Language of document : ECLI:EU:C:2021:384

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 12. Mai 2021(1)

Rechtssache C91/20

LW

gegen

Bundesrepublik Deutschland

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts [Deutschland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Gewährung internationalen Schutzes und den Inhalt dieses Schutzes – Art. 23 Abs. 2 – Wahrung des Familienverbands einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist – Leistungen, die Familienangehörigen gewährt werden, die nicht die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllen – Art. 3 – Günstigere Normen – Nationale Vorschrift, die den internationalen Schutz auf das minderjährige Kind einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, erstreckt – Kind, das die Staatsangehörigkeit eines anderen Landes besitzt, dessen Schutz es beanspruchen kann – Grundsatz der Subsidiarität des internationales Schutzes“






I.      Einleitung

1.        In den letzten Jahren hat die Frage der Flüchtlinge und ihrer Aufnahme zu teilweise heftigen Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten geführt. Der plötzliche Massenzustrom von Flüchtlingen vor den Toren der Europäischen Union hat einige der Werte, auf denen die Union beruht, ernsthaft erschüttert und zu einer teilweisen Abschottung der Mitgliedstaaten geführt.

2.        Bereits auf der Tagung des Europäischen Rates in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 kamen die Mitgliedstaaten jedoch darüber überein, auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem hinzuwirken, das sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Übereinkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge stützt(2). Zu den für die Umsetzung dieses Programms erforderlichen Instrumenten gehört die vom Europäischen Parlament und vom Rat der Europäischen Union verabschiedete Richtlinie 2011/95/EU(3), deren wesentliches Ziel u. a. darin besteht, „zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen“(4), um insbesondere „dazu bei[zu]tragen, die Sekundärmigration von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zwischen Mitgliedstaaten einzudämmen, soweit sie ausschließlich auf unterschiedlichen Rechtsvorschriften beruht“(5).

3.        Die dem Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache gestellte Frage geht dahin, ob das Unionsrecht, insbesondere die Richtlinie 2011/95, es einem Mitgliedstaat erlaubt, zur Gewährleistung der Wahrung des Familienverbands eines Flüchtlings Rechtsvorschriften zu erlassen, nach denen die zuständige nationale Behörde dem minderjährigen Kind dieses Flüchtlings den gleichen internationalen Schutz gewährt, ohne dass diese Behörde eine individuelle Prüfung der Situation vornimmt, in der sich dieser Minderjährige befindet, und unabhängig davon, ob er im Sinne dieser Richtlinie einen internationalen Schutz benötigt.

4.        Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen LW, einem Kind mit tunesischer Staatsangehörigkeit, und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland, im Folgenden: Bundesamt) über eine Entscheidung, mit der das Bundesamt es abgelehnt hat, dem Kind die Flüchtlingseigenschaft, die seinem Vater syrischer Herkunft zuerkannt worden war, zu gewähren. Das Bundesamt entschied zum einen, dass das Kind nicht die materiellen Voraussetzungen für die Gewährung dieses Status erfülle, und zum anderen, dass es sich auf den nationalen Schutz seines Herkunftslands berufen könne.

5.        Der Gerichtshof wird in der vorliegenden Rechtssache ersucht, zu bestimmen, inwieweit ein Mitgliedstaat den ihm durch Art. 3 der Richtlinie 2011/95 eingeräumten Ermessensspielraum nutzen kann, um den Kreis der Personen, die internationalen Schutz genießen, auf Familienangehörige eines Flüchtlings oder eines subsidiär Schutzberechtigten auszudehnen, um zu gewährleisten, dass deren Familienverband gewahrt wird. Die vorliegende Rechtssache knüpft somit an eine klassische Problematik der Abwägung zwischen verschiedenen grundlegenden Zielen, nämlich dem der Gewährleistung des Asylrechts und dem der Achtung des Familienlebens der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, an sowie an das Erfordernis, diese Ziele zu erreichen, und die Möglichkeit, dies zu tun, ohne die jeweiligen Bereiche der vom Unionsgesetzgeber zu diesem Zweck geschaffenen Systeme zu verletzen.

6.        Die Klarstellung, die der Gerichtshof hier vorzunehmen hat, ist unerlässlich, damit zum einen die Kriterien für den Erwerb des internationalen Schutzes, wie sie im Unionsrecht und im System der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegt sind, und zum anderen die mit der Gewährung dieses Schutzes verbundenen Rechte und Leistungen in allen Mitgliedstaaten einheitlich und kohärent angewendet werden. Es ist daher erforderlich, eine klare Auslegung von Art. 3 der Richtlinie 2011/95 herauszuarbeiten, damit die Mitgliedstaaten über keinen zu großen Handlungsspielraum für die Gewährung bzw. die Verweigerung von internationalem Schutz verfügen(6).

7.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, zu entscheiden, dass weder Art. 3 noch Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 es einem Mitgliedstaat gestatten, Rechtsvorschriften zu erlassen, nach denen die zuständige nationale Behörde die Wahrung des Familienverbands einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, dadurch gewährleisten soll, dass sie diesen Schutz auf das minderjährige Kind dieser Person erstreckt, ohne dass diese Behörde eine individuelle Prüfung des Antrags vornimmt und unabhängig davon, ob die Situation dieses Kindes das Bestehen eines Bedarfs an internationalem Schutz erkennen lässt oder einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweist.

8.        Ich bin nämlich der Auffassung, dass der Unionsgesetzgeber das Gemeinsame Europäische Asylsystem mit einem rechtlichen Instrumentarium ausgestattet hat, das es ermöglicht, das Familienleben des Flüchtlings und des subsidiär Schutzberechtigten zu schützen und die Wahrung des Kindeswohls zu gewährleisten, ohne dass es erforderlich ist, die Einheitlichkeit des Status, der durch den internationalen Schutz verliehen wird, und insbesondere die vom Unionsgesetzgeber vorgenommene Harmonisierung der Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und dessen Inhalt in Frage zu stellen.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Völkerrecht

9.        Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention bestimmt, dass der Ausdruck „Flüchtling“ auf jede Person Anwendung findet,

„die … aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose … außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.

Für den Fall, dass eine Person mehr als eine Staatsangehörigkeit hat, bezieht sich der Ausdruck ‚das Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt‘ auf jedes der Länder, dessen Staatsangehörigkeit diese Person hat. Als des Schutzes des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie hat, beraubt, gilt nicht eine Person, die ohne einen stichhaltigen, auf eine begründete Befürchtung gestützten Grund den Schutz eines der Länder nicht in Anspruch genommen hat, deren Staatsangehörigkeit sie besitzt.“

B.      Unionsrecht

10.      Gemäß Art. 78 Abs. 1 AEUV und Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) stützt sich das Gemeinsame Europäische Asylsystem, in das sich die Richtlinie 2011/95 einfügt, auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung des Genfer Abkommens.

11.      In den Erwägungsgründen 4, 5, 9, 12, 14 und 36 der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(4)      Die Genfer Flüchtlingskonvention und das Protokoll [von 1967] stellen einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.

(5)      Gemäß den Schlussfolgerungen von Tampere sollte das Gemeinsame Europäische Asylsystem auf kurze Sicht zur Annäherung der Bestimmungen über die Zuerkennung und die Merkmale der Flüchtlingseigenschaft führen.

(9)      Im Programm von Stockholm hat der Europäische Rat wiederholt sein Ziel betont, … auf der Grundlage eines gemeinsamen Asylverfahrens und eines einheitlichen Status gemäß Artikel 78 [AEUV] für Personen, denen internationaler Schutz gewährt wurde, einen gemeinsamen Raum des Schutzes und der Solidarität … zu errichten.

(12)      Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

(14)      Die Mitgliedstaaten sollten die Befugnis haben, günstigere Regelungen als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Normen für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die um internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat ersuchen, einzuführen oder beizubehalten, wenn ein solcher Antrag als mit der Begründung gestellt verstanden wird, dass der Betreffende entweder ein Flüchtling im Sinne von Artikel 1 Abschnitt A der Genfer Konvention oder eine Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz ist.

(36)      Familienangehörige sind aufgrund der alleinigen Tatsache, dass sie mit dem Flüchtling verwandt sind, in der Regel gefährdet, in einer Art und Weise verfolgt zu werden, dass ein Grund für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gegeben sein kann.“

12.      In Kapitel I („Allgemeine Bestimmungen“) der Richtlinie 2011/95 heißt es in Art. 1:

„Zweck dieser Richtlinie ist es, Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, sowie für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes festzulegen.“

13.      Art. 2 der Richtlinie 2011/95 definiert die nachstehenden Begriffe wie folgt:

„…

d)      ‚Flüchtling‘ [bezeichnet] einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;

f)      ‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ [bezeichnet] einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel 15 zu erleiden, und auf den Artikel 17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will;

j)      ‚Familienangehörige‘ [bezeichnet] die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:

–        der Ehegatte der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, oder ihr nicht verheirateter Partner, der mit ihr eine dauerhafte Beziehung führt …;

–        die minderjährigen Kinder des unter dem ersten Gedankenstrich genannten Paares oder der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, sofern diese nicht verheiratet sind, gleichgültig, ob es sich nach dem nationalen Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt;

–        der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist …;

…“

14.      Art. 3 der Richtlinie lautet wie folgt:

„Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“

15.      In Kapitel VII („Inhalt des internationalen Schutzes“) der Richtlinie heißt es in Art. 23 Abs. 1 und 2:

„(1)      Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann.

