Language of document : ECLI:EU:C:2020:812

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

8. Oktober 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie (EU) 2015/1535 – Art. 1 – Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft – Begriff ‚technische Vorschrift‘ – Glücksspiel – Lokale Abgabe auf das Halten von Wettterminals – Steuerrechtliche Regelung – Keine Mitteilung an die Europäische Kommission – Wirksamkeit gegenüber dem Steuerpflichtigen“

In der Rechtssache C‑711/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 3. September 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 25. September 2019, in dem Verfahren

Admiral Sportwetten GmbH,

Novomatic AG,

AKO Gastronomiebetriebs GmbH

gegen

Magistrat der Stadt Wien

erlässt


DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Richters D. Šváby in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten, des Richters S. Rodin (Berichterstatter) und der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez‑Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Admiral Sportwetten GmbH, der Novomatic AG und der AKO Gastronomiebetriebs GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt W. Schwartz,

–        des Magistrats der Stadt Wien, vertreten durch S. Bollinger als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und C. Drexel als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck, J.‑C. Halleux und S. Baeyens als Bevollmächtigte im Beistand der Rechtsanwälte P. Vlaemminck und R. Verbeke,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, J. Gomes de Almeida, A. Pimenta, P. Barros da Costa und A. Silva Coelho als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Jauregui Gomez und M. Noll-Ehlers als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 der Richtlinie (EU) 2015/1535 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft (ABl. 2015, L 241, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Admiral Sportwetten GmbH, der Novomatic AG und der AKO Gastronomiebetriebs GmbH (im Folgenden zusammen: Admiral u. a.) auf der einen Seite und dem Magistrat der Stadt Wien auf der anderen Seite wegen Zahlung der Wettterminalabgabe (im Folgenden: streitige Abgabe).

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 1 Abs. 1 Buchst. b bis f der Richtlinie 2015/1535 bestimmt:

„(1)      Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

b)      ‚Dienst‘ eine Dienstleistung der Informationsgesellschaft, d. h. jede in der Regel gegen Entgelt elektronisch im Fernabsatz und auf individuellen Abruf eines Empfängers erbrachte Dienstleistung.

Im Sinne dieser Definition bezeichnet der Ausdruck

i)      ‚im Fernabsatz erbrachte Dienstleistung‘ eine Dienstleistung, die ohne gleichzeitige physische Anwesenheit der Vertragsparteien erbracht wird;

ii)      ‚elektronisch erbrachte Dienstleistung‘ eine Dienstleistung, die mittels Geräten für die elektronische Verarbeitung (einschließlich digitaler Kompression) und Speicherung von Daten am Ausgangspunkt gesendet und am Endpunkt empfangen wird und die vollständig über Draht, über Funk, auf optischem oder anderem elektromagnetischem Wege gesendet, weitergeleitet und empfangen wird;

iii)      ‚auf individuellen Abruf eines Empfängers erbrachte Dienstleistung‘ eine Dienstleistung, die durch die Übertragung von Daten auf individuelle Anforderung erbracht wird.

Eine Beispielliste der nicht unter diese Definition fallenden Dienste findet sich in Anhang I.

c)      ‚technische Spezifikation‘ eine Spezifikation, die in einem Schriftstück enthalten ist, das Merkmale für ein Erzeugnis vorschreibt, wie Qualitätsstufen, Gebrauchstauglichkeit, Sicherheit oder Abmessungen, einschließlich der Vorschriften über Verkaufsbezeichnung, Terminologie, Symbole, Prüfungen und Prüfverfahren, Verpackung, Kennzeichnung und Beschriftung des Erzeugnisses sowie über Konformitätsbewertungsverfahren.

d)      ‚sonstige Vorschrift‘ eine Vorschrift für ein Erzeugnis, die keine technische Spezifikation ist und insbesondere zum Schutz der Verbraucher oder der Umwelt erlassen wird und den Lebenszyklus des Erzeugnisses nach dem Inverkehrbringen betrifft, wie Vorschriften für Gebrauch, Wiederverwertung, Wiederverwendung oder Beseitigung, sofern diese Vorschriften die Zusammensetzung oder die Art des Erzeugnisses oder seine Vermarktung wesentlich beeinflussen können;

e)      ‚Vorschrift betreffend Dienste‘ eine allgemein gehaltene Vorschrift über den Zugang zu den Aktivitäten der unter Buchstabe b genannten Dienste und über deren Betreibung, insbesondere Bestimmungen über den Erbringer von Diensten, die Dienste und den Empfänger von Diensten, unter Ausschluss von Regelungen, die nicht speziell auf die unter dieser Nummer definierten Dienste abzielen.

