URTEIL DES GERICHTS (Zweite Kammer)
15. September 1998 (1)
„Wettbewerb - Eisenbahnverkehr - Vereinbarung über die
Nachtzugverbindungen durch den Kanaltunnel - Wettbewerbsbeschränkungen -
Richtlinie 91/440/EWG - Spürbare Beeinträchtigung des Handels - Erbringung
notwendiger Leistungen - .Wesentliche Infrastrukturen' - Begründung -
Zulässigkeit“
In den verbundenen Rechtssachen T-374/94, T-375/94, T-384/94 und T-388/94
European Night Services Ltd (ENS), Gesellschaft englischen Rechts mit Sitz in
London,
Eurostar (UK) Ltd, vormals European Passenger Services Ltd (EPS), Gesellschaft
englischen Rechts mit Sitz in London,
Prozeßbevollmächtigte: Thomas Sharpe, QC, zugelassen in England und Wales, und
Solicitor Alexandre Nourry, Zustellungsanschrift: Kanzlei der Rechtsanwälte
Elvinger, Hoss und Prussen, 15, Côte d'Eich, Luxemburg,
Klägerinnen
in den Rechtssachen T-374/94 bzw. T-375/94,
Union internationale des chemins de fer (UIC), Vereinigung französischen Rechts
mit Sitz in Paris,
NV Nederlandse Spoorwegen (NS), Gesellschaft niederländischen Rechts mit Sitz
in Utrecht (Niederlande),
Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Erik H. Pijnacker Hordijk, Amsterdam,
Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Luc Frieden, 62, avenue
Guillaume, Luxemburg,
Klägerinnen in der Rechtssache T-384/94,
Société nationale des chemins de fer français (SNCF), Gesellschaft französischen
Rechts mit Sitz in Paris, vertreten durch Rechtsanwältin Chantal Momège, Paris,
Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Alex Schmitt, 62, avenue
Guillaume, Luxemburg,
Klägerin in der Rechtssache T-388/94 und
Streithelferin in den Rechtssachen T-374/94 und T-384/94,
unterstützt durch
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland, vertreten durch Lindsey
Nicoll als Bevollmächtigte und durch Barrister K. Paul E. Lasok, zugelassen in
England und Wales, Zustellungsanschrift: Britische Botschaft, 14, boulevard
Roosevelt, Luxemburg,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten zunächst durch Francisco
Enrique González Díaz, Juristischer Dienst, dann durch Hauptrechtsberater
Giuliano Marenco als Bevollmächtigte, Beistand: Barrister Ami Barav, zugelassen
in England und Wales und als Rechtsanwalt zugelassen in Paris,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre
Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 94/663/EG der Kommission vom 21.
September 1994 in einem Verfahren nach Artikel 85 des EG-Vertrags und Artikel
53 des EWR-Abkommens (IV/34.600 - Night Services) (ABl. L 259, S. 20)
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten A. Kalogeropoulos sowie der Richter
C. W. Bellamy und J. Pirrung,
Kanzler: H. Jung
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22.
Oktober 1997,
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
- 1.
- Die Richtlinie 91/440/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 zur Entwicklung der
Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft (91/440/EWG) (ABl. L 237, S. 25; im
folgenden: Richtlinie 91/440) soll die Anpassung der Eisenbahnunternehmen der
Gemeinschaft an die Erfordernisse des Binnenmarktes erleichtern und ihre
Leistungsfähigkeit erhöhen. Zum einen gewährleistet sie die Unabhängigkeit der
Geschäftsführung der Eisenbahnunternehmen, um es diesen zu ermöglichen, sich
geschäftsmäßig zu verhalten; Artikel 5 Absatz 3 bestimmt daher, daß die
Unternehmen zu diesem Zweck
„- ... gemeinsam mit einem oder mehreren Eisenbahnunternehmen eine
internationale Gruppierung gründen;
...
- ... die Bereitstellung und den Vertrieb der Leistungen kontrollieren und
deren Preise festlegen;
...
- ihren Marktanteil vergrößern, neue Technologien und Leistungen entwickeln
und innovative Managementtechniken einführen;
- in dem Eisenbahnverkehr verwandten Bereichen neue Geschäftigkeit
entwickeln
können.“
- 2.
- Zum anderen sieht die Richtlinie eine Trennung zwischen dem Betrieb der
Infrastruktur und der Erbringung von Verkehrsleistungen vor, wobei die Trennung
der Rechnungsführung obligatorisch, die organische oder institutionelle Trennung
fakultativ ist (Artikel 1 und Abschnitt III der Richtlinie).
- 3.
- Schließlich stellt die Richtlinie einen ersten Schritt in Richtung auf eine
fortschreitende Liberalisierung des Marktes für den Eisenbahntransport dar, da sie
erstmals vorsieht, daß Eisenbahnunternehmen, die Verkehrsleistungen im
grenzüberschreitenden kombinierten Güterverkehr erbringen, und internationalen
Gruppierungen von Eisenbahnunternehmen unter bestimmten Voraussetzungen
vom 1. Januar 1993 an Zugangsrechte zu den Eisenbahnnetzen der Mitgliedstaaten
zu gewähren sind.
- 4.
- Artikel 10 der Richtlinie sieht nämlich vor:
„(1) Die internationalen Gruppierungen erhalten Zugangs- und Transitrechte in
den Mitgliedstaaten, in denen die ihnen angeschlossenen
Eisenbahnunternehmen ihren Sitz haben, sowie Transitrechte in den
anderen Mitgliedstaaten für grenzüberschreitende Verkehrsleistungen
zwischen den Mitgliedstaaten, in denen die ihnen angeschlossenen
Eisenbahnunternehmen ihren Sitz haben.
(2) Die Eisenbahnunternehmen, die unter Artikel 2 fallen, erhalten für das
Erbringen von Verkehrsleistungen im grenzüberschreitenden kombinierten
Güterverkehr ein Zugangsrecht zur Infrastruktur der übrigen
Mitgliedstaaten zu angemessenen Bedingungen.
...“
- 5.
- Artikel 3 der Richtlinie definiert ein Eisenbahnunternehmen als „jedes private oder
öffentlich-rechtliche Unternehmen, dessen Haupttätigkeit im Erbringen von
Eisenbahnverkehrsleistungen zur Beförderung von Gütern oder Personen besteht,
wobei dieses Unternehmen auf jeden Fall die Traktion sicherstellen muß“. Nach
derselben Bestimmung wird als internationale Gruppierung von
Eisenbahnunternehmen „die Verbindung von mindestens zwei
Eisenbahnunternehmen mit Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten zum Zwecke der
Erbringung grenzüberschreitender Verkehrsleistungen zwischen Mitgliedstaaten“
bezeichnet.
- 6.
- Am 19. Juni 1995 erließ der Rat für die Durchführung der Richtlinie 91/440 die
Richtlinie 95/18/EG über die Erteilung von Genehmigungen an
Eisenbahnunternehmen (ABl. L 143, S. 70) und die Richtlinie 95/19/EG über die
Zuweisung von Fahrwegkapazität der Eisenbahn und die Berechnung von
Wegeentgelten (ABl. L 143, S. 75).
Sachverhalt des Rechtsstreits
- 7.
- Am 29. Januar 1993 erhielt die Kommission einen Antrag, sie möge Artikel 2 der
Verordnung (EWG) Nr. 1017/68 des Rates vom 19. Juli 1968 über die Anwendung
von Wettbewerbsregeln auf dem Gebiet des Eisenbahn-, Straßen- und
Binnenschiffsverkehrs (ABl. L 175, S. 1; im folgenden: Verordnung Nr. 1017/68) für
nicht anwendbar erklären oder ersatzweise für Vereinbarungen über die
Personenbeförderung mit der Bahn durch den Kanaltunnel eine Freistellung nach
Artikel 5 der Verordnung gewähren.
- 8.
- Dieser Antrag (im folgenden: Anmeldung) wurde von der European Night Services
Ltd (im folgenden: ENS) im Namen von British Rail (im folgenden: BR), der
Deutschen Bundesbahn (im folgenden: DB), der NV Nederlandse Spoorwegen (im
folgenden: NS) und der Société nationale des chemins de fer français (im
folgenden: SNCF) eingereicht. Die Anmeldung war auch zuvor von der Société
nationale des chemins de fer belges (im folgenden: SNCB) gebilligt worden, die
damals über eine Option auf Beteiligung an der ENS verfügte, die jedoch im Juli
1993 auslief. Die SNCB ist weiterhin an einer der mit der ENS geschlossenen
Betriebsvereinbarungen beteiligt.
- 9.
- Die erste der angemeldeten Vereinbarungen bezog sich auf die Gründung der im
Vereinigten Königreich niedergelassenen Gesellschaft ENS durch die vier
vorgenannten Eisenbahnunternehmen BR, SNCF, DB und NS unmittelbar oder
über eine von deren Tochtergesellschaften. Der Zweck der Gesellschaft ENS
besteht darin, Nachtzugverbindungen für Reisende zwischen Großbritannien und
dem europäischen Festland durch den Kanaltunnel anzubieten und zu betreiben,
und zwar auf den folgenden vier Strecken: London-Amsterdam,
London-Frankfurt/Dortmund, Glasgow/Swansea-Paris und
Glasgow/Plymouth-Brüssel.
- 10.
- Mit Schreiben vom 15. Oktober 1997 teilte die ENS dem Gericht jedoch mit, daß
die Zugverbindungen von und nach Brüssel im Dezember 1994 aufgegeben worden
seien, die Verbindung London-Frankfurt/Dortmund im August 1996 durch die
Verbindung London-Köln ersetzt worden sei und daß die einzige Strecke, deren
Bedienung gegenwärtig geplant sei, London-Amsterdam/Köln sei.
- 11.
- Am 9. Mai 1994 wurde die European Passenger Services Ltd (im folgenden: EPS),
die im Zeitpunkt der Anmeldung der ENS-Vereinbarungen eine Tochtergesellschaft
von BR war, von dieser an den britischen Staat abgetreten und stellt seither ebenso
wie SNCF, DB und NS ein Eisenbahnunternehmen im Sinne der Richtlinie 91/440
dar (im folgenden werden diese einschließlich der EPS als „betroffene
Eisenbahnunternehmen“ oder „Gründungsunternehmen“ bezeichnet). Gleichzeitig
wurde die Beteiligung von BR an der ENS ebenfalls auf die EPS übertragen. Mit
Schriftsatz vom 25. September 1997 haben ENS und EPS das Gericht von der
Änderung der Bezeichnung EPS in Eurostar (UK) Ltd (im folgenden: EUKL)
unterrichtet und beantragt, jede Erwähnung der EPS auf EUKL zu beziehen und
umgekehrt. Sie haben auch klargestellt, daß die Beteiligung des britischen Staatesam Kapital der EPS am 31. Mai 1996 auf die London & Continental Railways
übertragen worden sei. Im Vereinigten Königreich gehört jetzt praktisch das
gesamte Eisenbahnnetz mit den dazugehörigen Infrastrukturen, das zuvor Eigentum
von BR war, dem Betreiber der Eisenbahninfrastruktur Railtrack.
- 12.
- Die zweite Kategorie der angemeldeten Vereinbarungen bildeten die von der ENS
mit den betroffenen Eisenbahnunternehmen und der SNCB geschlossenen
Betriebsvereinbarungen, in denen sich diese verpflichteten, der ENS bestimmte
Leistungen zu erbringen, u. a. die Zugförderung auf ihrem Streckennetz
(Lokomotiven, Zugpersonal und Fahrplantrasse), die Innenreinigung, die
Unterhaltung der Ausstattung und den Reiseverkehrsdienst. EPS und SNCF
vereinbarten im übrigen die Zugförderung auf der Strecke durch den Kanaltunnel.
- 13.
- Für den Betrieb der Nachtzugverbindungen im Personenreiseverkehr erwarben die
betroffenen Eisenbahnunternehmen über die ENS im Wege langfristiger
Leasingvereinbarungen mit einer Dauer von 20 Jahren, die im Januar 1996 auf 25
Jahre ausgedehnt wurde, Spezialfahrzeuge, die auf den verschiedenen
Streckennetzen und auf der Strecke durch den Kanaltunnel verkehren können;
deren Gesamtkosten beliefen sich auf 136,7 Millionen UKL, sie erhöhten sich im
Januar 1996 auf 158 Millionen UKL und umfaßten den Vertragspreis, die
geschätzten Kosten für Ersatzteile, Änderungen, Überführungskosten, Erprobung
und Inbetriebnahme sowie Entwicklungskosten.
- 14.
- Die ENS und die betroffenen Eisenbahnunternehmen erklärten in der Anmeldung,
daß die ENS auf dem fraglichen Dienstleistungsmarkt im Wettbewerb mit
Flugzeug, Omnibus, Fährschiff und Privatfahrzeugen Gesamtmarktanteile von
ungefähr 2,4 % bei Geschäftsreisen und 5 % bei Vergnügungsreisen erlangen
könne. Selbst wenn der Dienstleistungsmarkt unter Berücksichtigung allein der
betroffenen Strecken enger definiert werde, blieben die Gesamtmarktanteile der
ENS unbedeutend. Im übrigen könne keines der beteiligten Eisenbahnunternehmen
allein eine ähnliche Verbindung auf den von der ENS bedienten Strecken
betreiben, und nichts spreche dafür, daß eine andere Gruppierung Interesse an der
gleichen Tätigkeit zum Ausdruck gebracht habe oder diese gewinnbringend
betreiben könnte. Die Anmeldenden versicherten auch, daß die
ENS-Vereinbarungen keine weiteren Hindernisse schaffen würden, als sie bereits
für andere Unternehmen bestünden, die ähnliche Leistungen anzubieten
beabsichtigten, da diese „internationale Gruppierungen“ im Sinne von Artikel 3 der
Richtlinie 91/440 bilden könnten, die sich einen Zugang zu den
Eisenbahninfrastrukturen, nämlich den Fahrplantrassen auf den betreffenden
Strecken, verschaffen könnten und denen es keine Schwierigkeiten bereiten würde,
qualifiziertes Personal und geeignete Fahrzeuge zu finden.
- 15.
- Gemäß Artikel 12 Absatz 2 der Verordnung Nr. 1017/68 wurde am 29. Mai 1993
eine Mitteilung betreffend die Anmeldung der ENS-Vereinbarungen im Amtsblatt
der Europäischen Gemeinschaften (Mitteilung 93/C 149/07, ABl. C 149, S. 10)
veröffentlicht. Durch diese Mitteilung unterrichtete die Kommission dieanmeldenden Unternehmen, sie sei nach erster Prüfung der Ansicht, daß die
Vereinbarungen gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verstoßen könnten, sie
habe jedoch zur Anwendbarkeit von Artikel 5 der Verordnung bisher noch nicht
Stellung bezogen. Sie forderte sämtliche interessierte Dritte auf, innerhalb von 30
Tagen nach dem Datum der Veröffentlichung der Mitteilung ihre Bemerkungen zu
übermitteln.
- 16.
- Mit Schreiben vom 23. Juli 1993 teilte die Kommission den anmeldenden
Unternehmen mit, es bestünden ernste Zweifel im Sinne von Artikel 12 Absatz 3
der Verordnung Nr. 1017/68 hinsichtlich der Anwendbarkeit des Artikels 5 dieser
Verordnung auf die angemeldeten Vereinbarungen.
- 17.
- Am 4. Juni 1994 veröffentlichte die Kommission im Amtsblatt der Europäischen
Gemeinschaften eine Mitteilung gemäß Artikel 26 Absatz 3 der Verordnung Nr.
1017/68 (ABl. C 153, S. 15), in der sie ankündigte, daß für die angemeldeten
Vereinbarungen eine Freistellung gemäß Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages und
Artikel 53 Absatz 3 des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum (im
folgenden: EWR-Abkommen) erteilt werden könne, sofern eine Auflage erfüllt
werde, die im Kern darin bestehe, daß neue Marktbeteiligte von den anmeldenden
Unternehmen die gleichen Bahnleistungen erwerben könnten wie die, die sie der
ENS zugesagt hätten. Gleichzeitig ersuchte die Kommission alle Interessenten, sich
innerhalb von 30 Tagen nach der Veröffentlichung der Mitteilung zu äußern. Keine
dritte Partei ist jedoch diesem Ersuchen der Kommission gefolgt.
Die angefochtene Entscheidung
- 18.
- Am 21. September 1994 erließ die Kommission die Entscheidung 94/663/EG in
einem Verfahren nach Artikel 85 des EG-Vertrags und Artikel 53 des
EWR-Abkommens (IV/34.600 - Night Services) (ABl. L 259, S. 20; im folgenden:
Entscheidung oder angefochtene Entscheidung). Diese Entscheidung ist auf die
Verordnung Nr. 1017/68, insbesondere deren Artikel 5 gestützt, wonach das in
Artikel 2 der Verordnung aufgestellte und praktisch wörtlich mit Artikel 85 Absatz
1 des Vertrages übereinstimmende Verbot von Absprachen auf bestimmte
Vereinbarungen zwischen Unternehmen mit rückwirkender Kraft für nicht
anwendbar erklärt werden kann.
- 19.
- Die Entscheidung unterscheidet zwei relevante Dienstleistungsmärkte: zum einen
einen Markt für die Beförderung von Geschäftsreisenden, auf dem Linienflüge oder
Hochgeschwindigkeitszüge gegen die von der ENS angebotenen Bahnleistungen
austauschbar sind (Randnr. 26), und zum anderen einen Markt für die Beförderung
von Freizeitreisenden, auf dem Flüge in der Economy-Klasse, Bahn, Bus oder unter
Umständen die Fahrt mit dem eigenen Wagen die austauschbaren Leistungen
darstellen (Randnr. 27).
- 20.
- Entgegen der Ansicht der anmeldenden Unternehmen führt die Kommission aus,
der räumliche Markt umfasse nicht das Vereinigte Königreich, Frankreich,
Deutschland und die Benelux-Länder, sondern nur die von der ENS bedienten
Strecken, d. h. London-Amsterdam, London-Frankfurt/Dortmund,
Paris-Glasgow/Swansea und Brüssel-Glasgow/Plymouth (Randnr. 29).
- 21.
- Unter Bezugnahme auf die Bekanntmachung der Kommission über die Beurteilung
kooperativer Gemeinschaftsunternehmen nach Artikel 85 des EWG-Vertrags (ABl.
C 43, S. 2; im folgenden: Bekanntmachung von 1993) heißt es in der Entscheidung,
daß die ENS ein kooperatives Gemeinschaftsunternehmen sei (Randnrn. 30 bis 37).
Es wird festgestellt, daß sich die ENS-Gründerunternehmen nicht für immer aus
dem Markt zurückzögen und daß sie technisch und finanziell ohne weiteres in der
Lage seien, eine internationale Gruppierung im Sinne von Artikel 3 der Richtlinie
91/440 aufzubauen und Nachtzugverbindungen einzurichten. Im übrigen blieben
diese Unternehmen weiterhin schwerpunktmäßig auf dem dem Markt der ENS
vorgelagerten Markt der Bahnleistungen tätig, die die Eisenbahnunternehmen an
Transportunternehmen wie die ENS verkauften. Das Gemeinschaftsunternehmen
ENS beruhe somit auf einer Vereinbarung, die ebenso wie die
Betriebsvereinbarungen, die dieses Unternehmen mit jedem seiner
Gründerunternehmen und der SNCB geschlossen habe, unter Artikel 85 des
Vertrages falle.
- 22.
- Die Entscheidung führt sodann Wettbewerbsbeschränkungen an, die sich aus den
ENS-Vereinbarungen ergeben sollen (Randnrn. 38 bis 53).
- 23.
- Erstens schalteten die fraglichen Vereinbarungen die durch Artikel 10 der
Richtlinie 91/440 geschaffenen Wettbewerbsmöglichkeiten zwischen den
Gründungsunternehmen aus oder engten sie stark ein (Randnrn. 38 bis 45). Zum
einen könnten die bestehenden Bahnunternehmen sowie neu hinzukommende
Bahnunternehmen und Töchter bestehender Unternehmen Zugangsansprüche nach
dieser Bestimmung geltend machen, und zum anderen hätten die Mitgliedstaaten
die Möglichkeit, den Zugang zur Infrastruktur liberaler zu regeln. So könnten
beispielsweise die DB und die NS eine internationale Gruppierung mit einem
Bahnunternehmen im Vereinigten Königreich bilden und internationale
Zugverbindungen durch den Kanaltunnel einrichten. Ebenso könne ein
Gründerunternehmen von ENS selbst die Tätigkeiten eines Verkehrsunternehmens
ausführen oder ein spezialisiertes Tochterunternehmen als Verkehrsunternehmen
gründen und damit internationale Zugverbindungen betreiben sowie die
Bahnleistungen hierzu von anderen Bahnunternehmen einkaufen.
- 24.
- Zweitens bestehe angesichts der wirtschaftlichen Stärke der Gründerunternehmen
die Gefahr, daß die ENS anderen Verkehrsunternehmen, die der ENS Konkurrenz
machen könnten, den Zugang zum Markt erschwere (Randnrn. 46 bis 48). Die
Muttergesellschaften der ENS nähmen eine beherrschende Stellung bei
Bahnleistungen in ihren Herkunftsstaaten vor allem wegen der Speziallokomotiven
für den Kanaltunnel ein. Unter Berücksichtigung des direkten Zugangs der ENSzu diesen Leistungen und der privilegierten Beziehungen zu ihren
Muttergesellschaften, könnten andere Unternehmen beim Erwerb der
Bahnleistungen in eine ungünstige Wettbewerbsposition geraten. Ferner sei zu
berücksichtigen, daß BR und die SNCF aufgrund der Vereinbarungen mit
Eurotunnel über einen erheblichen Teil der für internationale Züge im Kanaltunnel
vorgesehenen Fahrplantrassen verfügten.
- 25.
- Schließlich würden diese Wettbewerbsbeschränkungen dadurch verschärft, daß die
ENS einem Netz von Gemeinschaftsunternehmen der Gründungsunternehmen
angehöre. Denn BR/EPS, SNCF, DB und NS seien auf verschiedenste Weise an
Gemeinschaftsunternehmen für Güter- und Reisezugverbindungen insbesondere
durch den Kanaltunnel beteiligt. So hätten BR und SNCF zusammen Allied
Continental Intermodal Services Ltd (im folgenden: ACI) für den kombinierten
Güterverkehr sowie BR und SNCB Autocare Europe für Autotransporte auf der
Bahn gegründet (Randnrn. 49 bis 52).
- 26.
- Obwohl die betreffenden Vereinbarungen nicht unter die Ausnahmeregelung des
Artikels 3 der Verordnung Nr. 1017/68 für technische Vereinbarungen fielen, da
sie nicht ausschließlich technische Verbesserungen oder eine technische
Zusammenarbeit im Sinne dieser Bestimmung bezweckten oder bewirkten
(Randnrn. 55 bis 58), genügten sie den Voraussetzungen des Artikels 5 der
Verordnung und des Artikels 53 Absatz 1 des EWR-Abkommens (Randnrn. 59
bis 70). Denn die Gründung der ENS fördere den wirtschaftlichen Fortschritt,
indem sie insbesondere den Wettbewerb der verschiedenen Verkehrsträger
verschärfe, und die Verbraucher profitierten direkt von dem Angebot der neuen
Leistungen. Im übrigen seien die festgestellten Wettbewerbsbeschränkungen
unerläßlich, da die Leistungen völlig neuartig seien und ein erhebliches finanzielles
Risiko mit sich brächten, das ein Unternehmen allein kaum auf sich nehmen könne.
Unter der Bedingung, daß das Vorhandensein von mit der ENS konkurrierenden
Eisenbahnunternehmen auf dem Markt gewährleistet sei, werde somit durch die
Gründung der ENS der Wettbewerb auf dem betreffenden Markt nicht
ausgeschaltet.
- 27.
- Daher werden mit der Entscheidung Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages und Artikel
53 Absatz 1 des EWR-Abkommens für acht Jahre, d. h. bis zum 31. Dezember
2002, auf die ENS-Vereinbarungen für nicht anwendbar erklärt (Artikel 1 der
Entscheidung); die Freistellung wird mit folgender Auflage versehen: „Die
Bahnunternehmen der ENS-Vereinbarung erbringen die gleichen Bahnleistungen,
die sie ENS zugesagt haben, allen internationalen Gruppierungen von
Bahnunternehmen und Verkehrsunternehmen, die Nachtzüge im Reiseverkehr
durch den Kanaltunnel laufen lassen wollen. Die Leistungen umfassen die Stellung
der Lokomotive, des Zugpersonals und der Fahrplantrasse für das Landesnetz und
den Kanaltunnel. Die Bahnunternehmen erbringen diese Leistungen in ihrem
Bereich zu den gleichen technischen und finanziellen Bedingungen wie für ENS“
(Artikel 2 der Entscheidung).
Verfahrensablauf
- 28.
- ENS und EPS haben mit Klageschriften, die am 22. November 1994 bei der
Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, Klagen erhoben, die unter den
Aktenzeichen T-374/94 und T-375/94 in das Register eingetragen worden sind.
- 29.
- Die Union internationale des chemins de fer (Internationaler Eisenbahnverband;
im folgenden: UIC) und NS haben mit Klageschrift, die am 5. Dezember 1994 bei
der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, eine Klage erhoben, die unter dem
Aktenzeichen T-384/94 in das Register eingetragen worden ist.
- 30.
- Die SNCF hat mit Klageschrift, die am 13. Dezember 1994 bei der Kanzlei des
Gerichts eingegangen ist, eine Klage erhoben, die unter dem Aktenzeichen
T-388/94 in das Register eingetragen worden ist.
- 31.
- Die Kommission hat mit besonderem Schriftsatz, der am 6. Februar 1995 bei der
Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, in der Rechtssache T-388/94 eine Einrede der
Unzulässigkeit gemäß Artikel 114 der Verfahrensordnung des Gerichts erhoben.
Die Klägerin hat ihre Stellungnahme zu dieser Einrede am 20. März 1995
eingereicht.
- 32.
- Das Gericht (Erste erweiterte Kammer) hat mit Beschluß vom 28. Juni 1995 die
Entscheidung über die von der Kommission erhobene Einrede der Unzulässigkeit
dem Endurteil vorbehalten und die SNCF gebeten, mehrere schriftliche Fragen zu
beantworten und eine Reihe von Unterlagen vorzulegen.
- 33.
- Mit Beschlüssen des Präsidenten der Ersten erweiterten Kammer des Gerichts vom
9. August 1995 sind die Anträge der Union internationale des sociétés de transports
combiné rail-route auf Zulassung als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge
der Kommission in den Rechtssachen T-374/94, T-375/95 und T-384/94, die am 3.
April 1995 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen sind, zurückgewiesen
worden.
- 34.
- Die SNCF ist durch Beschluß des Präsidenten der Ersten erweiterten Kammer des
Gerichts vom 9. August 1995 in den Rechtssachen T-374/94 und T-384/94 auf ihre
Anträge, die am 9. Mai 1995 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, als
Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Klägerinnen zugelassen worden.
- 35.
- Das Vereinigte Königreich ist durch Beschlüsse des Präsidenten der Ersten
erweiterten Kammer des Gerichts vom 14. Juli und vom 10. August 1995 als
Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Klägerinnen in den Rechtssachen
T-374/94, T-375/94, T-384/94 und T-388/94 zugelassen worden.
- 36.
- Durch Beschluß des Gerichts vom 2. Oktober 1995 ist der Berichterstatter der
Zweiten erweiterten Kammer zugewiesen worden, an die die Rechtssachen
daraufhin verwiesen worden sind.
- 37.
- Die Rechtssache ist durch Beschluß des Gerichts vom 8. November 1996 an eine
aus drei Richtern gebildete Kammer verwiesen worden.
- 38.
- Durch Beschluß des Präsidenten der Zweiten Kammer vom 6. August 1997 sind die
Rechtssachen T-374/94, T-375/94, T-384/94 und T-388/94 zu gemeinsamer
mündlicher Verhandlung und Entscheidung verbunden worden.
- 39.
