die Leitlinien verweisen, die Bedeutung hervorheben, die dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und der Wirksamkeit öffentlicher Ausgaben zukommt. Überdies betont diese Mitteilung die Bedeutung des nachhaltigen Einsatzes öffentlicher Mittel, der optimalen Verwendung von Steuergeldern und der Haushaltskonsolidierung sowie des Erfordernisses, die Verschwendung öffentlicher Mittel zu vermeiden. Wird dem Staat, wenn er eine Umstrukturierungsbeihilfe in Form eines Zuschusses, einer Kapitalzuführung oder einer Schuldenabschreibung gewährt, ein angemessener Anteil an künftigen Wertgewinnen des Empfängers eingeräumt, so steht dies mit diesen Zielen im Einklang.

231    Entgegen dem Vortrag der Kommission in der mündlichen Verhandlung trifft es außerdem nicht zu, dass ein Staat nach Rn. 67 der Leitlinien einen „[angemessenen] Anteil an künftigen Wertgewinnen des Empfängers“ nur erlangen kann, wenn er an diesem beteiligt ist. Denn wie die Klägerin richtig ausführt, könnte der Staat, selbst wenn er nicht am Kapital des begünstigten Unternehmens beteiligt und damit lediglich Gläubiger dieses Unternehmens ist, gleichwohl aus künftigen Wertzuwächsen oder Gewinnen dieses Empfängers Nutzen ziehen, die zumindest teilweise dank der Beihilfe erzielt wurden, indem er etwa im Fall einer teilweisen Abschreibung der Schulden – wie der hier geschehenen – einen variablen Zinssatz für den nicht abgeschriebenen Teil seiner Forderung vorsieht, der sich in dem Maß erhöht, in dem der Wert des Empfängers zunimmt oder seine Erträge steigen. Ein anderer Mechanismus, mit dem sich ein Staat, der einen Teil seiner Forderungen gegenüber einem begünstigten Unternehmen abgeschrieben hat, an dessen künftigen Wertzuwächsen oder Gewinnen beteiligen könnte, besteht etwa darin, dass der Empfänger verspricht, seine abgeschriebenen Schulden ganz oder teilweise zu begleichen, falls er finanziell wieder bessergestellt ist.

232    Schließlich ist das Vorbringen von Condor zurückzuweisen, wonach für die künftige Tilgung der verbleibenden Verbindlichkeiten aus den Covid‑19-Darlehen von 2020 davon auszugehen sei, dass damit dem Staat im Sinne von Rn. 67 der Leitlinien ein „[angemessener] Anteil an künftigen Wertgewinnen“ von Condor garantiert werde. Denn zum einen ist festzustellen, dass der angefochtene Beschluss keinen Anhaltspunkt dafür enthält, dass die Kommission angenommen hätte, schon allein die etwaige Tilgung des nicht abgeschriebenen Teils der Verbindlichkeiten sichere dem Staat einen „[angemessenen] Anteil an künftigen Wertgewinnen“ von Condor im Sinne von Rn. 67 der Leitlinien zu. Nach ständiger Rechtsprechung kann indessen die Begründung des angefochtenen Beschlusses nicht im Lauf des Verfahrens ergänzt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Dezember 2021, Oltchim/Kommission, T‑565/19, EU:T:2021:904, Rn. 275 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zum anderen kann jedenfalls das Vorbringen von Condor nicht durchgreifen, da sonst die Gefahr bestünde, die in Rn. 67 der Leitlinien vorgesehene Anforderung völlig auszuhöhlen. Eine teilweise Schuldenabschreibung bedeutet nämlich naturgemäß, dass der nicht abgeschriebene Teil der Schulden beglichen wird. Dieses Vorbringen läuft somit darauf hinaus, dass die teilweise Schuldenabschreibung de facto vom Anwendungsbereich der Rn. 67 der Leitlinien ausgenommen wird, was jedoch der wörtlichen, systematischen und teleologischen Auslegung dieser Randnummer zuwiderliefe.

233    Folglich konnte die Kommission unter Berücksichtigung der wörtlichen, systematischen und teleologischen Auslegung von Rn. 67 der Leitlinien nicht, ohne Bedenken zu hegen, zu dem Schluss gelangen, dass die fragliche Maßnahme nicht unter diese Randnummer falle, und die Frage ungeprüft lassen, ob diese Maßnahme mit den Anforderungen dieser Randnummer vereinbar sei.

234    Somit hat die Klägerin rechtlich hinreichend nachgewiesen, dass die Kommission Bedenken in Bezug auf die Frage, ob die fragliche Maßnahme der in Rn. 67 der Leitlinien vorgesehenen Anforderung entspricht, hätte haben müssen.

[nicht wiedergegeben]

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Achte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

1.      Der Beschluss C(2021) 5729 final der Kommission vom 26. Juli 2021 über die staatliche Beihilfe SA.63203 (2021/N) – Deutschland – Umstrukturierungsbeihilfe zugunsten von Condor wird für nichtig erklärt.

2.      Die Kommission trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Ryanair DAC.

3.      Die Bundesrepublik Deutschland und die Condor Flugdienst GmbH tragen ihre eigenen Kosten.

Kornezov

De Baere

Kecsmár

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 8. Mai 2024.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Englisch.


1      Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.