f)      ‚technische Vorschrift‘ technische Spezifikationen oder sonstige Vorschriften oder Vorschriften betreffend Dienste, einschließlich der einschlägigen Verwaltungsvorschriften, deren Beachtung rechtlich oder de facto für das Inverkehrbringen, die Erbringung des Dienstes, die Niederlassung eines Erbringers von Diensten oder die Verwendung in einem Mitgliedstaat oder in einem großen Teil dieses Staates verbindlich ist, sowie – vorbehaltlich der in Artikel 7 genannten Bestimmungen – die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, mit denen Herstellung, Einfuhr, Inverkehrbringen oder Verwendung eines Erzeugnisses oder Erbringung oder Nutzung eines Dienstes oder die Niederlassung als Erbringer von Diensten verboten werden.

Technische De-facto-Vorschriften sind insbesondere:

i)      die Rechts- oder Verwaltungsvorschriften eines Mitgliedstaats, in denen entweder auf technische Spezifikationen oder sonstige Vorschriften oder auf Vorschriften betreffend Dienste oder auf Berufskodizes oder Verhaltenskodizes, die ihrerseits einen Verweis auf technische Spezifikationen oder sonstige Vorschriften oder auf Vorschriften betreffend Dienste enthalten, verwiesen wird und deren Einhaltung eine Konformität mit den durch die genannten Rechts- oder Verwaltungsvorschriften festgelegten Bestimmungen vermuten lässt;

ii)      die freiwilligen Vereinbarungen, bei denen der Staat Vertragspartei ist und die im öffentlichen Interesse die Einhaltung von technischen Spezifikationen oder sonstigen Vorschriften oder von Vorschriften betreffend Dienste mit Ausnahme der Vergabevorschriften im öffentlichen Beschaffungswesen bezwecken;

iii)      die technischen Spezifikationen oder sonstigen Vorschriften oder die Vorschriften betreffend Dienste, die mit steuerlichen oder finanziellen Maßnahmen verbunden sind, die auf den Verbrauch der Erzeugnisse oder die Inanspruchnahme der Dienste Einfluss haben, indem sie die Einhaltung dieser technischen Spezifikationen oder sonstigen Vorschriften oder Vorschriften betreffend Dienste fördern; dies gilt nicht für technische Spezifikationen oder sonstige Vorschriften oder Vorschriften betreffend Dienste, die die nationalen Systeme der sozialen Sicherheit betreffen.

…“

4        Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Vorbehaltlich des Artikels 7 übermitteln die Mitgliedstaaten der Kommission unverzüglich jeden Entwurf einer technischen Vorschrift, sofern es sich nicht um eine vollständige Übertragung einer internationalen oder europäischen Norm handelt; in diesem Fall reicht die Mitteilung aus, um welche Norm es sich handelt. Sie unterrichten die Kommission gleichzeitig in einer Mitteilung über die Gründe, die die Festlegung einer derartigen technischen Vorschrift erforderlich machen, es sei denn, die Gründe gehen bereits aus dem Entwurf hervor.

In Bezug auf die technischen Spezifikationen oder sonstigen Vorschriften oder Vorschriften betreffend Dienste nach Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe f Unterabsatz 2 Ziffer iii dieser Richtlinie können die Bemerkungen oder ausführlichen Stellungnahmen der Kommission oder der Mitgliedstaaten sich nur auf diejenigen Aspekte der Maßnahme, die möglicherweise ein Handelshemmnis oder – in Bezug auf Vorschriften betreffend Dienste – ein Hindernis für den freien Dienstleistungsverkehr oder die Niederlassungsfreiheit von Betreibern darstellen, nicht aber auf den steuerlichen oder finanziellen Aspekt der Maßnahme beziehen.“