- Das Gericht (Zweite Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen,
die mündliche Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen. Es hat
jedoch die Parteien gebeten, einige schriftliche Fragen zu beantworten, die diese
innerhalb der gesetzten Fristen beantwortet haben.
- 40.
- Die Parteien haben in der Sitzung vom 22. Oktober 1997 mündlich verhandelt und
Fragen des Gerichts beantwortet.
Anträge der Parteien
- 41.
- In den Rechtssachen T-374/94 und T-375/94 beantragen ENS und EPS,
- die Entscheidung für nichtig zu erklären;
- die Kommission zu verurteilen,
a) Artikel 2 der Verordnung Nr. 1017/68 und Artikel 85 Absatz 1 des
Vertrages für nicht anwendbar zu erklären, oder
b) eine Freistellung ohne die erteilte Auflage für einen Zeitraum zu
gewähren, der der Dauer der von den Eisenbahnunternehmen für die
Finanzierung der Fahrzeuge eingegangenen Verpflichtungen
entspricht;
c) hilfsweise die Freistellung mit jeder Auflage zu gewähren, die
notwendig und den angeblichen Wettbewerbsbeschränkungen
angemessen ist, und zwar für einen Zeitraum, der der Dauer der von
den Eisenbahnunternehmen für die Finanzierung der Fahrzeuge
eingegangenen Verpflichtungen entspricht;
- der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
- 42.
- Die SNCF, Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Klägerin in der
Rechtssache T-374/94, beantragt,
- die Entscheidung für nichtig zu erklären;
- die Kommission zu verurteilen,
a) Artikel 2 der Verordnung Nr. 1017/68 und Artikel 85 Absatz 1 des
Vertrages für nicht anwendbar zu erklären, oder
b) eine Freistellung ohne die erteilte Auflage für einen Zeitraum zu
gewähren, der der Dauer der von den Eisenbahnunternehmen für die
Finanzierung der Fahrzeuge eingegangenen Verpflichtungen
entspricht.
- 43.
- In den Rechtssachen T-374/94 und T-375/94 beantragt die Kommission,
- die Klagen abzuweisen;
- das Vorbringen der SNCF zurückzuweisen;
- den Klägerinnen und der Streithelferin die Kosten des Verfahrens
aufzuerlegen.
- 44.
- In der Rechtssache T-384/94 beantragen UIC und NS,
- die Entscheidung insgesamt für nichtig zu erklären;
- hilfsweise Artikel 2 der Entscheidung für nichtig zu erklären und Artikel 1
insoweit, als die Dauer der Freistellung auf einen Zeitraum von weniger als
20 Jahren beschränkt ist;
- jede sonstige Maßnahme zu ergreifen, die das Gericht für angemessen
erachtet;
- der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
- 45.
- Die SNCF, Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Klägerinnen,
beantragt,
- die Entscheidung insgesamt für nichtig zu erklären;
- hilfsweise Artikel 2 der Entscheidung für nichtig zu erklären und Artikel 1
insoweit, als die Dauer der Freistellung auf einen Zeitraum von weniger als
20 Jahren beschränkt ist;
- jede ergänzende oder sonstige Maßnahme zu ergreifen, die das Gericht für
angemessen erachtet;
- der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
- 46.
- Die Kommission beantragt,
- die Klage der UIC für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet zu
erklären;
- die Klage der NS abzuweisen;
- das Vorbringen der Streithelferin zurückzuweisen;
- den Klägerinnen und der Streithelferin die Kosten des Verfahrens
aufzuerlegen.
- 47.
- In der Rechtssache T-388/94 beantragt die SNCF,
- in erster Linie die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären;
- hilfsweise Artikel 2 der Entscheidung für nichtig zu erklären, da die erteilte
Auflage ungerechtfertigt ist, und Artikel 1 insoweit, als die Kommission eine
Freistellung für eine Dauer von weniger als 20 Jahren gewährt hat;
- jede Maßnahme zu ergreifen, die das Gericht für angemessen erachtet;
- der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
- 48.
- Die SNCF beantragt in ihrer Stellungnahme zu der von der Kommission erhobenen
Einrede der Unzulässigkeit,
- die Klage für zulässig zu erklären;
- der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
- 49.
- Die Kommission beantragt,
- die Klage als unzulässig und in jedem Fall als unbegründet abzuweisen;
- der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
- 50.
- Das Vereinigte Königreich, Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der
Klägerinnen in den Rechtssachen T-374/94, T-375/94, T-384/94 und T-388/94,
beantragt,
- die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären;
- der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Zur Zulässigkeit
Zur Zulässigkeit der Klagen in den Rechtssachen T-374/94 und T-375/94
Vorbringen der Parteien
- 51.
- Die Kommission vertritt die Ansicht, daß die Klagen unzulässig seien, soweit die
Klägerinnen ENS und EPS beantragten, die Kommission zu verurteilen, a) Artikel
2 der Verordnung Nr. 1017/68 und Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages für nicht
anwendbar zu erklären, b) eine Freistellung ohne die von der Kommission
festgesetzte Auflage zu gewähren, deren Dauer derjenigen der Verpflichtungen der
Eisenbahnunternehmen für die Finanzierung der Fahrzeuge entspreche, und
c) hilfsweise die Freistellung mit jeder Auflage zu gewähren, die notwendig und den
angeblichen Wettbewerbsbeschränkungen angemessen sei, und zwar für eine den
Verpflichtungen der Eisenbahnunternehmen für die Finanzierung der Fahrzeuge
entsprechenden Zeitraum. Nach ständiger Rechtsprechung sei der
Gemeinschaftsrichter nicht befugt, den Organen der Gemeinschaft im Rahmen
einer Nichtigkeitsklage, die auf Artikel 173 des Vertrages gestützt werde,
Weisungen zu erteilen (vgl. zuletzt das Urteil des Gerichts vom 24. Januar 1995 in
der Rechtssache T-74/92, Slg. 1995, II-115, Randnr. 75).
- 52.
- Die Klägerinnen ENS und EPS erwidern, die Kommission bestreite weder die
Zulässigkeit ihrer Klagen, soweit sie die Nichtigerklärung der Entscheidung
beantragten, noch bestreite sie, daß das Gericht die Entscheidung teilweise, und
zwar in bezug auf die in Artikel 2 des Verfügungsteils dieser Entscheidung erteilte
Auflage, für nichtig erklären könne.
Würdigung durch das Gericht
- 53.
- Das Gericht wiederholt, daß nach ständiger Rechtsprechung der
Gemeinschaftsrichter im Rahmen der von ihm ausgeübten
Rechtmäßigkeitskontrolle nicht befugt ist, den Organen Weisungen zu erteilen oder
sich an ihre Stelle zu setzen; es ist Sache der betreffenden Verwaltung, die
Maßnahmen zur Durchführung eines auf eine Nichtigkeitsklage ergangenen Urteils
zu ergreifen. Die in Randnummer 41 Buchstaben a, b und c wiedergegebenen
Anträge der Klägerinnen sind daher als unzulässig zurückzuweisen (Urteil des
Gerichts vom 27. Januar 1998 in der Rechtssache T-67/94, Ladbroke
Racing/Kommission, Slg. 1998, II-1, Randnr. 200). Die Klagen in den Rechtssachen
T-374/94 und T-375/94 sind somit nur insoweit zulässig, als sie auf die
Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung insgesamt gerichtet sind (siehe
oben, Randnr. 41).
Zur Zulässigkeit der Klage in der Rechtssache T-384/94
Vorbringen der Parteien
- 54.
- Die Klägerinnen UIC und NS führen aus, die UIC sei ein internationaler Verband
von Eisenbahnunternehmen, dem alle in den Mitgliedstaaten der EuropäischenGemeinschaft niedergelassenen großen Eisenbahnunternehmen als Mitglieder
angehörten und dessen Zweck darin bestehe, die Zusammenarbeit zwischen den
Mitgliedern zu fördern und die Tätigkeiten im Rahmen der Entwicklung des
Eisenbahnverkehrs in Europa zum Zweck der Verstärkung seiner
Wettbewerbsfähigkeit durch Konsolidierung seiner Interoperabilität erfolgreich zu
gestalten. Nach Artikel 2 ihrer Satzung arbeite die UIC Normen und Leitlinien aus,
ferner vertrete und verteidige sie nach dieser Bestimmung die gemeinsamen
Interessen ihrer Mitglieder gegenüber anderen Körperschaften. Die in der
Gemeinschaft niedergelassenen Eisenbahnunternehmen seien im übrigen in einer
besonderen Gruppe mit der Bezeichnung „Gemeinschaft der Europäischen
Eisenbahnen“ (Communauté des chemins de fer européens; im folgenden: CCE)
vertreten.
- 55.
- Die UIC sei zwar nicht Adressatin der angefochtenen Entscheidung, doch sei sie
im Sinne von Artikel 173 des Vertrages unmittelbar und individuell betroffen, da
die Entscheidung unmittelbar die Interessen ihrer in der Gemeinschaft
niedergelassenen, von der CCE vertretenen Mitglieder und ihre eigenen Interessen
beeinträchtige.
- 56.
- In bezug auf die Interessen der in der Gemeinschaft niedergelassenen Mitglieder
der UIC machen die Klägerinnen geltend, die angefochtene Entscheidung sei
geeignet, von anderen innovativen Schritten zur Zusammenarbeit zwischen
Eisenbahnunternehmen im Bereich des internationalen Reiseverkehrs
abzuschrecken; die Klage der UIC sei in gleicher Weise wie die Klage ihrer in der
Gemeinschaft niedergelassenen Mitglieder für zulässig zu erklären, unabhängig
davon, ob sie Adressaten der Entscheidung seien.
- 57.
- Zum eigenen Rechtsschutzinteresse der UIC führen die Klägerinnen aus, die UIC
sei von der Entscheidung selbst unmittelbar und individuell betroffen, da diese die
vollständige Verwirklichung eines ihrer wichtigsten satzungsgemäßen Ziele, nämlich
die Verstärkung der Wettbewerbsfähigkeit des internationalen Eisenbahnnetzes,
beeinträchtige. Zwar sei die UIC nicht an dem Verwaltungsverfahren beteiligt
gewesen, das zum Erlaß der angefochtenen Entscheidung geführt habe (Urteil des
Gerichts vom 27. April 1995 in der Rechtssache T-442/93, AAC u. a./Kommission,
Slg. 1995, II-1329), doch habe eine der ihr angehörenden Gruppen, die CCE,
tatsächlich an Sitzungen teilgenommen, die der Vorbereitung des Erlasses der
Richtlinie 91/440 gedient hätten.
- 58.
- Die Kommission trägt vor, die UIC sei von der angefochtenen Entscheidung nicht
unmittelbar und individuell betroffen, das Gericht könne deshalb nicht umhin, über
die Klagebefugnis der UIC zu entscheiden. Die Rechtsprechung, wonach es bei der
Einreichung ein und derselben Klage durch mehrere Kläger ausreiche, wenn einer
von ihnen klagebefugt sei, damit die Klage insgesamt für zulässig erklärt werden
könne, sei geeignet, Schwierigkeiten in bezug auf die Kosten sowie das Recht der
betroffenen Partei auf die spätere Einlegung eines Rechtsmittels aufzuwerfen.
- 59.
- Ferner sei nach der Rechtsprechung ein Verband in seiner Eigenschaft als
Repräsentant einer Unternehmergruppe von einer die allgemeinen Interessen
dieser Gruppe berührenden Maßnahme nicht individuell betroffen (Urteile des
Gerichtshofes vom 14. Dezember 1962 in den Rechtssachen 16/62 und 17/62,
Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes u. a./Rat, Slg. 1962,
963, und vom 18. März 1975 in der Rechtssache 72/74, Union Syndicale u. a./Rat,
Slg. 1975, 401, sowie Beschluß des Gerichtshofes vom 11. Juli 1979 in der
Rechtssache 60/79, Fédération nationale des producteurs de vins de table et vins
de pays/Kommission, Slg. 1979, 2429).
- 60.
- Da die UIC nicht an dem dem Erlaß der Entscheidung vorhergegangenen
Verwaltungsverfahren beteiligt gewesen sei und nach der Veröffentlichung der
Stellungnahmen der Kommission vom 29. Mai 1993 und vom 4. Juni 1994 im
Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften keine Erklärungen abgegeben habe,
habe sie im Rahmen der vorliegenden Klage weder ein Rechtsschutzinteresse noch
eine Klagebefugnis (Urteile des Gerichtshofes vom 25. Oktober 1977 in der
Rechtssache 26/76, Metro/Kommission, Slg. 1977, 1875, und vom 11. Oktober 1983
in der Rechtssache 210/81, Demo-Studio Schmidt/Kommission, Slg. 1983, 3045,
sowie Urteil des Gerichts vom 24. Januar 1995 in der Rechtssache T-114/92,
BEMIM/Kommission, Slg. 1995, II-147). Schließlich könne die Rolle, die die CEE
im Rahmen des Erlasses der Richtlinie 91/440 gespielt habe, die UIC in bezug auf
die angefochtene Entscheidung nicht herausheben.
Würdigung durch das Gericht
- 61.
- Das Gericht stellt fest, daß die Klagebefugnis der NS als Adressatin der
angefochtenen Entscheidung nicht bestritten ist und daß die Klagebefugnis der UIC
nicht geprüft zu werden braucht, da es sich um ein und dieselbe Klage handelt
(Urteil des Gerichtshofes vom 24. März 1993 in der Rechtssache C-313/90, CIRFS
u. a./Kommission, Slg. 1993, I-1125, Randnr. 31, und Urteil des Gerichts vom 22.
Oktober 1996 in der Rechtssache T-266/94, Skibsværftsforeningen
u. a./Kommission, Slg. 1996, II-1399, Randnr. 51).
Zur Zulässigkeit der Klage in der Rechtssache T-388/94
Vorbringen der Parteien
- 62.
- Die Kommission macht geltend, die angefochtene Entscheidung sei der Klägerin
an ihrem Sitz mit Schreiben vom 22. September 1994, eingegangen am 29.
September 1994, zugestellt worden, wie der Rückschein der Post beweise, der den
Stempel der SNCF mit dem letztgenannten Datum trage. Gemäß dem Urteil des
Gerichtshofes vom 26. November 1985 in der Rechtssache 42/85
(Cockerill-Sambre/Kommission, Slg. 1985, 3749, Randnr. 11) entspreche die
Zustellung eines Schriftstücks am Sitz einer Gesellschaft dem Kriterium der
Rechtssicherheit und versetze die betreffende Gesellschaft in die Lage, von dem
zugestellten Schriftstück Kenntnis zu nehmen, unabhängig davon, ob die hierfürzuständige Person nach der internen Regelung der Gesellschaft, die Empfänger sei,
tatsächlich davon habe Kenntnis nehmen können.
- 63.
- Da nach Artikel 102 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichts die Frist für die
Erhebung einer Nichtigkeitsklage im Fall der Bekanntgabe an dem auf diese
folgenden Tag beginne und im vorliegenden Fall insgesamt zwei Monate zuzüglich
der sechs Tage mit Rücksicht auf die räumliche Entfernung betrage (Artikel 102
§ 2 der Verfahrensordnung des Gerichts und Artikel 1 des Anhangs II der
Verfahrensordnung des Gerichtshofes), sei der letzte Tag für die Einreichung der
Klage der SNCF gegen die angefochtene Entscheidung der 6. Dezember 1994
gewesen. Da die Klage am 13. Dezember 1994 eingereicht worden sei, sei sie
offensichtlich unzulässig, weil verspätet (Urteile des Gerichtshofes vom 5. Juni 1980
in der Rechtssache 108/79, Belfiore/Kommission, Slg. 1980, 1769, vom 12. Juli 1984
in der Rechtssache 209/83, Ferriera Valsabbia/Kommission, Slg. 1984, 3089,
Randnr. 14, und Cockerill-Sambre/Kommission, Randnr. 10).
- 64.
- Die Kommission weist das Vorbringen der Klägerin zurück, daß der Rückschein für
die Berechnung der Frist für die Klageerhebung nicht berücksichtigt werden dürfe,
weil die Entscheidung einem ihrer Angestellten ausgehändigt worden sei, der nicht
zum Postempfang berechtigt sei, sondern daß ein zweites, im Umschlag derEntscheidung enthaltenes Empfangsbekenntnis maßgeblich sei, das am 7. Oktober
1994 von einer hierfür zuständigen Person unterzeichnet worden sei. Zunächst
stelle das zweite Empfangsbekenntnis, das in dem Umschlag, in dem die
Entscheidung zugestellt worden sei, enthalten gewesen sei, nach dem Urteil des
Gerichts vom 29. Mai 1991 in der Rechtssache T-12/90 (Bayer/Kommission, Slg.
1991, II-219, Randnr. 20) keine von der Zustellung durch die Post getrennte zweite
Zustellung dar, da die angemessene Zustellungsart stets in einem Versand per
Einschreiben mit Rückschein bestehe, der es ermögliche, den Beginn der Frist mit
Sicherheit festzustellen. Der Versand eines zweiten Empfangsbekenntnisses solle
es der Kommission nur ermöglichen, sich von dem Zeitpunkt zu vergewissern, zu
dem das betroffene Unternehmen Kenntnis von der angefochtenen Entscheidung
genommen habe, falls die Postverwaltung einen Fehler begehe und ihr den
Rückschein nicht zurücksende. Die Vorsichtsmaßnahme des Versandes eines
zweiten Empfangsbekenntnisses solle daher nicht einen etwaigen Fehler der
Postverwaltung beheben, der darin bestehe, den Umschlag fälschlicherweise einer
beim Empfänger beschäftigten Person auszuhändigen, die für die Annahme einer
eingeschriebenen Sendung nicht befugt sei, sondern den Fehler, der darin bestehe,
daß es die Postverwaltung unterlasse, ihr den Rückschein zurückzusenden. Auch
mache nach französischem Recht die Unterzeichnung des Rückscheins durch einen
nicht zum Empfang einer eingeschriebenen Sendung berechtigten Angestellten
einer juristischen Person, die Empfänger sei, die Zustellung durch Einschreiben mit
Rückschein nicht fehlerhaft.
- 65.
- Zu dem auf höhere Gewalt und Zufall gestützten Vorbringen der SNCF macht die
Kommission geltend, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes stelltenÜbermittlungsschwierigkeiten innerhalb der Empfängergesellschaft keinen Zufall
oder Fall höherer Gewalt dar (Urteil Cockerill-Sambre/Kommission, Randnr. 12),
dies gelte insbesondere dann, wenn das schlechte Funktionieren auf Fehler von
Beschäftigten des Unternehmens zurückgehe (Urteil des Gerichtshofes vom 15.
Dezember 1994 in der Rechtssache C-195/91 P, Bayer/Kommission, Slg. 1994,
I-5619, Randnr. 33).
- 66.
- Schließlich bemerkt die Kommission zum Argument der SNCF, es liege ein
entschuldbarer Irrtum vor, daß sich dieser Begriff nur auf Ausnahmefälle beziehen
könne, insbesondere auf solche, in denen das Verhalten des betroffenen
Gemeinschaftsorgans geeignet gewesen sei, bei einem gutgläubigen Bürger, der alle
Sorgfalt aufwende, die von einem Wirtschaftsteilnehmer mit normalem
Kenntnisstand zu verlangen sei, eine verständliche Verwirrung hervorzurufen
(Urteil des Gerichts vom 15. März 1995 in der Rechtssache T-514/93, Cobrecaf
u. a./Kommission, Slg. 1995, II-621, Randnr. 40). Im vorliegenden Fall sei der
unterlaufene Irrtum auf das Verhalten einer anderen Person als der Kommission
zurückzuführen.
- 67.
- Die SNCF bestreitet die Ordnungsmäßigkeit der Zustellung und macht hilfsweise
geltend, selbst wenn die Zustellung ordnungsgemäß gewesen sei, liefen die
Umstände im Zusammenhang mit dem Empfang der zugestellten Entscheidung auf
höhere Gewalt oder Zufall oder aber auf einen entschuldbaren Irrtum hinaus.
- 68.
- Zur Fehlerhaftigkeit der Zustellung trägt sie vor, gemäß Artikel L 9 des
französischen Post- und Fernmeldegesetzes sei ein Einschreibebrief seinem
Empfänger oder seinem „Bevollmächtigten“ auszuhändigen. Daher sei der
Rückschein, der den Eingang der zugestellten Entscheidung bei ihr bescheinige,
nichtig. Er sei nämlich nicht von einer der Personen unterzeichnet worden, denen
die Befugnis zur Unterzeichnung solcher Rückscheine eigens übertragen worden
sei. Außerdem habe der Postbedienstete die Unterzeichnung des Rückscheins
durch eine hierzu nicht ermächtigte Person hingenommen. Schließlich sei der
Rückschein der Kommission von der französischen Post unter Verletzung ihrer
Verpflichtung zurückgesandt worden, die Übereinstimmung der Unterschrift der
Person, die den Rückschein tatsächlich unterzeichnet habe, mit der Unterschrift der
Person, die hierzu befugt gewesen sei, zu prüfen.
- 69.
- Nach der Rechtsprechung sei der Umstand, daß der Rückschein von einer hierzu
ermächtigten, in der Poststelle des Empfängerunternehmens beschäftigten Person
unterzeichnet worden sei, ein für die Ordnungsmäßigkeit der Zustellung
maßgebender Umstand (Urteil des Gerichts vom 29. Mai 1991 in der Rechtssache
T-12/90, Bayer/Kommission, Randnrn. 4 und 20, Schlußanträge des Generalanwalts
Darmon zum Urteil Cockerill-Sambre/Kommission, 3750), wie die Kommission im
übrigen selbst in der bereits erwähnten, mit dem Urteil Ferriera
Valsabbia/Kommission abgeschlossenen Rechtssache eingeräumt habe.
- 70.
- Daher sei im vorliegenden Fall das gewöhnliche Empfangsbekenntnisformblatt
maßgebend, das die Kommission der zugestellten Entscheidung beigefügt habe, um
den Zeitpunkt der Kenntnisnahme durch das von dieser Entscheidung betroffene
Unternehmen mit Sicherheit erfahren zu können, da es die Fehler der
Postverwaltungen beheben solle (Urteil des Gerichts vom 29. Mai 1991,
Bayer/Kommission). Die Fehler, auf die die Rechtsprechung abstelle, beträfen nicht
nur den Fall, in dem es die Postverwaltungen unterließen, der Kommission die
Rückscheine zurückzusenden, sondern auch den Fall, in dem den Postverwaltungen
Fehler dergestalt unterliefen, daß sie selbst das Datum auf diesen Scheinen
vermerkten, ohne die Unterschrift eines ordnungsgemäß ermächtigten Vertreters
des Empfängerunternehmens einzuholen, so daß ein Fehler der Postverwaltungen
bei der Erfüllung ihrer Aufgabe der Aushändigung eingeschriebener Sendungen
dazu führen müsse, daß die vermerkten Angaben unbeachtet zu bleiben hätten
(Urteil des Gerichts vom 6. April 1995 in den Rechtssachen T-80/89, T-81/89,
T-83/89, T-87/89, T-88/89, T-90/89, T-93/89, T-95/89, T-97/89, T-99/89, T-100/89,
T-101/89, T-103/89, T-105/89, T-107/89 und T-112/89, BASF u. a./Kommission, Slg.
1995, II-729, Randnrn. 54 bis 60). Deshalb sei der Zeitpunkt des Zugangs und
somit der Zeitpunkt der Zustellung der 7. Oktober 1994, der auf dem zweiten
Empfangsbekenntnis angegeben sei.
- 71.
- Hilfsweise macht die SNCF geltend, selbst wenn ihre Klage verspätet sei, sei diese
Verspätung auf Zufall oder höhere Gewalt zurückzuführen, da die Unterzeichnung
des Rückscheins durch eine nicht ermächtigte Person völlig unabhängig von ihrem
Willen sei und sie ihrerseits jede erforderliche Sorgfalt bei dem ordnungsgemäßen
Empfang eingeschriebener Sendungen an den Tag gelegt habe. Der
Postbedienstete, der die zugestellte Entscheidung am 29. September 1994
ausgeliefert habe, habe genau gewußt, daß die Person, die sie entgegengenommen
habe, hierzu nicht ermächtigt gewesen sei; die französischen Gerichte betrachteten
eine Aushändigung von Postsendungen an eine hierzu nicht ermächtigte Person als
schwerwiegenden Fehler der Post, der die Haftung der Verwaltung auslösen könne.
- 72.
- Selbst wenn die Umstände der Zustellung der angefochtenen Entscheidung keinen
Fall der höheren Gewalt darstellten, beruhten sie jedoch zumindest auf einem
entschuldbaren Irrtum. Die SNCF verweist hierfür erstens auf ihr Vorbringen, daß
die Post ihre genauen Anweisungen in bezug auf den Empfang eingeschriebener
Sendungen nicht beachtet habe, und macht geltend, angesichts der Art und Weise,
in der die Post ihre Verpflichtungen im allgemeinen erfülle, stelle ihre Verfehlung
im vorliegenden Fall einen außergewöhnlichen Einzelfall dar. Ein entschuldbarer
Irrtum liege dann vor, wenn das außergewöhnliche Fehlverhalten der Post bei dem
Empfängerunternehmen einen Irrtum hervorgerufen habe, da der Begriff des
entschuldbaren Irrtums nicht nur dann in Betracht komme, wenn die Kommission
einen solchen Irrtum hervorgerufen habe (Urteil des Gerichtshofes vom 15.
Dezember 1994, Bayer/Kommission, Randnr. 26).
- 73.
- Ferner rügt die SNCF, daß die Kommission bei der Zustellung von Entscheidungen
eine nachlässige Praxis betreibe und daß im vorliegenden Fall der Irrtum der SNCF
teilweise durch diese Praxis entstanden sei. Bei erheblich weniger wichtigen
Postsendungen (Unterrichtung über die Einreichung einer Beschwerde oder
Aufforderung zur Stellungnahme) benenne die Kommission den Empfänger
sorgfältig mit Namen, während eine endgültige Entscheidung gemäß Artikel 85
Absatz 1 des Vertrages, die, wie im vorliegenden Fall, mit einer Nichtigkeitsklage
angefochten werden könne, ohne namentliche Angabe des Empfängers versandt
worden sei.
- 74.
- Schließlich sei die Praxis der Kommission, den Entscheidungen, die sie den
Unternehmen zustelle, ihr eigenes Empfangsbekenntnis beizufügen, ohne die
Empfänger darauf aufmerksam zu machen, daß eine Entscheidung als zugestellt
gelte, sobald der Einschreibebrief dem Empfänger zugegangen und der Rückschein
unterzeichnet sei, täuschend und irreführend.
Würdigung durch das Gericht
- 75.
- Vorab ist darauf hinzuweisen, daß nach Artikel 173 Absatz 3 des Vertrages in
Verbindung mit Artikel 102 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts und Artikel
1 des Anhangs II der Verfahrensordnung des Gerichtshofes, auf den Artikel 102
§ 2 verweist, die Klagefrist im vorliegenden Fall unstreitig zwei Monate und sechs
Tage betrug.
- 76.
- Nach ständiger Rechtsprechung entspricht die strikte Anwendung der
gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über die Verfahrensfristen dem Erfordernis
der Rechtssicherheit und der Notwendigkeit, jede Diskriminierung oder willkürliche
Behandlung bei der Gewährung von Rechtsschutz zu vermeiden. Es ist ferner
ständige Rechtsprechung, daß eine wirksame Zustellung nicht die tatsächliche
Kenntnisnahme durch die Person voraussetzt, die nach den internen Vorschriften
des betreffenden Unternehmens für das jeweilige Gebiet zuständig ist, und daß eine
Entscheidung ordnungsgemäß zugestellt ist, wenn sie ihrem Adressaten zugegangen
und dieser in die Lage versetzt worden ist, von ihr Kenntnis zu nehmen (Urteil
Cockerill-Sambre/Kommission, Randnr. 10, und Urteil BASF u. a./Kommission,
Randnrn. 58 und 59).
- 77.