(2)      Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist.“

16.      In den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 sind die verschiedenen Rechte und Leistungen aufgeführt, die der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, und ihren Familienangehörigen nach Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie gewährt werden.

C.      Deutsches Recht

17.      § 3 Abs. 1 des Asylgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008(7), zuletzt geändert durch Art. 48 des Gesetzes vom 20. November 2019(8), bestimmt:

„(1)      Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne [der Genfer Flüchtlingskonvention] …, wenn er sich

1.      aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe

2.      außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,

a)      dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will,

…“

18.      In § 26 Abs. 2 und 5 AsylG heißt es:

„(2)      Ein zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten wird auf Antrag als asylberechtigt anerkannt, wenn die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.

(5)      Auf Familienangehörige im Sinne der Absätze 1 bis 3 von international Schutzberechtigten sind die Absätze 1 bis 4 entsprechend anzuwenden. An die Stelle der Asylberechtigung tritt die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz …“

III. Ausgangsrechtsstreit, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

19.      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens wurde 2017 in Deutschland als Tochter einer tunesischen Mutter und eines syrischen Vaters geboren, dem 2015 in diesem Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, und besitzt die tunesische Staatsangehörigkeit.

A.      Prüfung des Antrags

20.      Mit Bescheid vom 15. September 2017 lehnte das Bundesamt den im Namen der Klägerin des Ausgangsverfahrens nach ihrer Geburt gestellten Antrag auf internationalen Schutz als offensichtlich unbegründet ab. Das Verwaltungsgericht Cottbus (Deutschland) hob diesen Bescheid zwar mit Urteil vom 17. Januar 2019 auf, weil er nicht als offensichtlich unbegründet, sondern als unbegründet hätte abgelehnt werden müssen, lehnte den Antrag der Klägerin aber dennoch ab. Dieses Gericht entschied zunächst, dass sie mangels Furcht vor Verfolgung in Tunesien die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht erfülle. Sodann wies es das Vorbringen, dass eine begründete Furcht vor Verfolgung in Syrien bestehe, mit der Begründung zurück, dass die Klägerin gemäß dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Schutzes die Möglichkeit habe, den Schutz des tunesischen Staates in Anspruch zu nehmen. Schließlich könne der Klägerin auch nicht die Flüchtlingseigenschaft nach § 26 Abs. 2 und Abs. 5 Satz 1 AsylG zuerkannt werden, da es dem Unionsrecht und dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Schutzes zuwiderlaufe, den internationalen Schutz auf Personen zu erstrecken, die aufgrund ihres Personalstatuts den Schutz eines Staates, dessen Staatsangehörigkeit sie besäßen, genössen und von der Kategorie der Personen, die einen solchen Schutz benötigten, ausgeschlossen seien.

21.      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens legte gegen dieses Urteil Revision beim Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) ein.

B.      Klage beim vorlegenden Gericht

22.      Im Rahmen ihrer Revision macht die Klägerin des Ausgangsverfahrens geltend, dass der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Schutzes der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eines Minderjährigen nach § 26 Abs. 2 und Abs. 5 Satz 1 AsylG auch dann nicht entgegenstehe, wenn seine Eltern unterschiedliche Staatsangehörigkeiten besäßen und nur einem von ihnen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. Außerdem gestatte es Art. 3 der Richtlinie 2011/95 einem Mitgliedstaat, den einer Person gewährten internationalen Schutz auf andere Familienangehörige zu erstrecken, sofern diese nicht unter einen der in Art. 12 der Richtlinie genannten Ausschlussgründe fielen und sofern ihre Situation wegen der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweise. Sie ist der Auffassung, dass der Minderjährigenschutz und das Kindeswohl in besonderer Weise zu berücksichtigen seien.

23.      Das Bundesverwaltungsgericht weist darauf hin, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens die Voraussetzungen des § 26 Abs. 2 und Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG für die Anerkennung als Flüchtling erfülle. Das Gericht hat jedoch Zweifel an der Vereinbarkeit dieser Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht und insbesondere mit der Richtlinie 2011/95. Nach diesen Rechtsvorschriften sei die zuständige nationale Behörde nämlich verpflichtet, dem ledigen minderjährigen Kind eines Flüchtlings automatisch eine „abgeleitete“ Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, und zwar unabhängig vom Vorliegen einer begründeten Furcht vor Verfolgung und auch dann, wenn dieses Kind den Schutz seines eigenen Herkunftslands in Anspruch nehmen könne. Daraus folge, dass diese Rechtsvorschriften gegen den Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Schutzes, auf dem verschiedene Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 und das System der Genfer Flüchtlingskonvention beruhten, verstoßen könnten. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens habe daher keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus eigenem Recht, da sie einen effektiven Schutz in Tunesien erlangen könne.

24.      Das Bundesverwaltungsgericht hebt jedoch hervor, dass die nationalen Rechtsvorschriften, soweit sie zur Zuerkennung einer „abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft“ führten, nicht die Erfüllung der materiellen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach der Richtlinie 2011/95 voraussetzten. Unter diesen Umständen stelle die Tatsache, dass der Familienangehörige einen nationalen Schutz in Anspruch nehmen könne, keinen Ausschlussgrund für die Inanspruchnahme des internationalen Schutzes im Sinne dieser Richtlinie dar.

C.      Vorlagefragen

25.      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass er der Vorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der dem minderjährigen ledigen Kind einer Person, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, eine von dieser abgeleitete Flüchtlingseigenschaft (sogenannter Familienflüchtlingsschutz) auch für den Fall zuzuerkennen ist, dass dieses Kind – über den anderen Elternteil – jedenfalls auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Landes besitzt, das nicht mit dem Herkunftsland des Flüchtlings identisch ist und dessen Schutz es in Anspruch nehmen kann?

2.      Ist Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass die Einschränkung, wonach ein Anspruch der Familienangehörigen auf die in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Leistungen nur zu gewähren ist, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist, es verbietet, dem minderjährigen Kind unter den in der ersten Frage beschriebenen Umständen die von dem anerkannten Flüchtling abgeleitete Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen?

3.      Ist für die Beantwortung der ersten und der zweiten Frage von Bedeutung, ob es für das Kind und seine Eltern möglich und zumutbar ist, ihren Aufenthalt in dem Land zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit das Kind und seine Mutter besitzen, dessen Schutz diese in Anspruch nehmen können und das nicht mit dem Herkunftsland des Flüchtlings (Vaters) identisch ist, oder genügt es, dass die Familieneinheit im Bundesgebiet auf der Grundlage aufenthaltsrechtlicher Regelungen gewahrt bleiben kann?

26.      Die Klägerin, die deutsche, die belgische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht oder in der Sitzung vom 22. Februar 2021 mündliche Erklärungen abgegeben und in dieser auch die Fragen beantwortet, die ihnen der Gerichtshof zur mündlichen Beantwortung gestellt hatte.

IV.    Würdigung

27.      Vor der Prüfung der Vorlagefragen bedarf es einer Vorbemerkung zu deren Gegenstand und zur Reihenfolge, in der sie meines Erachtens zu behandeln sind.

28.      Diese Fragen gehen darauf zurück, dass die in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften die vom Unionsgesetzgeber in Art. 23 der Richtlinie 2011/95 angestrebte Wahrung des Familienverbands durch andere Mittel als die in Art. 23 Abs. 2 genannten gewährleisten sollen. Wie das vorlegende Gericht ausführt und die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, hat sich der deutsche Gesetzgeber dafür entschieden, dem minderjährigen Kind einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt wurde, das selbst nicht die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines solchen Schutzes erfüllt, die in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Leistungen nicht durch den Erlass von Einzelregelungen zu gewähren, sondern dadurch, dass er ihm die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus in abgeleiteter Form zuerkennt.

29.      Aus § 26 Abs. 2 und 5 AsylG geht hervor, dass die zuständige nationale Behörde das minderjährige Kind eines Flüchtlings oder einer Person mit subsidiärem Schutzstatus ohne jede weitere Voraussetzung als diejenige, dass der von seinem Elternteil erworbene Status endgültig ist, als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anerkennt. Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass diese Anerkennung automatisch erfolgt und keine Prüfung erforderlich macht, ob in der Person des Kindes eine begründete Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden gegeben ist. Auch sind nach der Vorlageentscheidung diese Rechtsvorschriften unabhängig davon anwendbar, ob das Kind eine andere Staatsangehörigkeit als die seines Elternteils besitzt und ob es einen nationalen Schutz genießt, was die deutsche Regierung jedoch in der mündlichen Verhandlung bestritten zu haben scheint.

30.      Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das Bundesverwaltungsgericht zunächst wissen, ob eine solche Regelung eine günstigere Norm darstellt, die die Mitgliedstaaten nach Art. 3 der Richtlinie 2011/95 erlassen können.