5        Anhang I dieser Richtlinie enthält eine „Beispielliste der nicht unter Artikel 1 Absatz 1 Buchstabe b fallenden Dienste“. Nr. 1 Buchst. d dieses Anhangs lautet:

„1.      Nicht ‚im Fernabsatz‘ erbrachte Dienste

Dienste, bei deren Erbringung der Erbringer und der Empfänger gleichzeitig physisch anwesend sind, selbst wenn dabei elektronische Geräte benutzt werden:

d)      Bereitstellung elektronischer Spiele in einer Spielhalle in Anwesenheit des Benutzers.“

 Österreichisches Recht

6        § 1 des Gesetzes über die Einhebung einer Wettterminalabgabe (LGBl. Nr. 32/2016 vom 4. Juli 2016, Wiener Wettterminalabgabegesetz, im Folgenden: WWAG) lautet in der zum Zeitpunkt des maßgeblichen Sachverhalts anwendbaren Fassung:

„Für das Halten von Wettterminals im Gebiet der Stadt Wien ist eine Wettterminalabgabe zu entrichten.“

7        In § 2 („Begriffsbestimmungen“) Z 1 WWAG heißt es:

„Im Sinne dieses Gesetzes bedeuten:

1.      Wettterminal: eine Wettannahmestelle an einem bestimmten Standort, die über eine Datenleitung mit einer Buchmacherin bzw. einem Buchmacher oder einer Totalisateurin bzw. einem Totalisateur verbunden ist und einer Person unmittelbar die Teilnahme an einer Wette ermöglicht.

…“

8        § 3 („Höhe der Abgabe“) WWAG bestimmt:

„Die Abgabe für das Halten von Wettterminals beträgt je Wettterminal und begonnenem Kalendermonat 350 Euro.

…“

9        § 8 Abs. 1 WWAG sieht vor:

„Handlungen oder Unterlassungen, durch welche die Abgabe verkürzt wird, sind als Verwaltungsübertretungen mit Geldstrafen bis 42.000 Euro zu bestrafen; für den Fall der Uneinbringlichkeit der Geldstrafe ist eine Ersatzfreiheitsstrafe bis zu sechs Wochen festzusetzen. Die Verkürzung dauert so lange an, bis die bzw. der Abgabepflichtige die Selbstbemessung nachholt oder die Abgabenbehörde die Abgabe bescheidmäßig festsetzt. …“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10      Admiral u. a. üben Tätigkeiten im Zusammenhang mit dem Halten von Wettterminals aus. Konkret ist die Admiral Sportwetten GmbH Aufstellerin solcher Terminals, die Novomatic AG Eigentümerin dieser Terminals und die AKO Gastronomiebetriebs GmbH Inhaberin eines für das Halten dieser Terminals benutzten Raums.

11      Ab August 2016 wandten sich Admiral u. a. an den Magistrat der Stadt Wien und ersuchten um Festsetzung der streitigen Abgabe mit 0 Euro, weil keine Abgabenpflicht bestehe.

12      Mit Bescheid vom 31. Oktober 2016 setzte der Magistrat der Stadt Wien gegenüber Admiral u. a. diese Abgabe für September und Oktober 2016 mit 350 Euro pro Monat und Wettterminal fest. Mit Bescheiden vom 2. Januar und 24. Juli 2017 wurde der gleiche Betrag für die Zeiträume von November bis Dezember 2016 und von Januar bis Juni 2017 festgesetzt.

13      Admiral u. a. erhoben gegen diese Bescheide Beschwerden, wobei sie geltend machten, dass es sich bei den im WWAG enthaltenen Regelungen betreffend Wettterminals um technische Vorschriften handele, deren Entwurf gemäß Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2015/1535 unverzüglich der Kommission zu übermitteln sei.

14      Am 23. August 2018 wurden diese Beschwerden vom Bundesfinanzgericht (Österreich) mit der Begründung abgewiesen, dass es sich bei diesen Regelungen nicht um technische Vorschriften handle. Der Verfassungsgerichtshof (Österreich) lehnte es ab, die von Admiral u. a. gegen dieses Erkenntnis erhobene Beschwerde zu behandeln.

15      Am 23. August 2018 erhoben Admiral u. a. gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts Revision an den Verwaltungsgerichtshof (Österreich).