- Daher ist zu prüfen, ob die Zustellung der angefochtenen Entscheidung an die
SNCF unter ordnungsgemäßen Voraussetzungen erfolgt ist, wie sie in der für die
Postzustellung in Frankreich geltenden Regelung in dem Sinne vorgesehen ist, daß
die Entscheidung einem zum Empfang dieser Post ordnungsgemäß ermächtigten
Beschäftigten der SNCF auszuhändigen war (Urteil BASF u. a./Kommission,
Randnr. 60).
- 78.
- Hierzu ist festzustellen, daß, wie aus den Akten und aus den Antworten der SNCF
auf die schriftlichen Fragen des Gerichts hervorgeht, die französische Post, obwohl
ihr gültige Vollmachten der SNCF vorlagen, die den Empfang von an ihreverschiedenen Dienststellen und Beschäftigten gerichteter Post dazu ermächtigten
Personen übertrugen, die angefochtene Entscheidung nicht einer dieser Personen,
sondern einer nicht ermächtigten dritten Person ausgehändigt hat. Wie die Klägerin
von der Kommission unwidersprochen vorgetragen hat, dürfen nach der in
Frankreich für die Postzustellung geltenden Regelung die Bediensteten der
französischen Post eingeschriebene Postsendungen nur den namentlich
bezeichneten Personen, oder, wenn diese abwesend sind, den Bevollmächtigten,
d. h. den Personen, die über eine gültige Vollmacht verfügen, aushändigen.
- 79.
- Somit wurde die angefochtene Entscheidung der SNCF nicht ordnungsgemäß
zugestellt, da sie unter Verstoß gegen die erwähnte Regelung einem Bediensteten
der Klägerin ausgehändigt wurde, der nicht zum Postempfang bevollmächtigt war,
so daß die Frist für die Einreichung der Klage erst mit dem Zugang und der
Unterzeichnung des zweiten Empfangsbekenntnisses am 7. Oktober 1994 und nicht
mit dem Zeitpunkt der Unterzeichnung des Rückscheins am 29. September 1994
begonnen hat. Das Urteil Cockerill-Sambre/Kommission, auf das sich die
Kommission für ihre Rüge der verspäteten Klageerhebung beruft, ist im
vorliegenden Fall nicht einschlägig, denn in dieser Rechtssache ging es nicht um die
Frage der ordnungsgemäßen Zustellung einer Entscheidung der Kommission durch
die Post an einen zum Empfang einer solchen Postsendung ordnungsgemäß
ermächtigten Angestellten des Empfangsunternehmens, sondern darum, ob das
Empfängerunternehmen nach einer ordnungsgemäßen Zustellung an seinem
Gesellschaftssitz die verspätete Erhebung einer Nichtigkeitsklage unter Berufung
auf seine interne Regelung in bezug auf die Personen rechtfertigen konnte, die
tatsächlich für die Kenntnisnahme von der an sie gerichteten Post zuständig waren
(Randnr. 10 des Urteils Cockerill-Sambre/Kommission). Das gleiche gilt für das
Urteil des Gerichtshofes vom 15. Dezember 1994 (Bayer/Kommission), in dem
nicht bestritten war, daß die Zustellung der angefochtenen Entscheidung durch die
Post unter ordnungsgemäßen Bedingungen an einen „Bevollmächtigten“ der
Poststelle der Klägerin erfolgt war. Auch in diesem Urteil ging es nur um die
Frage, ob sich die Klägerin, obwohl die Entscheidung der Kommission ihr
ordnungsgemäß an ihrem Gesellschaftssitz zugestellt worden war, dennoch auf das
mangelhafte Funktionieren ihrer internen Dienste berufen konnte, um die
verspätete Einreichung ihrer Nichtigkeitsklage zu rechtfertigen (Randnrn. 2 und 20
des Urteils). Wie bereits bemerkt, geht es im vorliegenden Fall um die
Ordnungsmäßigkeit der Zustellung als solcher, d. h. das Funktionieren der Post
(äußerer Aspekt der Zustellung), und nicht um das interne Funktionieren der
Dienststellen der SNCF (interner Aspekt der Zustellung).
- 80.
- Daher ist die Klage, da sie fristgerecht eingereicht worden ist, für zulässig zu
erklären.
Zur Begründetheit
- 81.
- Nach dem Vorbringen der Klägerinnen ist die angefochtene Entscheidung imwesentlichen aus vier Gründen für nichtig zu erklären: erstens sei keines der in
Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages für Zuwiderhandlungen aufgestellten
Tatbestandsmerkmale erfüllt, denn die ENS-Vereinbarungen seien nicht geeignet,
den Wettbewerb zu beschränken, so daß die Entscheidung auf einer falschen und
unvollständigen Tatsachenwürdigung sowie einem offensichtlichen Rechtsirrtum und
einer mangelnden Begründung beruhe; zweitens habe die Kommission bei der
Anwendung des Wettbewerbsrechts die durch die Richtlinie 91/440 gezogenen
Grenzen überschritten; drittens habe die Kommission die Freistellung von
unverhältnismäßigen Auflagen abhängig gemacht, und viertens sei die für die
angemeldeten Vereinbarungen gewährte Freistellung von zu kurzer Dauer (acht
Jahre). Schließlich macht die SNCF in der Rechtssache T-384/94 noch geltend, die
angefochtene Entscheidung sei für nichtig zu erklären, da die Kommission die
Ansicht vertreten habe, daß die ENS-Vereinbarungen für die technische
Freistellung im Sinne des Artikels 3 der Verordnung Nr. 1017/68 nicht in Betracht
kämen.
Zur ersten Rüge: Falsche und unvollständige Tatsachenwürdigung sowie
offensichtlicher Rechtsirrtum und/oder Verstoß gegen die Pflicht, die angefochtene
Entscheidung ordnungsgemäß zu begründen, soweit die Kommission entschieden habe,
daß die Gründung der ENS eine Beschränkung des Wettbewerbs bezwecke und bewirke
- 82.
- Diese Rüge gliedert sich in zwei Teilrügen, die erste betrifft die falsche Abgrenzung
des relevanten Marktes und das Fehlen erheblicher Auswirkungen der
ENS-Vereinbarungen auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten, die zweite die
fehlenden wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen der Vereinbarungen.
Erste Teilrüge: Zur Abgrenzung des relevanten Marktes und zum Fehlen erheblicher
Auswirkungen der ENS-Vereinbarungen auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten
Vorbringen der Parteien
- 83.
- Die Klägerinnen weisen darauf hin, daß die Kommission in der Entscheidung die
relevanten Märkte als diejenigen der Beförderung von Geschäftsreisenden und der
Beförderung von Touristen auf allen von der ENS bedienten Strecken definiert
habe. Anhand der Prognosen über die Nachfrage für das Jahr 1995 (Tabelle 17,
S. 26 der Anmeldung) deckten die Dienste der ENS wahrscheinlich keinen
größeren Anteil an diesen Märkten als 4 % ab (2,4 % des Marktes bei
Geschäftsreisen und 5 % des Marktes bei Freizeitreisen). Im Licht der
Bekanntmachung der Kommission vom 3. September 1986 über Vereinbarungen
von geringer Bedeutung, die nicht unter Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages zur
Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft fallen (ABl. 1986, C 231, S. 2)
seien diese Marktanteile aber unbeachtlich. Selbst wenn man jede Strecke
gesondert betrachten würde, ergäbe sich aus Tabelle 17 der Anmeldung, daß die
einzigen über 4 % liegenden Marktanteile, die ENS möglicherweise erzielen
könnte, 6 % und 7 % für Freizeitreisen auf den Strecken London-Amsterdam undLondon-Frankfurt/Dortmund seien. Zum Vorbringen der Kommission, daß ein
Marktanteil von 5 % es rechtfertige, das betreffende Unternehmen als hinreichend
bedeutend anzusehen, um davon auszugehen, daß sein Verhalten grundsätzlich den
Handelsverkehr zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen könne, verweisen die
Klägerinnen auf die Urteile des Gerichts vom 8. Juni 1995 in der Rechtssache
T-7/93 (Langnese-Iglo/Kommission, Slg. 1995, II-1533) und in der Rechtssache
T-9/93 (Schöller/Kommission, Slg. 1995, II-1611), aus denen hervorgehe, daß ein
Marktanteil von 5 % nicht ohne weiteres ausreiche, um auf das Vorliegen einer
erheblichen Wettbewerbsbeschränkung zu schließen. In der Anmeldung sei im
übrigen darauf hingewiesen worden, daß der Marktanteil der ENS stabil bleibe
oder sogar zurückgehe, denn der Markt werde schneller wachsen als die Fähigkeit
der ENS, die Frequenz ihrer Verbindungen zu erhöhen (Anmeldung, S. 27,
Abschnitt II.4.c. 6). Der betroffene Markt für die beiden erwähnten Leistungen
(Geschäftsreiseverkehr und Freizeitreiseverkehr) sei daher sehr weit, und es sei
offensichtlich, daß die ENS nicht über die Fähigkeit verfüge, Preis, Qualität und
Verfügbarkeit der Leistungen zu beeinflussen oder aber den Wettbewerb zu
beseitigen oder zu schwächen.
- 84.
- Die von der Kommission in ihrer Klagebeantwortung geäußerte Ansicht, der
Marktanteil der ENS im Bereich der Geschäftsreisen sei mit Bezug auf Flüge am
frühen Morgen und am späten Abend anstatt mit Bezug auf sämtliche innerhalb
von 24 Stunden verfügbaren Flügen auf einer bestimmten Linie zu berechnen, stelle
eine Neufestlegung des relevanten Marktes dar und werde durch keinerlei Beweis
untermauert.
- 85.
- Die Kommission vertritt die Ansicht, der Marktanteil der ENS dürfe nicht, wie die
Anmeldenden dies in ihrer Anmeldung vorgeschlagen hätten, im Vergleich zum
gesamten Markt der Beförderung von Reisenden zwischen dem Vereinigten
Königreich einerseits und Frankreich, Deutschland sowie den Benelux-Ländern
andererseits als einem geographischen Markt, auf dem die ENS nur 2,4 % des
Bereiches Geschäftsreisen und 5 % des Bereiches Freizeitreisen, also einen
Gesamtmarktanteil von ungefähr 4 % halte, berechnet werden. Der relevante
Markt beschränke sich auf die tatsächlich von der ENS bedienten Strecken, nämlich
London-Amsterdam, London-Frankfurt, Paris-Glasgow/Swansea,
Brüssel-Glasgow/Plymouth (Entscheidung, Randnr. 29). Gemäß dieser Definition
halte die ENS dann nach den Zahlen, die die an der ENS-Vereinbarung Beteiligten
in ihrer Anmeldung genannt hätten, einen Marktanteil von mindestens 7 % bei
Geschäftsreisen und von 8 % bei Freizeitreisen.
- 86.
- Nach ständiger Rechtsprechung rechtfertige es ein Marktanteil von 5 %, das
betroffene Unternehmen als hinreichend bedeutend anzusehen, um davon
auszugehen, daß sein Verhalten den Handel zwischen Mitgliedstaaten grundsätzlich
zu beeinträchtigen vermöge (Urteile des Gerichtshofes vom 1. Februar 1978 in der
Rechtssache 19/77, Miller/Kommission, Slg. 1978, 131, vom 7. Juni 1983 in den
Rechtssachen 100/80, 101/80, 102/80 und 103/80, Musique Diffusion Françaiseu. a./Kommission, Slg. 1983, 1825, und vom 25. Oktober 1983 in der Rechtssache
107/82, AEG/Kommission, Slg. 1983, 3151). Das gleiche gelte für
Wettbewerbsbeschränkungen, die sich aus einer Vereinbarung zwischen
Unternehmen ergeben könnten. In diesem Zusammenhang meint die Kommission,
entgegen dem Vorbringen der Klägerinnen gehe aus den vorerwähnten Urteilen
Langnese-Iglo/Kommission und Schöller/Kommission nicht hervor, daß ein höherer
Marktanteil als 5 % für sich allein nicht ausreiche, um den Schluß zu erlauben, daß
eine spürbare Wettbewerbsbeeinträchtigung vorliege.
- 87.
- Ferner sei der Marktanteil der ENS im Marktsegment Geschäftsreisen viel
bedeutender. Aus der Marktanalyse in der Anmeldung ergebe sich nämlich, daß
der Anteil der ENS an diesem Marktsegment ausschließlich mit Bezug auf die
Flüge am frühen Morgen und am späten Abend anstatt mit Bezug auf sämtliche
24 Stunden lang auf einer bestimmten Strecke verfügbaren Flüge zu berechnen sei.
Zudem betreffe ihre Marktprognose nur das Jahr 1995, d. h. das erste für die
Dienstleistungen der ENS vorgesehene Betriebsjahr; wegen der tatsächlichen Stärke
der betroffenen Eisenbahnunternehmen auf den relevanten Märkten und ihrer
gegenwärtigen und potentiellen Kundschaft sei es jedoch wahrscheinlich, daß dieser
Marktanteil steigen werde. Daher habe sie Grund zu der Annahme, daß die
ENS-Vereinbarungen die Möglichkeiten des Wettbewerbs beseitigten oder spürbar
beschränkten.
- 88.
- Das Vereinigte Königreich als Streithelfer macht geltend, die Definition der
relevanten Märkte durch die Kommission sei künstlich eng gehalten. Der
geographische Markt müsse zum einen allgemein das Vereinigte Königreich,
Frankreich, Belgien, die Niederlande, Luxemburg und Deutschland abdecken. Zum
anderen werde der Umstand, daß die betreffenden Märkte verschiedene
Beförderungsarten umfaßten, nur in dem Teil der Entscheidung berücksichtigt, der
die Gewährung einer Freistellung gemäß Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages
betreffe. Schließlich übten die an einer Vereinbarung Beteiligten, die über einen
geringeren Marktanteil als 10 % verfügten, im allgemeinen unabhängig von der
Höhe ihres Umsatzes keine Marktmacht aus, so daß unterhalb dieser Schwelle der
Gegenstand oder die wettbewerbswidrige Wirkung der betreffenden Vereinbarung
nur dann hinreichend schädlich oder spürbar sei, wenn besondere Umstände
vorlägen.
- 89.
- Die Kommission erwidert, das Vorbringen des Vereinigten Königreichs, nur ein
Marktanteil von 10 % könne die Anwendung von Artikel 85 Absatz 1 des
Vertrages rechtfertigen, finde keine Stütze in der Rechtsprechung.
Würdigung durch das Gericht
- 90.
- Vorab ist festzustellen, daß die Kommission für die Beurteilung der Auswirkungen
der ENS-Vereinbarungen auf den Wettbewerb und den Handel zwischen den
Mitgliedstaaten in der angefochtenen Entscheidung zwei relevante
Dienstleistungsmärkte abgegrenzt hat, nämlich einen Markt für Geschäftsreisende,für die Linienflüge oder Hochgeschwindigkeitszüge austauschbare Verkehrsarten
darstellen („intermodaler“ Markt der Geschäftsreisen), und einen Markt für die
Beförderung von Personen, die im Rahmen ihrer Freizeit reisen und für die die
austauschbaren Dienstleistungen Flüge in der Economy-Klasse, Bahn, Bus und
unter Umständen die Fahrt mit dem eigenen Wagen sind („intermodaler“ Markt
für Freizeitreisen) (vgl. Randnrn. 26 und 27 der Entscheidung).
- 91.
- Die Kommission hat im übrigen unter Berufung auf das Urteil des Gerichtshofes
vom 11. April 1989 in der Rechtssache 66/86 (Ahmed Saeed Flugreisen und Silver
Line Reisebüro, Slg. 1989, 803) die Ansicht vertreten, daß der relevante
geographische Markt auf die tatsächlich von der ENS bedienten Strecken zu
beschränken sei (Randnrn. 28 und 29 der Entscheidung), nämlich:
- London-Amsterdam,
- London-Frankfurt/Dortmund,
- Paris-Glasgow/Swansea und
- Brüssel-Glasgow/Plymouth.
- 92.
- Da die Klägerinnen diese Festlegung des geographischen Marktes nicht
beanstandet haben, hätten die ENS-Vereinbarungen nur anhand der erwähnten vier
verschiedenen geographischen Märkte und allein im Rahmen eines intermodalen
Marktes, der verschiedene Beförderungsmittel wie Bahn, Flugzeug, Bus und
Personenwagen umfaßt, beurteilt werden dürfen. Daher ist auf dieser Grundlage
zu untersuchen, ob die Kommission die Marktanteile der ENS richtig bewertet hat,
als sie zu dem Ergebnis gelangte, daß die ENS-Vereinbarungen eine erhebliche
Auswirkung auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten hätten, denn nach der
Anmeldung der Klägerinnen übersteigen diese Marktanteile nicht die kritische
Schwelle von 5 % und sind angeblich auf alle Fälle unbedeutend.
- 93.
- Hierzu ist zu bemerken, daß die angefochtene Entscheidung weder auf die
Marktanteile der ENS noch auf die Marktanteile anderer Wirtschaftsteilnehmer
Bezug nimmt, die im Wettbewerb mit der ENS stehen und auf den verschiedenen
intermodalen Märkten, die die Kommission als relevante Märkte für die Zwecke
der Anwendung des Artikels 85 Absatz 1 des Vertrages herangezogen hat, präsent
sind. Somit kann das Gericht, selbst wenn entgegen der Ansicht der Klägerinnen
unterstellt würde, daß die ENS-Vereinbarungen den Wettbewerb beschränken,
mangels entsprechender Angaben zur Untersuchung des relevanten Marktes in der
angefochtenen Entscheidung nicht darüber befinden, ob die angeblichen
Wettbewerbsbeschränkungen spürbare Auswirkungen auf den Handelsverkehr
zwischen den Mitgliedstaaten haben und daher unter Berücksichtigung
insbesondere des intermodalen Wettbewerbs, der nach der Entscheidung die beiden
betroffenen Dienstleistungsmärkte auszeichnet, in den Geltungsbereich von Artikel
85 Absatz 1 des Vertrages fallen.
- 94.
- Erst im streitigen Verfahren vor dem Gericht hat sich die Kommission erstmals auf
die Anmeldung der Parteien bezogen, um geltend zu machen, aus dieser gehe
hervor, daß „selbst auf der Grundlage der zurückhaltenden - und der Natur nach
restriktiven - Prognosen der ENS, die auf einer engeren Definition des Marktes
beruhen, der Marktanteil von Night Services im Segment der Geschäftsreisen 7 %
betrage, während er im Segment der Freizeitreisen 8 % [betrage]“. Ferner hat sie
ebenfalls im schriftlichen Verfahren erstmals geltend gemacht, daß im Segment der
Geschäftsreisen der Marktanteil der ENS mit Bezug auf die Flüge am frühen
Morgen und am späten Abend anstatt mit Bezug auf alle 24 Stunden lang auf einer
bestimmten Strecke verfügbaren Flügen zu berechnen sei, was zeige, daß der
Marktanteil der ENS in Wirklichkeit viel bedeutender sei.
- 95.
- Nach ständiger Rechtsprechung braucht zwar die Kommission bei der Begründung
der Entscheidungen, die sie zu erlassen hat, um die Anwendung des
Wettbewerbsrechts zu gewährleisten, nicht auf alle tatsächlichen und rechtlichen
Fragen sowie die Erwägungen einzugehen, die sie veranlaßt haben, eine solche
Entscheidung zu treffen, doch hat sie nach Artikel 190 des Vertrages zumindest die
Tatsachen und die Erwägungen aufzuführen, die in der Systematik ihrer
Entscheidung wesentlich sind, um es auf diese Weise dem Gemeinschaftsrichter
und den Betroffenen zu ermöglichen, die Voraussetzungen zu erfahren, unter
denen sie den Vertrag angewandt hat (Urteil des Gerichtshofes vom 17. Januar
1995 in der Rechtssache C-360/92 P, Publishers Association/Kommission, Slg. 1995,
I-23, Randnr. 39, Urteile des Gerichts vom 27. November 1997 in der Rechtssache
T-290/94, Slg. 1997, II-2137, Randnr. 150, und vom 19. Februar 1998 in den
Rechtssachen T-369/94 und T-85/95, DIR International Film u. a./Kommission, Slg.
1998, II-357, Randnr. 117). Ferner muß nach der Rechtsprechung, falls nicht
außergewöhnliche Umstände vorliegen, die Begründung einer Entscheidung in der
Entscheidung selbst enthalten sein, die Entscheidung kann nicht zum ersten Malund nachträglich vor dem Richter erörtert werden (Urteil des Gerichts vom 2. Juli
1992 in der Rechtssache T-61/89, Dansk Pelsdyravlerforening/Kommission, Slg.
1992, II-1931, Randnr. 131, vom 21. März 1996 in der Rechtssache T-230/94,
Farrugia/Kommission, Slg. 1996, II-195, Randnr. 36, und vom 12. Dezember 1996
in der Rechtssache 16/91 RV, Rendo u. a./Kommission, Slg. 1996, II-1827,
Randnr. 45).
- 96.
- Aus der erwähnten Rechtsprechung geht hervor, daß die Kommission, wenn eine
ihrer Entscheidungen zu Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages erhebliche
Unterlassungen wie die fehlende Bezugnahme auf die Marktanteile der betroffenen
Unternehmen aufweist, dem nicht dadurch abhelfen kann, daß sie sich erstmals vor
dem Gericht auf Zahlen und sonstige Ermittlungsergebnisse beruft, die die
Feststellung erlauben, daß die wesentlichen Gesichtspunkte für die Anwendung von
Artikel 85 Absatz 1 im gegebenen Fall tatsächlich vorliegen, sofern es sich nicht um
Ermittlungsergebnisse handelt, die von keiner der Parteien im voraufgegangenen
Verwaltungsverfahren bestritten worden sind.
- 97.
- Aus den von den Klägerinnen in der Anmeldung vorgenommenen Schätzungen
geht nun aber hervor, daß die Marktanteile der ENS 4 % nicht übersteigen dürften
und daß diese Marktanteile nur aufgrund einer engen Definition des Marktes
möglicherweise 7 % beim Markt für Geschäftsreisen und 8 % beim Markt für
Freizeitreisen (siehe Nr. 2.1.2 der Zusammenfassung der Anmeldung) erreichen
könnten, ohne indessen eine spürbare Auswirkung auf den Wettbewerb zu zeitigen.
Somit gingen die Klägerinnen und die Kommission in bezug auf die Auswirkung der
ENS-Vereinbarungen auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten nicht von
derselben Annahme aus, da die Klägerinnen meinten, daß die betreffenden
Vereinbarungen keine spürbare Auswirkungen auf den innergemeinschaftlichen
Handel hätten. Daher war die Kommission verpflichtet, eine ausreichende
Begründung in bezug auf die Spürbarkeit der Auswirkungen der
ENS-Vereinbarungen auf den zwischenstaatlichen Handel zu geben.
- 98.
- Selbst wenn man jedoch im übrigen davon ausgehen wollte, daß sich die
Kommission für die Begründetheit ihrer Entscheidung erstmals vor dem Gericht auf
Zahlen und sonstige Ermittlungsergebnisse berufen könnte, sind die Schlüsse, die
sie aus der Anmeldung der Parteien gezogen hat (siehe oben, Randnr. 94) nicht
richtig. Aus Tabelle 17 der Anmeldung (S. 26) geht nämlich hervor, daß die
Marktanteile der ENS für das Segment der Geschäftsreisen bei allen betroffenen
Strecken unter 5 % liegen würde:
- London-Amsterdam : 3 %,
- London-Frankfurt/Dortmund : 3 %,
- Paris-Glasgow/Swansea : 4 %,
- Brüssel-Glasgow/Plymouth : 1 %.
- 99.
- Für das Segment der Freizeitreisen geht aus Tabelle 17 der Anmeldung der
Parteien ebenfalls hervor, daß der Marktanteil der ENS nur auf zwei der vier von
ihr allein bedienten Strecken 5 % übersteigen würde, ohne jedoch den von der
Kommission genannten Schwellenwert von 8 % zu übersteigen:
- London-Amsterdam : 7 %,
- London-Frankfurt/Dortmund : 6 %,
- Paris-Glasgow/Swansea : 4 %,
- Brüssel-Glasgow/Plymouth : 4 %.
- 100.
- Ferner ergibt sich aus der Anmeldung, daß die Marktanteile der ENS auf dem
Markt der Freizeitreisen im Hinblick auf ein Anwachsen des gesamten Marktes und
unter Berücksichtigung der begrenzten Möglichkeiten zur Ausweitung der Kapazität
der ENS stabil bleiben oder sogar abnehmen dürften. Zwar brauchte die
Kommission, wie bereits ausgeführt worden ist, nicht alle tatsächlichen und
rechtlichen Gesichtspunkte zu erörtern, die in dem Verwaltungsverfahren vor Erlaß
der angefochtenen Entscheidung aufgeworfen worden sind, doch stellte der
vorerwähnte Gesichtspunkt der anmeldenden Parteien ein wesentliches Argumentfür die Behauptung dar, daß die Auswirkungen der ENS-Vereinbarungen auf den
zwischenstaatlichen Handel unbedeutend sein würden. Daher durfte nicht, wie die
Kommission meint, der Schluß gezogen werden, daß gemäß der Anmeldung der
Marktanteil der ENS auf dem Markt für Freizeitreisen 8 % betragen würde, ja
nicht einmal, daß er 5 % übersteigen würde.
- 101.
- Hierzu ist darauf hinzuweisen, daß die Parteien zwar in den Nummern 2.1.2 der
Zusammenfassung der Anmeldung und II.4.c.5.2.(d) der Anmeldung u. a.
ausgeführt haben, der Marktanteil der ENS könne möglicherweise 7 % im Segment
der Geschäftsreisen und 8 % im Segment der touristischen Reisen erreichen, doch
sollten nach ihrer Ansicht solche Anteile nur im Rahmen einer engeren auf
Reisewegen von „Stadt zu Stadt“ („city to city flows“) beruhenden Definition des
Marktes unter Ausschluß der Restkonkurrenz von Personenwagen und Bussen
berücksichtigt werden. Außerdem bezogen sich diese Einschätzungen der Parteien
auf Durchschnittsanteile eines umfassenden geographischen Marktes und nicht auf
die tatsächlich von der ENS bedienten vier Strecken, die von der Kommission
gerade als die unterschiedlichen relevanten räumlichen Märkte angesehen wurden,
in deren Rahmen die ENS-Vereinbarungen zu beurteilen seien. Sonach durfte die
Kommission nicht die erwähnten Marktanteile von 7 % bzw. 8 % zugrunde legen,
da zum einen die angefochtene Entscheidung die relevanten Märkte nicht mit
Bezug auf einen Verkehr von „Stadt zu Stadt“ abgegrenzt hat, sondern mit Bezug
auf einen Verkehr, der mehrere Bestimmungsorte umfaßte (z. B. von Paris nach
Glasgow und Swansea), da zum anderen die Definition des Marktes den
Restwettbewerb von Personenwagen und Bussen nicht ausgeschlossen hat, und da
die Entscheidung schließlich die Auswirkungen der ENS-Vereinbarungen nicht für
einen umfassenden räumlichen Markt beurteilt hat, sondern für die vier tatsächlich
von der ENS bedienten Strecken.
- 102.
