Language of document : ECLI:EU:C:2023:542

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

6. Juli 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Art. 14 Abs. 4 Buchst. b – Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft – Drittstaatsangehöriger, der wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde – Gefahr für die Allgemeinheit – Verhältnismäßigkeitsprüfung“

In der Rechtssache C‑8/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 2. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Januar 2022, in dem Verfahren

XXX

gegen

Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richter P. G. Xuereb, T. von Danwitz und A. Kumin,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. November 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von XXX, vertreten durch J. Hardy, Avocat,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet, A. Van Baelen und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azema und L. Grønfeldt als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Februar 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen XXX, einem Drittstaatsangehörigen, und dem Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose, Belgien, im Folgenden: Generalkommissar) wegen der Entscheidung des Generalkommissars, ihm die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Das am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichnete Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) trat am 22. April 1954 in Kraft. Es wurde durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ergänzt und geändert (im Folgenden: Genfer Konvention).


4        Art. 1 Abschnitt F der Genfer Konvention bestimmt:

„Die Bestimmungen dieses Abkommens finden keine Anwendung auf Personen, in Bezug auf die aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist,

b)      dass sie ein schweres nichtpolitisches Verbrechen außerhalb des Aufnahmelandes begangen haben, bevor sie dort als Flüchtling aufgenommen wurden;

…“

5        Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention lautet:

„Auf die Vergünstigung dieser Vorschrift kann sich jedoch ein Flüchtling nicht berufen, der aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde.“

 Unionsrecht

 Richtlinie 2004/38/EG

6        Art. 27 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35) lautet:

„Bei Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren und darf ausschließlich das persönliche Verhalten des Betroffenen ausschlaggebend sein. Strafrechtliche Verurteilungen allein können ohne Weiteres diese Maßnahmen nicht begründen.

Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig.“


 Richtlinie 2011/95

7        Der zwölfte Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.“

8        Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Zweck dieser Richtlinie ist es, Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, sowie für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes festzulegen.“

9        Art. 2 Buchst. d der Richtlinie stellt klar:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

d)      ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet“.

10      In Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie heißt es:

„Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er

b)      eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Aufnahmelandes begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, das heißt vor dem Zeitpunkt der Ausstellung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft …“


11      Art. 13 der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten erkennen einem Drittstaatsangehörigen oder einem Staatenlosen, der die Voraussetzungen der Kapitel II und III erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zu.“

12      Art. 14 Abs. 4 und 6 dieser Richtlinie bestimmt:

„(4)      Die Mitgliedstaaten können einem Flüchtling die ihm von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen, wenn

a)      es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält;

b)      er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

(6)      Personen, auf die die Absätze 4 oder 5 Anwendung finden, können die in den Artikeln 3, 4, 16, 22, 31, 32 und 33 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Rechte oder vergleichbare Rechte geltend machen, sofern sie sich in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten.“

13      Art. 17 Abs. 1 Buchst. b und d der Richtlinie führt aus:

„Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

b)      eine schwere Straftat begangen hat;

d)      eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.“

14      Art. 21 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie bestimmt:

„Ein Mitgliedstaat kann, sofern dies nicht aufgrund der in Absatz 1 genannten völkerrechtlichen Verpflichtungen untersagt ist, einen Flüchtling unabhängig davon, ob er als solcher förmlich anerkannt ist oder nicht, zurückweisen, wenn

b)      er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.“

15      Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Unbeschadet der Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten aus Gründen der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung die dort aufgeführten Leistungen verweigern, einschränken oder entziehen.“

16      Art. 24 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      So bald wie möglich nach Zuerkennung des internationalen Schutzes und unbeschadet des Artikels 21 Absatz 3 stellen die Mitgliedstaaten Personen, denen der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden ist, einen Aufenthaltstitel aus, der mindestens drei Jahre gültig und verlängerbar sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.

(2)      So bald wie möglich nach Zuerkennung des internationalen Schutzes stellen die Mitgliedstaaten Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, und ihren Familienangehörigen einen verlängerbaren Aufenthaltstitel aus, der mindestens ein Jahr und im Fall der Verlängerung mindestens zwei Jahre gültig sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.“

17      Art. 25 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen Personen, denen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, Reiseausweise – wie im Anhang zur Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehen – für Reisen außerhalb ihres Gebiets aus, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.

