Language of document : ECLI:EU:F:2012:58

Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

11. Juli 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Bekämpfung der organisierten Kriminalität – Rahmenbeschluss 2008/841/JI des Rates – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht – Art. 47 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Übermäßig lange Dauer des vorbereitenden Abschnitts des Strafverfahrens – Erhebliche, aber behebbare Verstöße der Anklageschrift gegen die Verfahrensvorschriften – Anspruch des Beschuldigten auf Einstellung des gegen ihn betriebenen Strafverfahrens“

In der Rechtssache C‑265/23 [Volieva](1)

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Okrazhen sad – Sliven (Regionalgericht Sliven, Bulgarien) mit Entscheidung vom 12. April 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 25. April 2023, in dem Strafverfahren gegen

DM,

AV,

WO,

AQ,

Beteiligte:

Okrazhna prokuratura – Sliven,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer und des Richters P. G. Xuereb,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von DM, vertreten durch KS und ZY,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität (ABl. 2008, L 300, S. 42) in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und den Art. 47 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht in einem gegen DM und weitere natürliche Personen wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung und Bestechlichkeit betriebenen Strafverfahren.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 4 („Besondere Umstände“) des Rahmenbeschlusses 2008/841 bestimmt:

„Jeder Mitgliedstaat kann die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die in Artikel 3 vorgesehenen Strafen gemildert werden können oder dass der Straftäter straffrei bleibt, wenn er beispielsweise

a)      sich von seinen kriminellen Tätigkeiten lossagt und

b)      den Verwaltungs- oder Justizbehörden Informationen liefert, die sie nicht auf andere Weise hätten erhalten können, und ihnen auf diese Weise hilft,

i)      die Auswirkungen der Straftat zu verhindern, zu beenden oder abzuschwächen,

ii)      die anderen Straftäter zu ermitteln oder vor Gericht zu bringen,

iii)      Beweise zu sammeln,

iv)      der kriminellen Vereinigung ihre Mittel oder die Erträge aus ihren Straftaten zu entziehen oder

v)      die Begehung weiterer Straftaten nach Artikel 2 zu verhindern.“

 Bulgarisches Recht

4        In der vom 29. April 2006 bis zum 28. Mai 2010 geltenden Fassung sah Art. 334 („Befugnisse des Berufungsgerichts“) des Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) in Abs. 4 vor, dass das Berufungsgericht insbesondere in Fällen, in denen das erstinstanzliche Gericht nicht von seinen Befugnissen gemäß Art. 369 Abs. 4 NPK Gebrauch gemacht hatte, das Urteil aufheben und das Strafverfahren einstellen konnte.

5        In der vom 29. April 2006 bis zum 28. Mai 2010 geltenden Fassung bestimmte Art. 368 („Antrag des Beschuldigten an das Gericht“) NPK:

„(1)      Sind, nachdem einer Person in einem Ermittlungsverfahren eröffnet worden ist, dass sie einer schweren Straftat beschuldigt wird, mehr als zwei Jahre und in den übrigen Fällen mehr als ein Jahr vergangen, kann der Beschuldigte beantragen, dass das Gericht den Fall prüft.

(2)      In den Fällen des Abs. 1 reicht der Beklagte beim zuständigen erstinstanzlichen Gericht einen Antrag ein, das die Ermittlungen unverzüglich an sich zieht.“

6        In der vom 29. April 2006 bis zum 28. Mai 2010 geltenden Fassung bestimmte Art. 369 („Prüfung des Falls“) NPK:

„(1)      Das Gericht – Einzelrichter – entscheidet über den Antrag innerhalb von sieben Tagen. Stellt es fest, dass die Voraussetzungen des Art. 368 Abs. 1 vorliegen, legt es die Akten der Staatsanwaltschaft vor und gibt ihr die Möglichkeit, ihm die Akten innerhalb von zwei Monaten mit einer Anklageschrift, dem Vorschlag, von Strafe abzusehen und gegen den Täter eine Verwaltungsstrafe zu verhängen, oder einer Verständigung über eine Strafe zur Prüfung vorzulegen oder das Strafverfahren einzustellen und es davon zu unterrichten.