31.      Sodann möchte das vorlegende Gericht mit seiner zweiten Vorlagefrage wissen, ob die Bestimmungen zur Wahrung des Familienverbands in Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie diesen Rechtsvorschriften insofern entgegenstehen, als diese Bestimmungen die Gewährung von Leistungen, die der Aufnahmemitgliedstaat den Familienangehörigen einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zu gewähren hat, von der Voraussetzung abhängig machen, dass diese Gewährung mit ihrer persönlichen Rechtsstellung vereinbar ist.

32.      Mit seiner dritten und letzten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht schließlich wissen, ob bei der Prüfung der ersten und der zweiten Frage die Möglichkeiten der Neuansiedlung einer Familie in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit das Kind und die Mutter besitzen, zu berücksichtigen sind oder ob es ausreicht, dass die Einheit des Familienlebens durch die Anwendung aufenthaltsrechtlicher Regelungen gewährleistet ist.

33.      Zum einen erfordert die Prüfung der vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Problematik meines Erachtens, die Reihenfolge der ersten und der zweiten Frage umzukehren. Inwieweit die Mitgliedstaaten von dem ihnen durch Art. 3 der Richtlinie 2011/95 eingeräumten Ermessen Gebrauch machen können, um günstigere als die in Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie festgelegten Normen zu erlassen oder beizubehalten, ist nämlich zunächst einmal anhand der in diesem Artikel festgelegten Regeln zu beurteilen.

34.      Zum anderen erfordert die Prüfung dieser Problematik, dass die dritte Frage nicht isoliert, sondern entsprechend dem Ersuchen des vorlegenden Gerichts im Rahmen der ersten und der zweiten Frage untersucht wird.

A.      Zur zweiten Frage: Auslegung von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95

35.      Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 aufgestellte Voraussetzung, wonach die Familienangehörigen einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, nur dann Anspruch auf die in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie vorgesehenen Leistungen haben, wenn dies mit ihrer „persönlichen Rechtsstellung“ vereinbar ist, dem entgegensteht, dass nationale Rechtsvorschriften dem minderjährigen ledigen Kind einer Person, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, eine von dieser abgeleitete Flüchtlingseigenschaft zuerkennen können, wenn dieses Kind die Staatsangehörigkeit eines anderen Landes als des Herkunftslands des Flüchtlings besitzt.

36.      Diese Frage beruht offenbar auf der Annahme, dass Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie eine solche Erstreckung des internationalen Schutzes auf die Familienangehörigen eines Flüchtlings oder subsidiär Schutzberechtigten grundsätzlich zulassen würde. Ich bin jedoch der Auffassung, dass diese Annahme im Hinblick auf die am Wortlaut orientierte, systematische und teleologische Auslegung dieser Bestimmung falsch ist.

1.      Am Wortlaut orientierte Auslegung von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95

37.      Art. 23 der Richtlinie 2011/95 gehört zu deren Kapitel VII. Ziel dieses Kapitels mit der Überschrift „Inhalt des internationalen Schutzes“ ist es, die Rechte und Leistungen festzulegen, die der Aufnahmemitgliedstaat den Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten(9) nach einer individuellen Prüfung ihrer Situation gewähren muss.

38.      In diesem Zusammenhang bezweckt Art. 23 dieser Richtlinie die „Wahrung des Familienverbands“ der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist(10).

39.      Die Verwendung des Begriffs „Wahrung des Familienverbands“ impliziert, dass es sich bei der Person, die internationalen Schutz genießt, um ein Mitglied einer Familie handelt, deren Einheit durch das Verlassen des Herkunftslands und die Ansiedlung im Aufnahmemitgliedstaat gefährdet werden könnte. Im Unterschied zur Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung(11) soll die Richtlinie 2011/95 mithin nicht die Herstellung des Familienlebens der internationalen Schutz genießenden Person gewährleisten(12).

40.      Insbesondere ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, dass diese Bestimmung die Wahrung des Familienverbands der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in dem besonderen Fall gewährleisten soll, dass seine Familienangehörigen selbst nicht die „Voraussetzungen“ für die Gewährung eines solchen Schutzes erfüllen. Der von dieser Bestimmung erfasste Fall ist daher von dem im 36. Erwägungsgrund dieser Richtlinie genannten Fall zu unterscheiden, der sich auf Familienangehörige des Flüchtlings bezieht, soweit diese allein aufgrund ihrer Verwandtschaft mit dem Flüchtling im Herkunftsland persönlich verfolgt werden oder Gefahr laufen, persönlich verfolgt zu werden, und ihnen daher der Flüchtlingsstatus gewährt werden kann(13). Mithin wird ihnen wegen einer Verfolgungsgefahr, der sie persönlich ausgesetzt sind, die gleiche Eigenschaft zuerkannt.

41.      Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 legt die Bedingungen fest, unter denen der Familienverband der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, im Aufnahmemitgliedstaat zu wahren ist, indem er die Art der zu diesem Zweck gewährten Leistungen und den Kreis der Personen definiert, denen diese Leistungen gewährt werden.

a)      Leistungen

42.      Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 stellt den Grundsatz auf, dass Familienangehörige der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines solchen Schutzes erfüllen, Anspruch auf die in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten wirtschaftlichen und sozialen Leistungen haben. Es handelt sich um ein „Mindestniveau von Leistungen“(14). Die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, bleibt das entscheidende Element, ohne das ein Familienmitglied, das die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes nicht erfüllt, nicht in den Genuss dieser Leistungen kommen kann.

43.      Der Aufnahmemitgliedstaat hat daher dafür Sorge zu tragen, dass die Familienangehörigen des international Schutzberechtigten die Möglichkeit haben, im Hoheitsgebiet dieses Staates einen Aufenthaltstitel zu erhalten, der mindestens drei Jahre gültig und verlängerbar sein muss. Insbesondere muss der Aufnahmemitgliedstaat dafür sorgen, dass die Familienangehörigen über Reisedokumente verfügen, um außerhalb des Hoheitsgebiets dieses Mitgliedstaats reisen zu können, dass sie sich innerhalb des Hoheitsgebiets dieses Staates frei bewegen können, dass sie über Wohnraum verfügen und Zugang zum Bildungssystem und zu medizinischer Versorgung erhalten. Die Familienangehörigen müssen auch Zugang zu Beschäftigung und Berufsausbildung haben sowie Sozialhilfe erhalten(15). Diese Rechte und Leistungen müssen unter Bedingungen gewährt werden, die den für die jeweiligen eigenen Staatsangehörigen geltenden gleichwertig sind. Aus den Erwägungsgründen 41 bis 48 sowie den Art. 24 bis 35 der Richtlinie 2011/95 ergibt sich, dass diese Leistungen es den Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, ermöglichen müssen, ihren besonderen Bedürfnissen gerecht zu werden und sich in den Aufnahmemitgliedstaat zu integrieren.

44.      Die den Familienangehörigen somit gewährten Leistungen sind im Wesentlichen die gleichen wie die, die der Person, die internationalen Schutz genießt, gewährt werden.

45.      Wie der Gerichtshof im Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova(16), festgestellt hat, hat der Unionsgesetzgeber keine Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, vorgesehen, wie dies die Kommission in ihrem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, vorgeschlagen hatte(17). Die Kommission wollte eine solche Ausweitung auf unterhaltsberechtigte Familienangehörige, die die internationalen Schutz beantragende Person begleiten, sicherstellen(18). Eine Ausnahme sollte für von der Gewährung eines solchen Schutzes ausgeschlossene Personen gelten. Dieser Initiative wurde nicht gefolgt, da das Parlament der Auffassung war, dass es notwendig sei, Fälle zu berücksichtigen, in denen die Familienangehörigen „eine andere Rechtsstellung als der [Antragsteller] haben können, die möglicherweise nicht mit dem internationalen Schutz vereinbar ist“(19). Die Kommission hat diese Initiative im Rahmen der Vorbereitungsarbeiten für die Richtlinie 2011/95 nicht wiederholt, obwohl diese Richtlinie zum Ziel hatte, „höhere Standards“ als die zuvor in der Richtlinie 2004/83/EG enthaltenen Mindestnormen festzulegen(20).

46.      In Anbetracht dieser Erwägungen geht aus dem Wortlaut von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 nicht hervor, dass diese Bestimmung es dem Aufnahmemitgliedstaat erlaubt, den Familienangehörigen einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zum Zweck der Wahrung des Familienverbands eine abgeleitete Flüchtlingseigenschaft oder einen abgeleiteten subsidiären Schutzstatus zu gewähren.

b)      Begünstigte der Leistungen

47.      Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 macht die Gewährung der in ihren Art. 24 bis 35 vorgesehenen Leistungen von drei Voraussetzungen abhängig. Erstens muss der Familienangehörige der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, unter den in Art. 2 Buchst. j der Richtlinie definierten Begriff fallen. Zweitens darf er die materiellen Voraussetzungen für die Gewährung von internationalem Schutz nicht persönlich erfüllen. Drittens muss seine persönliche Rechtsstellung mit der Gewährung dieser Leistungen vereinbar sein.

48.      Auch wenn diese Voraussetzungen kumulativ vorliegen müssen, können sie sich dennoch als unzureichend erweisen, wenn der Familienangehörige unter eine der in den Kapiteln III und V der Richtlinie aufgeführten Klauseln über den Ausschluss von der Gewährung internationalen Schutzes fällt(21) oder wenn er eine Gefahr für die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung darstellt(22).