- Selbst wenn, wie festgestellt, der Anteil der ENS am Markt für die Beförderung
von Touristen tatsächlich auf bestimmten Strecken 5 % überstieg und sich so auf
7 % für die Strecke London-Amsterdam und auf 6 % auf der Strecke
London-Frankfurt/Dortmund belief (siehe oben, Randnr. 94), kann jedenfalls nach
der Rechtsprechung eine Vereinbarung von Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages nicht
erfaßt werden, wenn sie den Markt mit Rücksicht auf die schwache Stellung der
Beteiligten auf dem Markt der fraglichen Erzeugnisse oder Dienstleistungen nur
geringfügig beeinträchtigt (Urteil des Gerichtshofes vom 9. Juli 1969 in der
Rechtssache 5/69, Völk, Slg. 1969, 295, Randnr. 7). In bezug auf den quantitativen
Aspekt der Beeinträchtigung des Marktes macht die Kommission geltend, nach
ihrer bereits erwähnten Mitteilung über Vereinbarungen von geringer Bedeutung
finde Artikel 85 Absatz 1 auf eine Vereinbarung Anwendung, wenn der Marktanteil
der vertragschließenden Parteien 5 % betrage. Indessen erlaubt der bloße
Umstand, daß diese Schwelle möglicherweise erreicht und sogar überschritten
worden ist, nicht mit Sicherheit den Schluß, daß eine Vereinbarung unter das
Verbot des Artikels 85 Absatz 1 des Vertrages fällt; denn nach dem Wortlaut von
Nummer 3 der erwähnten Mitteilung hat „die von der Kommission gegebene
quantitative Definition der Spürbarkeit ... jedoch keine ausschließliche Bedeutung“,und es ist „im Einzelfall durchaus möglich, daß auch Vereinbarungen zwischen
Unternehmen, welche die ... aufgeführten Schwellen überschreiten, den Handel
zwischen Mitgliedstaaten oder den Wettbewerb unter Umständen nur geringfügig
beeinträchtigen und deshalb nicht von Artikel 85 Absatz 1 erfaßt werden“ (vgl.
auch Urteil Langnese-Iglo/Kommission, Randnr. 98). Im übrigen ist rein der
Vollständigkeit halber zu bemerken, daß dieses Ergebnis durch die
Bekanntmachung der Kommission von 1997 über Vereinbarungen von geringer
Bedeutung (ABl. 1997, C 372, S. 13), die die Bekanntmachung der Kommission
vom 3. September 1986 ersetzt, bestätigt wird, wonach selbst Vereinbarungen, die
nicht von geringer Bedeutung sind, wegen ihrer ausschließlich günstigen Wirkung
auf den Wettbewerb dem Kartellverbot entgehen können.
- 103.
- Wenn wie im vorliegenden Fall horizontale Vereinbarungen zwischen Unternehmen
die von der Kommission selbst als kritisch angesehene Schwelle von 5 %, die die
Anwendung von Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages rechtfertigen kann, erreichen
oder knapp übersteigen, ist die Kommission daher verpflichtet, hinreichend
darzulegen, aus welchen Gründen sie der Ansicht ist, daß solche Vereinbarungen
unter Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages fallen. Dies gilt erst recht, wenn wie im
vorliegenden Fall zum einen nach Darstellung der Klägerinnen in ihrer Anmeldung
die ENS auf Märkten tätig werden muß, die in weitem Umfang von anderen
Transportmitteln wie dem Flugzeug beherrscht werden, und wenn zum anderen,
wie die Klägerinnen geltend machen, die Marktanteile der ENS im Hinblick auf
eine Steigerung der Nachfrage auf den betreffenden Märkten und unter
Berücksichtigung der begrenzten Möglichkeiten der ENS zur Ausweitung ihrer
Kapazitäten entweder abnehmen oder allenfalls stabil bleiben werden. Eine solche
Begründung wäre im vorliegenden Fall auch deshalb zwingend erforderlich, weil,
wie der Gerichtshof im Urteil Musique Diffusion Française u. a./Kommission
entschieden hat, eine Vereinbarung den Handelsverkehr zwischen den
Mitgliedstaaten selbst dann spürbar beeinträchtigen kann, wenn die Marktanteile
der klagenden Unternehmen 3 % nicht übersteigen, sofern diese Marktanteile
höher als diejenigen dritter Wettbewerber sind (Randnr. 86).
- 104.
- An einer solchen Begründung fehlt es jedoch im vorliegenden Fall.
- 105.
- Nach allem enthält die angefochtene Entscheidung keine Begründung, die es dem
Gemeinschaftsrichter erlaubte, die von der ENS auf den verschiedenen relevanten
Märkten gehaltenen Anteile und somit die spürbare Auswirkung der
ENS-Vereinbarungen auf den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beurteilen,
so daß die Entscheidung aus diesem Grund für nichtig zu erklären ist.
Zweite Teilrüge: Zur Beurteilung der wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen der
ENS-Vereinbarungen
Vorbringen der Parteien
- 106.
- Die Klägerinnen machen geltend, die ENS-Vereinbarungen beschränkten den
Wettbewerb weder zwischen den Gründungsunternehmen noch zwischen diesen
und der ENS noch im Verhältnis zu Dritten, auch ergebe sich aus dem
Vorhandensein der Netze von Gemeinschaftsunternehmen auf dem
Eisenbahnmarkt keine Verstärkung von Wettbewerbsbeschränkungen. Im übrigen
überwögen die günstigen Auswirkungen der ENS-Vereinbarungen gegenüber den
behaupteten Beschränkungen, die sich daraus ergeben könnten. Die Entscheidung
sei daher mangelhaft begründet oder zumindest mit offensichtlichen
Beurteilungsfehlern behaftet.
- 107.
- Was zunächst die Wettbewerbsbeschränkungen zwischen den
Gründungsunternehmen sowie zwischen diesen und der ENS angeht, machen die
Klägerinnen geltend, angesichts der erheblichen Schwierigkeiten, denen die
Eisenbahnunternehmen und die ENS zu begegnen hätten, lasse sich nicht
behaupten, daß auf den betreffenden Märkten ein spürbarer Wettbewerb zwischen
den Eisenbahnunternehmen hinsichtlich der von der ENS angebotenen neuen
Dienstleistungen entstehen könne. ENS und EPS berufen sich hierfür auf ein
Schreiben der Firma Lazard Brothers vom 27. April 1992 an BR (Anlage 7 zur
Anmeldung), wonach keines der Eisenbahnunternehmen diese Risiken allein auf
sich genommen hätte, was die Kommission in ihrer Entscheidung anerkannt habe.
Ferner verursache der Erwerb der Fahrzeuge verschiedene Fixkosten in einer
solchen Höhe, daß ein Unternehmen nur unter der Voraussetzung Gewinne
erzielen könne, daß seine Produktion einen Mindestumfang erreiche, wie ihn die
ENS zu erzielen hoffe. Einzeln wäre keines der Eisenbahnunternehmen daher in
der Lage gewesen, den Umfang seiner Leistungen bis zu diesem Mindestwert zu
steigern.
- 108.
- Hierzu bemerken UIC und NS noch ergänzend, es gebe keine potentiellen
Wettbewerbsbeschränkungen zwischen den Beteiligten an den
ENS-Vereinbarungen, denn nach der Richtlinie 91/440 sei keines der
Eisenbahnunternehmen in der Lage, allein eine der betroffenen Strecken zu
bedienen, sondern gezwungen, sich an einer internationalen Gruppierung zu
beteiligen. So hätte beispielsweise die Strecke London-Amsterdam nicht von SNCF
und EPS ohne Beteiligung der NS bedient werden können. Da EPS und NS
„Zwangspartner“ in jeder internationalen Gruppierung seien, die diese Strecke
bediene, könne die zusätzliche Beteiligung der SNCF, die kein gegenwärtiger oder
potentieller Wettbewerber von NS oder EPS auf der betreffenden Strecke sei,
daher keine Wettbewerbsbeschränkung darstellen. Zu dem Umstand, daß die ENS
eine Strecke bediene, bei der ein Zielgebiet Belgien sei, obwohl das belgische
Eisenbahnunternehmen SNCB an den ENS-Vereinbarungen nicht beteiligt sei,
führen die Klägerinnen aus, es beruhe auf einer rein geschäftlichen Entscheidung
und nicht auf einer Verpflichtung nach dem Gemeinschaftsrecht, daß die SNCB der
ENS „notwendige Leistungen“ zu erbringen habe.
- 109.
- Da die vier von der ENS bedienten Strecken vier unterschiedliche geographische
Märkte bildeten (Entscheidung, Randnr. 29), müsse auch davon ausgegangenwerden, daß sich die vier Verbindungen nicht untereinander Konkurrenz machten,so daß der kombinierte Betrieb dieser vier Verbindungen in einer einzigen
Gruppierung keine Wettbewerbsbeschränkung darstelle.
- 110.
- Die Ansicht, die ENS-Vereinbarungen beschränkten den Wettbewerb zwischen den
Beteiligten der Vereinbarungen und den neuen Eisenbahnunternehmen
einschließlich der Tochtergesellschaften der bestehenden Unternehmen, sei nicht
stichhaltig. Da es sich um neue Unternehmen handele, sei diese Erwägung nämlich
bei der Untersuchung von Beschränkungen des Wettbewerbs zwischen den
beteiligten Unternehmen unerheblich. Die Behauptung, die Gründerunternehmen
könnten in den von der ENS bedienten Ländern außerhalb des Landes ihrer
eigenen Niederlassung Tochtergesellschaften gründen, die den Status von
„Eisenbahnunternehmen“ im Sinne der Richtlinie 91/440 erwerben könnten und
mit denen jedes der betroffenen Eisenbahnunternehmen Nachtzüge über eine
Gruppierung betreiben könne, die alle anderen an der ENS Beteiligten ausschließe,
sei hypothetisch. Denn zum einen besitze keines der an der ENS beteiligten
Unternehmen tatsächlich solche Tochtergesellschaften. Zum anderen hätten die
Eisenbahnunternehmen nicht die Möglichkeit, Tochtergesellschaften mit der
Stellung von Eisenbahnunternehmen in den Mitgliedstaaten zu gründen, in denen
andere Eisenbahnunternehmen niedergelassen seien, zumindest solange nicht die
beiden Richtlinienvorschläge zur Ergänzung des rechtlichen Rahmens der Richtlinie
91/440 erlassen seien. Selbst wenn ein solcher rechtlicher Rahmen bereits bestünde,
wäre es im übrigen unter geschäftlichen Gesichtspunkten völlig unrealistisch,
anzunehmen, die DB würde beispielsweise ein eigenes Eisenbahnunternehmen in
den Niederlanden gründen, um mit der EPS eine Nachtzugverbindung zwischen
dem Vereinigten Königreich und Amsterdam zu betreiben, ohne die NS
einzubinden. Auf alle Fälle sei das Ergebnis der Kommission um so anfechtbarer,
als die Zusammenarbeit innerhalb der ENS nicht ausschließlich sei, da die
ENS-Vereinbarungen nichts enthielten, was die Beteiligten daran hindere, sich an
einer Gruppierung zu beteiligen, die im Wettbewerb zu ENS stehe.
- 111.
- Die SNCF fügt noch hinzu, entgegen dem Vorbringen der Kommission gebe es für
die Eisenbahnunternehmen keine Möglichkeit, eine Tochtergesellschaft in den
anderen Mitgliedstaaten zu gründen, um mit dieser eine Gruppierung zu bilden, da
in den Mitgliedstaaten gesetzliche Monopole bestünden und keine Regelung des
Rates ein solches Niederlassungsrecht verleihe. Ferner bleibe die Beteiligung
mehrerer Eisenbahnunternehmen an den ENS-Vereinbarungen folgenlos, da sie auf
verschiedenen Verkehrsachsen tätig seien und daher nicht auf den anderen
berücksichtigten geographischen Märkten im Wettbewerb miteinander stünden.
Schließlich könnten die finanziellen Risiken im Zusammenhang mit der Gründung
der ENS nicht von einem einzigen Unternehmen getragen werden, wie die
Kommission in Randnummer 63 ihrer Entscheidung einräume.
- 112.
- Ebenso beruhe das Argument der Kommission, jedes Eisenbahnunternehmen
könne die Rolle eines Eisenbahn-„Transportunternehmens“ außerhalb seinesNiederlassungslandes spielen, indem es bei den betroffenen Unternehmen die
erforderlichen Bahndienstleistungen einkaufe, auf einer wenig realistischen
Beschreibung des Marktes und sei mit der durch die Richtlinie 91/440 eingeführten
Regelung unvereinbar. So sei beispielsweise die Annahme verfehlt, die DB habe
ein Interesse an der Schaffung einer besonderen Struktur und an der Aushandlung
von Zugangsrechten mit dem britischen Betreiber der Infrastruktur, der SNCF und
der NS, um eine Nachtzugverbindung zwischen Amsterdam und London zu
begründen. Ein solches Verhalten sei im übrigen geschäftlich unmöglich, da keiner
der Beteiligten an den ENS-Vereinbarungen über ausreichende finanzielle Mittel
und geschäftliche Möglichkeiten verfüge.
- 113.
- Die Argumentation der Kommission gehe auch von einer Beschreibung des
Marktes aus, die mit der Regelung der Richtlinie 91/440 unvereinbar sei. Denn
durch die Einführung einer gekünstelten Unterscheidung zwischen den
Eisenbahnunternehmen und einer neuen hypothetischen Kategorie von
Marktbeteiligten, den sogenannten „Transportunternehmen“, habe die Kommission
Zugangs- und Durchfahrtsrechte geschaffen, die in der Richtlinie nicht vorgesehen
seien. Die Untersuchung der Kommission führe im übrigen letztlich zu dem Schluß,
daß jede Bildung einer internationalen Gruppierung ohne weiteres den Wettbewerb
aus dem einzigen Grund beschränke, weil die an ihr Beteiligten auch eine andere
Gruppierung hätten bilden können. Eine solche Argumentation sei um so weniger
akzeptabel, als die beteiligten Eisenbahnunternehmen nicht festlegen könnten, wie
die Leistungen der ENS nach Ablauf der gewährten Freistellung zu strukturieren
seien, was von anderen Schritten der Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft auf
dem Gebiet neuer internationaler Verkehrsleistungen abschrecke.
- 114.
- Was sodann die angeblichen Beschränkungen des Zugangs Dritter (Randnrn. 46
bis 48 der angefochtenen Entscheidung) betrifft, führen die Klägerinnen aus, die
Analyse der Kommission sei aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen falsch.
Erstens sei die Möglichkeit des Ausschlusses Dritter mit Bezug auf die betroffenen
intermodalen Märkte zu beurteilen, auf denen das Gemeinschaftsunternehmen tätig
sei und für die es nach den Randnummern 26 und 27 der Entscheidung andere
austauschbare Beförderungsarten gebe. Die fragliche Analyse beruhe auf einer
anderen Definition des Marktes, nämlich des Marktes der Erbringung der
notwendigen Bahnleistungen, der sich von der in der Entscheidung ausdrücklich
gewählten Definition unterscheide.
- 115.
- Zweitens beruhe die Beurteilung der Kommission auf der falschen Voraussetzung,
daß die ENS als „Verkehrsunternehmen“ zu betrachten sei, dem die
Muttergesellschaften Bahnleistungen erbrächten. Die ENS sei jedoch kein
Verkehrsunternehmen, sondern eine internationale Gruppierung von
Eisenbahnunternehmen im Sinn der Richtlinie 91/440, die gegründet worden sei,
um es den Gründerunternehmen zu ermöglichen, grenzüberschreitende
Verkehrsleistungen im Personenreiseverkehr gemäß Artikel 10 Absatz 1 der
Richtlinie zu erbringen. Der Umstand, daß sich die Mutterunternehmen für eine
Gruppierung in Form einer Gesellschaft entschieden hätten, sei in diesemZusammenhang in bezug auf die rechtliche Einordnung der ENS unerheblich. So
könne entgegen dem Vorbringen der Kommission kein vorgelagerter Markt der
Bahndienstleistungen, die dem Betreiber erbracht würden, und kein davon
getrennter Markt, auf dem die ENS tätig sei, bestehen, wie in der Entscheidung
behauptet werde, da die Gründerunternehmen selbst die betreffende Gruppierung
Verkehrsdienstleistungen für Reisende erbrächten. Auf alle Fälle beruhe das
Ergebnis der Kommission auf der falschen Annahme, daß jedes
„Verkehrsunternehmen“ unabhängig von seiner Natur (z. B. eine Hotelkette) die
Bereitstellung der Lokomotive verlangen könne.
- 116.
- Drittens werde das Vorbringen der Kommission auf die falsche Annahme gestützt,
daß die EPS eine 100%ige Tochtergesellschaft von BR und/oder des britischen
Betreibers der Infrastruktur Railtrack sei und eine beherrschende Stellung im
Vereinigten Königreich einnehme, während die EPS in Wirklichkeit von BR an die
Regierung des Vereinigten Königreichs abgetreten worden sei (siehe oben,
Randnr. 11) und die Stellung dieses Unternehmens keineswegs auf irgendeinem
Markt beherrschend sei. Die EPS habe die Kommission in ihrem Schreiben vom
30. Juni 1994 (Anlage 9 zu ihrer Klageschrift) daran erinnert, daß sie weder
Eigentümerin noch Betreiberin der Infrastruktur sei und im Netz des Vereinigten
Königreichs nur Zugang zu den Fahrplantrassen habe, die ihr vorbehalten seien
und deren sie bedürfe, die jedoch nur einen kleinen Teil der Fahrplantrassen auf
den betreffenden Strecken ausmachten. Ebenso beschäftige die EPS nur wenig
Eisenbahnpersonal, und ihr Lokomotivfahrzeugpark sei von geringem Umfang.
Daher befinde sich die EPS in bezug auf den Zugang zur Infrastruktur des
britischen Netzes nicht in einer beherrschenden Stellung.
- 117.
- Viertens habe die Kommission nicht erläutert, weshalb die angebliche
Wirtschaftskraft der beteiligten Eisenbahnunternehmen als solche ein Hindernis für
den Zugang Dritter zum Markt bilde. Denn das Argument, das auf das
Vorhandensein gegenwärtiger oder potentieller Wettbewerber sowie auf den
Schaden abstelle, den die angeblichen privilegierten Beziehungen zwischen den
Eisenbahnunternehmen und der ENS für den Wettbewerb auf den nachgelagerten
Märkten verursachten, sei spekulativ. Selbst wenn die Eisenbahnunternehmen als
einzige Lokomotiven besäßen und selbst wenn jedes von ihnen sich weigerte, einem
neuen Wirtschaftsteilnehmer Lokomotiven zu stellen, wäre die Auswirkung auf die
betroffenen Märkte, wenn diese richtig abgegrenzt würden, tatsächlich geringfügig.
Zum anderen seien die beteiligten Eisenbahnunternehmen nach der Richtlinie
91/440 auf alle Fälle verpflichtet, als Betreiber von Infrastrukturen Dritten
bestimmte Leistungen zu erbringen. Im übrigen stelle der Erwerb von
(insbesondere gebrauchten) Lokomotiven durch Anmietung, Leasing oder auf
andere Weise für Dritte keine enorme Investition dar, und kein tatsächlicher
Anhaltspunkt erlaube der Kommission den Schluß, daß nur die betroffenen
Eisenbahnunternehmen Lokomotiven besäßen oder daß jeder neue Marktbeteiligte
Schwierigkeiten hätte, sie zu erwerben. Auch sei es möglich, anstatt neue oder
Speziallokomotiven zu bestellen, vorhandene Lokomotiven für den Verkehr imKanaltunnel umzurüsten. Auf alle Fälle könne der bloße Umstand, daß die
Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens bestimmte größere
Kapitalinvestitionen erfordere, nicht als Schranke für den Zugang zum Markt
betrachtet werden. Zu den von der Kommission in ihren Schriftsätzen behaupteten
Ausschlußwirkungen, die sich angeblich aus der Nutzungsvereinbarung für den
Kanaltunnel ergeben, bemerken die Klägerinnen, für diese Vereinbarung sei durch
eine Entscheidung der Kommission eine Freistellung gemäß Artikel 85 Absatz 3 des
Vertrages erteilt worden, und die von der ENS benutzten Fahrplantrassen seien
Teil der Fahrplantrassen, die die Eurotunnel-Vereinbarung der SNCF und BR
vorbehalten habe, so daß die Anzahl der Dritten vorbehaltenen Fahrplantrassen
nicht verringert worden sei.
- 118.
- Des weiteren führen die Klägerinnen zu den beschränkenden Wirkungen aufgrund
des Vorhandenseins eines Netzes von Gemeinschaftsunternehmen aus, diese
anderen Gemeinschaftsunternehmen seien auf anderen Produkt- oder
Dienstleistungsmärkten als demjenigen tätig, auf dem sich die ENS betätigen
werde, nämlich auf dem Markt für den kombinierten Güterverkehr und dem Markt
für die Fahrzeugbeförderung auf der Bahn; sie übten weder konkurrierende noch
auch nur ergänzende Tätigkeiten aus. Die Entscheidung enthalte nicht die geringste
Feststellung, inwiefern das angebliche Vorhandensein eines Netzes von
Eisenbahn-Gemeinschaftsunternehmen den Wettbewerb auf dem Markt für den
Reiseverkehr beeinträchtige, und stehe im übrigen im Widerspruch zu den
Grundsätzen, die die Kommission in ihrer Bekanntmachung von 1993 aufgestellt
habe.
- 119.
- Schließlich machen ENS und EPS in bezug auf die allgemeine Beurteilung der
Wirkungen der ENS-Vereinbarungen geltend, daß nach ständiger Rechtsprechung
des Gerichtshofes (Urteile des Gerichtshofes vom 30. Juni 1966 in der Rechtssache
56/65, LTM, Slg. 1966, 282, vom 13. Juli 1966 in den Rechtssachen 56/64 und 58/64,
Consten und Grundig/Kommission, Slg. 1966, 450, Metro/Kommission, vom 8. Juni
1982 in der Rechtssache 258/78, Nungesser und Eisele/Kommission, Slg. 1982, 2015,
vom 28. Januar 1986 in der Rechtssache 161/84, Pronuptia, Slg. 1986, 353, und vom
28. Februar 1991 in der Rechtssache C-234/89, Delimitis, Slg. 1991, I-935) die
günstigen Auswirkungen einer Vereinbarung auf den Wettbewerb gegen ihre
wettbewerbswidrigen Auswirkungen abzuwägen seien. Überwögen die günstigen
Auswirkungen auf den Wettbewerb gegenüber den wettbewerbswidrigen
Auswirkungen und seien letztere für die Anwendung der Vereinbarung erforderlich,
könne nicht davon ausgegangen werden, daß mit diesen eine Beschränkung oder
Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes im Sinne von
Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages bezweckt oder bewirkt werde.
- 120.
- Hierzu führen die Klägerinnen aus, die fraglichen Vereinbarungen trügen in
erheblichem Umfang zur Förderung des Wettbewerbs auf den beiden betroffenen
Märkten für Dienstleistungen bei, die in den Randnummern 26 und 27 der
Entscheidung definiert seien. Insbesondere werde der Markt für den
Geschäftsreiseverkehr in von der ENS bediente Zielgebiete durch einige wenigeLuftverkehrsgesellschaften beherrscht, die nach dem Gutachten über die
internationalen Passagierströme (International Passenger Survey) des Office of
Population Censuses and Surveys im Jahre 1991 74 % dieses Marktes gehalten
hätten. Ferner habe die ENS in ihrer Anmeldung belegt, daß sie 7 % des Marktes
erreichen könne, während die Luftverkehrsgesellschaften es auf 78 % Marktanteil
bringen würden, ihre Gründung also in gewissem Umfang die Beherrschung des
Marktes durch die Luftverkehrsunternehmen abmildere. Die Kommission habe im
übrigen eingeräumt, daß die Situation auf dem Markt für Freizeitreisen die gleiche
sei. Letztlich müßten daher die günstigen Auswirkungen der fraglichen
Vereinbarungen gegenüber allen hypothetischen wettbewerbswidrigen
Auswirkungen überwiegen.
- 121.
- Die Kommission macht geltend, der Umstand, daß die an der ENS Beteiligten
abschätzbare beachtliche geschäftliche Risiken eingegangen seien und hohe Kosten
getragen hätten, bedeute nicht, daß ein erheblicher Wettbewerb zwischen den
betreffenden Eisenbahnunternehmen auf dem relevanten Markt unwahrscheinlich
sei. Ein in einem Mitgliedstaat niedergelassenes Eisenbahnunternehmen habe das
Recht, mit einem anderen in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen
Eisenbahnunternehmen eine internationale Gruppierung zu bilden und von
Eurotunnel, dem Betreiber der Infrastruktur, die für die Durchquerung des
Kanaltunnels erforderlichen Fahrplantrassen zu erhalten, um grenzüberschreitende
Verkehrsleistungen anbieten zu können (Entscheidung, Randnr. 42). Außerdemkönne jedes an der ENS-Vereinbarung beteiligte Eisenbahnunternehmen selbst die
Rolle eines Verkehrsunternehmens spielen und eine Tochtergesellschaft gründen,
die bei den betreffenden Eisenbahnunternehmen die notwendigen Leistungen
einkaufen und somit ebenfalls grenzüberschreitende Verkehrsleistungen anbieten
könne (Entscheidung, Randnrn. 43 und 44). Indem die Klägerinnen den Betrieb
und die Vermarktung dieser Leistungen ihrem gemeinsamen Unternehmen ENS
anvertrauten, beschränkten sie die Wettbewerbsmöglichkeiten auf dem
betreffenden Markt somit erheblich (Entscheidung, Randnr. 45). Schließlich ergebe
sich aus der Entscheidung des deutschen Eisenbahnunternehmens DB, ein
Gemeinschaftsunternehmen mit den schweizerischen und den österreichischen
Eisenbahnen zu bilden, um Nachtzugverbindungen zwischen schweizerischen,
deutschen und österreichischen Städten anzubieten, daß die Möglichkeit eines an
den ENS-Vereinbarungen beteiligten Eisenbahnunternehmens, eine
Tochtergesellschaft im Vereinigten Königreich und/oder in anderen Mitgliedstaaten
zu gründen, um Nachtzugverbindungen anzubieten, weder unrealistisch noch
illusorisch sei.
- 122.
- Zu dem Umstand, daß jede der Klägerinnen notwendiger Partner beim Betrieb der
von der ENS bedienten Strecken sei, erwidert die Kommission, die ENS sei kein
Eisenbahnunternehmen im Sinne der Richtlinie 91/440, sondern ein
Verkehrsunternehmen, das die notwendigen Bahnleistungen bei den
Eisenbahnunternehmen einkaufe. Im übrigen beweise der Umstand, daß die
Strecke Brüssel-Glasgow/Plymouth von der ENS betrieben werden solle, obwohldie SNCB nicht an der Vereinbarung beteiligt sei, daß die Beteiligung jedes der
vier in den betreffenden Mitgliedstaaten niedergelassenen Eisenbahnunternehmen
keine unerläßliche Voraussetzung für das Angebot der betreffenden
Dienstleistungen sei.
- 123.
- Zum Argument der Klägerinnen, die betroffenen Eisenbahnunternehmen hätten
nicht die Möglichkeit, in den verschiedenen Mitgliedstaaten Tochtergesellschaften
mit dem Status von Eisenbahnunternehmen zu gründen und auf diese Weise
internationale Gruppierungen zu bilden, die mit der ENS in Wettbewerb stünden,
macht die Kommission geltend, es gebe kein rechtliches Hindernis für die
Eisenbahnunternehmen, sich in anderen Mitgliedstaaten niederzulassen. Das
Grundprinzip der Niederlassungsfreiheit in Artikel 52 des Vertrages sei am Ende
der Übergangszeit in vollem Umfang anwendbar, weshalb es unerheblich sei, daß
der Rat beim Erlaß der angefochtenen Entscheidung den Vorschlag einer Richtlinie
betreffend die Zulassung der Eisenbahnunternehmen noch nicht verabschiedet
gehabt habe, denn der Zweck einer solchen Richtlinie bestehe nur darin, die
Ausübung des Niederlassungsrechts zu erleichtern, nicht jedoch, dieses Recht zu
verleihen (Urteil des Gerichtshofes vom 21. Juni 1974 in der Rechtssache 2/74,
Reyners, Slg. 1974, 631).
- 124.
