Rechtssache C‑510/19
Strafverfahren
gegen
AZ
(Vorabentscheidungsersuchen des Hof van beroep te Brussel)
Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 24. November 2020
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Art. 6 Abs. 2 – Begriff ‚vollstreckende Justizbehörde‘ – Art. 27 Abs. 2 – Grundsatz der Spezialität – Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 – Ausnahme – Verfolgung wegen einer ‚anderen Handlung‘ als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt – Zustimmung der vollstreckenden Justizbehörde – Zustimmung der Staatsanwaltschaft des Vollstreckungsmitgliedstaats“
1. Polizeiliche Zusammenarbeit – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses – Autonomer unionsrechtlicher Begriff
(Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung, Art. 6 Abs. 1 und 2)
(vgl. Rn. 40, 41, 56, Tenor 1)
2. Polizeiliche Zusammenarbeit – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses – Behörden eines Mitgliedstaats, die keine Gerichte sind und an der Strafrechtspflege dieses Mitgliedstaats mitwirken – Einbeziehung – Voraussetzung – Erfordernis der Unabhängigkeit dieser Behörde gegenüber der Exekutive – Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls durch eine solche Behörde – Beachtung der Anforderungen eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes – Erfordernis eines gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken
(Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung, Art. 6 Abs. 1 und 2)
(vgl. Rn. 42-47, 49, 51-54, 56, Tenor 1)
3. Polizeiliche Zusammenarbeit – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4 des Rahmenbeschlusses – Behörde, die ihre Zustimmung zu einer Abweichung vom Grundsatz der Spezialität erteilen kann – Behörden eines Mitgliedstaats, die keine Gerichte sind und an der Strafrechtspflege dieses Mitgliedstaats mitwirken – Einbeziehung – Staatsanwalt, der eine Einzelweisung der Exekutive erhalten kann – Ausschluss
(Rahmenbeschluss 2002/584 des Rates in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung, Art. 6 Abs. 2, Art. 27 Abs. 2, Abs. 3 Buchst. g und Abs. 4)
(vgl. Rn. 59, 60, 62, 64, 67, 70, Tenor 2)
Zusammenfassung
Die Staatsanwälte in den Niederlanden sind keine „vollstreckende Justizbehörde“ im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, da sie Einzelweisungen seitens des niederländischen Justizministers unterworfen werden können
Im September 2017 wurde von einem belgischen Untersuchungsrichter ein Europäischer Haftbefehl (EHB) gegen AZ, einen belgischen Staatsangehörigen, ausgestellt, dem Urkundenfälschung, die Verwendung gefälschter Urkunden und Betrug vorgeworfen wurden. Im Dezember 2017 wurde AZ in den Niederlanden festgenommen und aufgrund einer Entscheidung der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) den belgischen Behörden übergeben. Im Januar 2018 erließ der Untersuchungsrichter, der den EHB ausgestellt hatte, wegen anderer Handlungen als derjenigen, die der Übergabe von AZ zugrunde lagen, einen ergänzenden EHB und ersuchte die zuständigen niederländischen Behörden um Zustimmung zu einer Abweichung vom Grundsatz der Spezialität, der im Rahmenbeschluss über den EHB(1) (im Folgenden: Rahmenbeschluss) vorgesehen ist. Nach diesem Grundsatz dürfen Personen, die in Vollstreckung eines EHB dem Ausstellungsmitgliedstaat übergeben wurden, wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Handlung als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden, es sei denn, die vollstreckende Justizbehörde hat ihre Zustimmung dazu gegeben(2). Im Februar 2018 erteilte der Officier van justitie (Staatsanwalt) bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam seine Zustimmung zur Erstreckung der Verfolgung auf die im ergänzenden EHB aufgeführten Taten. AZ wurde daraufhin in Belgien wegen der im ursprünglichen EHB und der im ergänzenden EHB aufgeführten Taten verfolgt und zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt.
In diesem Kontext möchte der Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel, Belgien), bei dem AZ ein Rechtsmittel gegen seine strafrechtliche Verurteilung eingelegt hat, wissen, ob der Staatsanwalt bei der Bezirksstaatsanwaltschaft Amsterdam im vorliegenden Fall als „vollstreckende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses über den EHB angesehen werden kann(3) und infolgedessen befugt ist, die in diesem Rahmenbeschluss vorgesehene Zustimmung zu erteilen.