1)      Eigenschaft als „Familienangehöriger“

49.      Aus der Definition in Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95 ergibt sich, dass ein Familienangehöriger im Sinne dieser Bestimmung ein Angehöriger einer Familie ist, die „bereits im Herkunftsland [der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist,] bestanden hat“ und der sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat wie diese Person aufhält.

50.      Der Unionsgesetzgeber legt somit zwei Kriterien für die Einstufung als „Familienangehöriger“ und – indirekt – für die Anwendbarkeit der Normen über die Wahrung des Familienverbands fest.

51.      Das erste Kriterium betrifft den Ort und den Zeitpunkt der Entstehung der familiären Bindung.

52.      Auch wenn feststeht, dass die Familie weder durch den Ort noch durch den Zeitpunkt ihrer Gründung definiert wird, beschränkt der Unionsgesetzgeber den Vorteil der Wahrung des Familienverbands auf familiäre Bindungen, die die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in ihrem Herkunftsland vor der Gewährung dieses Schutzes geknüpft hat, unabhängig davon, ob diese Bindungen biologischer Art, wie die Geburt eines Kindes, oder rechtlicher Art, wie die Adoption oder die Ehe, sind. Wie das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) in seinem Leitfaden über die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes feststellt, muss die Familie bereits im Herkunftsland bestanden haben(23).

53.      Das Bestehen einer Verbindung des Familienangehörigen zum Herkunftsland der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, ist ein entscheidender Gesichtspunkt, was sich auch im Wortlaut von Art. 23 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 widerspiegelt. Diese Bestimmung erlaubt es den Mitgliedstaaten zwar, den Anwendungsbereich von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie auf andere „enge Verwandte“ der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, auszudehnen, doch muss es sich dabei um Verwandte handeln, „die zum Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftslandes innerhalb des Familienverbands lebten“. Es ist daher erforderlich, die Existenz einer vor dem Verlassen des Herkunftslands bestehenden Lebensgemeinschaft in diesem Land nachzuweisen.

54.      Die Wahrung des Familienverbands nach Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 richtet sich demzufolge an Familienangehörige, die mit der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, in deren Herkunftsland zusammengelebt haben. Diese Bestimmung soll also nicht die Familie schützen, die die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats gegründet hat. Dies unterscheidet die Regelung der Richtlinie 2011/95 von derjenigen der Richtlinie 2003/86, die unabhängig davon gilt, ob die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden(24) in den Aufnahmemitgliedstaat begründet wurden(25).

55.      Das zweite vom Unionsgesetzgeber aufgestellte Kriterium betrifft die Anwesenheit der Familienangehörigen im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats „im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz“. Eine solche Bedingung setzt voraus, dass sie die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zum Zweck der Antragstellung in den Aufnahmemitgliedstaat begleitet haben und damit ihren Willen zum Ausdruck gebracht haben, zusammenbleiben zu wollen. Dies wird im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 dargelegt, in dem es heißt, dass der Unionsgesetzgeber die uneingeschränkte Wahrung der Rechte der „Asylsuchende[n] und d[er] sie begleitenden Familienangehörigen“  (26) sicherstellen muss.

56.      Dieses zweite Kriterium unterscheidet die Richtlinie 2011/95 abermals von der Richtlinie 2003/86, wonach der Antrag auf Familienzusammenführung gestellt wird, während sich die Familienangehörigen grundsätzlich außerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats befinden, in dem sich der Zusammenführende aufhält(27).

57.      Aus diesen Gesichtspunkten ergibt sich, dass Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 seinem Wortlaut nach nicht die Situation von Familienangehörigen erfassen soll, wenn die Familie außerhalb des Herkunftslands und nach der Gewährung internationalen Schutzes für einen der Angehörigen dieser Familie gegründet wurde.

2)      Der Familienangehörige erfüllt nicht die materiellen Voraussetzungen für die Gewährung von internationalem Schutz

58.      Die zweite in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 aufgestellte Voraussetzung bezieht sich darauf, dass die Familienangehörigen keinen Anspruch auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. a dieser Richtlinie, d. h. auf die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus, haben. Familienangehörige, die aufgrund der Gefahren, denen sie im Herkunftsland persönlich ausgesetzt sind, selbst die materiellen Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllen, werden von Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie nicht erfasst.

3)      Die persönliche Rechtsstellung des Familienangehörigen steht der Gewährung der in der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Leistungen nicht entgegen

59.      Die dritte vom Unionsgesetzgeber in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 aufgeführte Voraussetzung betrifft die „persönliche Rechtsstellung des Familienangehörigen“. Es wird klargestellt, dass diese Rechtsstellung mit der Gewährung der in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Leistungen vereinbar sein muss.

60.      Der Begriff „persönliche Rechtsstellung“ wird in der Richtlinie 2011/95 nicht definiert. Jedoch gibt es ein allgemeines Verständnis für diesen Begriff. Im Hinblick auf eine natürliche Person bezieht er sich auf alle gesetzlichen Bestimmungen, die die Rechtsstellung dieser Person und die verschiedenen Status regeln, die ihr u. a. aufgrund ihres Alters (z. B. Status als Minderjähriger oder Erwachsener), ihres Geburtsorts (aufgrund des ius soli erworbene Staatsangehörigkeit), ihrer Abstammung (leibliche Abstammung oder Adoption), ihrer Staatsangehörigkeit(en) oder aber ihres Familienstands (Ehe, nicht eheliche Lebensgemeinschaft usw.), ihrer Abhängigkeitssituation (Vormundschaft, Pflegschaft usw.), ihrer Vorgeschichte oder ihres Aufenthalts im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats usw. zuerkannt werden. Die Rechtsstellung einer natürlichen Person kann somit sämtliche Aspekte ihres Lebens regeln.

61.      Im Kontext von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 hängt es von der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, ab, inwieweit er in den Genuss der in dieser Richtlinie vorgesehenen Leistungen kommen kann. Daher kann vom Aufnahmemitgliedstaat nicht verlangt werden, dass er einem Familienangehörigen, bei dem es sich beispielsweise um einen Unionsbürger oder sogar um einen Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats handelt, eine Aufenthaltserlaubnis oder Reisedokumente ausstellt.

62.      Nunmehr sind der Kontext und sodann die Systematik zu prüfen, in die sich Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie einfügt.

2.      Kontext von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95

63.      Die Prüfung des Kontexts, in dem Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 steht, zeigt, dass das System der Genfer Flüchtlingskonvention es nicht verlangt, die Gewährung internationalen Schutzes auf Familienangehörige eines Flüchtlings zu erstrecken, die sich in einer Situation wie der in Rede stehenden befinden.

64.      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 nicht nur im Licht der allgemeinen Systematik und des Zwecks dieser Richtlinie, sondern auch im Einklang mit der Genfer Flüchtlingskonvention auszulegen sind(28). Auch wenn die Richtlinie nach Auffassung des Gerichtshofs ein normatives System schafft, das den Mitgliedstaaten gemeinsame Begriffe und Kriterien enthält und daher unionsspezifisch ist, stützt sie sich dennoch auf eine uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und zielt u. a. darauf ab, dass deren Art. 1 uneingeschränkt gewahrt wird(29). Insoweit kommt den Konsultationen mit dem Hohen Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) im Hinblick auf die ihm durch diese Konvention zugewiesene Rolle eine besondere Bedeutung zu(30).

65.      Folglich ist der Inhalt der Genfer Flüchtlingskonvention zu untersuchen. Sie enthält in ihren Art. 3 bis 34 die mit der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechte und Grundfreiheiten. Diese politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte sollen im Wesentlichen die Integration des Flüchtlings im Aufnahmeland gewährleisten, indem ihm ermöglicht wird, am Leben dieses Landes teilzunehmen, ohne dass er aus Gründen der Rasse, der Religion oder des Herkunftslands diskriminiert oder weniger günstig als Inländer behandelt wird.

66.      Die Genfer Flüchtlingskonvention enthält jedoch ebenso wenig wie das Protokoll von 1967 eine spezifische Bestimmung über den Familienverband des Flüchtlings(31). Insoweit ist auf eine dieser Konvention beigefügte diplomatische Akte, nämlich die Schlussakte der Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen und staatenlosen Personen vom 25. Juli 1951, Bezug zu nehmen. Wie die Rechtslehre aufgezeigt hat, haben die Verfasser des Abkommens in diesem Text „eine Verbindung“ zwischen dem auf der Furcht des Flüchtlings vor Verfolgung beruhenden internationalen Schutzsystem und der Familie des Flüchtlings hergestellt(32). In der Erwägung, dass „die Einheit der Familie … ein für den Flüchtling unentbehrliches Recht darstellt, und im Hinblick darauf, dass diese Einheit der Familie ständig bedroht ist, … [e]mpfiehlt die [Schlussakte den Vertragsstaaten], die Maßnahmen zu ergreifen, die zum Schutze der Familie des Flüchtlings notwendig sind, besonders im Hinblick darauf, … sicherzustellen, dass die Einheit der Familie des Flüchtlings aufrechterhalten wird, besonders in Fällen, in denen der Familienvorstand die für die Aufnahme in einem bestimmten Land erforderlichen Voraussetzungen erfüllt“(33).