- Zum Argument der Klägerinnen, daß es der durch die Richtlinie 91/440
geschaffene Rahmen den Eisenbahnunternehmen nicht erlaube, eine
Tochtergesellschaft als Verkehrsunternehmen zu gründen, führt die Kommission
aus, diese Richtlinie gelte zwar nicht für Eisenbahnunternehmen, deren
Haupttätigkeit im Erbringen von Eisenbahnverkehrsleistungen zur Beförderung von
Gütern oder Personen bestehe, wobei dieses Unternehmen auf jeden Fall die
Traktion sicherstellen müsse (Artikel 3), doch könnten Verkehrsunternehmen, die
nicht selbst den Status eines Eisenbahnunternehmens im Sinne von Artikel 3 der
Richtlinie hätten und somit nicht über das Recht auf Zugang zur Eisenbahnstruktur
verfügten, trotzdem Eisenbahnverkehrsleistungen zur Beförderung von Gütern
und/oder Personen erbringen, indem sie bei Eisenbahnunternehmen die
Traktionsleistungen und das Recht auf Zugang zur Eisenbahnstruktur einkauften.
Genau so sei die ACI in bezug auf den kombinierten Verkehr und die ENS in
bezug auf den Personenverkehr tätig.
- 125.
- Die Kommission hebt hervor, sie habe diese Ansicht bereits in den Schreiben an
die anmeldenden Unternehmen vom 29. Oktober 1993 (Klagebeantwortung, Anlage
4) und vom 28. Februar 1994 vertreten, und der Präsident von ENS habe nach
Befragung der an der ENS beteiligten Eisenbahnunternehmen mit Schreiben vom
13. April 1994 an die Kommission (Klagebeantwortung, Anlage 6) ihre
Vereinbarung bestätigt, Wettbewerbern der ENS auf denselben Strecken
Nachtleistungen zu erbringen.
- 126.
- Zu dem Umstand, daß die ENS-Vereinbarungen keine Ausschließlichkeitsklausel
enthielten und daher die betroffenen Eisenbahnunternehmen nicht daran hinderten,
andere internationale Gruppierungen zu bilden, die mit der ENS in Wettbewerbtreten könnten, macht die Kommission geltend, daß dieser Fall höchst
unwahrscheinlich sei, da die betroffenen Eisenbahnunternehmen im
Verwaltungsverfahren weiterhin die Notwendigkeit betont hätten, ihre Erfahrung
und ihre finanziellen Mittel zusammenzufassen, um den geschäftlichen Erfolg der
ENS zu gewährleisten.
- 127.
- Sodann wendet sich die Kommission gegen die Rüge, sie habe die
wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen der ENS-Vereinbarung auf Dritte falsch
gewürdigt, und verweist hierfür auf die Randnummern 46 und 48 der
angefochtenen Entscheidung. Zwar begründe die Schaffung der ENS keine
Beschränkung für den Zugang Dritter zu anderen Beförderungsarten, die mit den
von der ENS angebotenen Dienstleistungen austauschbar seien, doch könne der
Zugang von Eisenbahnunternehmen und Verkehrsunternehmen zum Bahnsegment
des relevanten Marktes dadurch behindert werden, daß sich die ENS aus mächtigen
Eisenbahnunternehmen zusammensetze, die sowohl die Benutzung der
Eisenbahninfrastruktur als auch die Versorgung mit Traktionsleistungen
kontrollierten. Es sei nicht notwendig, daß die Behinderung des Zugangs alle
Marktsegmente betreffe, wenn es sich wie im vorliegenden Fall um einen
gemischten Markt handele. Der Umstand, daß für die zwischen Eurotunnel, BR
und SNCF geschlossene Eurotunnelvereinbarung eine Freistellungsentscheidung
gemäß Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages ergangen sei, ändere nichts daran, daß
die Bewertung der wirtschaftlichen Stellung von EPS und SNCF zutreffend sei, die
75 % der grenzüberschreitenden Zügen vorbehaltenen Fahrplantrassen im
Kanaltunnel hielten.
- 128.
- Zu den auf der Lieferung von notwendigen Bahnleistungen an die ENS beruhenden
Wettbewerbsbeschränkungen räumt die Kommission ein, daß die internationalen
Gruppierungen in bezug auf die Stellung von Fahrplantrassen aufgrund der
Richtlinie Zugang zur Infrastruktur unmittelbar bei den Betreibern der
Infrastruktur erhalten könnten. Dies gelte jedoch für die Verkehrsunternehmen
nicht in bezug auf die Stellung der Fahrplantrassen wie auch der Traktion und des
qualifizierten Personals. Da die Traktion nur von den Eisenbahnunternehmen
bereitgestellt werden könne und da diese Unternehmen gleichzeitig über die für die
Traktion im Kanaltunnel bestimmten Lokomotiven und die spezialisierten
Besatzungen für deren Betrieb verfügten, sei die Ansicht gerechtfertigt, daß
Wirtschaftsteilnehmer, die versuchten, ähnliche Leistungen zu erhalten,
benachteiligt würden, wenn sie sie nicht zu nichtdiskriminierenden Bedingungen bei
den Muttergesellschaften der ENS erhielten.
- 129.
- In bezug auf die Beteiligung der Gründerunternehmen an einem Netz von
Gemeinschaftsunternehmen führt die Kommission aus, dieses Netz betreffe das
Angebot von Güter- und Personenverkehrsleistungen, es handele sich um das
Unternehmen Intercontainer, an dem alle Anmeldenden beteiligt seien, um das von
BR, SNCF und Intercontainer gegründete Unternehmen ACI sowie schließlich um
das Unternehmen Autocare Europe. Das Argument, dieGemeinschaftsunternehmen im Bereich des kombinierten Güterverkehrs und der
Kraftfahrzeugtransporte auf der Bahn hätten keinen Einfluß auf die
Nachtzugverbindungen, wie sie von der ENS betrieben würden, sei nicht stichhaltig,
da nach der Bekanntmachung von 1993 der Wettbewerb am stärksten
beeinträchtigt werde, wenn von konkurrierenden Unternehmen ein und desselben
Wirtschaftszweigs mit Oligopolstruktur eine große Anzahl von
Gemeinschaftsunternehmen für komplementäre oder unterschiedliche
Dienstleistungen errichtet würden.
- 130.
- Schließlich wendet sich die Kommission gegen das Argument, die von den
Klägerinnen zitierten Rechtssachen belegten, daß sie eine „rule of reason“
anzuwenden und die positiven und negativen Wirkungen der fraglichen
Vereinbarung auf den Wettbewerb zu würdigen habe. Eine solche Lösung dürfe
nur im Rahmen von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages, nicht aber für die
Beurteilung der Wettbewerbsbeschränkungen im Rahmen von Artikel 85 Absatz
1 des Vertrages in Betracht.
- 131.
- Das Vereinigte Königreich als Streithelfer führt zunächst aus, die Kommission habe
im Rahmen der Anwendung von Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages auf die
ENS-Vereinbarungen den wirtschaftlichen Kontext und insbesondere den
Wettbewerb nicht berücksichtigt, der bestehe, wenn es diese Vereinbarungen nicht
gäbe. Die ENS-Vereinbarungen beschränkten den Wettbewerb nicht, da sie
konzipiert worden seien, um die Einführung einer Dienstleistung zu ermöglichen
und zu erleichtern, die es zur Zeit nicht gebe und die keiner der Beteiligten
vernünftigerweise allein einführen könne.
- 132.
- Verschiedene Teile der Begründungserwägungen der streitigen Entscheidung
belegten im übrigen, daß die ENS-Vereinbarungen günstig für den Wettbewerb
seien, ferner belegten sie die Neuheit der angebotenen Leistung, die erheblichen
finanziellen Risiken, die sie mit sich brächten, die finanzielle und technische
Berechtigung einer Zusammenarbeit, d. h. der Zusammenfassung des Know-how
und die Notwendigkeit, mehrere Jahre abzuwarten, bis die Investitionen sich
rentierten (Randnrn. 59, 61, 63, 64 und 74 bis 77 der Entscheidung). Es sei daher
bezeichnend, daß diese Feststellungen nur in dem Teil der Entscheidung enthalten
seien, der die Frage der Freistellung der ENS-Vereinbarungen betreffe, und nicht
in dem Teil, der sich auf die Anwendung von Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages
beziehe.
- 133.
- Im übrigen erläutere die streitige Entscheidung nicht ausreichend, wie die
Muttergesellschaften der ENS sich auf dem relevanten Markt tatsächlich
Konkurrenz machten oder machen könnten. So enthalte sie keinerlei Ausführungen
zur Wahrscheinlichkeit eines solchen Wettbewerbs, was belege, daß die
Kommission entweder nicht die notwendige Untersuchung des wirtschaftlichen
Kontextes vorgenommen oder Artikel 190 des Vertrages nicht beachtet habe.
- 134.
- Zu diesem Vorbringen des Vereinigten Königreichs führt die Kommission aus, die
Untersuchung einer Vereinbarung müsse zwar deren wirtschaftlichen Kontext
berücksichtigen, dies bedeute jedoch nicht, daß auf die Rule of reason
zurückzugreifen sei, einen Begriff, dessen Verwendung der Gerichtshof bisher
abgelehnt habe. Daran ändere das Urteil des Gerichtshofes vom 15. Dezember
1994 in der Rechtssache C-250/92 (DLG, Slg. 1994, I-5641) nichts, da es nur die
Gültigkeit von nebensächlichen Beschränkungen im besonderen Rahmen
genossenschaftlicher Organisationen betroffen habe und somit nicht als Ausdruck
eines allgemeinen Grundsatzes zu gelten habe. Daher sei die Abwägung der
Vorteile gegen die Nachteile einer Vereinbarung über den Wettbewerb für die
Erteilung von Befreiungen gemäß Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages notwendig,
nicht jedoch für die Beurteilung von Wettbewerbsbeschränkungen im Sinne von
Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages, die entgegen dem Vorbringen des Vereinigten
Königreichs im vorliegenden Fall in der Entscheidung breit erörtert worden seien.
Würdigung durch das Gericht
- 135.
- Nach der angefochtenen Entscheidung erzeugen die ENS-Vereinbarungen den
gegenwärtigen und potentiellen Wettbewerb beschränkende Wirkungen a) zwischen
den Gründerunternehmen, b) zwischen diesen und der ENS sowie c) gegenüber
Dritten; diese Beschränkungen würden ferner d) durch ein Netz von durch die
Gründerunternehmen geschaffenen Gemeinschaftsunternehmen verschärft.
- 136.
- Vor der Prüfung des Parteivorbringens zur Stichhaltigkeit der Untersuchungen der
Kommission in bezug auf die Wettbewerbsbeschränkungen ist darauf hinzuweisen,
daß die Beurteilung einer Vereinbarung gemäß Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages
den konkreten Rahmen zu berücksichtigen hat, in dem diese ihre Wirkungen
entfaltet, insbesondere den wirtschaftlichen und rechtlichen Kontext, in dem die
betroffenen Unternehmen tätig sind, die Art der Dienstleistungen, auf die sich
diese Vereinbarung bezieht, sowie die tatsächlichen Bedingungen der Funktion und
der Struktur des relevanten Marktes (Urteile des Gerichtshofes in der Rechtssache
Delimitis, DLG, Randnr. 31, vom 12. Dezember 1995 in der Rechtssache C-399/93,
Oude Luttikhuis u. a., Slg. 1995, I-4515, Randnr. 10, und Urteil des Gerichts vom
14. Mai 1997 in der Rechtssache T-77/94, VGB u. a./Kommission, Slg. 1997, II-759,
Randnr. 140), sofern es sich nicht um eine Vereinbarung handelt, die offenkundige
Beschränkungen des Wettbewerbs umfaßt, wie die Festsetzung von Preisen, die
Aufteilung des Marktes oder die Kontrolle des Absatzes (Urteile des Gerichts vom
6. April 1995 in der Rechtssache T-148/89, Tréfilunion/Kommission, Slg. 1995,
II-1063, Randnr. 109). Denn in letzterem Fall können solche Beschränkungen nur
im Rahmen von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages gegen ihre angeblichen den
Wettbewerb fördernden Wirkungen zum Zweck der Gewährung einer Freistellung
von dem Verbot in Artikel 85 Absatz 1 abgewogen werden.
- 137.
- Außerdem ist hervorzuheben, daß sich die Untersuchung der
Wettbewerbsbedingungen nicht nur auf den gegenwärtigen Wettbewerb stützt, densich die bereits auf dem relevanten Markt tätigen Unternehmen liefern, sondern
auch auf den potentiellen Wettbewerb, damit ermittelt werden kann, ob unter
Berücksichtigung der Struktur des Marktes sowie des wirtschaftlichen und
rechtlichen Kontextes, aufgrund dessen dieser funktioniert, tatsächlich konkrete
Möglichkeiten bestehen, daß die betroffenen Unternehmen untereinander im
Wettbewerb stehen oder daß ein neuer Wettbewerber auf dem relevanten Marktauftreten und den alteingesessenen Unternehmen Konkurrenz machen kann (Urteil
Delimitis, Randnr. 21). Ferner setzt nach der Bekanntmachung der Kommission
von 1993 über die Beurteilung kooperativer Gemeinschaftsunternehmen nach
Artikel 85 des Vertrages „die Annahme eines potentiellen
Wettbewerbsverhältnisses ... voraus, daß jeder der Gründer allein in der Lage ist,
die dem [Gemeinschaftsunternehmen] übertragenen Aufgaben zu erfüllen, und daß
er seine diesbezüglichen Fähigkeiten nicht mit der Errichtung des
[Gemeinschaftsunternehmens] einbüßt. Bei der Beurteilung des konkreten
Einzelfalls ist eine wirtschaftlich realistische Betrachtungsweise geboten“ (Nr. 18
der Bekanntmachung).
- 138.
- Im Licht dieser Erwägungen ist daher zu untersuchen, ob die Beurteilung der
beschränkenden Wirkungen der ENS-Vereinbarungen durch die Kommission
zutreffend ist.
- Zu den Beschränkungen des Wettbewerbs zwischen den Gründern
- 139.
- Ausweislich der Akten standen die Eisenbahnunternehmen der Mitgliedstaaten vor
dem Erlaß der Richtlinie 91/440 weder in gegenwärtigem noch in potentiellem
Wettbewerb zueinander, da in den meisten Mitgliedstaaten
Ausschließlichkeitsrechte die Erbringung internationaler Reiseverkehrsleistungen
sowie den Zugang zur Infrastruktur (nationales Netz) rechtlich oder tatsächlich
verhinderten. Wie die Parteien vorgetragen haben, wurden solche Leistungen in der
Gemeinschaft vor dem Erlaß dieser Richtlinie nur aufgrund von herkömmlichen
Kooperationsvereinbarungen zwischen den Eisenbahnunternehmen erbracht, die
in den verschiedenen betroffenen Netzen tätig waren. Nach dem Erlaß der
Richtlinie 91/440 änderten sich jedoch die Wettbewerbsbedingungen auf dem
Eisenbahnmarkt, so daß die in den nationalen Netzen tätigen
Eisenbahnunternehmen in gewissem Umfang potentielle Konkurrenten beim
internationalen Reiseverkehr wurden, sofern sie mit anderen in den verschiedenen
Mitgliedstaaten niedergelassenen Eisenbahnunternehmen „internationale
Gruppierungen“ bildeten, um Leistungen im grenzüberschreitenden Verkehr
zwischen diesen Mitgliedstaaten zu erbringen (Artikel 3 und 10 der Richtlinie).
- 140.
- Aus dem Vorbringen der Kommission ergibt sich, daß die Möglichkeit,
grenzüberschreitende Verkehrsleistungen über internationale Gruppierungen zu
erbringen, nicht nur den bestehenden Eisenbahnunternehmen offensteht, sondern
auch neuen Eisenbahnunternehmen einschließlich der Tochtergesellschaften
bestehender Eisenbahnunternehmen, und daß die Kommission von dieser
Voraussetzung ausgehend die Ansicht vertrat, die ENS-Vereinbarungenbeschränkten den Wettbewerb zwischen den Gründern, da a) alle Beteiligten der
ENS-Vereinbarungen eine Gruppierung entweder mit einem im Vereinigten
Königreich niedergelassenen Unternehmen oder mit ihrer eigenen britischen
Tochtergesellschaft bilden konnten und auf diese Weise in Wettbewerb mit der
ENS treten konnte, b) alle Beteiligten der ENS-Vereinbarungen eine spezialisierte
Tochtergesellschaft als Verkehrsunternehmen gründen und bei den Beteiligten der
ENS-Vereinbarungen die gleichen notwendigen Bahndienstleistungen einkaufen
konnten, die diese der ENS verkauften, und c) jedes Eisenbahnunternehmen sich
selbst in die Lage eines Verkehrsunternehmens versetzen und grenzüberschreitende
Nachtzugverbindungen anbieten konnte, indem es bei den betreffenden
Eisenbahnunternehmen die notwendigen Bahndienstleistungen einkaufte.
- 141.
- In bezug auf die Möglichkeit sämtlicher Beteiligter der ENS-Vereinbarungen, eine
Gruppierung entweder mit einem im Vereinigten Königreich niedergelassenen
Unternehmen oder mit seiner eigenen britischen Tochtergesellschaft zu bilden und
auf diese Weise mit der ENS in Wettbewerb zu treten, ist zunächst festzustellen,
daß die einzigen „notwendigen Partner“ für die Bildung einer solchen
internationalen Gruppierung auf jeder Strecke notwendigerweise die in dem
betreffenden Mitgliedstaat niedergelassenen Eisenbahnunternehmen sind, da nach
Artikel 10 der Richtlinie 91/440 eine grenzüberschreitende Strecke nur durch eine
internationale Gruppierung bedient werden kann, die aus den in den betreffenden
Ländern niedergelassenen Eisenbahnunternehmen besteht. Wie die Klägerinnen
beispielsweise in bezug auf die Strecke London-Amsterdam vorgetragen haben,
waren in der maßgeblichen Zeit die einzigen notwendigen Partner die NS und die
EPS, so daß die Beteiligung der SNCF und der DB an dieser Gruppierung keine
Auswirkungen auf den gegenwärtigen Wettbewerb haben konnte, denn in dem
durch die Richtlinie 91/440 geschaffenen Kontext kann keines dieser beiden
Eisenbahnunternehmen der EPS und der NS auf der erwähnten Strecke
Konkurrenz machen. Das gleiche gilt für jede der drei anderen von der ENS
tatsächlich bedienten Strecken (siehe oben, Randnr. 9). Somit kann der
gemeinsame Betrieb der betreffenden vier Strecken durch EPS, DB, SNCF und NS
den gegenwärtigen Wettbewerb zwischen den Gründern nicht erheblich
beeinträchtigen.
- 142.
- Zu den Beschränkungen des potentiellen Wettbewerbs dadurch, daß jedes der
Gründerunternehmen in den Mitgliedstaaten der anderen Gründer
Tochtergesellschaften gründen und entweder mit seinen eigenen
Tochtergesellschaften oder mit anderen in den anderen betroffenen Mitgliedstaaten
niedergelassenen Eisenbahnunternehmen internationale Gruppierungen in
unmittelbarem Wettbewerb mit der ENS bilden könne, ist das Gericht der
Auffassung, daß es sich im vorliegenden Fall um eine Annahme handelt, die durch
keinen Tatumstand und keine Untersuchung der Strukturen des relevanten Marktes
gestützt wird, die den Schluß erlaubte, daß es sich um eine tatsächliche und
konkrete Möglichkeit handelt. Denn weder die angefochtene Entscheidung noch
die Akten enthalten Anhaltspunkte dafür, daß es Eisenbahnunternehmen mitTochtergesellschaften in anderen Mitgliedstaaten gibt, die selbst den Status von
Eisenbahnunternehmen haben und auf diese Weise belegen, daß von der
Niederlassungsfreiheit auf dem Eisenbahnmarkt in der Gemeinschaft tatsächlich
Gebrauch gemacht wird.
- 143.
- In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß das Gericht die Kommission
im Zuge der von ihm getroffenen prozeßleitenden Verfügungen aufgefordert hat,
anzugeben, ob in den Mitgliedstaaten niedergelassene Eisenbahnunternehmen
Tochtergesellschaften mit dem Status eines Eisenbahnunternehmens im Sinne der
Richtlinie 91/440 in anderen Mitgliedstaaten besitzen, und, falls dies bejaht wird,
genau anzugeben, welche Eisenbahnunternehmen nach dem Inkrafttreten der
Richtlinie 91/440 gegründet wurden. Die Kommission hat in ihrer Antwort
eingeräumt, daß sie keine Kenntnis von anderen Tochtergesellschaften habe, die
vor oder nach dem Erlaß der Richtlinie 91/440 von den Gründerunternehmen der
ENS gegründet worden seien; trotzdem hat sie ihre Ansicht wiederholt, daß Artikel
52 des Vertrages allen betroffenen Eisenbahnunternehmen das Niederlassungsrecht
unmittelbar verleihe.
- 144.
- Dieses Argument der Kommission, wonach theoretisch kein rechtliches Hindernis
für die Eisenbahnunternehmen bestehe, sich in einem anderen Mitgliedstaat als
demjenigen ihres Gesellschaftssitzes niederzulassen, berücksichtigt nicht den
wirtschaftlichen Kontext und die Merkmale des relevanten Marktes, die sich aus
den Akten ergeben, und genügt daher allein nicht zum Beleg des Vorhandenseins
von Beschränkungen des potentiellen Wettbewerbs zwischen den Gründern sowie
zwischen diesen und der ENS.
- 145.
- Wie die Klägerinnen in ihren Schriftsätzen eingehend dargelegt haben, wäre es
angesichts der Neuheit und der besonderen Aspekte der betreffenden
Nachtzugleistungen nicht realistisch, wenn die Gründer Tochtergesellschaften in
anderen Mitgliedstaaten mit dem Status von Eisenbahnunternehmen gründen
würden, nur um ein neues Gemeinschaftsunternehmen zu dem Zweck zu bilden,
der ENS Konkurrenz zu machen. Die prohibitiven Investionskosten, die für solche
Leistungen bei Benutzung des Kanaltunnels erforderlich wären, und das Fehlen von
Kosteneinsparungseffekten beim Betrieb einer einzigen Eisenbahnstrecke im
Gegensatz zum gemeinsamen Betrieb von vier Strecken durch die ENS beweisen
nämlich, daß ein potentieller Wettbewerb zwischen den Gründern sowie zwischen
diesen und der ENS wenig realistisch ist. Außerdem hat, wie aus den Akten
hervorgeht, nach der Bekanntmachung der Mitteilung der Kommission im Amtsblatt
der Europäischen Gemeinschaften, mit der die Betroffenen aufgefordert wurden, zu
den ENS-Vereinbarungen, wie sie in dieser Mitteilung zusammengefaßt waren,
Stellung zu nehmen, im Verwaltungsverfahren kein Dritter, der als möglicher
Wettbewerber von der Durchführung der ENS-Vereinbarungen möglicherweise
geschädigt oder betroffen sein könnte (siehe oben, Randnr. 17), Erklärungen
abgegeben. Schließlich kann im vorliegenden Fall das Vorhandensein gegenwärtiger
oder potentieller Wettbewerber von ENS auch ernstlich in Zweifel gezogen werden,
wenn man berücksichtigt, daß bisher, wie die Kommission in ihren Antworten aufdie schriftlichen Fragen des Gerichts eingeräumt hat, von den
Eisenbahnunternehmen der Gemeinschaft in anderen Mitgliedstaaten weder vor
noch nach dem Erlaß der Richtlinie 91/440 eine Tochtergesellschaft gegründet
worden ist.
- 146.
- Nach allem ist das Gericht der Ansicht, daß die Einschätzung der Kommission,
wonach die ENS-Vereinbarungen geeignet seien, den gegenwärtigen und/oder
potentiellen Wettbewerb zwischen den Gründern sowie zwischen diesen und der
ENS spürbar zu beschränken, unzureichend begründet und/oder mit einem
Beurteilungsfehler behaftet ist.
- 147.
- Was die Wettbewerbsbeschränkungen zwischen den Gründern aufgrund des
Umstandes anbelangt, daß jedes der an den ENS-Vereinbarungen beteiligten
Eisenbahnunternehmen entweder ein Spezialunternehmen als
Verkehrsunternehmen gründen oder sich selbst in die Lage eines
Verkehrsunternehmens versetzen und der ENS Konkurrenz machen könnte, indem
es bei den betreffenden Eisenbahnunternehmen die gleichen notwendigen
Bahnleistungen einkauft, stellt das Gericht fest, daß diese Einschätzung der
Kommission ebenfalls auf einer nicht den Tatsachen entsprechenden Untersuchung
des Marktes beruht. Denn die Kommission geht davon aus, daß es auf dem Markt
für den Bahnreiseverkehr neben den Eisenbahnunternehmen eine andere Gruppe
von Wirtschaftsteilnehmern, die Verkehrsunternehmen, gebe, die die gleichen
Leistungen wie die Eisenbahnunternehmen erbrächten, nämlich die Beförderung
von Reisenden, jedoch dergestalt, daß sie bei den Eisenbahnunternehmen die
„notwendigen Bahnleistungen“, also Lokomotiven, deren Personal und den Zugang
zur Infrastruktur, einkauften oder anmieteten. Da es sich bei der ENS nach der
Entscheidung um ein Verkehrsunternehmen handelt, könnte dieses dem
Wettbewerb entweder von den Eisenbahnunternehmen als Verkehrsunternehmen
gegründeter spezialisierter Tochterfirmen ausgesetzt sein, oder dem Wettbewerb
der Eisenbahnunternehmen selbst, die in dieser Eigenschaft unmittelbar auf dem
Markt tätig würden, so daß die Gründung der ENS eine Beschränkung der Freiheit
der Beteiligten, sich einzeln als Verkehrsunternehmen auf dem betreffenden Markt
zu betätigen, herbeiführen würde.
- 148.
- Die Untersuchung dieser Einschätzung der Kommission setzt jedoch voraus, daß
die Frage beantwortet wird, ob die internationalen Reiseverkehrsleistungen
außerhalb der in der Richtlinie 91/440 vorgesehenen internationalen Gruppierungen
auch von Verkehrsunternehmen erbracht werden. Da die Klägerinnen diese Frage
im Kern im Rahmen ihrer zweiten Rüge aufgeworfen haben, ist sie in diesem
Rahmen zu prüfen (im folgenden: Randnrn. 161 bis 189).
- Zu den Wettbewerbsbeschränkungen gegenüber Dritten
- 149.
- In der angefochtenen Entscheidung wird ausgeführt, es bestehe die Gefahr, daß der
Zugang Dritter zu den relevanten Märkten zum einen wegen des Vorliegensprivilegierter Beziehungen zwischen der ENS und ihren Muttergesellschaften, die
Dritte in eine ungünstige Wettbewerbsposition in bezug auf den Erwerb der von
den Muttergesellschaften erbrachten Bahnleistungen versetzten, und zum anderen
wegen der Vereinbarung zwischen BR, SNCF und Eurotunnel über die Benutzung
des Kanaltunnels behindert werde, die es BR und SNCF ermögliche, einen
signifikanten Anteil, nämlich 75 % der für grenzüberschreitende Züge verfügbaren
Fahrplantrassen zu behalten.
- 150.
- Erstens ist zu den privilegierten Beziehungen zwischen der ENS und den
betroffenen Eisenbahnunternehmen festzustellen, daß die Untersuchung der
Kommission davon ausgeht, daß der Markt für den Bahnreiseverkehr in zwei
Märkte aufgespalten sei, einen vorgelagerten Markt, der die Erbringung der
„Bahnleistungen“ (Fahrplantrassen, Speziallokomotiven und das dazugehörende
Personal) betreffe, und einen nachgelagerten Markt, der den Reiseverkehr betreffe
und auf dem neben den Eisenbahnunternehmen Verkehrsunternehmen wie die
ENS tätig seien. Nach der Entscheidung könnten die Muttergesellschaften ihre
beherrschende Stellung auf dem vorgelagerten Markt dadurch mißbrauchen, daß
sie im Wettbewerb mit der ENS stehenden Dritten, die sich auf dem
nachgelagerten Markt betätigten, die Erbringung der notwendigen Bahnleistungen
verweigerten.
- 151.