Der Gerichtshof hat sich in jüngerer Zeit schon mehrmals zum Begriff „Justizbehörde“ im Kontext des Rahmenbeschlusses und speziell zu der Frage geäußert, ob die Staatsanwaltschaften der Mitgliedstaaten unter diesen Begriff fallen. Dabei ist er zu dem Ergebnis gekommen, dass dies bei den Staatsanwaltschaften in Litauen, Frankreich, Schweden und Belgien der Fall ist(4), nicht aber bei den deutschen Staatsanwaltschaften(5). Alle diese Rechtssachen betrafen zwar den Begriff „ausstellende Justizbehörde“(6) und nicht den Begriff „vollstreckende Justizbehörde“, aber im vorliegenden Urteil der Großen Kammer stellt der Gerichtshof fest, dass seine einschlägige Rechtsprechung darauf übertragbar ist.
Würdigung durch den Gerichtshof
Der Gerichtshof führt zunächst aus, dass es sich bei dem Begriff „vollstreckende Justizbehörde“ ebenso wie bei dem Begriff „ausstellende Justizbehörde“ um einen autonomen Begriff des Unionsrechts handelt, der nicht allein auf Richter oder Gerichte beschränkt ist. Unter ihn fallen auch Justizbehörden, die im betreffenden Mitgliedstaat an der Strafrechtspflege mitwirken, bei der Ausübung ihrer der Vollstreckung eines EHB innewohnenden Aufgaben unabhängig (insbesondere von der Exekutive) handeln und ihre Aufgaben im Rahmen eines Verfahrens ausüben, das den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz genügt.
Zur Bestimmung des Inhalts des Begriffs „vollstreckende Justizbehörde“ zieht der Gerichtshof die Kriterien heran, die er in seiner Rechtsprechung zur „ausstellenden Justizbehörde“ entwickelt hat, denn der Status und die Natur dieser beiden Justizbehörden stimmen überein, auch wenn sie gesonderte Aufgaben erfüllen. Der Gerichtshof stützt diese Schlussfolgerung auf mehrere Gesichtspunkte. Er hebt hervor, dass sowohl die Entscheidung über die Vollstreckung eines EHB als auch die Entscheidung über seine Ausstellung von einer Justizbehörde zu treffen sind, die den mit einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz einhergehenden Anforderungen – u. a. der Unabhängigkeitsgarantie – genügt. Ferner kann die Vollstreckung eines EHB ebenso wie dessen Ausstellung die Freiheit der gesuchten Person beeinträchtigen, da sie zu ihrer Inhaftnahme zwecks Übergabe führt. Hinzu kommt, dass es im Verfahren der Ausstellung eines EHB einen zweistufigen Schutz der Grundrechte gibt, während im Stadium der Vollstreckung des EHB das Tätigwerden der vollstreckenden Justizbehörde die einzige im Rahmenbeschluss vorgesehene Schutzstufe darstellt, die es ermöglichen soll, dass die gesuchte Person in den Genuss aller Garantien kommt, die dem Erlass justizieller Entscheidungen eigen sind.
Sodann führt der Gerichtshof aus, dass die Zustimmung zur Abweichung vom Grundsatz der Spezialität – unabhängig davon, ob sie von der gleichen Justizbehörde erteilt werden muss wie der, die den EHB vollstreckt hat – nicht von einem Staatsanwalt eines Mitgliedstaats erteilt werden darf, der zwar an der Rechtspflege mitwirkt, aber im Rahmen der Ausübung seiner Entscheidungsbefugnis eine Einzelweisung seitens der Exekutive erhalten kann. Ein solcher Staatsanwalt erfüllt nämlich nicht die Voraussetzungen für eine Einstufung als „vollstreckende Justizbehörde“. Bei der Erteilung dieser Zustimmung und dem damit verbundenen Verzicht auf die Anwendung des Grundsatzes der Spezialität muss aber eine Behörde tätig werden, die diese Voraussetzungen erfüllt. Die Entscheidung, die Zustimmung zu erteilen, ist nämlich eine von der Entscheidung zur Vollstreckung eines EHB gesonderte Entscheidung und entfaltet für die betreffende Person gesonderte Wirkungen. Der Umstand, dass die betreffende Person bereits der ausstellenden Justizbehörde übergeben wurde, ändert daran nichts, denn die erbetene Zustimmung betrifft eine andere Handlung als diejenige, aufgrund deren die Person übergeben wurde, und ist deshalb geeignet, die Freiheit der betreffenden Person zu beeinträchtigen, da sie zu ihrer Verurteilung zu einer höheren Strafe führen kann.
Im vorliegenden Fall wird nach niederländischem Recht die Entscheidung zur Vollstreckung des EHB letztlich von einem Gericht getroffen, während die Entscheidung über die Erteilung der Zustimmung ausschließlich der Staatsanwalt trifft. Da er Einzelweisungen seitens des niederländischen Justizministers unterworfen werden kann, handelt es sich bei ihm aber nicht um eine „vollstreckende Justizbehörde“.