67.      In diesem Zusammenhang hat der Unionsgesetzgeber die Richtlinie 2004/83 und sodann die Richtlinie 2011/95 erlassen, durch die sie ersetzt wurde(34).

68.      Nach Art. 78 Abs. 2 AEUV, auf den sie gestützt ist, soll mit der Richtlinie 2011/95 zugunsten von Drittstaatsangehörigen ein „einheitlicher Asylstatus“ auf der Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention und ein „einheitlicher subsidiärer Schutzstatus“ geschaffen werden(35). Die Richtlinie legt in ihren Kapiteln I, III, IV, V und VI die gemeinsamen Kriterien für die Bestimmung der Personen fest, die „tatsächlich Schutz benötigen“(36) und denen einer der beiden Status zu gewähren ist, bevor in ihrem Kapitel VII der Inhalt des durch diese Status gewährten Schutzes festgelegt wird. Wie die Genfer Flüchtlingskonvention hat der Unionsgesetzgeber jedoch nicht vorgesehen, die Gewährung internationalen Schutzes zum Zweck der Wahrung des Familienverbands auf Familienangehörige eines Flüchtlings oder subsidiär Schutzberechtigten zu erstrecken.

69.      In einigen Empfehlungen des UNHCR wurde dies jedoch befürwortet. In seinem Kommentar zur Richtlinie 2004/83(37) hatte der UNHCR im Hinblick auf Art. 23 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie betont, dass Familienangehörigen derselbe Status wie dem Hauptantragsteller gewährt werden müsse (abgeleitete Rechtsstellung), wenn dies mit ihrem persönlichen Status vereinbar sei. In den Fragen zum Schutz der Familie vom 4. Juni 1999(38) hatte der Ständige Ausschuss des UNHCR ebenfalls bereits darauf hingewiesen, dass „[sich a]us dem Grundsatz des Familienverbandes ergibt …, dass, wenn der Familienvorstand die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, seinen unterhaltsberechtigten Familienangehörigen grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wird“(39), sofern diese Eigenschaft mit ihrer persönlichen Rechtsstellung vereinbar sei.

70.      Ebenso hatte die Kommission, wie zuvor ausgeführt, im Rahmen der Vorbereitung der Richtlinie 2004/83 den gleichen Vorschlag unterbreitet, ohne dass diesem gefolgt wurde.

3.      Zur Systematik, in die sich Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 einfügt

71.      Bei der Prüfung der Systematik der Richtlinie 2011/95 zeigt sich, dass die Anwendung der Vorschriften über die Wahrung des Familienverbands der internationalen Schutz genießenden Person durch die Gewährung bestimmter Leistungen eine individualisierte Beurteilung der Situation jedes einzelnen Familienangehörigen erfordert(40). Dadurch soll ermöglicht werden, die Gewährung von Rechten und Leistungen an ihre jeweilige Situation und ihre Rechtsstellung anzupassen.

72.      Zunächst ist dieses Erfordernis, eine individuelle Prüfung vorzunehmen, für Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, vorgesehen und ergibt sich aus den Erwägungsgründen 41, 45 und 47 der Richtlinie 2011/95 sowie aus den in Art. 20 der Richtlinie aufgeführten „[a]llgemeinen Vorschriften“ zum Inhalt dieses Schutzes.

73.      Nach Art. 20 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2011/95 haben die Mitgliedstaaten bei der Gewährung der Ansprüche auf die in dieser Richtlinie vorgesehenen Leistungen für Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, eine Einzelprüfung der Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, älteren Menschen oder Folteropfern vorzunehmen, damit deren besonderen Bedürfnissen Rechnung getragen wird(41). Im 41. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 heißt es, dass die Mitgliedstaaten somit günstigere Normen erlassen können, „[d]amit … die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte und Leistungen wirksam wahr[genommen werden] können“, wobei den besonderen Bedürfnissen der Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, und den speziellen Integrationsproblemen, denen sie sich gegenübersehen, Rechnung getragen werden muss.

74.      Insoweit stellt Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie 2011/95 u. a. klar, dass das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung darstellt. Wie jedoch der Gerichtshof in seinem Urteil vom 14. Januar 2021 in der Rechtssache Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen)(42) festgestellt hat, macht nur eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des – in diesem Fall unbegleiteten – Minderjährigen es möglich, das „Wohl des Kindes“ zu ermitteln(43).

75.      Sodann ergibt sich die Notwendigkeit einer individuellen Prüfung der Fälle aus den in Art. 23 der Richtlinie 2011/95(44) vorgesehenen besonderen Vorschriften über die Wahrung des Familienverbands und insbesondere aus der Beurteilung der Eigenschaft als „Familienangehöriger“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie, der Voraussetzung betreffend die Rechtsstellung des Familienangehörigen oder aber der notwendigen Berücksichtigung des Kindeswohls oder besonderer Umstände der Abhängigkeit(45).

76.      Schließlich sind die Mitgliedstaaten aufgrund der Ausschlussklausel in Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 verpflichtet, zu prüfen, ob der Familienangehörige aus einem der in den Art. 12 und 17 dieser Richtlinie genannten Gründe, z. B. wegen einer angeblich von ihm begangenen Straftat(46), von der Gewährung internationalen Schutzes ausgeschlossen ist oder ausgeschlossen wäre, wodurch ihm die Vorteile vorenthalten würden, die er aufgrund seiner familiären Bindungen genießen könnte. So hat der Gerichtshof im Urteil vom 13. September 2018, Ahmed(47), entschieden, dass die Anwendung dieser Ausschlussklausel nicht automatisch erfolgen kann und eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des Einzelfalls erfordert(48). Was die Ausschlussklausel in Art. 23 Abs. 4 dieser Richtlinie anbelangt, so verlangt sie nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Mitgliedstaaten im Einzelfall prüfen, ob das persönliche Verhalten des Familienangehörigen eine Gefahr für die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung darstellen kann(49).

77.      In Anbetracht dessen lässt sich nur anhand einer individuellen Prüfung der familiären Situation, in der sich die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, befindet, bestimmen, in welchem Umfang sie das Recht auf Wahrung des Familienverbands in Anspruch nehmen können muss und gegebenenfalls in welchem Umfang ihre Familienangehörigen Zugang zu den in der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen – wie dem Zugang zu Bildung oder Beschäftigung – haben müssen oder im Gegenteil Gefahr laufen, dass ihnen diese Leistungen aufgrund ihrer persönlichen Rechtsstellung oder ihrer Vorgeschichte vorenthalten werden. Selbst wenn der Unionsgesetzgeber es den Mitgliedstaaten gestattet hätte, den Anspruch auf internationalen Schutz auf das minderjährige Kind einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zu erstrecken, könnte ein solcher Vorteil nicht im Rahmen eines Verfahrens gewährt werden, das keine Beurteilung der individuellen Situation dieses Kindes ermöglicht.

4.      Teleologische Analyse der Richtlinie 2011/95

78.      Die Richtlinie 2011/95 ist auf Art. 78 Abs. 2 Buchst. a und b AEUV gestützt, der den Erlass von Maßnahmen für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem mit einem unionsweit geltenden einheitlichen Status für Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, vorsieht.

79.      Erstens bringt diese Richtlinie klar den Willen des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck, zu gewährleisten, dass alle Mitgliedstaaten die Personen bestimmen, die „tatsächlich [internationalen] Schutz benötigen“, und diesen internationalen Schutz auf der Grundlage gemeinsamer Kriterien gewähren, indem sie die Situation jedes Antragstellers individuell prüfen(50). Es werden zwei Status festgelegt, nämlich der Flüchtlingsstatus und der subsidiäre Schutzstatus. Der Unionsgesetzgeber hat sich zwar dafür entschieden, den in der Genfer Flüchtlingskonvention verankerten Schutz von Flüchtlingen durch die Einführung eines subsidiären Schutzes zu ergänzen, doch ist festzustellen, dass er nicht vorgesehen hat, diesen Regelungen einen zusätzlichen Schutz hinzuzufügen, der den Familienangehörigen einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, kraft Ableitung gewährt würde.

80.      Aus den Art. 13 und 18 in Verbindung mit Art. 2 Buchst. d und f der Richtlinie 2011/95 ergibt sich, dass für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus zwei wesentliche Elemente vorliegen müssen. Bei dem ersten Element handelt es sich um das Vorliegen einer Gefahr der Verfolgung, der der Betroffene wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt wäre (Flüchtling), oder um das Bestehen der Gefahr eines ernsthaften Schadens (subsidiärer Schutz), die er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland erleiden würde. Das zweite Element besteht darin, dass dieses Land unmittelbar oder mittelbar für diese Gefahr verantwortlich ist. Der Anspruch auf den Flüchtlingsstatus oder subsidiären Schutzstatus ist somit auf die Fälle beschränkt, in denen die Behörden des Herkunftslands den Schutz vor der Gefahr von Verfolgungen oder ernsthaften Schäden versäumt haben, weil sie die Verfolgungen entweder selbst verursachen oder die Verfolgungen durch Milizen oder andere private Gruppen fördern oder tolerieren. Nach Ansicht des EASO ist die Beurteilung der im Herkunftsland verfügbaren Schutzmaßnahmen somit ein obligatorischer Schritt bei der Prüfung des Bedarfs an internationalem Schutz, wobei dieser sekundär sei und nur dann in Betracht komme, wenn dieses Land keinen Schutz gewährleiste(51).