- Allerdings hängt auch die Untersuchung dieser Einschätzung der Kommission von
der Frage ab, ob es neben den internationalen Gruppierungen
Verkehrsunternehmen gibt, die sich ebenfalls auf den betreffenden Märkten
betätigen; diese Frage ist im Rahmen der zweiten Rüge zu prüfen, ebenso wie die
Frage, ob die Dienstleistungen, die die Gründer der ENS erbringen, als
„wesentliche oder notwendige Dienstleistungen oder Infrastrukturen“ anzusehen
sind, zur dritten Rüge gehört und daher in deren Rahmen zu prüfen ist (im
folgenden: Randnrn. 190 bis 218).
- 152.
- Zweitens ist hinsichtlich der beschränkenden Wirkungen, die sich aus der
Vereinbarung über die Benutzung des Kanaltunnels ergeben sollen, darauf
hinzuweisen, daß die Entscheidung, mit der diese Vereinbarung vom Verbot des
Artikels 85 Absatz 1 befreit wurde (im folgenden: Eurotunnel-Entscheidung), durch
das Urteil des Gerichts vom 22. Oktober 1996 in den Rechtssachen T-79/95 und
T-80/95 (SNCF und British Railways/Kommission, Slg. 1996, II-1491) mit derBegründung für nichtig erklärt worden ist, daß die Kommission bei der Auslegung
der Bestimmungen dieser Vereinbarung über die Aufteilung der Fahrplantrassen
im Tunnel zwischen SNCF und BR einerseits sowie Eurotunnel andererseits eine
fehlerhafte Tatsachenfeststellung getroffen hat.
- 153.
- Das Gericht hat die Parteien im Rahmen seiner prozeßleitenden Verfügungen
aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen, ob das erwähnte Urteil des Gerichts für
den vorliegenden Rechtsstreit erheblich ist. Die Kommission hat in ihrer Antwort
auf diese Frage geltend gemacht, dieses Urteil sei für die Beurteilung der
Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung unerheblich; aus Randnummer47 der Entscheidung gehe hervor, daß BR und SNCF zwar nicht über alle
Fahrplantrassen für internationale Züge wohl aber über einen großen Teil
verfügten. Die Klägerinnen haben ausgeführt, das Urteil des Gerichts bestätige, daß
der Zugang zum Kanaltunnel nicht verschlossen sei und daß die beschränkenden
Wirkungen der Nutzungsvereinbarung für den Tunnel gegenüber Dritten von der
Kommission falsch bewertet worden seien.
- 154.
- Da sich die Kommission zum einen gerade auf die „Eurotunnel-Vereinbarung“
gestützt hat, um in der angefochtenen Entscheidung darzutun, daß der angeblich
privilegierte Zugang von SNCF und BR zu den Fahrplantrassen im Tunnel die mit
der ENS im Wettbewerb stehenden Unternehmen in eine ungünstige
Wettbewerbsposition versetze, und da zum anderen die Eurotunnel-Entscheidung
vom Gericht wegen fehlerhafter Tatsachenfeststellung bei der Auslegung der
Bestimmungen der Vereinbarung über die Aufteilung der Fahrplantrassen für
nichtig erklärt worden ist, kann sich die Kommission für die Beurteilung der
ENS-Vereinbarungen nicht auf die genannte Entscheidung berufen.
- Zur Verschärfung der wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen wegen eines
Netzes von Gemeinschaftsunternehmen
- 155.
- Zur angeblichen Verschärfung der Wettbewerbsbeschränkungen durch Netze von
Gemeinschaftsunternehmen (Randnrn. 49 bis 53 der Entscheidung) ist vorab zu
bemerken, daß nach der Bekanntmachung der Kommission von 1993 über die
Beurteilung kooperativer Gemeinschaftsunternehmen das Bestehen von Netzen von
Gemeinschaftsunternehmen besonders geprüft werden muß, ob sie nun von
denselben Gründern, von einem der Gründer mit verschiedenen Partnern oder
parallel von mehreren Gründern errichtet worden sind (Nr. 17 der
Bekanntmachung). Insbesondere könnten Netze von Gemeinschaftsunternehmen
den Wettbewerb dann beschränken, wenn konkurrierende Gründer mehrere
Gemeinschaftsunternehmen für komplementäre Erzeugnisse gründeten, die von
ihnen selbst weiterverarbeitet werden sollen, oder für nicht zusammengehörige
Erzeugnisse, die sie selbst vertreiben, und auf diese Weise Umfang und Intensität
der Wettbewerbsbeschränkung erhöhen. Diese Erwägungen gelten auch für den
Dienstleistungssektor (Nr. 29 der Bekanntmachung).
- 156.
- In der angefochtenen Entscheidung vertritt die Kommission die Ansicht, dies sei
hier der Fall, da BR/EPS, SNCF, DB und NS auf verschiedenste Weise an einem
Netz von Gemeinschaftsunternehmen nicht nur für den Güter-, sondern auch für
den Reisezugverkehr insbesondere durch den Kanaltunnel beteiligt seien. Sie
verweist hierfür auf das Gemeinschaftsunternehmen ACI, das gemeinsam von u. a.
BR und SNCF gegründet worden und ein Unternehmen für den kombinierten
Güterverkehr sei (Entscheidung 94/594/EG der Kommission vom 27. Juli 1994 in
einem Verfahren nach Artikel 85 EG-Vertrag und nach Artikel 53 des Abkommens
über den Europäischen Wirtschaftsraum [Sache Nr. IV/34.518 - ACI] [ABl. L 224,
S. 28; im folgenden ACI-Entscheidung]), und auf Autocare Europe, einUnternehmen, an dem BR und SNCB beteiligt seien und das den
Kraftfahrzeugtransport auf der Bahn betreibe. In ihren Schriftsätzen hat die
Kommission ferner erstmals das von 29 Eisenbahnunternehmen, darunter BR und
SNCF, gegründete Gemeinschaftsunternehmen Intercontainer erwähnt, das
ebenfalls auf dem Markt des kombinierten Güterverkehrs tätig sei.
- 157.
- Die angefochtene Entscheidung gibt jedoch nicht genau an, welches die von den
Gründern für Reiseverkehrsleistungen gegründeten Gemeinschaftsunternehmen
sind. Das Gericht hat die Kommission durch prozeßleitende Verfügung
aufgefordert, genau anzugeben, welches die auf dem Markt für die Beförderung
von Reisenden tätigen Gemeinschaftsunternehmen sind, an denen die Gründer der
ENS gemäß Randnummer 51 der angefochtenen Entscheidung beteiligt seien. In
ihrer Antwort hat die Kommission erklärt, ihr seien keine weiteren
Gemeinschaftsunternehmen der Gründerunternehmen von ENS für den
Reiseverkehr bekannt. Sie hat jedoch ausgeführt: „SNCF, SNCB und BR (und,
nach deren Privatisierung, London & Continental Railways Ltd) sind für den
Reiseverkehr zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Kontinent gemeinsam
an Eurostar beteiligt“, ohne dabei anzugeben, daß sich Randnummer 51 tatsächlich
stillschweigend auf das Unternehmen Eurostar beziehe. Daher mangelt es der
angefochtenen Entscheidung in bezug auf das angebliche Vorhandensein eines von
den Gründern für den Reiseverkehr geschaffenen Netzes von
Gemeinschaftsunternehmen an einer Begründung.
- 158.
- In bezug auf die Beteiligung der Gründer an Gemeinschaftsunternehmen für den
kombinierten Güterverkehr geht aus Nummer 29 der Bekanntmachung der
Kommission von 1993 hervor, daß dann, wenn die Gründer
Gemeinschaftsunternehmen für „nicht zusammengehörige“ Dienstleistungen
gründen, der Wettbewerb beschränkt sein kann, wenn diese „nicht
zusammengehörigen“ Dienstleistungen von den Gründern selbst vertrieben werden.
- 159.
- Die angefochtene Entscheidung enthält keine Angaben dazu, daß die Gründer den
Vertrieb der von ACI, Intercontainer und Autocare angebotenen Leistungen selbst
vornähmen. Das Gericht hat die Klägerinnen durch prozeßleitende Verfügung
aufgefordert, anzugeben, ob sie selbst oder ein drittes Unternehmen die von den
drei erwähnten Unternehmen angebotenen Beförderungsleistungen vertrieben. Aus
ihren Antworten geht hervor, daß keines der Gründerunternehmen den Vertrieb
der von ACI, Intercontainer oder Autocare angebotenen Leistungen übernommen
hat oder diese verkauft. Selbst wenn dies der Fall wäre, so erläutert doch die
angefochtene Entscheidung auf alle Fälle nicht die Gründe, aus denen die
Beteiligung bestimmter oder aller Gründer an einem Netz von
Gemeinschaftsunternehmen, das sich auf anderen als den Märkten der ENS
betätigt, den Wettbewerb zwischen diesen auf der Ebene der Gründung der ENS
beschränkt. Somit ist die Einschätzung der Kommission, daß die
Wettbewerbsbeschränkungen durch das Bestehen eines Netzes von
Gemeinschaftsunternehmen in ihren Wirkungen verschärft würden, nicht
hinreichend begründet.
- 160.
- Nach allem ist die angefochtene Entscheidung hinsichtlich der Beurteilung der
Wettbewerbsbeschränkungen durch die ENS-Vereinbarungen nicht oder
unzureichend begründet.
Zur zweiten Rüge, Verstoß gegen die Verordnung Nr. 1017/68 und Verletzung des durch
die Richtlinie 91/440 geschaffenen rechtlichen Rahmens
Vorbringen der Parteien
- 161.
- Die Klägerinnen sind der Ansicht, die Kommission habe durch die Erteilung der
Auflage in Artikel 2 der angefochtenen Entscheidung von den ihr durch Artikel 5
der Verordnung Nr. 1017/68 verliehenen Befugnissen in einer Weise Gebrauch
gemacht, die mit der Richtlinie 91/440 unvereinbar sei.
- 162.
- Die Kommission habe nämlich den Geltungsbereich der Richtlinie erweitert, da
gemäß Artikel 10 Absatz 1 die Zugangsrechte zu den Infrastrukturen nur den
internationalen Gruppierungen von Eisenbahnunternehmen, wie sie in der
Richtlinie definiert seien, und nicht jedem Verkehrsunternehmer gewährt würden,
der Züge anbieten wolle. Wenn die Kommission von ihren Befugnissen nach der
Verordnung Nr. 1017/68 Gebrauch mache, sei sie außerdem verpflichtet, die vom
Rat festgelegten grundsätzlichen Orientierungen der gemeinsamen Verkehrspolitik
zu berücksichtigen. Die richterliche Kontrolle der von der Kommission gemäß
Artikel 85 des Vertrages vorgenommenen Beurteilung der ENS-Vereinbarungen
sei daher im Kontext der Gemeinschaftsregelung für den Sektor des
Eisenbahnverkehrs auszuüben, die den rechtlichen Rahmen bilde, innerhalb dessen
der Wettbewerb auf diesem Sektor zu funktionieren habe.
- 163.
- Im einzelnen fänden sich die Grundzüge der gemeinsamen Verkehrspolitik der
Gemeinschaft auf dem Eisenbahnsektor gegenwärtig in der Richtlinie 91/440, die
erstmals einen gewissen Grad des intramodalen Wettbewerbs eingeführt habe und
die Verwirklichung des Hauptzwecks der Eisenbahnverkehrspolitik, die
Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Eisenbahnverkehrs und seiner
Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den anderen Verkehrsarten, anstrebe. Nach der
Richtlinie würden jedoch die Zugangs- und Transitrechte nur Unternehmen, die
den Status von Eisenbahnunternehmen hätten, und den von diesen gebildeten
internationalen Gruppierungen gewährt. Ferner gewähre die Richtlinie nur die
Zugangsrechte zur Infrastruktur und verleihe keine Rechte auf die Erbringung von
Bahnleistungen wie z. B. die Stellung der Traktion (Lokomotiven und
Zugpersonal). Sie enthalte auch keine Bestimmungen, die die Verwaltung der
Lokomotiven und des Zugpersonals vom Betrieb der anderen Bahnleistungen
trennten, ebensowenig Bestimmungen über die Aufteilung von Traktionsleistungen
und die Bezahlung dieser Leistungen, was dem Ziel der Richtlinie entspreche, den
Eisenbahnunternehmen eine eigenwirtschaftliche Organisation und eine Anpassung
an die Erfordernisse des Marktes u. a. durch neue Dienstleistungen zu ermöglichen.
- 164.
- Aus den erwähnten Gründen sei die von der Kommission getroffene
Unterscheidung zwischen Eisenbahnunternehmen und Verkehrsunternehmen somit
gekünstelt, denn aus Gründen der Sicherheit und der Haftung für die
Verkehrsrisiken seien nur die Eisenbahnunternehmen zur Einstellung von
Fahrzeugen und Beförderung von Reisenden auf der Eisenbahninfrastruktur
ermächtigt. Neben den Eisenbahnunternehmen und den von diesen gegründeten
internationalen Gruppierungen könne niemand der Öffentlichkeit
Reiseverkehrsleistungen anbieten. Dies schließe nicht die Möglichkeit aus, daß ein
Eisenbahnunternehmen einen ganzen Zug z. B. einer Hotelkette zur Verfügung
stellen und sogar Fahrzeuge vermieten könne, doch selbst in diesem Fall bleibe das
Eisenbahnunternehmen der Verkehrsunternehmer, der sämtliche Risiken im
Zusammenhang mit den Beförderungsleistungen trage. In diesem Beispiel verkaufe
die Hotelkette ihrerseits dem Publikum nur Sitz- oder Liegeplatzkapazitäten im
Zug. Die Kerntätigkeit der Eisenbahnunternehmen sei nicht, eine Grundleistung
sicherzustellen, die darin bestehe, auf Bestellung der Verkehrsunternehmern
Lokomotiven auf Eisenbahnnetzen verkehren zu lassen, um es diesen Unternehmen
zu ermöglichen, Fahrzeuge an eine Lokomotive eines Eisenbahnunternehmens
anzukuppeln und sie auf einer bestimmten Strecke verkehren zu lassen, sondern
dem Publikum unmittelbar integrierte Reiseverkehrsleistungen anzubieten.
- 165.
- Im übrigen sei die ENS zwar ein von vier Eisenbahnunternehmen gegründetes
Gemeinschaftsunternehmen, stelle jedoch in Wirklichkeit eine internationale
Gruppierung von Eisenbahnunternehmen im Sinne von Artikel 3 der Richtlinie
91/440 und nicht ein „Verkehrsunternehmen“ dar. Nach Artikel 5 Absatz 3 der
Richtlinie 91/440 könnten die Eisenbahnunternehmen mit „einem oder mehreren“
anderen Eisenbahnunternehmen eine internationale Gruppierung bilden, eine
besondere Rechtsform werde für einen solchen Zusammenschluß nicht verlangt.
Die Kommission könne auch nicht von den Betriebsvereinbarungen zwischen ENS
und SNCB herleiten, daß die ENS ein Verkehrsunternehmen sei. Die SNCB habe
freiwillig und nicht aufgrund irgendeiner Verpflichtung aus der Richtlinie 91/440
oder dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft vor der endgültigen Aufgabe der
Strecke Brüssel-Glasgow/Plymouth entschieden, der ENS „notwendige
Bahnleistungen“ zu erbringen.
- 166.
- Daher sei die ENS kein auf einem nachgelagerten, von dem Markt ihrer Gründer
getrennten Markt tätiges Verkehrsunternehmen, sondern gerade wegen ihres Status
als internationale Gruppierung von Eisenbahnunternehmen ein Instrument, mittels
dessen ihre Gründer dem Publikum Bahndienstleistungen anböten. Diese
Unterscheidung zwischen einem vorgelagerten und einem nachgelagerten Markt
innerhalb des allgemeinen Eisenbahnmarktes, die die Kommission treffe, um
darzutun, daß die ENS ein Verkehrsunternehmen sei, sei um so mehr gekünstelt,
als beim Reiseverkehr zahlreiche Beförderungsleistungen von „Zügen mit
integrierter Lokomotive“ erbracht würden, bei denen die Lokomotive nur ein vom
übrigen Zug untrennbarer Teil sei, so daß selbst rein technisch betrachtet
unmöglich zwischen diesen beiden Märkten unterschieden werden könne.
- 167.
- Auch nehme der Umstand, daß die ENS sich die Traktion bei
Eisenbahnunternehmen besorgen müsse, um ihre Leistungen anbieten zu können,
ihr nicht die Eigenschaft als internationale Gruppierung im Sinne von Artikel 3 der
Richtlinie, denn es genüge, daß die ENS von diesen Eisenbahnunternehmen
gebildet sei, die definitionsgemäß in der Lage seien, die Traktion zu stellen. Einer
solchen Gruppierung seien die Rechte des Zugangs zur Eisenbahninfrastruktur der
Mitgliedstaaten vorbehalten, in denen ihre Gründerunternehmen niedergelassen
seien. Folgte man dem Vorbringen der Kommission, so würde es im Gegensatz
dazu jedem Unternehmen erlaubt, grenzüberschreitende Reiseleistungen auch dann
anzubieten, wenn es kein Tochterunternehmen von Eisenbahnunternehmen sei und
daher nicht die Traktion über diese Unternehmen gewährleisten könne.
- 168.
- Die Schaffung dieser neuen Kategorie von Verkehrsunternehmen in Verbindung
damit, daß die notwendigen Bahnleistungen als „wesentliche Infrastrukturen“betrachtet würden, nehme der Richtlinie 91/440 ihren Inhalt, denn ein
Eisenbahnunternehmen könne in seiner Eigenschaft als Verkehrsunternehmen
tatsächlich den Zugang zu den Netzen in den Mitgliedstaaten verlangen, ohne daß
es die in der Richtlinie aufgestellten Bedingungen erfüllen müsse, in einem dieser
Mitgliedstaaten niedergelassen zu sein oder eine Gruppierung mit einem in einem
dieser Mitgliedstaaten niedergelassenen Eisenbahnunternehmen gebildet zu haben.
- 169.
- Die Klägerinnen machen ferner geltend, die Kommission habe, indem sie die
Eisenbahnunternehmen verpflichtet habe, Verkehrsunternehmen unter den gleichen
technischen und finanziellen Voraussetzungen, wie sie diese ihrer Gruppierung
gewährten, Lokomotiven und deren Personal zu stellen, außer acht gelassen, daß
der Zugang zur Infrastruktur voraussetze, daß die Traktion gewährleistet sei, und
somit von der Voraussetzung, daß der Berechtigte die Eigenschaft eines
Eisenbahnunternehmens oder einer Gruppierung von Eisenbahnunternehmen habe.
Eine solche Voraussetzung sei im übrigen mit dem Ziel der Richtlinie unvereinbar,
den Eisenbahnunternehmen zum einen den Status eines unabhängigen Betreibers
zu erhalten, der es ihnen ermögliche, sich eigenwirtschaftlich und nach Maßgabe
der Erfordernisse des Marktes zu verhalten (dritte Begründungserwägung), und
ihnen zum anderen zu diesem Zweck die Freiheit zu gewährleisten, „die
Bereitstellung und den Vertrieb der Leistungen [zu] kontrollieren und deren Preise
fest[zu]legen“ (Artikel 5 Absatz 3 der Richtlinie 91/440).
- 170.
- Schließlich machen UIC und NS geltend, die angefochtene Entscheidung führe im
Ergebnis dazu, daß das Recht, internationale Gruppierungen zu bilden,
beeinträchtigt werde, da die Kommission Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages in einer
Weise auslege, bei der die Bildung jeder neuen internationalen Gruppierung
nunmehr einen Verstoß gegen diesen Artikel darstelle. Selbst wenn die Gründung
einer internationalen Gruppierung vom Verbot des Artikels 85 Absatz 1 gemäß
Artikel 85 Absatz 3 freigestellt werden könne, machten die Auflagen, mit denen die
Kommission diese Freistellung im vorliegenden Fall versehen habe, nämlich eine
auf sieben Jahre begrenzte Zeitdauer und die Verpflichtung, jedemVerkehrsunternehmen notwendige Bahnleistungen zu den gleichen Bedingungen
wie der ENS zu erbringen, die Anwendung der Richtlinie 91/440 illusorisch. Die
von der Kommission erteilten Auflagen zwängen die Beteiligten internationaler
Gruppierungen mittelbar dazu, ihrer Gruppierung die „notwendigen
Bahnleistungen“ zu Bedingungen zu erbringen, die keine Vorzugsbedingungen
seien, und nähmen ihnen damit die Freiheit, die geschäftlichen Bedingungen
festzulegen, unter denen sie ihre Leistungen Dritten erbrächten. Die Beteiligten
einer Gruppierung könnten sich so gezwungen sehen, die Vorteile aus ihrer
Zusammenarbeit mit jedem beliebigen Dritten zu teilen, obwohl dieser weder zu
den Kosten der Durchführung eines innovativen Vorhabens beigetragen noch sich
an den geschäftlichen Risiken beteiligt habe, die sich daraus ergäben.
- 171.
- Die Kommission führt aus, das Argument, das Wettbewerbsrecht des EG-Vertrags
gelte nicht für den Eisenbahnverkehr, stehe im Gegensatz zur einschlägigen
Rechtsprechung und sei daher zurückzuweisen (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom
4. April 1974 in der Rechtssache 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359,
und vom 30. April 1986 in den Rechtssachen 209/84, 210/84, 211/84, 212/84 und
213/84, Asjes u. a., Slg. 1986, 1425).
- 172.
- Die gemeinsame Beteiligung der vier Eisenbahnunternehmen sei im vorliegenden
Fall für den Betrieb der von den ENS-Vereinbarungen betroffenen Strecken nicht
notwendig. Jede Strecke, auf der die ENS tätig werde, könne durch eine
internationale Gruppierung betrieben werden, die aus zwei Eisenbahnunternehmen
mit Sitz im Mitgliedstaat des Ausgangspunkts bzw. im Mitgliedstaat des endgültigen
Zieles gebildet werde. So könne die Strecke London-Frankfurt/Dortmund von einer
Gruppierung aus BR und DB, die Zugangsrechte zu den Infrastrukturen in ihrem
Niederlassungsstaat und Transitrechte in Belgien, Frankreich und im Kanaltunnel
besäßen, bedient werden. Ebenso könne der Verkehr zwischen London und
Amsterdam von einer Gruppierung aus BR und NS, die über Zugangsrechte im
Vereinigten Königreich und in den Niederlanden sowie Transitrechte in Belgien,
Frankreich und im Kanaltunnel verfügten, betrieben werden.
- 173.
- Dieses Ergebnis werde durch drei Gesichtspunkte untermauert. Erstens sei die ENS
kein Eisenbahnunternehmen im Sinne der Richtlinie, sondern ein
Verkehrsunternehmen, das die notwendigen Bahnleistungen bei
Eisenbahnunternehmen einkaufe, um die betreffenden Nachtzugverkehrsleistungen
erbringen zu können. Die Kommission weist das Argument der Klägerinnen zurück,
daß die ENS nur ein Instrument sei, mittels dessen die Gründer in dem von der
Richtlinie 91/440 geschaffenen rechtlichen Rahmen der Öffentlichkeit internationale
Bahnverkehrsleistungen erbringen könnten. Denn die ENS übe nicht selbst das
Recht aus, das die Richtlinie internationalen Gruppierungen von
Eisenbahnunternehmen verleihe, nämlich eigene Züge unter Stellung ihrer eigenen
Bahntraktion zu betreiben, da sie diese Leistungen bei ihren Gründerunternehmen
und bei der SNCB einkaufen müsse. Daher falle die ENS nicht in den von der
Richtlinie erfaßten Bereich, denn sie sei in Wirklichkeit nur eine Variation der
herkömmlichen Form der Zusammenarbeit zwischen Eisenbahnunternehmen, undentgegen der Auffassung der Klägerinnen betätigten sich die ENS und die
betroffenen Eisenbahnunternehmen somit nicht auf demselben Markt. Deshalb sei
das Argument, daß die Entscheidung im Widerspruch zur Richtlinie stehe und die
Kategorie der zu den Eisenbahninfrastrukturen zugangsberechtigten Unternehmen
erweitere, nicht stichhaltig. Die Kommission stützt ihr Vorbringen, die ENS und
ihre Gründerunternehmen betätigten sich auf zwei getrennten Märkten, auf die
Rechtsprechung, nach der in bestimmten Fällen zwischen zwei Märkten zu
unterscheiden sei, die zwar benachbart, aber dennoch getrennt seien (Urteile des
Gerichtshofes vom 6. März 1974 in den Rechtssachen 6/73 und 7/73, Commercial
Solvents u. a./Kommission, Slg. 1974, 223, vom 31. Mai 1979 in der Rechtssache
22/78, Hugin/Kommission, Slg. 1979, 1869, und vom 3. Oktober 1985 in der
Rechtssache 311/84, CBEM, Slg. 1985, 3261; Urteile des Gerichts vom 10. Juli 1991
in der Rechtssache T-69/89, RTE/Kommission, Slg. 1991, II-485, und in der
Rechtssache T-70/89, BBC/Kommission, Slg. 1991, II-535).
- 174.
- Auf das Vorbringen der Klägerinnen, die Unterscheidung zwischen dem Markt für
Beförderungsleistungen und dem Markt für notwendige Bahnleistungen sei um so
weniger gerechtfertigt, als eine Reihe von Beförderungsleistungen im Bereich des
Reiseverkehrs durch „Züge mit integrierter Lokomotive“ erbracht würden, bei
denen die Lokomotive ein untrennbarer Bestandteil des gesamten Zuges sei,
erwidert die Kommission, die ENS selbst erhalte von ihren Gründerunternehmen
nur die Lokomotive, die Wagen aber von anderer Seite.
- 175.
- Zweitens werde die Strecke Brüssel-Glasgow/Plymouth von der ENS betrieben,
obwohl die SNCB an der Vereinbarung nicht beteiligt sei, was beweise, daß die
Beteiligung jedes der vier in den betroffenen Mitgliedstaaten niedergelassenen
Eisenbahnunternehmen keine unerläßliche Bedingung für das Angebot der
betreffenden Leistungen sei.
- 176.
- Drittens hätten BR, SNCF und Intercontainer ein Gemeinschaftsunternehmen mit
der Bezeichnung ACI gegründet, das auf den kombinierten Güterverkehr zwischen
dem Vereinigten Königreich und dem Kontinent spezialisiert sei und bei dem es
sich auch nicht um ein Eisenbahnunternehmen im Sinne der Richtlinie, sondern um
ein Verkehrsunternehmen handele, zu dessen Gesellschaftern im übrigen nur zwei
Eisenbahnunternehmen gehörten und das seine Tätigkeit ähnlich wie die ENS
gestalte, d. h. in Form des Erwerbs der notwendigen Bahnleistungen bei
Eisenbahnunternehmen, um Beförderungsleistungen anbieten zu können.
- 177.
- Verkehrsunternehmen, die nicht selbst den Status eines Eisenbahnunternehmens
hätten und die daher nicht über Zugangsrechte zur Eisenbahninfrastruktur
verfügten, müßten dennoch Bahnverkehrsleistungen anbieten können, indem sie wie
ENS und ACI bei Eisenbahnunternehmen die Traktionsdienstleistungen und die
Rechte des Zugangs zur Infrastruktur einkauften. Daher könne das Recht,
Bahnreiseverkehrsleistungen anzubieten, nicht der ENS vorbehalten werden. Der
Präsident der ENS habe im übrigen mit Schreiben an die Kommission vom 13.April 1994 (Klagebeantwortung, Anlage 6) die Vereinbarung der
Eisenbahnunternehmen über die Erbringung der erforderlichen Leistungen an
Konkurrenten auf denselben Strecken bestätigt. Die ENS habe die Kommission
sogar vor dem erwähnten Schreiben mit Schreiben vom 4. Juni 1992 von der
Entscheidung der Anmeldenden unterrichtet, die Traktion und die anderen
notwendigen Bahnleistungen der Konkurrenten der ENS, die auf den von der ENS
bedienten Strecken tätig würden, „ohne Bedingungen“ zu erbringen.
- 178.