16      In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass für den Fall, dass die Bestimmungen des WWAG als „technische Vorschriften“ im Sinne der Richtlinie 2015/1535 einzustufen wären, ein Verstoß gegen die Pflicht, diese Bestimmungen vorher der Kommission mitzuteilen, zur Folge hätte, dass die streitige Abgabe nicht erhoben werden dürfe und somit eine Abgabepflicht der Revisionswerberinnen zu verneinen wäre.

17      Hinsichtlich der Einstufung als „technische Vorschrift“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2015/1535 vertritt das vorlegende Gericht die Auffassung, dass sich das WWAG zwar auf Wettterminals beziehe, aber keine konkreten Merkmale betreffend Wettterminals regele, so dass es keine „technische Spezifikation“ darstelle.

18      Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Kategorie der „sonstigen Vorschriften“ merkt das vorlegende Gericht an, dass das WWAG zwar keine Verbote enthalte, jedoch über die Besteuerung hinaus gleichwohl darauf abziele, diese Art von Wetten zurückzudrängen, so dass im Hinblick auf das Ziel des Verbraucherschutzes nicht ausgeschlossen werden könne, dass das WWAG den Lebenszyklus des Erzeugnisses nach seinem Inverkehrbringen betreffe, wodurch die Vermarktung der Wettterminals unmittelbar beeinträchtigt werden könne. Das vorlegende Gericht stellt allerdings fest, dass die Anzahl dieser Terminals in Wien im Wesentlichen konstant bleibe.

19      Zur Kategorie der „Vorschriften betreffend Dienste“ stellt das vorlegende Gericht fest, dass sie nur die Dienste der Informationsgesellschaft betreffe. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts scheint es aus den gleichen Erwägungen, die es auch in Bezug auf die Kategorie der „sonstigen Vorschriften“ vorbringt, nicht ausgeschlossen zu sein, dass die Bestimmungen des WWAG „Vorschriften betreffend Dienste“ darstellen könnten, da sie die mit dem Halten von Wettterminals unmittelbar verbundene Ermöglichung der Information über Wettmöglichkeiten und des Abschlusses von Wetten betreffen könnten.

20      In Bezug auf die Kategorie der „Verbote“ vertritt das vorlegende Gericht die Auffassung, dass die Bestimmungen des WWAG nicht unter diese Kategorie fielen, da sie keinerlei Verbot enthielten, sondern eine Bestrafung für den Fall von Handlungen oder Unterlassungen vorsähen, die eine Abgabenverkürzung bewirkten.

21      Schließlich weist das vorlegende Gericht hinsichtlich der Kategorie der „technischen De-facto-Vorschriften“ darauf hin, dass das WWAG keinen Verweis auf andere Vorschriften – insbesondere nicht auf das Gesetz über den Abschluss und die Vermittlung von Wetten (Wiener Wettengesetz) (LGBl. Nr. 26/2016 vom 13. Mai 2016) in der durch das Gesetz, mit dem das Gesetz über den Abschluss und die Vermittlung von Wetten (Wiener Wettengesetz) geändert wird (LGBl. Nr. 43/2019 vom 6. August 2019), geänderten Fassung (im Folgenden: Wiener Wettengesetz) – beinhalte, so dass es nicht unter diese Kategorie falle.

22      Im Übrigen möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass die Bestimmungen des WWAG als „technische Vorschriften“ im Sinne der Richtlinie 2015/1535 einzustufen sind, wissen, ob in Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein Verstoß gegen die Pflicht nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2015/1535 zu vorheriger Übermittlung des Entwurfs des WWAG dazu führt, dass diese Bestimmungen einem Einzelnen nicht entgegengehalten werden können.

23      Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 1 der Richtlinie 2015/1535 dahin auszulegen, dass die Regelungen des WWAG, die eine Besteuerung des Haltens von Wettterminals vorsehen, als „technische Vorschriften“ im Sinne dieser Bestimmung zu beurteilen sind?

2.      Führt die Unterlassung der Mitteilung der Bestimmungen des WWAG im Sinne der Richtlinie 2015/1535 dazu, dass eine Abgabe wie die Wettterminalabgabe nicht erhoben werden darf?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

24      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 der Richtlinie 2015/1535 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Abgabenvorschrift, die eine Besteuerung des Haltens von Wettterminals vorsieht, eine „technische Vorschrift“ im Sinne dieses Artikels darstellt.