81.      Diese beiden Elemente sind für die Zuerkennung des internationalen Schutzes entscheidend, weil sie den Grund für die Angst des Einzelnen bilden und die Unmöglichkeit oder seine Weigerung erklären, den Schutz seines Herkunftslands in Anspruch zu nehmen. Sie stellen in diesem Zusammenhang Leitgrundsätze des internationalen Schutzsystems dar.

82.      In Anbetracht des Gegenstands der vorliegenden Rechtssache ist dem zweiten dieser Elemente besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Darin kommt der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Schutzes zum Ausdruck, den das vorlegende Gericht und die belgische Regierung in ihren Erklärungen mehrfach angeführt haben. Nach diesem Grundsatz ist der internationale Schutz ein alternativer Schutz, der einem Antragsteller gewährt wird, wenn und solange sein Herkunftsland nicht in der Lage ist, ihn vor der Gefahr der Verfolgung oder eines ernsthaften Schadens zu schützen(52). Wie Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention übernimmt die Richtlinie 2011/95 diesen Grundsatz sowohl im Rahmen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als auch im Rahmen des Erlöschens(53) oder des Ausschlusses(54) der Flüchtlingseigenschaft. So hat der Gerichtshof im Urteil vom 20. Januar 2021, Secretary of State for the Home Department(55), darauf hingewiesen, dass die Umstände, die die Unfähigkeit oder umgekehrt die Fähigkeit des Herkunftslands belegen, Schutz vor Verfolgungshandlungen sicherzustellen, einen entscheidenden Gesichtspunkt für die Beurteilung bilden, die zur Zuerkennung oder gegebenenfalls, in symmetrischer Weise, zum Erlöschen der Flüchtlingseigenschaft führt(56).

83.      Unter diesen Umständen sollte die Gewährung von internationalem Schutz ausgeschlossen werden, wenn der Familienangehörige die mit seiner eigenen Staatsangehörigkeit verbundenen Rechte und insbesondere den Schutz seines Herkunftslands genießt.

84.      Zweitens bringt die Richtlinie 2011/95 auch eindeutig den Willen des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck, eine einheitliche Flüchtlingseigenschaft und einen einheitlichen subsidiären Schutzstatus festzulegen, in deren Rahmen dieselben Rechte und Leistungen zu gewähren sind(57). Diese Einheitlichkeit soll sicherstellen, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, unabhängig vom Aufnahmemitgliedstaat eine gleichwertige Behandlung hinsichtlich der Lebensbedingungen erfahren, um so die Gefahr einer Sekundärmigration von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, aufgrund der Unterschiedlichkeit dieser Bedingungen zu verringern(58). Familienangehörige haben daher unabhängig vom Aufnahmemitgliedstaat indirekt und vorbehaltlich einer individuellen Prüfung einen Anspruch auf die gleichen Rechte und Leistungen(59).

85.      Zwar verfügen die Mitgliedstaaten, wie ich darlegen werde, über einen Spielraum, um eine günstigere Behandlung vorzusehen, doch darf dieser Spielraum nicht zu einer offensichtlichen Aufhebung der hier vom Unionsgesetzgeber angestrebten Gleichbehandlung führen.

86.      Drittens schließlich bringt die Richtlinie 2011/95 eindeutig den Willen des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck, Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die Achtung ihrer Grundrechte zu garantieren, wie sie insbesondere in der Charta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten verankert sind(60).

87.      Art. 7 der Charta erkennt somit das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens an. Nach ständiger Rechtsprechung ist dieser Artikel in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 24 Abs. 2 der Charta und unter Beachtung des in deren Art. 24 Abs. 3 niedergelegten Erfordernisses zu lesen, dass ein Kind regelmäßig persönliche Beziehungen zu seinen beiden Elternteilen unterhält(61). Es besteht ein allgemeiner Konsens darüber, dass die Familie als grundlegendes Element der Gesellschaft Anspruch auf Achtung und Schutz hat und dass der Staat alles unternehmen muss, um die Bindungen zwischen einem Kind und seiner Familie aufrechtzuerhalten, wobei nur außergewöhnliche Umstände zu einem Zerbrechen der familiären Bindung führen dürfen(62).

88.      In diesem Zusammenhang ist die Wahrung des Familienverbands ein Recht, das als ein wesentliches Recht des Flüchtlings anerkannt wird(63).

89.      Dieses Recht hat seinen Ursprung und seine Grundlage in der materiellen und psychologischen Unterstützung, die sich die Familienangehörigen gegenseitig leisten können und die zum Wohlergehen und Schutz des Einzelnen beiträgt(64). Während das Zwangsexil die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, einem realen Risiko aussetzt, dauerhaft von ihrer Familie getrennt zu werden, setzt ein solches Exil ihre Familienangehörigen, die im Herkunftsland verblieben sind und denen ihre Unterstützung entzogen wurde, nicht nur dem Risiko der Verfolgung aus, sondern auch dem Risiko wirtschaftlicher und sozialer Unsicherheit, dem Risiko von Gewalt und Ausbeutung und sogar dem Risiko der Verlassenheit, da die Flucht oftmals einen Punkt darstellt, ab dem es für einen langen Zeitraum kein Zurück mehr in das Herkunftsland gibt(65). Zwar rechtfertigt die Gefahr von Verfolgungen oder ernsthaften Schäden, der die Familienangehörigen persönlich ausgesetzt sind, dass ihnen internationaler Schutz gewährt wird, doch reicht das Risiko einer wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheit, unter der sie leiden könnten, nicht aus, um eine solche Zuerkennung zu begründen.

90.      Der in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 vorgesehene Mechanismus soll die Wahrung des Familienverbands im letztgenannten Fall gewährleisten. Auch wenn dieses Ziel nicht zu den in ihrem zwölften Erwägungsgrund genannten Hauptzielen dieser Richtlinie gehört, legt Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie doch besonders klare und präzise Verpflichtungen für den Aufnahmemitgliedstaat fest. Dieser soll es der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, ermöglichen, im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats ein normales Familienleben zu führen, indem er den Familienangehörigen die wirtschaftlichen und sozialen Leistungen gewährt, die für die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse und für ihre Integration in diesen Staat erforderlich sind(66).

91.      Nach Auffassung des UNHCR soll die Wahrung des Familienverbands somit „ein Mittel zur Gewährleistung einer gewissen Normalität in einem … entwurzelten Leben“ darstellen(67).

92.      Ohne die Voraussetzungen für die Gewährung von internationalem Schutz in Frage stellen zu wollen, verfolgt der Unionsgesetzgeber damit im Wesentlichen das Ziel, die Einheit der Familie, deren wesentlicher Bestandteil, nämlich das Paar und die Kinder, sich bereits im Aufnahmemitgliedstaat befindet, zu wahren. Dadurch, dass Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 den Ehegatten in die Lage versetzt, seinen eigenen Lebensunterhalt selbst in diesem Staat zu verdienen, und die Kinder in die Lage versetzt, eine Schule zu besuchen, indem er ihnen die Möglichkeit einräumt, einen verlängerbaren Aufenthaltstitel zu erhalten, über eine angemessene Unterkunft zu verfügen und Zugang zu medizinischer Versorgung zu erhalten, stärkt er die wirtschaftliche und soziale Lage der Familie und schützt damit alle ihre Mitglieder. Durch diesen für die Wahrung des Familienverbands und die Integration aller ihrer Mitglieder geschaffenen Mechanismus soll die Familie im Aufnahmemitgliedstaat eine stabile und selbständige Stellung erlangen.

93.      Daraus folgt – und ich möchte hier auf die dritte Vorlagefrage antworten –, dass die Umsetzung von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 nicht von den Möglichkeiten der Neuansiedlung einer Familie in einem Drittland abhängen kann, auch wenn einige ihrer Mitglieder die Staatsangehörigkeit dieses Landes besitzen. Sinn und Zweck dieses Artikels ist es nämlich, der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, den Genuss der ihr durch diesen Schutz verliehenen Rechte zu ermöglichen und dabei zugleich ihren Familienverband im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zu wahren. Eine solche Möglichkeit zu berücksichtigen, liefe darauf hinaus, den Bestimmungen von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie die praktische Wirksamkeit zu nehmen, da dies bedeuten würde, dass die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, auf das ihr hier gewährte Recht auf Asyl verzichtet.

94.      Im Ergebnis scheint mir, dass der Unionsgesetzgeber mit Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 nicht beabsichtigt hat, die Wahrung des Familienverbands einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, dadurch zu gewährleisten, dass er es den zuständigen nationalen Behörden ermöglicht, den Familienangehörigen dieser Person und insbesondere ihrem minderjährigen Kind den gleichen internationalen Schutz zu gewähren, ohne dass die zuständigen nationalen Behörden eine individuelle Prüfung des Antrags vornehmen und unabhängig davon, ob die Situation des Familienangehörigen das Bestehen eines Bedarfs an internationalem Schutz im Sinne dieser Richtlinie erkennen lässt.