(2)      Hat die Staatsanwaltschaft nicht innerhalb von zwei Monaten von ihren Befugnissen gemäß Abs. 1 Gebrauch gemacht oder hat das Gericht der Verständigung über eine Strafe nicht zugestimmt, zieht das Gericht die Ermittlungen an sich und stellt das Strafverfahren durch Beschluss in nichtöffentlicher Sitzung – Einzelrichter – ein. Danach wird das Strafverfahren gegen die Mittäter und, was die übrigen Taten angeht, die dem Beschuldigten zur Last gelegt werden, fortgesetzt.

(3)      Hat die Staatsanwaltschaft von ihren Befugnissen gemäß Abs. 1 Gebrauch gemacht, sind im Ermittlungsverfahren aber erhebliche Verstöße gegen die Verfahrensregeln begangen worden, stellt das Gericht das Verfahren durch Beschluss in nichtöffentlicher Sitzung – Einzelrichter – ein und legt der Staatsanwaltschaft die Akten zur Behebung dieser Verstöße vor. Die Staatsanwaltschaft hat dem Gericht die Akten innerhalb eines Monats wieder vorzulegen.

(4)      Legt die Staatsanwaltschaft dem Gericht die Akten nicht innerhalb der in Abs. 3 genannten Frist vor, sind die erheblichen Verstöße gegen Verfahrensvorschriften nicht behoben worden oder sind neue Verstöße begangen worden, stellt das Gericht das Strafverfahren durch Beschluss in nichtöffentlicher Sitzung – Einzelrichter – ein.

(5)      Die in den Abs. 2 und 4 genannten Beschlüsse des Gerichts sind unanfechtbar.“

7        Mit Wirkung ab dem 28. Mai 2010 schaffte der bulgarische Gesetzgeber in Art. 334 Abs. 4 NPK die Möglichkeit des Berufungsgerichts ab, das Urteil in Fällen, in denen das erstinstanzliche Gericht nicht von seinen Befugnissen gemäß Art. 369 Abs. 4 NPK Gebrauch gemacht hat, aufzuheben und das Strafverfahren einzustellen. Er hob auch die Bestimmungen des Kapitels 26 des NPK (Art. 368 und 369) auf, wobei er klarstellte, dass bereits anhängige Verfahren auf die bisher vorgesehene Weise abgeschlossen würden.

8        In der vom 13. August 2013 bis zum 5. November 2017 geltenden Fassung sah Art. 334 Abs. 4 NPK wieder – wie in der Fassung, die vom 29. April 2006 bis zum 28. Mai 2010 gegolten hatte – vor, dass das Berufungsgericht insbesondere in Fällen, in denen das erstinstanzliche Gericht nicht von seinen Befugnissen gemäß Art. 369 Abs. 4 NPK Gebrauch gemacht hat, das Urteil aufheben und das Strafverfahren einstellen konnte.

9        In der vom 13. August 2013 bis zum 5. November 2017 geltenden Fassung enthielt der NPK auch ein Kapitel 26 (Art. 368 und 369). Art. 368 NPK hatte denselben Wortlaut wie in der Fassung des NPK, die vom 29. April 2006 bis zum 28. Mai 2010 gegolten hatte. Auch Art. 369 NPK hatte denselben Wortlaut wie in dieser Fassung des NPK. Lediglich die in Abs. 1 festgelegte Frist wurde von zwei auf drei Monate hochgesetzt.

10      In der ab dem 5. November 2017 geltenden Fassung sieht Art. 334 Abs. 4 NPK nicht mehr vor, dass das Berufungsgericht in Fällen, in denen in dem Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht die erheblichen Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften nicht behoben werden oder neue Verstöße begangen werden, das Urteil aufheben und das Strafverfahren einstellen kann.