(2)      Die Mitgliedstaaten stellen Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist und die keinen nationalen Pass erhalten können, Dokumente für Reisen außerhalb ihres Hoheitsgebiets aus, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen.“


 Richtlinie 2013/32/EU

18      In Art. 45 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) heißt es:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass in Fällen, in denen die zuständige Behörde in Erwägung zieht, den internationalen Schutz eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen … abzuerkennen, die betreffende Person über folgende Garantien verfügt:

b)      ihr ist in einer persönlichen Anhörung … Gelegenheit zu geben, Gründe vorzubringen, die dagegen sprechen, ihr den internationalen Schutz abzuerkennen.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Entscheidung der zuständigen Behörde, den internationalen Schutz abzuerkennen, schriftlich ergeht. Die Entscheidung enthält eine sachliche und rechtliche Begründung sowie eine schriftliche Rechtsbehelfsbelehrung.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

19      Mit Entscheidung des Generalkommissars vom 23. Februar 2007 wurde XXX die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

20      Mit Urteil vom 20. Dezember 2010 verurteilte die Cour d’Assises de Bruxelles (Assisenhof [Schwurgericht], Belgien) XXX zu einer 25‑jährigen Freiheitsstrafe. Nach den Angaben in den Erklärungen der belgischen Regierung bezog sich diese Verurteilung u. a. auf die gemeinschaftliche Begehung eines Raubes mehrerer beweglicher Sachen und eines vorsätzlichen Tötungsdelikts, das zur Erleichterung dieses Raubes bzw. zur ihn betreffenden Strafvereitelung begangen wurde.

21      Mit Bescheid vom 4. Mai 2016 entzog der Generalkommissar XXX die Flüchtlingseigenschaft.

22      Gegen diesen Bescheid erhob XXX Klage beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien).

23      Mit Urteil vom 26. August 2019 wies dieses Gericht die Klage ab. Es war der Ansicht, dass sich die Gefahr, die XXX für die Allgemeinheit darstelle, aus seiner Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat ergebe. In diesem Zusammenhang habe der Generalkommissar nicht nachzuweisen brauchen, dass XXX eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die Allgemeinheit darstelle. Vielmehr hätte XXX nachweisen müssen, dass er trotz seiner Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat keine Gefahr für die Allgemeinheit mehr darstelle.

24      Am 26. September 2019 legte XXX beim Conseil d’État (Staatsrat, Belgien), dem vorlegenden Gericht, Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil ein.

25      Zur Begründung seines Rechtsmittels machte er im Wesentlichen geltend, dass es Sache des Generalkommissars sei, das Vorliegen einer tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr für die Allgemeinheit zu beweisen, und dass eine Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich sei, um festzustellen, ob die von ihm ausgehende Gefahr die Aberkennung seiner Flüchtlingseigenschaft rechtfertige.

26      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass die Gefahr für die Allgemeinheit schon allein dadurch erwiesen ist, dass eine Person, der der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden ist, wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, oder ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass die rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat allein nicht ausreicht, um nachzuweisen, dass eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht?

2.      Wenn die rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat allein nicht ausreicht, um nachzuweisen, dass eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, ist dann Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass er verlangt, dass der Mitgliedstaat nachweist, dass der Kassationsbeschwerdeführer seit seiner Verurteilung weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt? Muss der Mitgliedstaat nachweisen, dass diese Gefahr tatsächlich und gegenwärtig ist, oder reicht es aus, wenn eine potenzielle Gefahr gegeben ist? Ist Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 für sich genommen oder in Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass er die Aberkennung der Rechtsstellung als Flüchtling nur dann erlaubt, wenn diese Aberkennung verhältnismäßig ist und wenn die Gefahr, die die Person darstellt, der diese Rechtsstellung zuerkannt worden ist, hinreichend erheblich ist, um die Aberkennung zu rechtfertigen?

3.      Wenn der Mitgliedstaat nicht nachweisen muss, dass der Kassationsbeschwerdeführer seit seiner Verurteilung weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und dass diese Gefahr tatsächlich, gegenwärtig und hinreichend erheblich ist, um die Aberkennung der Rechtsstellung als Flüchtling zu rechtfertigen, ist dann Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass aus ihm folgt, dass grundsätzlich der Nachweis der Gefahr für die Allgemeinheit dadurch erbracht ist, dass die Person, der der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden ist, wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, dass dieser aber nachweisen kann, dass er keine solche Gefahr (mehr) darstellt?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

27      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

28      Nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 können die Mitgliedstaaten einem Flüchtling die ihm zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

29      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift ihr Wortlaut, der Zusammenhang, in den sie sich einfügt, und die Ziele der Regelung, zu der sie gehört, zu berücksichtigen (Urteil vom 20. Oktober 2022, Centre public d’action sociale de Liège [Rücknahme oder Aussetzung einer Rückkehrentscheidung], C‑825/21, EU:C:2022:810, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Was zunächst den Wortlaut von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung zwei unterschiedliche Kriterien nennt, nämlich zum einen die rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat und zum anderen eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält.