95.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof daher vor, festzustellen, dass Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen die zuständige nationale Behörde die Wahrung des Familienverbands einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, dadurch gewährleisten soll, dass sie den Familienangehörigen dieser Person und insbesondere ihrem minderjährigen Kind, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllen, diesen Schutz gewähren.

B.      Zur ersten Frage: Auslegung von Art. 3 der Richtlinie 2011/95

96.      Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen die zuständige nationale Behörde, um die Wahrung des Familienverbands zu gewährleisten, dem minderjährigen Kind einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden, die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuerkennen kann, wenn dieses Kind die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates als die seines Elternteils besitzt und es Schutz dieses Staates grundsätzlich verlangen kann.

1.      Umfang des den Mitgliedstaaten durch Art. 3 der Richtlinie 2011/95 eingeräumten Ermessensspielraums

97.      Nach Art. 3 der Richtlinie 2011/95 können „[d]ie Mitgliedstaaten … günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind“(68).

98.      Erstens geht aus Art. 3 der Richtlinie 2011/95 im Licht ihres 14. Erwägungsgrundes hervor, dass die Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz günstigere Normen erlassen oder beibehalten können, um die Personen zu bestimmen, die Anspruch auf diesen Schutz haben.

99.      Zum einen wird der Begriff „Antrag auf internationalen Schutz“ in Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95 definiert als „das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat, wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Antragsteller die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzstatus anstrebt“. Es wird klargestellt, dass der Antragsteller nicht ausdrücklich um eine andere Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht.

100. Zum anderen bezieht sich der Unionsgesetzgeber mit der Bezugnahme auf die Voraussetzungen für den „Anspruch“ auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus ausschließlich auf die Anspruchsvoraussetzungen, die er in den Kapiteln II bis VI der Richtlinie ausdrücklich festlegt.

101. Zweitens ergibt sich aus dem vom Unionsgesetzgeber aufgenommenen Vorbehalt hinsichtlich der erforderlichen Vereinbarkeit dieser günstigeren Normen mit der Richtlinie 2011/95, dass der Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die in dieser Richtlinie vorgesehenen materiell- und verfahrensrechtlichen Vorschriften und die mit ihr verfolgten Ziele zu bestimmen ist(69).

102. Ich weise darauf hin, dass die Richtlinie 2011/95 nach Art. 78 Abs. 2 AEUV die Einheitlichkeit des Asylstatus und des subsidiären Schutzstatus gewährleisten soll, indem sie auf der Grundlage von den Mitgliedstaaten gemeinsamen Kriterien und nach einer individuellen Prüfung der Situation des Antragstellers internationalen Schutz gewährt.

103. Im Unterschied zur Richtlinie 2004/83, die Mindestnormen enthielt, ist die Richtlinie 2011/95 Teil eines umfassenden harmonisierten Regelwerks auf Unionsebene, dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, das einen höheren Standard anstrebt. Während der Unionsgesetzgeber in Kapitel I dieser Richtlinie den Anwendungsbereich der Richtlinie sowie die grundlegenden Begriffe für ihre Umsetzung definiert, legt er die materiell- und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes in den Kapiteln II bis VI fest. Im Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft)(70), hat der Gerichtshof entschieden, dass die Richtlinie 2011/95 gemeinsame und unionseigene Begriffe und Kriterien festlegt(71).

104. Unter diesen Umständen kann ein Mitgliedstaat seinen Handlungsspielraum meines Erachtens nicht dazu nutzen, um diese gemeinsamen Begriffe und Kriterien anders zu definieren und um Rechtsvorschriften zu erlassen, nach denen die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus aus anderen als den in der Richtlinie 2011/95 ausdrücklich genannten Gründen und auf der Grundlage einer nicht individuellen Beurteilung des Antrags zuerkannt werden kann.

105. Diese Auslegung nimmt Art. 3 der Richtlinie nicht seine praktische Wirksamkeit.

106. Die den Mitgliedstaaten nach Art. 3 der Richtlinie 2011/95 zur Verfügung stehende Freiheit bleibt nämlich weit genug, um es ihnen zu ermöglichen, im Einklang mit den in dieser Richtlinie festgelegten Regeln günstigere Normen zu erlassen.

107. Zum einen enthält die Richtlinie 2011/95 zahlreiche fakultative Bestimmungen, die jeder Mitgliedstaat nach eigenem Ermessen umsetzen kann(72).

108. Zum anderen sind einige Begriffe, die für die Umsetzung dieser Richtlinie von grundlegender Bedeutung sind, nicht stricto sensu definiert. Dies ist beispielsweise für den Begriff „Verfolgung“ der Fall. Wie das EASO feststellt, „[ist d]er Begriff … flexibel, kann angepasst werden und ist offen genug, um den sich stets wandelnden Formen von Verfolgung Rechnung zu tragen“(73). So zählt der Unionsgesetzgeber die Formen, die eine Verfolgung annehmen kann, nicht abschließend auf, und die Gründe, auf die sie gestützt wird, können, wie der vor den Gerichtshof gebrachte Rechtsstreit zeigt, von den Mitgliedstaaten unterschiedlich beurteilt werden.

109. Ich erinnere daran, dass die Feststellung, ob internationaler Schutz benötigt wird, Bestandteil einer individuellen Prüfung des Antrags ist. Es steht jedem Mitgliedstaat frei, zu beurteilen, inwieweit die in der Richtlinie 2011/95 festgelegten gemeinsamen Begriffe und Kriterien umzusetzen sind, um ihre Anwendung nach dieser Überprüfung effektiver zu gestalten. Im Rahmen dieser individuellen Prüfung können die Mitgliedstaaten weniger strenge Anforderungen für die Beurteilung der Gefahr von Verfolgungen oder ernsthaften Schäden, denen der Antragsteller ausgesetzt ist, festlegen(74). Auch können sie für die Beurteilung des Bedarfs von Angehörigen einer Familie und insbesondere von Kindern an internationalem Schutz günstigere Normen erlassen, indem sie beispielsweise die in den Texten geforderte Schwelle für Verfolgung oder ernsthafte Schäden herabsetzen. Bei der Prüfung des Bedarfs an internationalem Schutz muss nämlich die besondere Schutzbedürftigkeit der Familienangehörigen berücksichtigt werden. Die Gewährung von internationalem Schutz für den Familienvorstand setzt beispielsweise die Familienangehörigen einer größeren Gefahr aus, aus sie selbst betreffenden Gründen oder allein aufgrund ihrer Verwandtschaft verfolgt zu werden oder einen ernsthaften Schaden zu erleiden(75). So hat sich der UNHCR für die „abgeleitete“ Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für Familienangehörige potenzieller Opfer weiblicher Genitalverstümmelung eingesetzt(76), wenn diese aufgrund der von ihnen zum Ausdruck gebrachten Ablehnung dieser Praxis einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sind.

110. Bei der Beurteilung des Bedarfs an internationalem Schutz muss auch der besonderen Schutzbedürftigkeit von Kindern Rechnung getragen werden. Handlungen oder Bedrohungen, die für einen Erwachsenen als nicht ausreichend angesehen werden können, um die Verfolgungsschwelle zu erreichen, können diese Schwelle erreichen, wenn ein Kind betroffen ist.

111. All dies sind Parameter, die die Richtlinie 2011/95 nicht festlegt und in das Ermessen der einzelnen Mitgliedstaaten stellt.

112. In diesem Sinne ist meines Erachtens das Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova(77), auszulegen. Im besonderen Kontext der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, hat der Gerichtshof festgestellt, dass ein Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 3 der Richtlinie 2011/95 den internationalen Schutz, der einem Angehörigen einer Familie gewährt wurde, auf andere Angehörige dieser Familie erstrecken kann, jedoch unter dem Vorbehalt, dass der betroffene Familienangehörige nicht unter einen der in Art. 12 der Richtlinie genannten Ausschlussgründe fällt und dass seine Situation wegen der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweist.

113. In dieser Rechtssache stammten die drei Angehörigen der Familie aus Aserbaidschan, wo sich sowohl der Vater als auch die Mutter als Opfer einer Verfolgungsgefahr sahen. Alle Angehörigen der Familie hatten sich nach Bulgarien begeben, um jeweils einzeln und gleichzeitig einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, wobei die Mutter diesen Schutz auch für ihren Sohn mit aserbaidschanischer Staatsangehörigkeit beantragte. Sie alle fielen unter die Definition „Familienangehörige“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95, und keiner von ihnen hatte eine persönliche Rechtsstellung, die die Gewährung von internationalem Schutz ausschloss. Diese sowohl faktische als auch rechtliche Identität der Situation der Familienangehörigen war meines Erachtens für die Auslegung von Art. 3 der Richtlinie 2011/95 in dieser Rechtssache ausschlaggebend.