11      In der ab dem 5. November 2017 geltenden Fassung bestimmt Art. 368 NPK („Beschleunigung des Ermittlungsverfahrens“):

„(1)      Sind, nachdem einer Person in einem Ermittlungsverfahren eröffnet worden ist, dass sie einer schweren Straftat beschuldigt wird, mehr als zwei Jahre und in den übrigen Fällen mehr als sechs Monate vergangen, kann der Beschuldigte, der Verletzte und die geschädigte juristische Person beantragen, dass das Ermittlungsverfahren beschleunigt wird. Bei der Berechnung dieser Fristen wird die Zeit, in der die Akten dem Gericht vorlagen oder das Verfahren gemäß Art. 25 ausgesetzt war, nicht mitgerechnet.

(2)      Der Antrag gemäß Abs. 1 wird über die Staatsanwaltschaft gestellt, die die Akten unverzüglich dem Gericht vorlegt.

(3)      Das Gericht trifft innerhalb von zwei Wochen in nichtöffentlicher Sitzung – Einzelrichter – eine Entscheidung.“

12      In der ab dem 5. November 2017 geltenden Fassung bestimmt Art. 369 („Entscheidung des Gerichts. Maßnahmen zur Beschleunigung des Strafverfahrens“) NPK:

„(1)      Das Gericht berücksichtigt bei seiner Entscheidung die tatsächliche und rechtliche Schwierigkeit der Sache, etwaige Verzögerungen bei der Durchführung von Maßnahmen der Erhebung, Überprüfung und Würdigung von Beweisen und Beweismitteln und die Gründe für solche Verzögerungen.

(2)      Stellt es eine ungerechtfertigte Verzögerung fest, setzt das Gericht für die vollständige Durchführung der Maßnahmen eine angemessene Frist. Der Beschluss ist unanfechtbar.

(3)      Nach Ablauf der Frist gemäß Abs. 2 können weitere Anträge auf Beschleunigung gestellt werden.“

13      In der ab dem 5. November 2017 geltenden Fassung des NPK gehören die Art. 368 und 369 nach wie vor zu Kapitel 26.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14      Fünf Personen, darunter DM, wurde am 5. Juli 2013 eröffnet, dass ihnen die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung (Art. 321 Abs. 3 des Nakazatelen Kodeks [Strafgesetzbuch]) und Bestechlichkeit (Art. 301 Abs. 1 des Nakazatelen Kodeks) zur Last gelegt werde.

15      Wegen der überlangen Dauer des Ermittlungsverfahrens beantragte DM am 31. August 2015 beim Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) gemäß Art. 368 Abs. 1 NPK in der vom 13. August 2013 bis zum 5. November 2017 geltenden Fassung, dass es den Fall prüfe.

16      Mit Beschluss vom 30. September 2015 legte der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) die Akten gemäß Art. 369 Abs. 1 NPK in der vom 13. August 2013 bis zum 5. November 2017 geltenden Fassung der Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien) vor und gab ihr auf, innerhalb von drei Monaten eine Anklageschrift, den Vorschlag, von Strafe abzusehen und gegen den Täter eine Verwaltungsstrafe zu verhängen, oder eine Verständigung über eine Strafe einzureichen oder das Strafverfahren einzustellen und es davon zu unterrichten.

17      Am 8. Januar 2016 legte die Spezialisierte Staatsanwaltschaft dem Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) die Akten mit einer Anklageschrift gegen vier Beschuldigte – darunter DM – vor, denen die oben in Rn. 14 genannten Taten zur Last gelegt wurden.

18      Mit Beschluss vom 3. Februar 2016 stellte der Berichterstatter das Verfahren wegen erheblicher, aber behebbarer Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften ein und legte die Akten der Spezialisierten Staatsanwaltschaft zur Behebung dieser Verstöße vor.

19      Die Spezialisierte Staatsanwaltschaft erstellte innerhalb eines Monats eine neue Anklageschrift, die sie am 22. März 2016 beim Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) einreichte.