31      Wird auch die genaue Beziehung zwischen diesen beiden Kriterien nicht ausdrücklich angegeben, so finden sie sich doch – wie der Generalanwalt in Nr. 63 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – in allen Sprachfassungen von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 und das, obschon es dem Gesetzgeber der Europäischen Union unbenommen gewesen wäre, ausschließlich auf eine solche Verurteilung abzustellen, wenn er es hätte zulassen wollen, dass schon deren Vorliegen zur Rechtfertigung einer in dieser Bestimmung vorgesehenen Maßnahme hinreichend wäre.

32      Was sodann den Kontext von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 betrifft, so ist erstens darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung eine Ausnahme von der in Art. 13 dieser Richtlinie aufgestellten Regel bildet, wonach die Mitgliedstaaten jedem Drittstaatsangehörigen, der die Voraussetzungen erfüllt, die Flüchtlingseigenschaft zuerkennen. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie ist daher restriktiv auszulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 13. September 2018, Ahmed, C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 52).

33      Dass sich der Unionsgesetzgeber dafür entschieden hat, in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 sowohl das Vorliegen einer strafrechtlichen Verurteilung als auch einer Gefahr für die Allgemeinheit zu nennen, statt nur auf die erste dieser Voraussetzungen abzustellen, darf zweitens nicht außer Acht gelassen werden, da er sich in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie für eine andere Formulierung entschieden und ausdrücklich vorgesehen hat, dass ein Drittstaatsangehöriger von der Anerkennung als Flüchtling auszuschließen ist, wenn er eine schwere nicht politische Straftat außerhalb des Aufnahmelands begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, ohne in irgendeiner Weise zu verlangen, dass dieser Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

34      Insoweit spiegelt die unterschiedliche Formulierung in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 und in deren Art. 14 Abs. 4 Buchst. b im Kern den Unterschied zwischen Art. 1 Abschnitt F und Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention wider, die einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen darstellt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. [Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Der Gerichtshof hat im Übrigen bereits festgestellt, dass die in Art. 14 Abs. 4 dieser Richtlinie genannten Fälle, in denen die Mitgliedstaaten die Flüchtlingseigenschaft aberkennen oder die Zuerkennung dieser Rechtsstellung ablehnen können, im Wesentlichen denen entsprechen, in denen die Mitgliedstaaten einen Flüchtling nach Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention zurückweisen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. [Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 93).

36      Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention wird jedoch, wie der Generalanwalt in Nr. 73 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, im Allgemeinen dahin ausgelegt, dass er die Erfüllung zweier kumulativer Voraussetzungen erfordert, nämlich eine rechtskräftige Verurteilung wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens und das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Staates, in dem sich die betreffende Person aufhält.

37      Drittens ist auch zu betonen, dass Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95, was die Zuerkennung subsidiären Schutzes anbelangt, der einen geringeren Schutz als die Flüchtlingseigenschaft bieten kann, in seinem Buchst. b auf die Begehung einer schweren Straftat und in seinem Buchst. d auf das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit abstellt, wobei diese Kriterien ausdrücklich als alternative Voraussetzungen dargestellt werden, die jeweils für sich genommen den Ausschluss von der Gewährung subsidiären Schutzes zur Folge haben.

38      Viertens sind, da der Unionsgesetzgeber sich in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b und Art. 21 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 für den gleichen Wortlaut entschieden hat, diese beiden Bestimmungen im Einklang miteinander auszulegen.

39      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 21 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie geht hervor, dass die Anwendung dieser Bestimmung von der Erfüllung zweier unterschiedlicher Voraussetzungen abhängt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2015, T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 72).

40      Fünftens kann entgegen der von der belgischen Regierung vertretenen Auffassung nicht davon ausgegangen werden, dass eine Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin, dass er die Erfüllung zweier unterschiedlicher Voraussetzungen erfordere, ihm deshalb seine praktische Wirksamkeit nähme, weil Art. 14 Abs. 4 Buchst. a dieser Richtlinie es bereits ermögliche, einem Drittstaatsangehörigen, der eine Gefahr darstelle, die Flüchtlingseigenschaft abzuerkennen, auch wenn er nicht wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden sei.