- Im übrigen werde die Unabhängigkeit der Eisenbahnunternehmen durch die
erteilte Auflage in keiner Weise beschnitten. Wie alle Unternehmen in der
Gemeinschaft unterlägen diese Unternehmen dem Diskriminierungsverbot und den
Bestimmungen des Wettbewerbsrechts, wie sich aus den erwähnten Urteilen des
Gerichtshofes in den Rechtssachen Kommission/Frankreich sowie Asjes u. a.
ergebe.
- 179.
- Schließlich weist die Kommission die Rüge der Klägerinnen zurück, wonach sie der
Ansicht sei, daß alle internationalen Gruppierungen in den Geltungsbereich von
Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages fielen, und sie den anmeldenden Unternehmen
abschreckende Auflagen mache, die die Ziele der Richtlinie 91/440 und die
Gründung weiterer internationaler Gruppierungen gefährdeten. Die Förderung der
Bildung dieser Gruppierungen bedeute nicht, daß alle internationalen
Gruppierungen von Eisenbahnunternehmen automatisch als mit dem
gemeinschaftlichen Wettbewerbsrecht vereinbar angesehen werden müßten.
Würdigung durch das Gericht
- 180.
- Nach der angefochtenen Entscheidung treten die betroffenen
Eisenbahnunternehmen auf zwei Märkten auf, einem vorgelagerten Markt, nämlich
dem Markt der Erbringung der notwendigen Bahnleistungen, und einem
nachgelagerten Markt, nämlich dem Markt der Erbringung der
Reiseverkehrsleistungen. Auf dem letztgenannten Markt betätigten sich nicht nur
die Eisenbahnunternehmen, sondern auch eine andere Unternehmenskategorie, die
Verkehrsunternehmen, die jedoch, um auf diesem Markt tätig werden zu können,
gezwungen seien, zuvor die von den Eisenbahnunternehmen auf dem vorgelagerten
Markt angebotenen notwendigen Bahnleistungen einzukaufen. Die ENS stelle ein
konkretes Beispiel dieser Kategorie von Verkehrsunternehmen dar, so daß jede
Vorzugsbehandlung dieses Unternehmens durch die anmeldenden Unternehmen
auch Dritten zu den gleichen technischen und finanziellen Bedingungen gewährt
werden müsse, unabhängig davon, ob sich es bei diesen um internationale
Gruppierungen oder Verkehrsunternehmen handele. Schließlich betreffen nach
Artikel 2 der Entscheidung die fraglichen notwendigen Leistungen die Stellung der
Lokomotive, ihres Personals und der Fahrplantrasse in jedem nationalen Netz
sowie im Kanaltunnel.
- 181.
- Daher ist zu prüfen, ob die Kommission, indem sie den Gründern die Auflage
gemacht hat, die notwendigen Bahnleistungen nicht nur internationalenGruppierungen, sondern auch Verkehrsunternehmen wie der ENS zu erbringen,
wie die Klägerinnen geltend machen, das Wettbewerbsrecht unter Verletzung des
durch die Richtlinie 91/440 geschaffenen rechtlichen Rahmens angewandt hat, so
daß die angefochtene Entscheidung entweder wegen Ermessensmißbrauchs oder
mangelnder Zuständigkeit fehlerhaft sei. Für eine solche Untersuchung ist zuvor
die Frage zu beantworten, ob die ENS, wie die Kommission vorträgt, ein
Verkehrsunternehmen ist, oder vielmehr, wie die Klägerinnen vortragen, eine
internationale Gruppierung im Sinne der Richtlinie 91/440. Aufgrund der Antwort
auf diese Frage ist auch zu prüfen, ob die Kommission die
Wettbewerbsbeschränkungen zwischen den Gründern zutreffend untersucht hat, die
sich daraus ergeben sollen, daß jedes der an den ENS-Vereinbarungen beteiligten
Eisenbahnunternehmen entweder ein spezialisiertes Unternehmen als
Verkehrsunternehmen gründen oder sich selbst in die Situation eines
Verkehrsunternehmens versetzen und der ENS dadurch Konkurrenz machen
könnte, daß es bei den betreffenden Eisenbahnunternehmen die gleichen
notwendigen Bahndienstleistungen einkauft (oben, Randnrn. 147 und 148).
- 182.
- Nach Artikel 3 der Richtlinie 91/440 wird eine internationale Gruppierung definiert
als „die Verbindung von mindestens zwei Eisenbahnunternehmen mit Sitz in
verschiedenen Mitgliedstaaten zum Zwecke der Erbringung grenzüberschreitender
Verkehrsleistungen zwischen Mitgliedstaaten“. Diese Bestimmung legt nicht die
genaue Form fest, die eine solche Verbindung haben muß. Das wesentliche
Merkmal, das dieser Definition zu entnehmen ist, besteht darin, daß es sich um
eine Art Verbindung handeln muß, die die Erbringung grenzüberschreitender
Verkehrsleistungen also unabhängig von der hierfür gewählten Form ermöglichen
muß. Daher ist das Gericht der Auffassung, daß die Verwendung des Begriffes
„internationale Gruppierung“ entgegen dem Vorbringen der Kommission in
Ermangelung einer genauen Definition im Wortlaut der Richtlinie 91/440 nicht
allein Verbindungsformen der „kooperativen“ Art zwischen Eisenbahnunternehmen
(herkömmliche gemeinschaftliche Betriebsvereinbarungen) unter Ausschluß aller
anderen Gesellschaftsformen wie eines Gemeinschaftsunternehmens kooperativer
Art oder gar mit Zusammenschlußcharakter vorbehalten werden kann.
- 183.
- Dieses Ergebnis wird auch nicht durch das Argument widerlegt, daß die Richtlinie
91/440 gemäß ihrem Artikel 2 nur für Eisenbahnunternehmen gilt, d. h. nur für
Unternehmen, deren Haupttätigkeit im Erbringen von Eisenbahnverkehrsleistungen
zur Beförderung von Gütern oder Personen besteht und die selbst die Traktionsicherstellen (Artikel 3 der Richtlinie 91/440), so daß sich die ENS nicht auf die
Richtlinie und ihre Eigenschaft einer internationalen Gruppierung berufen könne,
da sie die Traktion bei den anmeldenden Unternehmen einkaufe. Erstens hat die
Kommission, wie sie selbst in ihren Schriftsätzen ausführt, beim Erlaß der Richtlinie
91/440 in einer gemeinsamen Erklärung mit dem Rat klargestellt, daß der Begriff
Traktion nicht notwendigerweise das Eigentum an dieser umfaßt. Zwar haben
solche Erklärungen keine Rechtswirkung, doch hat die Kommission die erwähnte
Erklärung bereits in ihre einschlägige Entscheidungspraxis übernommen, wie sichaus Randnummer 6 ihrer Entscheidung 93/174/EG vom 24. Februar 1993 in einem
Verfahren nach Artikel 85 EWG-Vertrag (IV/34.494 - „Tarifstrukturen im
kombinierten Güterverkehr“) (ABl. L 73, S. 38) ergibt, wonach
Eisenbahnunternehmen „jedes Unternehmen [bedeutet], das seinen Sitz in einem
Mitgliedstaat hat oder haben wird und das die Eisenbahn-Traktionsleistung
sicherstellt, wobei der Begriff der Traktionsleistung nicht unbedingt das Eigentum
an dem Traktionsmaterial oder den Einsatz eigenen Personals bedeutet“.
- 184.
- Da zweitens, wie festgestellt, eine internationale Gruppierung die Form eines
kooperativen Gemeinschaftsunternehmens wie die ENS annehmen kann, ergibt sich
bereits aus der Natur einer solchen Form, daß die Gründer in ihrer Eigenschaft als
Eisenbahnunternehmen und in Ausübung der ihnen in der Richtlinie zugebilligten
Rechte ihrem Gemeinschaftsunternehmen, anstatt es unmittelbar mit dem für seine
Funktionen auf dem Markt erforderlichen Material und Personal auszustatten,
diese Leistungen aufgrund von mit ihm abgeschlossenen
Kooperationsvereinbarungen stellen können, ohne daß die Entscheidung für eine
solche Organisationsform des Gemeinschaftsunternehmens seine rechtliche
Qualifizierung als internationale Gruppierung im Sinne der Richtlinie 91/440 in
Frage stellen kann. Denn, wie die Klägerinnen von der Kommission
unwidersprochen in ihren schriftlichen Antworten auf die Fragen des Gerichts und
in der mündlichen Verhandlung erklärt haben, beruhte die Entscheidung, der ENS
die Lokomotiven und das dazugehörige Personal aufgrund von
Betriebsvereinbarungen zu stellen, allein auf steuerlichen Erwägungen und nicht
darauf, daß die ENS auf dem Markt als Verkehrsunternehmen tätig werden sollte.
Der Umstand, daß die ENS im Vereinigten Königreich nicht als
Eisenbahnunternehmen registriert ist, wie die Klägerinnen in ihren Antworten auf
die schriftlichen Fragen des Gerichts mitgeteilt haben, ändert nichts an ihrer
rechtlichen Einstufung als internationale Gruppierung, denn, wie die Kommission
selbst in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, reichen die
Eisenbahnkonzessionen der Gründerunternehmen dafür aus, daß die Züge der ENS
auf den betreffenden Linien verkehren können.
- 185.
- Drittens geht aus den Akten hervor, daß, wie die Klägerinnen geltend gemacht
haben, die Tätigkeit eines Verkehrsunternehmens im wirtschaftlichen Kontext des
Eisenbahnsektors beim Bahnreiseverkehr unbekannt ist. Im übrigen hat die
Kommission weder in der angefochtenen Entscheidung noch in ihren Schriftsätzen
Beispiele für eine solche Unternehmenskategorie auf dem Gebiet des
Bahnreiseverkehrs gegeben. Der Hinweis der Kommission auf das Unternehmen
ACI ist in diesem Zusammenhang unerheblich, denn er verkennt die
Besonderheiten des Bahnreiseverkehrsmarktes, der sich eindeutig vom Markt für
den kombinierten Güterverkehr unterscheidet, auf dem die ACI als
Verkehrsunternehmen tätig ist. Genauer gesagt verkaufen die Bahnunternehmen
auf dem Markt des kombinierten Güterverkehrs, von ganz wenigen Ausnahmen für
umfangreiche Sendungen abgesehen, keine Beförderungsleistungen unmittelbar an
die Verlader. Auf diesem Markt werden die Leistungen im kombinierten
Güterverkehr von den Unternehmen für kombinierten Güterverkehr, bei denen essich gegebenenfalls um Tochtergesellschaften von Eisenbahnunternehmen handelt,
organisiert und den Verladern verkauft. Diese Unternehmen sind
Beförderungsunternehmen, die über spezielles Material, nämlich Flurfördermittel
und Spezialwaggons, verfügen, und die für die Erbringung ihrer Dienstleistungen
Eisenbahntraktionsleistungen und den Zugang zu den Infrastrukturen bei den
Eisenbahnunternehmen kaufen müssen, die diese allein liefern können (Randnrn.
6 bis 8 der erwähnten Entscheidung ACI und der Entscheidung 94/210/EG der
Kommission vom 29. März 1994 in einem Verfahren zur Anwendung von Artikel
85 und 86 EG-Vertrag [IV/33.941 - HOV-SVZ/MCN] [ABl. L 104, S. 34. Randnrn.
10 bis 12]).
- 186.
- Zwar ist gegenwärtig der Markt für den kombinierten Güterverkehr mit der
Eisenbahn durch eine gewisse Öffnung in dem Sinne gekennzeichnet, daß die
Eisenbahnunternehmen nicht allein auf ihm tätig sind, doch gilt dies nicht für den
Markt des Reiseverkehrs, auf dem sich nur die Eisenbahnunternehmen und in
gewissen Grenzen deren internationale Gruppierungen betätigen.
- 187.
- Daher kann die Kommission nicht die Merkmale eines getrennten und
unterschiedlichen Marktes, des Marktes für den kombinierten Güterverkehr,
heranziehen, um die Einstufung der ENS als Verkehrsunternehmen zu
rechtfertigen.
- 188.
- Dieses Ergebnis wird auch nicht dadurch entkräftet, daß die ENS ursprünglich die
Strecke Brüssel-Glasgow/Plymouth bedienen sollte, obwohl die SNCB, von der die
ENS das Recht auf Zugang zur belgischen Infrastruktur erhalten hatte, nicht zu
ihren Gründern zählt. Denn es handelte sich hier, wie die Klägerinnen geltend
gemacht haben, um eine herkömmliche Kooperationsvereinbarung zwischen
verschiedenen Netzen. Im übrigen wird die Möglichkeit, daß die ENS als
internationale Gruppierung im Sinne der Richtlinie 91/440 solche Vereinbarungen
mit dritten Eisenbahnunternehmen schließen konnte, um einen vertraglichen
Zugang zu deren Infrastruktur zu erhalten, durch die Richtlinie nicht in Frage
gestellt.
- 189.
- Ohne daß geprüft zu werden braucht, ob die Kommission ihr Ermessen mißbraucht
hat oder ob die angefochtene Entscheidung einen Zuständigkeitsmangel aufweist,
ergibt sich aus den bisherigen Ausführungen, daß die Einschätzung der Kommission
in bezug auf die rechtliche Qualifizierung der ENS als Verkehrsunternehmen von
falschen Voraussetzungen ausgeht. Da die Tätigkeit von Verkehrsunternehmen, wie
zuvor festgestellt, auf dem Markt für den Bahnreiseverkehr gegenwärtig keine
Rolle spielt, beruht im übrigen die Untersuchung der Kommission hinsichtlich der
Wettbewerbsbeschränkungen zwischen den Gründern, die sich daraus ergeben
sollen, daß sich jeder von ihnen auf dem betroffenen Markt als
Verkehrsunternehmen in Konkurrenz zur ENS und den anderen Gründern
betätigen könne (siehe Randnr. 147), auf denselben falschen Voraussetzungen und
ist daher zurückzuweisen (siehe Randnr. 148).
Zur dritten Rüge: Unverhältnismäßigkeit und fehlende Notwendigkeit der in Artikel 2
der angefochtenen Entscheidung erteilten Auflage
Vorbringen der Parteien
- 190.
- EPS, ENS und SNCF machen geltend, die Kommission habe, indem sie den
anmeldenden Unternehmen zur Auflage gemacht habe, anderen internationalen
Gruppierungen und Verkehrsunternehmen die gleichen notwendigen
Bahnleistungen zu erbringen wie der ENS, die Lehre von den „wesentlichen
Infrastrukturen“ falsch angewandt, da abgesehen von der durch die Richtlinie
91/440 unter bestimmten Voraussetzungen vorgesehenen Stellung von
Fahrplantrassen keine der der ENS erbrachten Dienstleistungen die
Voraussetzungen für die Anwendung dieser Lehre erfüllen könne. Die NS fügt
hinzu, eine solche Verpflichtung stelle nicht nur die von den
Eisenbahnunternehmen unternommenen Anstrengungen zur Bildung internationaler
Gruppierungen in Frage, sondern zwinge diese auch, die Früchte ihrer
Zusammenarbeit mit Dritten zu teilen, ohne daß diese die eingegangene
geschäftlichen Risiken zu tragen hätten. Die wirtschaftlichen Auswirkungen einer
Verpflichtung der Eisenbahnunternehmen, Verkehrsunternehmen notwendige
Leistungen unter Voraussetzungen zu erbringen, die sie nicht frei bestimmen
könnten, komme einer Enteignung gleich.
- 191.
- Die Klägerinnen machen weiter geltend, die Lehre von den wesentlichen
Infrastrukturen finde nur im Rahmen von Artikel 86 des Vertrages Anwendung,
und zwar dann, wenn ein Unternehmen Wettbewerbern den Zugang zu
Einrichtungen oder Dienstleistungen verweigere, die sowohl für die
Wettbewerbsfähigkeit des Konkurrenten als auch für das Vorhandensein von
Wettbewerb wesentlich seien.
- 192.
- Im vorliegenden Fall habe die Kommission nicht zwischen den Anlagen oder
Leistungen unterschieden, die lediglich einen Vorteil für die Konkurrenten böten,
und denjenigen, die für die Aufrechterhaltung des Wettbewerbs wesentlich seien.
Insbesondere die letztere Voraussetzung sei nicht geprüft worden, da zum einen
zwar der Besitz oder die Beherrschung der Infrastruktur als „wesentliche Anlage
oder Dienstleistung“ betrachtet werden könne, der Zugang zu dieser jedoch den
internationalen Gruppierungen durch die Richtlinie 91/440 gewährleistet werde und
da zum anderen die Entscheidung in bezug auf die für den Nachtzugverkehr durch
den Kanaltunnel benutzten Lokomotiven und das Fahr- oder Wartungspersonal
nicht den geringsten Beweis dafür enthalte, daß die Eisenbahnunternehmen hierzu
einen ausschließlichen Zugang hätten oder daß jeder gegenwärtige oder potentielle
Wettbewerber Schwierigkeiten hätte, sie zu erhalten. ENS und EPS führen hierzu
aus, die speziell für die Durchquerung des Kanaltunnels konzipierten oder dafür
geeigneten Lokomotiven könnten auf einem freien Markt bei den Herstellern
erworben oder bei anderen Erlangern von Bahnleistungen angemietet werden. Die
Kommission habe auch nicht die Frage der Verfügbarkeit der Lokomotiven oder
des Zugpersonals untersucht und nicht dargetan, daß ein Mangel an qualifiziertemBahnpersonal herrsche. Weiter verpflichte die erteilte Auflage die
Eisenbahnunternehmen, internationalen Gruppierungen und Verkehrsunternehmen
die notwendigen Bahnleistungen in ihrem Netz zu erbringen, d. h. über die
betroffenen Strecken hinaus und außerhalb von diesen.
- 193.
- Ferner sei die erteilte Auflage nicht notwendig. Zum einen weise sie keinen Bezug
zu der ersten in der Entscheidung festgestellten Wettbewerbsbeschränkung auf, die
angeblich zwischen den Beteiligten infolge der Gründung des
Gemeinschaftsunternehmens besteht. Zum anderen sei sie im Zusammenhang mit
der Wettbewerbsbeschränkung gegenüber Dritten nicht gerechtfertigt, die sich aus
der beherrschenden Stellung der Muttergesellschaften der ENS bei der Lieferung
von Bahnleistungen in ihrem Herkunftsmitgliedstaat ergeben solle. Zunächst habe
keines der Eisenbahnunternehmen eine ausschließliche Beziehung zum ENS
begründet, so daß es ihnen freistehe, ihre Lokomotiven, ihr Personal und die
gesamten Strecken, an denen sie die Rechte besäßen, jedem anderen Unternehmen
zugute kommen zu lassen. Im übrigen verfüge die ENS nicht über eine
beherrschende Stellung, da die Märkte des Geschäftsreiseverkehrs und des
Freizeitreiseverkehrs auf den betroffenen Strecken auch vom Luftverkehr, Bussen
und privaten Kraftfahrzeugen bedient würden; die Weigerung, einem Dritten die
in der Entscheidung angesprochenen Leistungen zu erbringen, habe somit keine
Auswirkungen auf den Wettbewerb auf diesen nachgelagerten Märkten. Daher sei
es nicht unerläßlich, daß ein künftiger Erbringer von Reiseverkehrsleistungen die
in Rede stehenden Bahnleistungen erhalte, um sich auf dem in der Entscheidung
definierten Markt zu betätigen. Auf alle Fälle habe die Kommission für ihre
Behauptung, das Gemeinschaftsunternehmen bringe die Gefahr mit sich, daß die
anderen Wirtschaftsteilnehmer in eine nachteilige Position versetzt würden,
keinerlei von Dritten, beispielsweise gegenwärtigen oder potentiellen Anbietern
konkurrierender Leistungen, stammende Beweise vorgelegt. Die Sorge der
Kommission sei daher rein hypothetisch.
- 194.
- Die Kommission weist vorab darauf hin, daß eine ähnliche Bedingung in der
ACI-Entscheidung aufgestellt worden sei - die ACI sei ein
Gemeinschaftsunternehmen von BR, SNCF und Intercontainer für den
Güterverkehr zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Kontinent - ohne daß
diese Entscheidung von den Gründerunternehmen angefochten worden sei.
- 195.
- Auch verlange die erteilte Auflage von den Gründerunternehmen der ENS nicht,
Dritten sämtliche Leistungen zu erbringen, die sie ihrer gemeinsamen
Tochtergesellschaft erbrächten (wie Reinigung und Vermarktung), insbesondere sei
den Gründerunternehmen der ENS keine Auflage in bezug auf das rollende
Material erteilt worden, dessen Erwerbskosten doch nach dem Vorbringen der
Gründerunternehmen selbst das wichtigste Hindernis für den Zugang zum Markt
darstellten.
- 196.
- Im übrigen werde der Zugang zur Eisenbahninfrastruktur gegenwärtig in den
meisten Fällen von den Eisenbahnunternehmen in ihrer Eigenschaft als Betreiber
der Infrastruktur kontrolliert; der Zugang zur Infrastruktur stelle auch eine
erhebliche Schranke für den Zugang zum Eisenbahnsegment des betreffenden
Marktes dar. Sofern es sich bei den Betreibern der Infrastruktur und den
Eisenbahnunternehmen um unterschiedliche Unternehmenseinheiten handele,
bleibe somit die Verpflichtung dieser Unternehmen aufgrund der erteilten Auflage
ohne Auswirkungen.
- 197.
- Obwohl die speziellen Lokomotiven und ihr Personal theoretisch anderen als den
Eisenbahnunternehmen, die die ENS gegründet hätten, gehören und gegebenenfalls
von den Verkehrsunternehmen gekauft bzw. angemietet werden könnten, besäßen
nur die Gründerunternehmen der ENS sie tatsächlich. In der Praxis sei es daher
den Verkehrsunternehmen tatsächlich unmöglich, eine Alternative zu finden. Unter
diesen Umständen lasse sich nicht leugnen, daß die Eisenbahnunternehmen auf
dem Markt für die wesentlichen Dienstleistungen eine beherrschende Stellung
einnähmen, was nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts
(Urteile Istituto Chemioterapico Italiano und Commercial Solvents/Kommission,
CBEM, RTE/Kommission und BBC/Kommission, bereits zitiert) die erteilte
Auflage rechtfertige.
- 198.
- Zur Rüge der Unverhältnismäßigkeit der Auflage macht die Kommission geltend,
das Recht auf Zugang zur Infrastruktur, das die Richtlinie den
Eisenbahnunternehmen und den internationalen Gruppierungen dieser
Unternehmen vorbehalte, bedeute nicht, daß andere Verkehrsunternehmen nicht
die gleichen Leistungen erbringen könnten, wie sie die ENS anbiete. Da nur
Eisenbahnunternehmen Zugang zur Infrastruktur hätten und ein Unternehmen, das
neu auf dem Markt auftrete, nach der Richtlinie nicht das Recht habe, selbst von
den betroffenen Betreibern der Infrastruktur Fahrplantrassen zu verlangen, müßten
die Eisenbahnunternehmen den Verkehrsunternehmen eine Fahrplantrasse stellen,
um deren Zugang zum Markt zu gewährleisten. Außerdem betreffe die Auflage nur
die Bahnleistungen, die für den Zugang zum Eisenbahnsegment der relevanten
Märkte unerläßlich seien, so daß sie nicht unverhältnismäßig sei und es ermögliche,
die Präsenz mehrerer Eisenbahnverkehrsunternehmen zu gewährleisten, um den
Wettbewerb mit anderen Verkehrsarten zu verstärken.
- 199.
- Im übrigen wendet sich die Kommission gegen die Auslegung, daß die den
betroffenen Eisenbahnunternehmen erteilte Auflage diese verpflichte, auf dem
gesamten Netz, d. h. über die betroffenen Strecken hinaus, die notwendigen
Bahnleistungen zu erbringen; die genannte Verpflichtung betreffe nur den Zugang
zu den Märkten, die in der angefochtenen Entscheidung bezeichnet worden seien.
- 200.
- Schließlich sei es unerheblich, daß die Vereinbarung zwischen den
Eisenbahnunternehmen und der ENS nicht ausschließlich sei, denn da sich die
Eisenbahnunternehmen im Rahmen der Vereinbarung Gewinne und Verluste derENS teilten, sei es wenig wahrscheinlich, daß diese Unternehmen möglichen
Wettbewerbern Leistungen erbrächten.
- 201.
- Das Vereinigte Königreich als Streithelfer führt aus, die erteilte Auflage könne
nicht als unerläßlich betrachtet werden, da die Kommission in Randnummer 65
ihrer Entscheidung bereits die Ansicht vertreten habe, daß die
Wettbewerbsbeschränkungen im vorliegenden Fall notwendig seien. Die
vorgebrachte Rechtfertigung, es sei notwendig, die Präsenz von
Eisenbahntransportunternehmen, die im Wettbewerb mit der ENS stünden, auf
dem Markt zu gewährleisten, liege im übrigen neben der Sache, da es solche
konkurrierenden Unternehmen nicht gebe. Somit habe die Kommission die
Wettbewerbsbedingungen dadurch verfälscht, daß sie Wirtschaftsteilnehmer
künstlich ermutige, auf den Markt vorzudringen, wofür sie nach Artikel 13 der
Verordnung Nr. 1017/68 nicht zuständig sei.
- 202.
- Die angefochtene Entscheidung weise auch einen Begründungsmangel auf, denn
sie lege nicht angemessen und ausreichend die Gründe dar, aus denen die
Kommission die Lehre von den „wesentlichen Infrastrukturen“ angewandt habe.
Auf alle Fälle seien die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Lehre nicht
gegeben. Da zum einen die Eisenbahnunternehmen auf den Märkten, die die
Kommission in ihrer Entscheidung bezeichnet habe, keine beherrschende Stellung
einnähmen, könnten die fraglichen Bahnleistungen nicht als wesentlich für den
Zugang von Wettbewerbern zu diesen Märkten eingestuft werden. Die
Rechtfertigung der erteilten Auflage mit der Segmentierung der betroffenen
Märkte beweise im übrigen die Unvollständigkeit der Erwägungen der Kommission,
die sich insoweit in Widerspruch zu der in der Entscheidung dargelegten
Marktanalyse gesetzt habe. Da zum anderen die Kommission in ihrer Entscheidung
ausführe, daß die Beteiligten der ENS-Vereinbarungen neuen Marktteilnehmern
die unerläßlichen „nötigen Bahnleistungen“ zu erbringen hätten, wenn diese sie
nicht selbst erbringen könnten, räume sie somit stillschweigend ein, daß die
Eisenbahnunternehmen die Anlagen und Dienstleistungen, zu denen der Zugang
als wesentlich betrachtet werde, nicht allein kontrollierten, so daß die erteilte
Auflage durch den Sachverhalt nicht gerechtfertigt sei.
- 203.
- Auf das Vorbringen des Vereinigten Königreichs erwidert die Kommission
zunächst, die Feststellung, daß eine Vereinbarung über die Gründung eines
Gemeinschaftsunternehmens Wettbewerbsbeschränkungen mit sich bringe, die als
notwendig anzusehen seien, bedeute nicht, daß alle Beschränkungen unerläßlich
seien. Mit der erteilten Auflage solle gerade verhindert werden, daß die
Wettbewerbsbeschränkungen über das Unerläßliche hinausgingen. Im übrigen
beruhe die Auflage auf einer Besorgnis, die sich von der Theorie der „wesentlichen
Infrastrukturen“ unterscheide und mit der im vorliegenden Fall gewährleistet
werden solle, daß die in Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages und Artikel 5 der
Verordnung Nr. 1017/68 verlangten Voraussetzungen für die Freistellung erfüllt
seien.
- 204.
- Schließlich sei es auf einem zusammengesetzten Markt, wie er in der Entscheidung
definiert werde, nicht notwendig, daß die Zugangsbeschränkungen auf allen
Segmenten des Marktes errichtet worden seien. Würde in dieser Weise verfahren,
so fielen beim Vorherrschen einer Beförderungsart auf dem multimodalen Markt
nur die Hindernisse für den Zugang Dritter zu dieser Beförderungsart unter Artikel
85 des Vertrages, während auf die anderen Beförderungsarten das
Wettbewerbsrecht nicht anwendbar sei.