20      In dem Verfahren, das dann beim Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) durchgeführt wurde, beantragte DM, das gegen sie betriebene Strafverfahren gemäß Art. 369 Abs. 4 dritte Alternative NPK in der vom 13. August 2013 bis zum 5. November 2017 geltenden Fassung wegen neuer Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften, die im Ermittlungsverfahren begangen worden seien, einzustellen. Die Anklageschrift sei nicht so klar und bestimmt verfasst gewesen, dass der Beschuldigte sie verstehen, sich wirksam verteidigen und relevante Beweise hätte beibringen können.

21      Der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) wies diesen Antrag jedoch am 27. Juni 2016 zurück. Er vertrat die Auffassung, dass die Anklageschrift den gesetzlichen Anforderungen an Bestimmtheit und Klarheit gemäß Art. 246 NPK genüge.

22      Mit Urteil vom 19. November 2019 befand der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) DM der ihr zur Last gelegten Straftaten für schuldig, verhängte gegen sie eine Freiheitsstrafe und eine Geldbuße und erkannte ihr die mit ihrem Amt zusammenhängenden Rechte ab.

23      Dieses Urteil hob der Apelativen spetsializiran nakazatelen sad (Strafberufungsgericht, Bulgarien), bei dem Berufung eingelegt wurde, mit Urteil vom 9. November 2020 wegen erheblicher, aber behebbarer Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften – die Anklageschrift vom 22. März 2016 genüge nicht den Anforderungen an Bestimmtheit und Klarheit gemäß Art. 246 NPK – in vollem Umfang auf und verwies die Sache an den Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) zurück.

24      Der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) legte die Akten am 3. Februar 2021 zur Behebung der erheblichen Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften, die im Ermittlungsverfahren bei der Erstellung der Anklageschrift begangen worden seien, der Staatsanwaltschaft vor.

25      Am 7. Juli 2022 reichte die Spezialisierte Staatsanwaltschaft eine neue Anklageschrift gegen DM und die drei übrigen Beklagten ein.

26      Aufgrund von Gesetzesänderungen und Zwischenstreitigkeiten wurde die Sache schließlich dem vorlegenden Gericht, dem Okrazhen sad – Sliven (Regionalgericht Sliven, Bulgarien), zugewiesen.

27      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Möglichkeit, das Strafverfahren wegen überlanger Dauer des Ermittlungsverfahrens und wegen wiederholter erheblicher, aber behebbarer Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften einzustellen, mit Wirkung ab dem 5. November 2017 abgeschafft worden sei. Deshalb habe der Apelativen spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafberufungsgericht), der das Urteil des erstinstanzlichen Gerichts am 9. November 2020 mit der Begründung aufgehoben habe, dass die Anklageschrift vom 22. März 2016 nicht ordnungsgemäß erstellt worden sei und nicht den gesetzlichen Anforderungen an Bestimmtheit und Klarheit gemäß Art. 246 NPK genüge, das Strafverfahren gegen DM nicht einstellen können.

28      Hätte das erstinstanzliche Gericht Art. 369 Abs. 4 dritte Alternative NPK in der vom 13. August 2013 bis 5. November 2017 geltenden Fassung aber richtig angewandt, hätte es das Strafverfahren gegen DM 2016 einstellen müssen.

29      Nach der Rechtsprechung des Konstitusionen sad (Verfassungsgericht, Bulgarien) liege ein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot vor, wenn die neue rechtliche Bewertung der Folgen eines bereits erworbenen Rechts in einem anderen rechtlichen Rahmen zum Entzug der Rechte führe oder an Sachverhalte, die bereits abgeschlossen seien, nachteilige Rechtsfolgen geknüpft würden. Demnach sei es im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verfassungswidrig, wenn der Gesetzgeber im Nachhinein nachteilige Rechtsfolgen für Bürger vorsehe, die Rechte erworben hätten und sich an den seinerzeit geltenden rechtlichen Rahmen gehalten hätten.