41      Aus einem Vergleich dieser beiden Bestimmungen ergibt sich nämlich, dass sich Art. 14 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie auf eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats bezieht, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, während Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie auf eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats abstellt. Mithin beziehen sich diese beiden Bestimmungen auf zwei verschiedene Arten von Gefahren.

42      Schließlich spricht auch das wesentliche Ziel der Richtlinie 2011/95, wie es aus ihrem Art. 1 und ihrem zwölften Erwägungsgrund hervorgeht – nämlich zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird –, für eine restriktive Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie.

43      Nach alledem hängt die Anwendung dieser Bestimmung von der Erfüllung zweier unterschiedlicher Voraussetzungen ab, nämlich zum einen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, und zum anderen, dass festgestellt wurde, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

44      Ohne diese vom Unionsgesetzgeber so getroffene Entscheidung zu verkennen, kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Erfüllung einer dieser beiden Voraussetzungen ausreicht, um festzustellen, dass auch die zweite erfüllt wäre.

45      Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, nicht schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

 Zur zweiten und zur dritten Frage

46      Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Anwendung dieser Bestimmung davon abhängt, dass die zuständige Behörde feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und schwere Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme ist.

47      Wie in Rn. 43 des vorliegenden Urteils festgestellt, kann die Flüchtlingseigenschaft nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 nur dann aberkannt werden, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind, wobei die zweite Voraussetzung darin besteht, dass festgestellt wird, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

48      Erstens ist zur Ermittlung der Tragweite des Begriffs „Gefahr für die Allgemeinheit“ im Sinne dieser Bestimmung darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Unionsbürger, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, und bestimmte Mitglieder seiner Familie nur dann als Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen werden können, wenn ihr individuelles Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats berührt (Urteil vom 12. Dezember 2019, G. S. und V. G. [Gefährdung der öffentlichen Ordnung], C‑381/18 und C‑382/18, EU:C:2019:1072, Rn. 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Da das vorlegende Gericht in Betracht zieht, dass der Begriff „Gefahr für die Allgemeinheit“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 auf der Grundlage des in dieser Rechtsprechung aufgestellten Maßstabs definiert werden könne, ist darauf hinzuweisen, dass nicht generell davon ausgegangen werden kann, dass jedwede Bezugnahme auf eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder für die Allgemeinheit ausschließlich als auf ein individuelles Verhalten verweisend zu verstehen ist, das eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft des betreffenden Mitgliedstaats berührt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2019, G. S. und V. G. [Gefährdung der öffentlichen Ordnung], C‑381/18 und C‑382/18, EU:C:2019:1072, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).


50      Somit sind im Hinblick auf die Bestimmung der Tragweite des Begriffs „Gefahr für die Allgemeinheit“ im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 der Wortlaut dieser Vorschrift, ihr Kontext sowie die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2019, G. S. und V. G. [Gefährdung der öffentlichen Ordnung], C‑381/18 und C‑382/18, EU:C:2019:1072, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Was zunächst den Wortlaut von Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung im Unterschied insbesondere zu Art. 27 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2004/38 es für die Einstufung des betreffenden Drittstaatsangehörigen als Gefahr für die Allgemeinheit nicht ausdrücklich erfordert, dass das Verhalten dieses Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

52      Gleichwohl ergibt sich zum einen schon aus dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95, dass diese Bestimmung nur dann anwendbar ist, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem er sich aufhält, „darstellt“, was darauf hindeutet, dass diese Gefahr tatsächlich und gegenwärtig sein muss.

53      Zum anderen würde, wie der Generalanwalt in Nr. 86 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, das ausdrückliche Postulat, dass der Drittstaatsangehörige eine solche Gefahr „darstellt“, weitgehend wirkungslos, wenn als hinreichend für die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 schon eine potenzielle Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats anzusehen sein sollte. Die rechtskräftige Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat, die von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b ebenfalls gefordert wird, vermag nämlich normalerweise schon für sich genommen zu belegen, dass zumindest solch eine potenzielle Gefahr besteht.

54      Was sodann den Kontext von Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 betrifft, so beziehen sich Art. 23 Abs. 4 sowie die Art. 24 und 25 dieser Richtlinie im Gegensatz zu ihrem Art. 14 Abs. 4 Buchst. b zwar unmittelbar auf den Begriff „öffentliche Ordnung“, auf den die in Rn. 48 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung Bezug nimmt.

