Language of document : ECLI:EU:T:2024:291

Rechtssache T757/22

Puma SE

gegen

Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO)

 Urteil des Gerichts (Dritte erweiterte Kammer) vom 8. Mai 2024

„Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Nichtigkeitsverfahren – Eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster, das einen Schuh darstellt – Ältere Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Nichtigkeitsgründe – Eigenart – Art. 25 Abs. 1 Buchst. b und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002“

1.      Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Nichtigkeitsgründe – Fehlende Eigenart – Geschmacksmuster, das beim informierten Benutzer keinen anderen Gesamteindruck hervorruft als das ältere Geschmacksmuster – Gesamtbeurteilung aller Elemente der Geschmacksmuster – Umfang – Berücksichtigung allein der durch das angegriffene Geschmacksmuster geschützten Elemente

(Verordnung Nr. 6/2002 des Rates, Art. 6 Abs. 1 und Art. 25 Abs. 1 Buchst. b)

(vgl. Rn. 28-31, 37)

2.      Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Nichtigkeitsgründe – Fehlende Eigenart – Zugänglichmachung, die die Offenbarung aller Elemente des Geschmacksmusters bewirkt – Schutzvoraussetzungen

(Verordnung Nr. 6/2002 des Rates, Art. 7 Abs. 1 und Art. 25 Abs. 1 Buchst. b)

(vgl. Rn. 49)

Zusammenfassung

Das Gericht, das mit einer Klage befasst wurde, die es abweist, äußert sich zum ersten Mal zur Frage der Berücksichtigung der Verzichtselemente, d. h. der nicht vom Schutz des älteren Geschmacksmusters umfassten, im vorliegenden Fall gestrichelt wiedergegebenen Elemente, bei einem Vergleich im Rahmen eines Verfahrens über eine auf das Fehlen von Eigenart gestützte Nichtigkeitsklage. Es definiert somit die ratio legis des auf diesen Grund gestützten Nichtigkeitsverfahrens und die Grenzen des Schutzes eines älteren Geschmacksmusters.

Die Road Star Group beantragte beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) die Eintragung eines Gemeinschaftsgeschmacksmusters, das einen Schuh darstellt. Die Puma SE, die Klägerin, stellte einen Antrag auf Nichtigerklärung, der auf das Fehlen von Eigenart(1) im Hinblick auf sieben ältere Geschmacksmuster gestützt wurde. Dieser Antrag wurde von der Nichtigkeitsabteilung jedoch mit der Begründung zurückgewiesen, dass das angegriffene Geschmacksmuster Eigenart besitze. Die Beschwerdekammer wies auch die Beschwerde der Klägerin gegen die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung zurück.

Würdigung durch das Gericht

Das Gericht weist zunächst darauf hin, dass der Vergleich des von einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern hervorgerufenen Gesamteindrucks im Hinblick auf die gesamte Erscheinungsform jedes einzelnen dieser Geschmacksmuster vorzunehmen ist und dass diesem Vergleich die im angegriffenen Geschmacksmuster offenbarten Merkmale zugrunde gelegt werden müssen und er sich nur auf die durch dieses Geschmacksmuster geschützten Elemente stützen darf. Dass das ältere Geschmacksmuster zusätzliche Elemente offenbart, die das angegriffene Geschmacksmuster nicht aufweist, ist für den Vergleich der einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster irrelevant. Es ist daher zu bestimmen, welche Elemente tatsächlich durch das angegriffene Geschmacksmuster geschützt werden.

In einem ersten Schritt stellt das Gericht fest, dass für den Vergleich der im vorliegenden Fall einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster alle Elemente zu berücksichtigen sind, die tatsächlich durch das angegriffene Geschmacksmuster geschützt sind, das einen vollständigen Schuh, bestehend aus Sohle und Schaft, darstellt, und dass sich dieser Vergleich nicht darauf beschränken darf, nur die Erscheinungsform der Sohlen – der einzige geschützte Teil des älteren Geschmacksmusters – zu vergleichen. Die Prüfung des Nichtigkeitsgrundes des Fehlens von Eigenart folgt nämlich nicht der Logik des Schutzes eines älteren Rechts, sondern betrifft nur die Feststellung, ob das angegriffene Geschmacksmuster die Eintragungsvoraussetzungen erfüllt(2). Legte man anstelle der geschützten Merkmale des angegriffenen Geschmacksmusters diejenigen des älteren Geschmacksmusters zugrunde, liefe dies aber darauf hinaus, geschützte Merkmale des angegriffenen Geschmacksmusters vom Vergleich auszuschließen, so dass nicht geprüft würde, ob dieses Geschmacksmuster in seiner Gesamtheit die Schutzvoraussetzungen erfüllt.

Außerdem ist, auch wenn nicht ausgeschlossen ist, dass beim Vergleich von Geschmacksmustern der von jedem Geschmacksmuster hervorgerufene Gesamteindruck durch bestimmte Merkmale der betreffenden Erzeugnisse oder von Teilen dieser Erzeugnisse geprägt wird, das Gericht der Auffassung, dass im vorliegenden Fall kein Grund zu der Annahme besteht, dass die Sohle rein visuell für den informierten Benutzer ein Merkmal darstellt, das gegenüber dem Rest des Schuhs dominierend wäre, so dass der Gesamteindruck der fraglichen Geschmacksmuster von der Sohle geprägt würde.

In einem zweiten Schritt prüft das Gericht, ob die Erscheinungsform des Schuhschafts der älteren Geschmacksmuster auch beim Vergleich der von den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern hervorgerufenen Gesamteindrücke berücksichtigt werden kann, obwohl es sich nicht um Merkmale handelt, für die Schutz beansprucht wurde. Insoweit führt es aus, dass die Eigenart eines Geschmacksmusters danach beurteilt wird, inwieweit sich der Gesamteindruck, den der Anblick des Geschmacksmusters beim informierten Benutzer hervorruft, deutlich von dem unterscheidet, den der vorbestehende Formschatz bei ihm hervorruft. Bei der Prüfung dieses Nichtigkeitsgrundes hat das ältere Geschmacksmuster nämlich nur die Funktion, den Stand der älteren Technik zu offenbaren, der dem vorbestehenden Formenschatz entspricht, der sich auf das fragliche Erzeugnis beziehenden Geschmacksmuster, die am Anmeldetag des betreffenden Geschmacksmusters zugänglich waren. Die Zugehörigkeit eines älteren Geschmacksmusters zu diesem Formenschatz ergibt sich jedoch allein aus seiner Offenbarung. Somit ist für die Feststellung, ob Elemente eines älteren Geschmacksmusters berücksichtigt werden können, nicht auf den Schutzgegenstand dieses Geschmacksmusters abzustellen, sondern nur darauf, ob diese Elemente offenbart wurden(3). Damit die Zugänglichmachung eines Geschmacksmusters die Offenbarung aller seiner Elemente bewirkt, ist es außerdem unabdingbar, dass diese Elemente bei dieser Offenbarung klar und eindeutig erkennbar sind.

Da im vorliegenden Fall die nicht beanspruchten Elemente der älteren Geschmacksmuster offenbart wurden und hinreichend klar und deutlich sind, um die Erscheinungsform eines Schuhschafts und seiner verschiedenen Teile wahrzunehmen, stellt das Gericht folglich fest, dass diese Elemente bei der Beurteilung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters berücksichtigt werden können.


1      Im Sinne von Art. 6 Abs. 1 und Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1).


2      Gemäß den Art. 4 bis 9 der Verordnung Nr. 6/2002.


3      Im Sinne von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung 6/2002.