30      Diese Rechtsprechung sei hier einschlägig, insbesondere wegen der erheblichen Unterschiede, die zwischen den relevanten Bestimmungen des NPK vor und nach dem 5. November 2017 bestünden. Unter der Geltung des NPK in der vom 13. August 2013 bis zum 5. November 2017 geltenden Fassung habe DM ab dem 22. März 2016 ein Recht darauf gehabt, dass das gegen sie betriebene Strafverfahren gemäß Art. 369 Abs. 4 dritte Alternative NPK eingestellt werde. Dass dieses Recht wegen eines gerichtlichen Fehlers erst fünf Jahre später festgestellt worden sei, zu einer Zeit, als bereits ein anderes Gesetz gegolten habe, das laufende Verfahren nicht regele und insoweit nachteilige Folgen für DM habe, sei für seine Ausübung nicht von Belang. Wie es ausgeführt habe, sei dies nämlich nicht mit den in Bulgarien geltenden Verfassungsgrundsätzen zu vereinbaren.

31      Mit den Art. 368 und 369 NPK in der vom 13. August 2013 bis zum 5. November 2017 geltenden Fassung sei von der den Mitgliedstaaten mit Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841 eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht worden, vorzusehen, dass der Straftäter bei Straftaten der organisierten Kriminalität unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleibe, hier wegen Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden oder wegen erheblichen Verstößen gegen die Verfahrensvorschriften im Ermittlungsverfahren.

32      Die Art. 368 und 369 NPK in der ab dem 5. November 2017 geltenden Fassung, deren Wortlaut erheblich von dem der früheren Fassung abweiche, enthielten für Verfahren, die unter Geltung der alten Fassung eingeleitet worden seien, keine Übergangsregelung. Ein Beschuldigter könne sein erworbenes Recht darauf, dass das gegen ihn betriebene Strafverfahren eingestellt werde, deshalb nicht mehr geltend machen. Dies sei unionsrechtswidrig.

33      Die Art. 368 und 369 NPK seien nicht mit Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841 zu vereinbaren. Sie verhinderten nämlich, dass in Bulgarien Maßnahmen, mit denen sichergestellt werde, dass eine Straftat der organisierten Kriminalität unter bestimmten Umständen straffrei bleibe, angewandt würden, nachdem sie erlassen worden seien und Beschuldigte das Recht erworben hätten, in ihren Genuss zu kommen. Sie verstießen auch gegen Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV. Sie nähmen den Beschuldigten, denen in dem Rahmenbeschluss 2008/841 genannte Taten zur Last gelegt würden, nämlich den Rechtsbehelf, der ihnen zustehe, damit in angemessener Frist über ihren Fall entschieden werde. Im Übrigen seien die Art. 368 und 369 NPK auch nicht mit Art. 52 in Verbindung mit Art. 47 der Charta vereinbar. Sie schränkten nämlich die Anwendung eines wirksamen Rechtsbehelfs, der vom nationalen Recht bei der Durchführung eines Rahmenbeschlusses der Union vorgesehen sei, ein und ließen somit Zweifel an der Fairness des gesamten Strafverfahrens aufkommen.

34      Der Okrazhen sad – Sliven (Regionalgericht Sliven) hat deshalb beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 52 in Verbindung mit Art. 47 der Charta sowie Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, wenn es sich um Strafverfahren wegen Taten handelt, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie denjenigen, um die es im Ausgangsverfahren geht, entgegenstehen, die das Recht eines Beschuldigten auf Einstellung des Strafverfahrens gegen ihn aufheben, sofern dieses Recht während der Geltung eines Gesetzes entstanden ist, das eine solche Möglichkeit vorsah, aber aufgrund eines gerichtlichen Fehlers erst nach der Aufhebung dieses Gesetzes festgestellt wurde?