55      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht hervor, dass insbesondere im Hinblick auf diese Formulierung Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie die Versagung eines Aufenthaltstitels aus zwingenden Gründen der öffentlichen Ordnung nur dann ermöglichen kann, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2015, T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 77 bis 79).

56      Gleichwohl kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Verwendung des Ausdrucks „Gefahr für die Allgemeinheit“ anstelle einer Bezugnahme auf die „öffentliche Ordnung“ zum Ausdruck bringt, dass ein wesentlich anderer Maßstab als derjenige zugrunde zu legen wäre, der in der in Rn. 48 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung angelegt wurde, da der sowohl in Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 als auch in deren Art. 21 Abs. 2 gewählte Wortlaut, wie in Rn. 34 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die Formulierung widerspiegelt, die in Art. 33 Abs. 2 der Genfer Konvention verwendet wird.

57      Vielmehr ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Anwendung von Art. 21 Abs. 2 dieser Richtlinie, der, wie sich aus Rn. 38 des vorliegenden Urteils ergibt, im Einklang mit Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie auszulegen ist, strengen Voraussetzungen unterliegt, die höher sind als diejenigen, die die Anwendung von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Juni 2015, T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 72, 74 und 75).

58      Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass nach der allgemeinen Systematik der Richtlinie 2011/95 schwere Straftaten, die ein Drittstaatsangehöriger begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, die Anwendung der in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie vorgesehenen Ausschlussklausel rechtfertigen, während Art. 14 Abs. 4 und Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie es ermöglichen, die gegenwärtige Gefahr zu berücksichtigen, die von einem Drittstaatsangehörigen ausgeht (vgl. entsprechend Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 101).

59      Schließlich impliziert das wesentliche Ziel der Richtlinie 2011/95, wie sich aus Rn. 42 des vorliegenden Urteils ergibt, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie restriktiv auszulegen ist.

60      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass eine Maßnahme nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 nur erlassen werden darf, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

61      Was zweitens die jeweiligen Rollen der zuständigen Behörde und des betreffenden Drittstaatsangehörigen im Rahmen der Beurteilung dessen angeht, ob eine solche Gefahr vorliegt, so ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die zuständige Behörde bei der Anwendung dieser Bestimmung in jedem Einzelfall eine Würdigung sämtlicher besonderer Umstände dieses Falls vorzunehmen hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. September 2018, Ahmed, C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 48 und 50, sowie vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 72 und 92).

62      In diesem Zusammenhang und insbesondere in Anbetracht dessen, dass Art. 45 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 vorsieht, dass die Entscheidung der zuständigen Behörde, den internationalen Schutz abzuerkennen, die sachliche und rechtliche Begründung enthält, auf der diese Entscheidung beruht, muss die zuständige Behörde über alle relevanten Informationen verfügen und anhand dieser Informationen ihre eigene Würdigung sämtlicher besonderer Umstände des fraglichen Einzelfalls vornehmen, um den Inhalt ihrer Entscheidung zu bestimmen und diese umfassend zu begründen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 80).

63      Im Rahmen der Umstände, die bei der Würdigung dessen zu berücksichtigen sind, ob eine Gefahr für die Allgemeinheit besteht, ist es – auch wenn in der Regel die Feststellung einer ein Grundinteresse der Gesellschaft berührenden tatsächlichen, gegenwärtigen und erheblichen Gefahr eine Neigung des Betroffenen impliziert, das Verhalten, das diese Gefahr darstellt, in Zukunft beizubehalten – auch möglich, dass allein das frühere Verhalten den Tatbestand einer solchen Gefahr erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2018, K. und H. F. [Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen], C‑331/16 und C‑366/16, EU:C:2018:296, Rn. 56). Dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, ist von besonderer Bedeutung, da der Unionsgesetzgeber speziell auf eine solche Verurteilung Bezug genommen hat und diese je nach den Umständen der Begehung dieser Straftat dazu beitragen kann, das Bestehen einer tatsächlichen und erheblichen Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des betreffenden Mitgliedstaats zu belegen.

64      Was insbesondere die Gegenwärtigkeit einer solchen Gefahr betrifft, so ergibt sich jedoch sowohl aus der Antwort auf die erste Frage als auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass aus den Vorstrafen des betreffenden Drittstaatsangehörigen nicht automatisch geschlossen werden kann, dass dieser Adressat der in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Maßnahme sein kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. September 2016, CS, C‑304/14, EU:C:2016:674, Rn. 41). Je später also eine Entscheidung gemäß dieser Bestimmung nach der rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat getroffen wird, desto mehr obliegt es der zuständigen Behörde, namentlich die Entwicklungen nach der Begehung einer solchen Straftat zu berücksichtigen, um festzustellen, ob eine tatsächliche und erhebliche Gefahr zu demjenigen Zeitpunkt besteht, zu dem diese Behörde über die etwaige Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft zu befinden hat.