Würdigung durch das Gericht
- 205.
- Nach Randnummer 79 der angefochtenen Entscheidung wurde die Auflage in
Artikel 2 ihres Verfügungsteils erteilt, „damit die Wettbewerbsbeschränkungen
nicht über das unerläßliche Mindestmaß hinausgehen“.
- 206.
- Wie sich aus der Untersuchung der ersten und der zweiten Rüge ergibt, ist davon
auszugehen, daß die Kommission in der angefochtenen Entscheidung den
wirtschaftlichen und rechtlichen Kontext, in den die ENS-Vereinbarungen gehören,
nicht richtig und ausreichend gewürdigt hat. Daher ist nicht dargetan worden, daß
die ENS-Vereinbarungen den Wettbewerb im Sinne von Artikel 85 Absatz 1 des
Vertrages beschränken und für sie daher eine Freistellung nach Artikel 85 Absatz
3 des Vertrages notwendig ist. Somit konnte die Kommission, da die angefochtene
Entscheidung weder aussagekräftige Untersuchungen zur Struktur und zum
Funktionieren des Marktes, auf dem die ENS tätig ist, noch zu dem auf diesem
Markt herrschenden Grad des Wettbewerbs und infolgedessen zu Art und Umfang
der angeblichen Wettbewerbsbeschränkungen enthielt, nicht beurteilen, ob die in
Artikel 2 der angefochtenen Entscheidung erteilte Auflage im Rahmen einer
Freistellung gemäß Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages unerläßlich ist.
- 207.
- Selbst wenn die Kommission jedoch die in Rede stehenden
Wettbewerbsbeschränkungen ausreichend und richtig gewürdigt hätte, wäre zu
prüfen, ob die Kommission Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages richtig angewandt
hat, als sie den anmeldenden Unternehmen zur Auflage machte, Fahrplantrassen,
Lokomotiven und ihr Personal Dritten zu den gleichen Bedingungen wie der ENS
zu stellen, da sie unerläßlich seien oder, wie die Parteien in ihren Schriftsätzen und
in der mündlichen Verhandlung erörtert haben, wesentliche Infrastrukturen
darstellten.
- 208.
- Nach der Rechtsprechung zur Anwendung von Artikel 86 des Vertrages kann ein
Erzeugnis oder eine Dienstleistung nur dann als wesentlich oder unerläßlich
angesehen werden, wenn es keinen tatsächlichen oder potentiellen Ersatz dafür gibt
(Urteil des Gerichtshofes vom 6. April 1995 in den Rechtssachen C-241/91 P und
C-242/91 P, RTE und ITP/Kommission, Slg. 1995, I-743, Randnrn. 53 und 54, und
Urteil des Gerichts vom 12. Juni 1997 in der Rechtssache T-504/93, Tiercé
Ladbroke/Kommission, Slg. 1997, II-923, Randnrn. 131).
- 209.
- Handelt es sich daher, wie im vorliegenden Fall, um eine Vereinbarung über die
Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens, das unter Artikel 85 Absatz 1 des
Vertrages fällt, so kann nur dann davon ausgegangen werden, daß sich die
Mutterunternehmen und/oder das auf diese Weise geschaffene
Gemeinschaftsunternehmen im Besitz von für den Zugang zum relevanten Markt
„unerläßlichen“ oder „wesentlichen“ Infrastrukturen, Erzeugnissen oder
Dienstleistungen befinden, wenn diese Infrastrukturen, Erzeugnisse oder
Dienstleistungen nicht „austauschbar“ sind und wenn es wegen ihrer besonderen
Eigenschaften und insbesondere der prohibitiven Kosten ihrer erneuten
Bereitstellung und/oder der vernünftigerweise hierzu erforderlichen Zeit keine
gangbaren Alternativen für die möglichen Konkurrenten des
Gemeinschaftsunternehmens gibt, die auf diese Weise vom Markt ausgeschlossen
würden.
- 210.
- Im Lichte der vorstehenden Erwägungen und in Analogie zu der vorerwähnten
Rechtsprechung (siehe Randnr. 208) ist zum einen zu prüfen, ob die Kommission
im vorliegenden Fall berechtigterweise die Stellung a) von Fahrplantrassen, b) von
Lokomotiven und c) von deren Personal durch die Gründerunternehmen an die
ENS als wesentliche oder notwendige Leistungen einstufen durfte, die Dritten zu
den gleichen Bedingungen wie der ENS anzubieten sind, und zum anderen, ob sie
bei dieser Einstufung ihre Entscheidung hinreichend begründet hat. Auf dieser
Grundlage ist schließlich auch zu prüfen, ob die Kommission die angeblichen
Wettbewerbsbeschränkungen gegenüber Dritten aufgrund der privilegierten
Beziehungen zwischen den Gründern und der ENS zutreffend gewürdigt hat (vgl.
Randnr. 151).
- 211.
- Erstens ist in bezug auf die Fahrplantrassen festzustellen, daß Artikel 2 der
angefochtenen Entscheidung zwar verfügt, daß die Anmeldenden die
Fahrplantrassen „allen internationalen Gruppierungen von Bahnunternehmen
[erbringen]“, doch ist nach der Rechtsprechung der Verfügungsteil einer
Entscheidung im Lichte der Gründe auszulegen, die ihn tragen, das ist im
vorliegenden Fall Randnummer 81 der angefochtenen Entscheidung. Nach dieser
Randnummer 81 sind die Anmeldenden „nicht verpflichtet, eine Fahrplantrasse zur
Verfügung zu stellen, wenn der Antragsteller als Gruppierung von
Bahnunternehmen im Sinne von Artikel 10 der Richtlinie 91/440/EWG auftritt und
selbst die Fahrplantrasse bei den Infrastruktur-Trägern beantragen kann“. Daher
begründet die angefochtene Entscheidung eine solche Verpflichtung nur dann,
wenn es sich bei den Dritten nicht um internationale Gruppierungen, sondern, wie
die Kommission vorträgt, um Verkehrsunternehmen wie die ENS handelt. Die ENS
ist jedoch zum einen, wie festgestellt, kein Verkehrsunternehmen, sondern eine
internationale Gruppierung im Sinne der Richtlinie 91/440. Zum anderen kommen
Verkehrsunternehmen gegenwärtig auf dem Markt des Bahnreiseverkehrs nicht vor.
Daher entbehrt die untersuchte Auflage, da sie auf falschen Voraussetzungen
beruht, soweit sie die Gründer, die sich bereits im Besitz von Fahrplantrassen
befinden, verpflichtet, diese Dritten zur Verfügung zu stellen, der Grundlage.
- 212.
- Was zweitens die Stellung der Lokomotiven angeht, so ist darauf hinzuweisen, daß,
wie bereits festgestellt, Lokomotiven nur dann als wesentliche oder notwendige
Infrastrukturen anzusehen sind, wenn sie dies für die Konkurrenten der ENS in
dem Sinne sind, daß letztere ohne diese Lokomotiven weder auf den relevanten
Markt vordringen noch weiterhin auf diesem tätig sein könnten. Da jedoch die
Entscheidung zum einen den relevanten Markt als intermodalen Markt der
Beförderung aus beruflichen Gründen reisender Fahrgäste und als den ebenfalls
intermodalen Markt in ihrer Freizeit reisender Fahrgäste definiert hat, und da zum
anderen der Marktanteil der ENS auf diesen beiden intermodalen Märkten nach
dem Vorbringen der Kommission 7 % bis 8 % oder nach der Anmeldung der
Parteien gar 5 % nicht übersteigt, ist nicht anzunehmen, daß eine Weigerung der
anmeldenden Unternehmen, Konkurrenten der ENS spezielle Lokomotiven für die
Durchfahrt durch den Kanaltunnel zu stellen, diese von dem betreffenden Markt,
wie er in der angefochtenen Entscheidung definiert worden ist, ausschließt. Denn
es ist nicht dargetan, daß ein Unternehmen mit einem so geringen Marktanteil in
der Lage sein könnte, irgendeinen Einfluß auf das Funktionieren und die Struktur
des betreffenden Marktes auszuüben.
- 213.
- Nur wenn man auf einen ganz anderen Markt abstellen würde, nämlich den
intramodalen Markt des Bahnreiseverkehrs für Geschäftsleute und Touristen, auf
dem die Eisenbahnunternehmen gegenwärtig eine beherrschende Stellung
einnehmen, könnte eine Weigerung, die Lokomotiven zu stellen, möglicherweise
eine Auswirkung auf den Wettbewerb haben. Doch hat die Kommission letzten
Endes nicht diesen intramodalen Markt zugrunde gelegt, sondern den intermodalen
Markt (Randnrn. 17 bis 27 der angefochtenen Entscheidung). Erst im schriftlichen
Verfahren hat die Kommission erstmals den intramodalen Markt für
Bahnleistungen als Segment des intermodalen Marktes für die Beförderung von
Geschäftsleuten und Touristen angeführt, um die den anmeldenden Unternehmen
auferlegte Verpflichtung zur Stellung der Lokomotiven an Konkurrenten der ENS
zu rechtfertigen. Zwar läßt sich nicht ausschließen, daß die Untersuchung der
Auswirkungen einer Vereinbarung sowohl auf einem Hauptmarkt als auch auf
einem seiner Segmente vorgenommen werden kann, doch müssen sowohl die
Unterscheidung zwischen diesem Hauptmarkt und seinem(n) Segment(en) als auch
die Gründe, die eine solche Unterscheidung rechtfertigen, klar und eindeutig aus
einer Entscheidung über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages
hervorgehen, was hier nicht der Fall ist.
- 214.
- Selbst wenn unterstellt wird, daß die Erklärungen, die die Kommission hierzu im
schriftlichen Verfahren abgegeben hat, letztlich keine neue Definition des
relevanten Marktes, wie er in den Randnummern 17 bis 27 der angefochtenen
Entscheidung definiert wurde, darstellen, sondern eher Erläuterungen sein sollen,
die dazu dienen, diese Definition klarer herauszuarbeiten, weist die Beurteilung
durch die Kommission im vorliegenden Fall doch einen Begründungsmangel auf.
- 215.
- Denn, wie die Klägerinnen geltend gemacht haben, enthält die angefochtene
Entscheidung nichts, was belegen könnte, daß die Lokomotiven wesentlich odernotwendig sind. Der Wortlaut der angefochtenen Entscheidung erlaubt ebenfalls
nicht den Schluß, daß sich Dritte solche Lokomotiven nicht entweder unmittelbar
bei den Herstellern oder mittelbar durch Erwerb oder Anmietung bei dritten
Unternehmen beschaffen könnten. In den Akten findet sich auch kein
Schriftwechsel der Kommission mit Dritten, aus dem hervorginge, daß es diesen
unmöglich wäre, die betreffenden Lokomotiven auf dem Markt zu erwerben. Wie
die Klägerinnen ausgeführt haben, steht es jedem Unternehmen, das die gleichen
Bahnleistungen wie die ENS unter Benutzung des Kanaltunnels anbieten möchte,
frei, die erforderlichen Lokomotiven auf dem Markt zu kaufen oder anzumieten.
Ferner ergibt sich aus den Akten, daß die Verträge über die Stellung von
Lokomotiven, die die anmeldenden Unternehmen mit der ENS abgeschlossen
haben, keine Ausschließlichkeitsklausel zugunsten der ENS enthalten und es jedem
anmeldenden Unternehmen daher freisteht, die gleichen Lokomotiven Dritten und
nicht nur der ENS zu stellen.
- 216.
- Ferner hat die Kommission in diesem Zusammenhang nicht bestritten, daß es
Dritten freisteht, die Lokomotiven auf dem Markt zu erwerben oder anzumieten;
sie hat vielmehr nur die Ansicht vertreten, daß es sich in Wirklichkeit um eine rein
theoretische Möglichkeit handele und nur die anmeldenden Unternehmen diese
Lokomotiven tatsächlich besäßen. Diesem Vorbringen der Kommission kann jedoch
nicht gefolgt werden. Der Umstand, daß die anmeldenden Unternehmen die
Lokomotiven als erste auf dem Markt erworben haben, bedeutet nicht, daß sie die
einzigen wären, die sie erwerben könnten.
- 217.
- Somit beruht die Einschätzung der Kommission, daß die für die Durchfahrt durch
den Kanaltunnel konzipierten Speziallokomotiven wesentlich oder notwendig seien,
und daher die den Gründern auferlegte Verpflichtung, solche Lokomotiven Dritten
zu stellen, auf einer fehlenden oder zumindest unzureichenden Begründung.
- 218.
- Aus den gleichen Gründen, wie sie vorstehend dargelegt worden sind, beruht die
den Gründern erteilte Auflage, auch Dritten das Personal für die
Speziallokomotiven für die Durchfahrt durch den Kanaltunnel zu stellen, ebenfalls
auf fehlender oder unzureichender Begründung.
- 219.
- Somit weist die angefochtene Entscheidung eine fehlende oder zumindest
unzureichende Begründung auf, soweit sie den Klägerinnen die Verpflichtung
auferlegt, Dritten, die Konkurrenten der ENS sind, die gleichen „nötigen
Leistungen“ wie diesen zu erbringen.
- 220.
- Aus dem Vorstehenden ergibt sich auch, daß die von der Kommission
vorgenommene Untersuchung der Wettbewerbsbeschränkungen gegenüber Dritten
aufgrund der privilegierten Beziehungen der Gründer zur ENS ebensowenig
zutreffend ist (vgl. oben, Randnrn. 150 und 151). Da, wie oben festgestellt, die ENS
kein Verkehrsunternehmen ist, läßt sich der Eisenbahnmarkt letztlich nur in zwei
getrennte Dienstleistungsmärkte aufteilen, nämlich einen integrierten Markt derBeförderungsleistungen für Reisen, auf dem sich nur Eisenbahnunternehmen und
ihre internationalen Gruppierungen betätigen, und einen Markt für den Zugang zur
Infrastruktur und deren Betrieb, der von den Betreibern der Infrastruktur im Sinne
der Richtlinie 91/440 verwaltet wird (siehe oben, rechtlicher Rahmen, Randnrn. 1
bis 6). Zudem ist das Argument, das die Kommission in der mündlichen
Verhandlung vorgetragen hat, wonach sich aus Randnummer 55 des Urteils des
Gerichts vom 21. Oktober 1997 in der Rechtssache T-229/94 (Deutsche
Bahn/Kommission, Slg. 1997, II-1689) ergebe, daß der Markt der
Eisenbahnleistungen einen gesonderten Teilmarkt des Bahnverkehrsmarkts im
allgemeinen bilde, nicht stichhaltig, da sich die Feststellung des Gerichts in dieser
Rechtssache nur auf den Markt des kombinierten Eisenbahnverkehrs bezieht.
Daher hätte die Untersuchung der Wettbewerbsbeschränkungen gegenüber Dritten
auf den beiden erwähnten Märkten vorgenommen werden müssen.
- 221.
- Was zunächst den Zugang zur Infrastruktur (Fahrplantrassen) angeht, so kann der
Zugang Dritter hierzu zwar grundsätzlich behindert werden, wenn konkurrierende
Unternehmen diesen Zugang kontrollieren, doch ist die Verpflichtung der
Eisenbahnunternehmen, die gleichzeitig Betreiber der Infrastruktur sind,
internationalen Gruppierungen, die Konkurrenten von ENS sind, zu dieser
Infrastruktur unter angemessenen und nichtdiskriminierenden Bedingungen Zugang
zu gewähren, ausdrücklich in der Richtlinie 91/440 verankert und durch diese
garantiert. Sonach können die ENS-Vereinbarungen begrifflich den Zugang Dritter
zur Infrastruktur nicht behindern. Ferner kann der Umstand, daß der ENS
Speziallokomotiven für den Kanaltunnel und das zugehörige Personal gestellt
werden, für sich allein den Zugang Dritter zum nachgelagerten Markt nur dann
behindern, wenn diese Lokomotiven und ihr Personal als wesentliche
Infrastrukturen anzusehen wären. Da aber diese Speziallokomotiven und ihr
Personal aus den dargelegten Gründen (Randnrn. 210 bis 215) nicht als wesentliche
Möglichkeiten eingestuft werden können, kann der Umstand, daß die
Betriebsvereinbarungen für Nachtzüge ihre Stellung an die ENS vorsehen, keine
Beschränkung des Wettbewerbs gegenüber Dritten bewirken. Daher ist diese
Einschätzung der Wettbewerbsbeschränkungen gegenüber Dritten, welche die
Kommission abgegeben hat, ebenfalls nicht stichhaltig (siehe Randnrn. 150 und
151).
Zur vierten Rüge: Unzureichende Dauer der erteilten Freistellung
Vorbringen der Parteien
- 222.
- Die Klägerinnen heben hervor, die ENS-Vereinbarungen bezögen sich auf eine
erhebliche langfristige Investition, und die Rentabilität des Vorhabens setze voraus,
daß für den Erwerb der Spezialfahrzeuge eine günstige Finanzierung über 20 Jahre
erreicht werden könne, so daß die Begrenzung der Freistellung auf acht Jahre
unzureichend sei. In diesem Zusammenhang sei der in der Entscheidung angestellte
Vergleich mit dem Zeitraum, der von bestimmten Eisenbahnunternehmen als nötig
erachtet worden sei, um die Rentabilität einer anderen Vereinbarung, nämlich überden kombinierten Güterverkehr durch den Kanaltunnel gewährleisten zu können,
unerheblich, denn er betreffe ein Gemeinschaftsunternehmen, das auf einem
anderen Sektor als die ENS tätig sei und an dem keines der anmeldenden
Unternehmen beteiligt sei.
- 223.
- Zu der Begründung in Randnummer 73 der Entscheidung, wonach sich die Dauer
der Freistellung u. a. danach richte, wie lange der Markt nach menschlichem
Ermessen hierdurch nicht wesentlich verändert werde, meinen die Klägerinnen, die
Kommission habe keinen Anhaltspunkt für die Annahme gegeben, daß solche
Änderungen am Ende des Freistellungszeitraums einträten, während die
finanziellen Risiken durch die verhältnismäßig kurze Dauer der Freistellung
verstärkt würden.
- 224.
- Die Kommission sei in ihrer Entscheidungspraxis stets davon ausgegangen, daß die
Gemeinschaftsunternehmen, die langfristige Investitionen erforderten und deren
Zweck darin bestehe, ein neues Erzeugnis zu entwickeln, notwendigerweise eines
langen Zeitraums für die Rentabilisierung des investierten Kapitals bedürften. Die
Begründungserwägung der Entscheidung, nach der sich der Gemeinschaftseinkauf
der Wagen von dem Geschäftsbetrieb trennen lasse, sei im vorliegenden Fall nicht
stichhaltig, da die von der ENS benutzten Fahrzeuge nur für Verbindungen
zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Kontinent benutzt werden könnten.
Aus allen diesen Gründen beruhe die angefochtene Entscheidung auf einem
offensichtlichen Beurteilungsfehler und/oder einer fehlenden oder unzureichenden
Begründung.
- 225.
- Die Kommission macht geltend, die Dauer einer Freistellung müsse sich nach den
Bedingungen des Marktes bei Erlaß der Entscheidung unter Berücksichtigung der
nach menschlichem Ermessen vorhersehbaren Änderungen richten, die auf dem
betreffenden Markt eintreten könnten. Im vorliegenden Fall ermögliche es die
Dauer der gewährten Freistellung, nämlich zehn Jahre von der Anmeldung und
acht Jahre vom Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung an gerechnet, realistische
wirtschaftliche Prognosen und das Bedürfnis der Unternehmen nach
Rechtssicherheit miteinander zu vereinbaren. Denn wie aus der Anmeldung der
Vereinbarungen hervorgehe, deute die Finanzplanung der betroffenen
Eisenbahnunternehmen darauf hin, daß die von der ENS angebotenen Nachtzüge
ausreichende Einnahmen erbrächten, um die Kosten vom vierten Betriebsjahr an
zu decken (Anmeldung, S. 35, Abschnitt II.4 und 1.4., Anlage 1 zur Klageschrift).
Daß die Finanzierung des Erwerbs der Fahrzeuge sich über mehr als 20 Jahre
erstrecke, rechtfertige nicht die Erteilung einer längerfristigen Freistellung, denn
der Gemeinschaftseinkauf der Wagen lasse sich von dem Geschäftsbetrieb trennen.
- 226.
- Auf alle Fälle könne die Freistellung gemäß Artikel 13 Absatz 2 der Verordnung
Nr. 1017/68 mehr als einmal verlängert werden, wenn die Umstände dies
rechtfertigten; die Verlängerung werde in der Praxis dann gewährt, wenn sich die
Marktbedingungen nicht deutlich geändert hätten. Wenn spürbare Änderungeneinträten, könne die Kommission im übrigen ihre Entscheidung erneuern und dabei
andere Auflagen als in der vorhergehenden Entscheidung erteilen.
- 227.
- Das Vereinigte Königreich als Streithelfer macht geltend, die den
Eisenbahnunternehmen erteilte Auflage und die Dauer der Freistellung
veränderten die finanzielle Grundlage, auf der sich die Beteiligten der
ENS-Vereinbarungen verpflichtet hätten, die neuen Bahnleistungen zu erbringen.
Der Umfang der von den Parteien beschlossenen Investitionen hätte ein
wesentlicher Faktor für die Bemessung der Freistellungsfrist sein müssen. Da dieser
Faktor nicht berücksichtigt worden sei, sei die Entscheidung mit der Politik einer
Förderung der Beteiligung des privaten Sektors an der Entwicklung
transeuropäischer Netze unvereinbar.
- 228.
- Die Kommission erwidert, daß die Dauer der gewährten Freistellung ausreichend
und gerechtfertigt sei und daß ihre Entscheidung entgegen der Ansicht des
Vereinigten Königreichs mit ihrer Politik in bezug auf die Rolle des privaten
Sektors bei der Entwicklung transeuropäischer Netze im Einklang stehe.
Würdigung durch das Gericht
- 229.
- Wie sich aus der Untersuchung der ersten und der zweiten Rüge ergibt, hat die
Kommission den wirtschaftlichen und rechtlichen Kontext, in den sich die
ENS-Vereinbarungen einfügen, nicht richtig und ausreichend gewürdigt. Daher ist
nicht dargetan, daß die ENS-Vereinbarungen den Wettbewerb im Sinne von Artikel
85 Absatz 1 des Vertrages beschränken und aufgrund dessen einer Freistellung
gemäß Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages bedürfen. Somit war die Kommission
nicht in der Lage, die angemessene Dauer einer Freistellung nach diesem Artikel
zu beurteilen.
- 230.
- Selbst wenn die Beurteilung der Wettbewerbsbeschränkungen durch die
Kommission in der angefochtenen Entscheidung ausreichend und richtig wäre, muß
die Dauer einer gemäß Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages oder, wie im
vorliegenden Fall, gemäß Artikel 5 der Verordnung Nr. 1017/68 und Artikel 53
Absatz 3 des EWR-Abkommens erteilten Freistellung ausreichen, um die
Begünstigten in die Lage zu versetzen, die Vorteile wahrzunehmen, die die
Freistellung rechtfertigen, d. h. im vorliegenden Fall den Beitrag zum
wirtschaftlichen Fortschritt und die Vorteile für die Verbraucher, die sich aus der
Einführung neuer hochwertiger Verkehrsleistungen ergeben, wie in den
Randnummern 59 bis 61 der angefochtenen Entscheidung dargelegt ist. Da im
übrigen dieser Fortschritt und diese Vorteile nicht ohne erhebliche Investitionen
zu erzielen sind, ist der für die Rentabilität der Investitionen erforderliche Zeitraum
notwendigerweise ein wesentlicher Faktor für die Beurteilung der Dauer einer
Freistellung, zumal dann, wenn es sich in einem Fall wie dem vorliegenden
unstreitig um völlig neue Leistungen handelt, die beträchtliche Investitionen
erfordern, erhebliche finanzielle Risiken mit sich bringen und voraussetzen, daß diebeteiligten Unternehmen ihre Erfahrungen einbringen (Randnrn. 63, 64 und 75 der
Entscheidung).
- 231.
- Unter diesen Umständen kann die Begründungserwägung in Randnummer 73 der
Entscheidung, nach der sich „die Dauer der Freistellung ... danach [richtet], wie
lange der Markt nach menschlichem Ermessen hierdurch nicht wesentlich verändert
wird“, für sich allein nicht als maßgebend für die Festsetzung der Freistellungsfrist
angesehen werden, ohne daß auch der Zeitraum berücksichtigt wird, der notwendig
ist, damit die Parteien eine zufriedenstellende Rendite ihres Kapitals erzielen
können.
- 232.
- Die streitige Entscheidung enthält indessen keine substantiierte Einschätzung des
Zeitraums, der erforderlich ist, damit sich die fraglichen Investitionen unter
Bedingungen der Rechtssicherheit rentieren, insbesondere wenn berücksichtigt wird,
daß die finanziellen Verpflichtungen der Beteiligten für den Ankauf von
Spezialfahrzeugen für 20 Jahre eingegangen wurden. Die Behauptung der
Kommission in Randnummer 76 der Entscheidung, daß im kombinierten
Güterverkehr bestimmte Bahnunternehmen ihr erklärt hätten, es werde fünf Jahre
dauern, bis eine neue Strecke sich rentiere, ist nicht erheblich, da es sich dort, wie
bereits festgestellt (Randnrn. 185 bis 187), um ein Gemeinschaftsunternehmen
handelt, das auf einem anderen Markt als die ENS tätig ist.
- 233.
- Zu der Schlußfolgerung der Kommission in Randnummer 75 der angefochtenen
Entscheidung, wonach die Höhe der Investitionen bei der Bemessung der
Freistellungsfrist nicht den Ausschlag geben dürfe, da sich derGemeinschaftseinkauf der Wagen und der Geschäftsbetrieb voneinander trennen
ließen, ist festzustellen, daß die Entscheidung nichts enthält, woraus sich ergäbe,
weshalb der Geschäftsbetrieb mit diesen Fahrzeugen von ihrem Erwerb
„abtrennbar“ sein soll, da die Fahrzeuge, um die es geht, nur im Rahmen der
angemeldeten Vereinbarungen erworben und die damit zusammenhängenden
finanziellen Verpflichtungen nur in diesem Rahmen eingegangen wurden. Auf alle
Fälle hat die Kommission die Behauptung der Klägerinnen nicht bestritten, daß
andere Möglichkeiten zur Verwendung der betreffenden Fahrzeuge sehr begrenzt
seien.
- 234.
- Daraus ergibt sich, daß die Entscheidung der Kommission, die Dauer der für die
ENS-Vereinbarungen erteilten Freistellungen auf acht Jahre zu begrenzen,
mangelhaft begründet ist.
- 235.
- Sonach ist festzustellen, daß die vierte Rüge der Klägerinnen begründet ist.
- 236.
- Nach allem ist die angefochtene Entscheidung für nichtig zu erklären, ohne daß
über die von der SNCF in der Rechtssache T-384/94 erhobene Rüge eines
Verstoßes gegen Artikel 3 der Verordnung Nr. 1017/68 entschieden zu werden
braucht.
Kosten
- 237.
- Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag
zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission mit ihrem Vorbringen
unterlegen ist und die Klägerinnen einen entsprechenden Antrag gestellt haben,
sind der Kommission die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der
SNCF als Streithelferin in den Rechtssachen T-374/94 und T-384/94 aufzuerlegen.
- 238.
- Nach Artikel 87 § 4 der Verfahrensordnung des Gerichts trägt das Vereinigte
Königreich seine eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Zweite Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Entscheidung 94/663/EG der Kommission vom 21. September 1994 in
einem Verfahren nach Artikel 85 des EG-Vertrags und Artikel 53 des
EWR-Abkommens (IV/34.600 - Night Services) wird für nichtig erklärt.
2. Die Kommission trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland als Streithelfer
trägt seine eigenen Kosten.
KalogeropoulosBellamy
Pirrung
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 15. September 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
A. Kalogeropoulos