2.      Welches wären die wirksamen Rechtsbehelfe im Sinne von Art. 47 der Charta, über die ein solcher Beschuldigter verfügen müsste, und insbesondere, hat ein nationales Gericht das Strafverfahren gegen einen solchen Beschuldigten insgesamt einzustellen, wenn ein zuvor befasster Spruchkörper dies versäumt hatte, obwohl die Voraussetzungen dafür nach dem damals geltenden nationalen Gesetz vorlagen?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

35      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Rahmenbeschluss 2008/841, insbesondere dessen Art. 4, in Verbindung mit den Art. 47 und 52 der Charta und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der das Recht eines Beschuldigten darauf, dass das gegen ihn betriebene Strafverfahren, wenn erhebliche, aber behebbare Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften, unter denen die Anklageschrift leidet, nicht behoben werden, eingestellt wird, während des laufenden Strafverfahrens aufgehoben wird.

36      Der Anwendungsbereich der Charta ist in deren Art. 51 Abs. 1 festgelegt; demnach gilt die Charta für die Mitgliedstaaten, was deren Handeln betrifft, ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union (Urteil vom 19. November 2019, TSN und AKT, C‑609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981, Rn. 42).

37      Daher ist zu prüfen, ob eine nationale Regelung wie die oben beschriebene als Durchführung des Rahmenbeschlusses 2008/841 im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen ist, so dass Art. 47 der Charta auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahren anwendbar ist (vgl. entsprechend Urteil vom 19. November 2019, TSN und AKT, C‑609/17 und C‑610/17, EU:C:2019:981, Rn. 45).

38      Der Rahmenbeschluss 2008/841 tritt grenzüberschreitenden Problemen wie der organisierten Kriminalität mit einem gemeinsamen Konzept entgegen und sollte zum einen Straftaten umfassen, die typischerweise in einer kriminellen Vereinigung begangen werden, und zum anderen die Verhängung von Sanktionen gegen natürliche und juristische Personen, die solche Straftaten begangen haben oder dafür verantwortlich sind, vorsehen, die der Schwere dieser Straftaten entsprechen (Rahmenbeschluss 2008/841, Erwägungsgründe 1 und 3).

39      Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um u. a. folgende Verhaltensweise im Zusammenhang mit einer kriminellen Vereinigung als Straftatbestand zu bewerten: das Verhalten einer Person, die sich vorsätzlich und in Kenntnis entweder des Ziels und der allgemeinen Tätigkeit der kriminellen Vereinigung oder der Absicht der Vereinigung, die betreffenden Straftaten zu begehen, aktiv an den kriminellen Tätigkeiten der Vereinigung beteiligt, einschließlich durch Bereitstellung von Informationen oder materiellen Mitteln, Anwerbung neuer Mitglieder oder durch jegliche Art der Finanzierung der Tätigkeiten der Vereinigung, und sich bewusst ist, dass diese Beteiligung zur Durchführung der kriminellen Tätigkeiten der Vereinigung beiträgt. Er trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass eine solche Straftat mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwei bis fünf Jahren bedroht wird (Rahmenbeschluss 2008/841, Art. 2 und 3).

40      Jeder Mitgliedstaat kann die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die in Art. 3 vorgesehenen Strafen gemildert werden können oder dass der Straftäter straffrei bleibt, wenn er sich beispielsweise von seinen kriminellen Tätigkeiten lossagt und den Verwaltungs- oder Justizbehörden Informationen liefert, die sie nicht auf andere Weise hätten erhalten können, und ihnen auf diese Weise hilft, die Auswirkungen der Straftat zu verhindern, zu beenden oder abzuschwächen, die anderen Straftäter zu ermitteln oder vor Gericht zu bringen, Beweise zu sammeln, der kriminellen Vereinigung ihre Mittel oder die Erträge aus ihren Straftaten zu entziehen oder die Begehung weiterer Straftaten nach Art. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/841 zu verhindern (Rahmenbeschluss 2008/841, Art. 4).