25      Für die Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „technische Vorschrift“ vier Kategorien von Maßnahmen umfasst, erstens „technische Spezifikationen“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2015/1535, zweitens „sonstige Vorschriften“ gemäß der Definition in Art. 1 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie, drittens „Vorschriften betreffend Dienste“ gemäß Art. 1 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie und viertens „Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, mit denen Herstellung, Einfuhr, Inverkehrbringen oder Verwendung eines Erzeugnisses oder Erbringung oder Nutzung eines Dienstes oder die Niederlassung als Erbringer von Diensten verboten werden“, im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie (vgl. hinsichtlich der Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft [ABl. 1998, L 204, S. 37] in der durch die Richtlinie 98/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juli 1998 [ABl. 1998, L 217, S. 18] geänderten Fassung Urteil vom 12. September 2019, VG Media, C‑299/17, EU:C:2019:716, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Als Erstes ist zu präzisieren, dass eine nationale Maßnahme nur dann unter die erste, in Art. 1 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2015/1535 geregelte Kategorie technischer Vorschriften – „technische Spezifikationen“ – fällt, wenn sie sich auf das Erzeugnis oder seine Verpackung als solche bezieht und daher eines der vorgeschriebenen Merkmale für ein Erzeugnis festlegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. September 2019, VG Media, C‑299/17, EU:C:2019:716, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Im vorliegenden Fall werden, wie aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervorgeht, die technischen Spezifikationen der Wettterminals nicht durch das WWAG, sondern durch das Wiener Wettengesetz – einem Gesetz, das der Kommission gemäß der Richtlinie 2015/1535 mitgeteilt wurde – geregelt.

28      So beschränkt sich § 1 in Verbindung mit § 2 Z 1 WWAG darauf, im Hinblick auf den Anwendungsbereich der streitigen Abgabe – nämlich das Halten solcher Terminals – zu definieren, was unter „Wettterminal“ zu verstehen ist, wobei die Wettterminals zwar beschrieben, nicht aber deren Merkmale vorgeschrieben werden.

29      Unter diesen Umständen stellt eine Regelung wie die, die sich aus § 1 in Verbindung mit § 2 Z 1 WWAG ergibt, keine „technische Spezifikation“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2015/1535 dar.

30      Als Zweites ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff „sonstige Vorschrift“ in Art. 1 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2015/1535 definiert wird als eine Vorschrift für ein Erzeugnis, die keine technische Spezifikation ist und insbesondere zum Schutz der Verbraucher oder der Umwelt erlassen wird und den Lebenszyklus des Erzeugnisses nach dem Inverkehrbringen betrifft, wie Vorschriften für Gebrauch, Wiederverwertung, Wiederverwendung oder Beseitigung, sofern diese Vorschriften die Zusammensetzung oder die Art des Erzeugnisses oder seine Vermarktung wesentlich beeinflussen können.

31      Im vorliegenden Fall deutet nichts in den Akten darauf hin, dass § 1 in Verbindung mit § 2 Z 1 WWAG eine Vorschrift enthält, die die Zusammensetzung, den Gebrauch oder die Vermarktung von Wettterminals wesentlich beeinflussen könnte. Wie bereits oben in Rn. 28 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, regeln diese Bestimmungen nur den Anwendungsbereich der streitigen Abgabe.

32      Unter diesen Umständen fällt eine Regelung wie die sich aus § 1 in Verbindung mit § 2 Z 1 WWAG ergebende nicht unter die Kategorie der „sonstigen Vorschriften“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2015/1535.

33      Als Drittes ist in Bezug auf die Kategorie der „Vorschriften betreffend Dienste“ darauf hinzuweisen, dass sich aus Anhang I Nr. 1 Buchst. d der Richtlinie 2015/1535 ergibt, dass die „Bereitstellung elektronischer Spiele in einer Spielhalle in Anwesenheit des Benutzers“, wie etwa das Anbieten von Wetten über die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Terminals, einen nicht im Fernabsatz erbrachten Dienst darstellt.