65      Da Art. 45 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 lediglich vorsieht, dass der Drittstaatsangehörige, dem gegenüber die zuständige Behörde in Erwägung zieht, ihm den internationalen Schutz abzuerkennen, „Gelegenheit“ haben muss, die Gründe vorzubringen, die dagegen sprechen, ihm den internationalen Schutz abzuerkennen, kann insoweit nicht davon ausgegangen werden, dass die zuständige Behörde in Ermangelung von Angaben des Drittstaatsangehörigen zu Gründen, aus denen er keine Gefahr für die Allgemeinheit mehr darstelle, vermuten darf, dass sich aus der rechtskräftigen Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat ergebe, dass der Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstelle, die ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats berührt, in dem er sich aufhält.

66      Drittens ist darauf hinzuweisen, dass der betreffende Mitgliedstaat, wenn er festgestellt hat, dass die beiden in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 genannten Voraussetzungen erfüllt sind, die in dieser Bestimmung vorgesehene Maßnahme erlassen kann, ohne jedoch verpflichtet zu sein, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen (vgl. entsprechend Urteile vom 24. Juni 2015, T., C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 72, und vom 22. September 2022, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság u. a., C‑159/21, EU:C:2022:708, Rn. 81).

67      Von dieser Möglichkeit ist insbesondere unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Gebrauch zu machen, der eine Abwägung der Gefahr, die der betreffende Drittstaatsangehörige für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, gegen die Rechte beinhaltet, die gemäß dieser Richtlinie den Personen zu gewährleisten sind, die die materiellen Voraussetzungen von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie erfüllen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Mai 2018, K. und H. F. [Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen], C‑331/16 und C‑366/16, EU:C:2018:296, Rn. 62, vom 12. Dezember 2019, G. S. und V. G. [Gefährdung der öffentlichen Ordnung], C‑381/18 und C‑382/18, EU:C:2019:1072, Rn. 64, sowie vom 9. Februar 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid u. a. [Entzug des Aufenthaltsrechts eines türkischen Arbeitnehmers], C‑402/21, EU:C:2023:77, Rn. 72).

68      Im Rahmen dieser Würdigung muss die zuständige Behörde auch den durch das Unionsrecht garantierten Grundrechten Rechnung tragen und insbesondere die Möglichkeit prüfen, andere, die Flüchtlings- und Grundrechte weniger beeinträchtigende Maßnahmen zu ergreifen, die die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, ebenso wirksam schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2018, K. und H. F. [Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen], C‑331/16 und C‑366/16, EU:C:2018:296, Rn. 63 und 64).

69      Bei dieser Beurteilung wird die zuständige Behörde zu berücksichtigen haben, dass den betreffenden Drittstaatsangehörigen im Fall der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft diese Rechtsstellung entzogen wird und sie daher nicht mehr über alle in der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Rechte und Leistungen verfügen, dass sie aber gemäß Art. 14 Abs. 6 dieser Richtlinie weiterhin bestimmte in der Genfer Konvention vorgesehene Rechte geltend machen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. [Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 99).

70      Daher ist Art. 14 Abs. 6 der Richtlinie 2011/95 im Einklang mit Art. 78 Abs. 1 AEUV und Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass der Mitgliedstaat, der von der in Art. 14 Abs. 4 dieser Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch macht, dem Flüchtling, der von einer der in dieser Bestimmung vorgesehenen Fallgestaltungen erfasst wird und sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält, zumindest die in der Genfer Konvention verankerten Rechte, auf die dieser Art. 14 Abs. 6 ausdrücklich verweist, sowie die in dieser Konvention vorgesehenen Rechte, deren Ausübung keinen rechtmäßigen Aufenthalt voraussetzt, gewähren muss, und zwar unbeschadet möglicher Vorbehalte des Mitgliedstaats (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. [Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft], C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 107).

71      Folglich ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Anwendung dieser Bestimmung davon abhängt, dass die zuständige Behörde feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme ist.

 Kosten

72      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

ist dahin auszulegen, dass

das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, nicht schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

2.      Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

die Anwendung dieser Bestimmung davon abhängt, dass die zuständige Behörde feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.