41      Eine nationale Regelung, die für den Beschuldigten das Recht vorsieht, dass das gegen ihn betriebene Strafverfahren eingestellt wird, wenn erhebliche, aber behebbare Verstöße gegen Verfahrensvorschriften, unter denen die Anklageschrift leidet, nicht behoben worden sind, fällt aber weder unter Art. 4 noch unter andere Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/841. Eine solche nationale Regelung sieht nämlich vor, dass das Strafverfahren gegen den Beschuldigten unter bestimmten Voraussetzungen eingestellt wird, während Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass Strafen unter bestimmten Voraussetzungen gemildert werden können oder dass der Straftäter unter bestimmten Voraussetzungen straffrei bleibt.

42      Art. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/841 setzt mithin voraus, dass die betreffende Person der Täter ist, dessen Strafe gemildert werden kann oder der straffrei bleibt, während die nationale Regelung, um die es hier geht, lediglich einen Beschuldigten betrifft, der unter bestimmten Voraussetzungen das Recht darauf hat, dass das gegen ihn betriebene Strafverfahren eingestellt wird.

43      Deshalb kann auch die nationale Regelung, mit der dieses Recht aufgehoben wird, nicht unter Art. 4 oder andere Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/841 fallen.

44      Da die Regelung, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht als Durchführung des Rahmenbeschlusses 2008/841 im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen ist, finden Art. 47 und die anderen Bestimmungen der Charta auf einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens somit keine Anwendung.

45      Zu Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV ist festzustellen, dass diese Vorschrift bestimmt, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.

46      In einem Vorabentscheidungsverfahren muss ein Bezug zwischen dem Rechtsstreit, der bei dem vorlegenden Gericht anhängig ist, und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, bestehen, so dass diese Auslegung einem objektiven Erfordernis für die Entscheidung entspricht, die das vorlegende Gericht zu treffen hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 47 und 48).

47      Wie sich aus den Rn. 43 und 44 des vorliegenden Urteils ergibt, besteht im vorliegenden Fall zwischen dem Ausgangsrechtsstreit und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, kein Bezug. Insbesondere besteht kein Bezug zu Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV, auf den sich die erste Frage bezieht. Das vorlegende Gericht muss diese Vorschrift nicht anwenden, um daraus die im Ausgangsrechtsstreit zu treffende Entscheidung in der Sache herzuleiten (vgl. entsprechend Urteil vom 26. März 2020, Miasto Łowicz und Prokurator Generalny, C‑558/18 und C‑563/18, EU:C:2020:234, Rn. 49).

48      Somit ist auf die erste Frage zu antworten, dass der Rahmenbeschluss 2008/841, insbesondere dessen Art. 4, in Verbindung mit den Art. 47 und 52 der Charta und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung, mit der das Recht eines Beschuldigten darauf, dass das gegen ihn betriebene Strafverfahren, wenn erhebliche, aber behebbare Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften, unter denen die Anklageschrift leidet, nicht behoben werden, eingestellt wird, während des laufenden Strafverfahrens aufgehoben wird, nicht entgegensteht.

 Zur zweiten Frage

49      Die zweite Frage ist in Anbetracht der auf die erste Frage gegebenen Antwort nicht zu beantworten.

 Kosten

50      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Der Rahmenbeschluss 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, insbesondere dessen Art. 4, in Verbindung mit den Art. 47 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV

ist wie folgt auszulegen:

Er steht einer nationalen Regelung, mit der das Recht eines Beschuldigten darauf, dass das gegen ihn betriebene Strafverfahren, wenn erhebliche, aber behebbare Verstöße gegen die Verfahrensvorschriften, unter denen die Anklageschrift leidet, nicht behoben werden, eingestellt wird, während des laufenden Strafverfahrens aufgehoben wird, nicht entgegen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Bulgarisch.


1 Die vorliegende Rechtssache ist mit einem fiktiven Namen bezeichnet, der nicht dem echten Namen eines Verfahrensbeteiligten entspricht.