34      Die Einstufung als „Vorschriften betreffend Dienste“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. e in Verbindung mit Buchst. b der Richtlinie 2015/1535 setzt jedoch insbesondere voraus, dass es sich um einen im Fernabsatz erbrachten Dienst handelt.

35      Daher fällt eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die einen nicht im Fernabsatz erbrachten Dienst betrifft, nicht unter die Kategorie der „Vorschriften betreffend Dienste“.

36      Als Viertes ist in Bezug auf die Kategorie der „technischen Vorschriften“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2015/1535 darauf hinzuweisen, dass sie die Rechts‑ und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten umfasst, mit denen Herstellung, Einfuhr, Inverkehrbringen oder Verwendung eines Erzeugnisses oder Erbringung oder Nutzung eines Dienstes oder die Niederlassung als Erbringer von Diensten verboten werden. Was insbesondere die Verwendungsverbote betrifft, so hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass diese Verbote Maßnahmen umfassen, deren Tragweite klar über eine Begrenzung bestimmter möglicher Verwendungen des in Rede stehenden Erzeugnisses hinausgeht und sich damit nicht auf eine bloße Beschränkung von dessen Verwendung reduziert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. April 2005, Lindberg, C‑267/03, EU:C:2005:246, Rn. 76).

37      Im vorliegenden Fall enthält § 1 in Verbindung mit § 2 Z 1 WWAG jedoch kein Verbot, so dass er nicht unter diese Kategorie der technischen Vorschriften fällt. Diese Schlussfolgerung wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass § 8 Abs. 1 WWAG bei Verstößen gegen die Pflicht zur Zahlung der streitigen Abgabe Verwaltungsstrafen vorsieht. Diese Verwaltungsstrafen betreffen nämlich weder die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Erzeugnisse noch die Dienstleistung der Veranstaltung von Wetten, sondern den Schuldner der streitigen Abgabe.

38      Darüber hinaus ist in Bezug auf technische De-facto-Vorschriften im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. f Ziff. iii der Richtlinie 2015/1535 noch zu ergänzen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass steuerrechtliche Vorschriften, die von keiner technischen Spezifikation oder sonstigen Vorschrift begleitet werden, deren Einhaltung sie sicherstellen sollen, nicht als „technische De-facto-Vorschriften“ eingestuft werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 97).

39      Im vorliegenden Fall kann zum einen nicht geltend gemacht werden, dass § 1 in Verbindung mit § 2 Z 1 WWAG eine steuerliche Maßnahme darstellt, die auf den Verbrauch der Erzeugnisse oder die Inanspruchnahme der Dienste Einfluss hat, indem sie die Einhaltung dieser technischen Spezifikationen, sonstigen Vorschriften oder Vorschriften betreffend Dienste fördert, da der Wortlaut dieser Bestimmung in keiner Weise darauf hindeutet, dass durch die Abgabenpflicht die Einhaltung der technischen Vorschriften betreffend die Wettterminals gewährleistet werden soll, die ihrerseits in einem anderen Gesetz, nämlich im Wiener Wettengesetz, enthalten sind. Zum anderen wird diese nationale Bestimmung nicht von technischen Spezifikationen, sonstigen Vorschriften oder Vorschriften betreffend Dienste begleitet.

40      Daraus folgt, dass eine Regelung wie die sich aus § 1 in Verbindung mit § 2 Z 1 WWAG ergebende nicht unter die Kategorie der „technischen Vorschriften“ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2015/1535 fällt.

41      Nach alledem ist somit auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 der Richtlinie 2015/1535 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Abgabenvorschrift, die eine Besteuerung des Haltens von Wettterminals vorsieht, keine „technische Vorschrift“ im Sinne dieses Artikels darstellt.

 Zur zweiten Frage

42      In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

43      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 1 der Richtlinie (EU) 2015/1535 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. September 2015 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft ist dahin auszulegen, dass eine nationale Abgabenvorschrift, die eine Besteuerung des Haltens von Wettterminals vorsieht, keine „technische Vorschrift“ im Sinne dieses Artikels darstellt.

Šváby

Rodin

Jürimäe

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 8. Oktober 2020.

Der Kanzler

In Wahrnehmung der Aufgaben des
Präsidenten der Neunten Kammer

A. Calot Escobar

 

D. Šváby


*      Verfahrenssprache: Deutsch.