114. Der Gerichtshof hat die Ausübung dieses Ermessensspielraums jedoch eingeschränkt.

115. Erstens hat der Gerichtshof unter Bezugnahme auf die in Art. 12 der Richtlinie 2011/95 genannten Ausschlussgründe seinen Willen zum Ausdruck gebracht, keine Gewährung internationalen Schutzes für einen Familienangehörigen zuzulassen, der einen solchen Status offensichtlich nicht benötigt, weil er den Schutz einer Organisation der Vereinten Nationen genießt oder er von den zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat(78), oder aber weil er des damit verbundenen Schutzes als unwürdig angesehen wird(79).

116. Der Gerichtshof ist hier der Linie des Urteils vom 9. November 2010, B und D(80), gefolgt, in dem er entschieden hat, dass die Bestimmungen des Art. 3 der Richtlinie 2004/83 es nicht zulassen, dass einer Person, die nach Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie wegen der Begehung einer nicht politischen Straftat von der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen ist, diese Eigenschaft zuerkannt wird, und zwar um „die Glaubwürdigkeit des [durch diese Richtlinie vorgesehenen] Schutzsystems zu erhalten“ (81).

117. Wenn die Erstreckung des internationalen Schutzes auf der Grundlage von Art. 12 der Richtlinie 2011/95 u. a. deshalb ausgeschlossen ist, weil davon ausgegangen wird, dass der Familienangehörige die mit der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaats verknüpften Rechte genießt, so sollte eine solche Erstreckung erst recht dann nicht möglich sein, wenn dieser Familienangehörige die mit seiner eigenen Staatsangehörigkeit verknüpften Rechte und insbesondere den Schutz seines Herkunftslands genießt.

118. Zweitens hat der Gerichtshof, indem er verlangte, dass die Situation des Familienangehörigen „wegen der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweist“(82), meines Erachtens auf Art. 23 der Richtlinie 2011/95 Bezug genommen und seinen Willen zum Ausdruck gebracht, diese Erstreckung auf die in Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie genannten Familienangehörigen zu beschränken. Aus den in den Nrn. 49 ff. der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Gründen zielt diese Richtlinie nämlich darauf ab, den Familienverband der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zu wahren, wenn diese gezwungen ist, ihr Herkunftsland aufgrund von Verfolgung oder ernsthaftem Schaden in diesem Land zu verlassen, womit die Gefahr eines Bruchs der familiären Bindungen verbunden ist.

119. Das Kriterium, nach dem die Situation des Familienangehörigen „wegen der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes“ aufweisen muss, entspricht hier der Linie des Urteils vom 18. Dezember 2014, M’Bodj(83).

120. In Anbetracht dieses Zwecks des internationalen Schutzes hat der Gerichtshof nämlich im Urteil vom 18. Dezember 2014, M’Bodj(84), nationale Rechtsvorschriften, wonach einem Drittstaatsangehörigen, der im Aufnahmemitgliedstaat Opfer eines Angriffs geworden ist und dessen Gesundheitszustand sich aufgrund des Fehlens einer angemessenen Behandlung in seinem Herkunftsland zu verschlechtern drohte, der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt werden kann, für mit Art. 3 der Richtlinie 2004/83 unvereinbar erklärt. Nach Auffassung des Gerichtshofs würde es nämlich „der allgemeinen Systematik und den Zielen der Richtlinie 2004/83 widersprechen, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Rechtsstellungen Drittstaatsangehörigen zuzuerkennen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen“(85).

121. Anhand dieses Untersuchungsrasters ist zu prüfen, ob die in § 26 Abs. 2 AsylG vorgesehenen Bestimmungen in den Ermessensspielraum fallen, der den Mitgliedstaaten durch Art. 3 der Richtlinie 2011/95 eingeräumt ist.

2.      Prüfung der in Rede stehenden Rechtsvorschriften

122. In Anbetracht der vorstehend dargelegten Gesichtspunkte bin ich der Auffassung, dass der deutsche Gesetzgeber mit dem Erlass einer Rechtsvorschrift wie § 26 Abs. 2 AsylG den ihm durch Art. 3 der Richtlinie 2011/95 eingeräumten Ermessensspielraum überschritten hat(86).

123. Erfüllt nämlich das minderjährige Kind der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, nicht die materiellen Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes, kann der von ihm auf der Grundlage dieser Rechtsvorschriften gestellte Antrag dazu führen, dass dieser Schutz zu Zwecken – im vorliegenden Fall zum Zweck des Schutzes der Familie – und unter materiell- und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen gewährt wird, die von denen der Richtlinie 2011/95 abweichen.

124. Ich bin der Auffassung, dass ein solcher, zum Zweck der Wahrung des Familienverbands gestellter Antrag nicht als „Antrag auf internationalen Schutz“ im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2011/95 eingestuft werden kann(87) und einen Antrag darstellt, mit dem dieses Kind um eine andere Form des Schutzes außerhalb des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie ersucht.

125. In seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Ahmedbekova(88) führte Generalanwalt Mengozzi aus, dass „ein Antrag, mit dem ein Familienangehöriger einer Person, die die Kriterien für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, seinerseits um die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ersucht, unabhängig davon, ob eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht, die ihn persönlich betrifft, streng genommen nicht als auf Art. 1 Abschnitt A der Genfer Konvention gestützt angesehen werden kann, wie in Art. 3 der Richtlinie 2011/95 unter Berücksichtigung von deren 14. Erwägungsgrund allerdings gefordert wird“(89).

126. Erstens zielt dieser Antrag auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus für ein Kind ab, obwohl dieses keinen internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 benötigt.

127. Im Hinblick auf das mit den in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften verfolgte Ziel des Familienschutzes ersetzen diese Vorschriften die in der Richtlinie 2011/95 genannten materiellen Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes durch eine weitere Voraussetzung, die auf das Bestehen eines Verwandtschaftsverhältnisses zwischen dem Antragsteller und der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, abstellt. Diese Rechtsvorschriften ermöglichen daher die Gewährung von internationalem Schutz, obwohl der Antragsteller keines der hierfür wesentlichen Kriterien erfüllt, nämlich die Feststellung von Verfolgung oder ernsthaftem Schaden durch einen Akteur, gegen den aufgrund der Untätigkeit des Herkunftslands Schutz geboten ist.

128. Eine solche Ersetzung hat zur Folge, dass den Klauseln über die Beendigung oder den Ausschluss vom internationalen Schutz, die eng an die Voraussetzungen für dessen Gewährung geknüpft sind, die praktische Wirksamkeit genommen wird. Einem Kind könnte daher die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutzstatus in einer Situation zuerkannt werden, in der es möglicherweise keinen internationalen Schutz benötigt, aber auch in einer Situation, in der es grundsätzlich davon ausgeschlossen wäre, beispielsweise aufgrund seiner persönlichen Rechtsstellung, weil es die mit der Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats verknüpften Rechte genießt oder einfach, weil es, wie dies im Ausgangsverfahren der Fall ist, den nationalen Schutz seines eigenen Herkunftslands in Anspruch nehmen kann.

129. Zweitens kann der auf der Grundlage von Art. 26 Abs. 2 AsylG gestellte Antrag zur Gewährung von internationalem Schutz führen, obwohl die Situation des Kindes nicht so gelagert ist, dass sie wegen der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes im Sinne des Urteils vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova(90), aufweist.

130. Im Gegensatz zu § 26 Abs. 1 (abgeleitetes Recht des Ehegatten oder des unverheirateten Lebenspartners) und Abs. 3 AsylG (abgeleitetes Recht der Eltern) scheint § 26 Abs. 2 AsylG nämlich unabhängig davon anwendbar zu sein, ob das Kind zu dem Zeitpunkt, zu dem die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, gezwungen war, das Herkunftsland zu verlassen, zur Familie gehörte.

131. Drittens kann ein solcher Antrag zur Gewährung von internationalem Schutz durch eine Art „kollektive Wirkung“ führen, ohne dass die zuständige nationale Behörde die Situation, in der sich das Kind befindet, individuell geprüft hat.

132. Zwar ermöglicht die automatische Gewährung eines solchen Schutzes, wie die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, eine Vereinfachung und Verringerung der Arbeitslast für die zuständige nationale Behörde, doch bin ich der Auffassung, dass ein solcher Automatismus es nicht erlaubt, der individuellen Situation des Kindes angemessen Rechnung zu tragen. Die Verpflichtung, eine dem Wohl des Kindes entsprechende Lösung zu finden, verlangt, dass der Aufnahmemitgliedstaat eine eingehende Prüfung der das Kind betreffenden Tatsachen und Umstände vornimmt und seine persönliche Situation angemessen berücksichtigt. Dieser Nachteil wird dadurch verstärkt, dass, wie die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, die „abgeleitete“ Natur des dem Kind gewährten Status zur Folge hat, dass, wenn der Vater, gleich aus welchem Grund, die Flüchtlingseigenschaft verliert, das Kind diese automatisch auch verliert.

133. Darüber hinaus bin ich nicht davon überzeugt, dass das Wohl des Kindes erfordert, ihm automatisch die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, insbesondere in einer Situation wie der vorliegenden, in der es keinen internationalen Schutz benötigt. Ich weise darauf hin, dass das in Art. 18 der Charta verankerte Asylrecht weder bezweckt noch darauf abzielt, die Wahrung des Familienverbands zu gewährleisten, sondern darauf, einem Bedarf nach internationalem Schutz zu entsprechen. Die Gewährung eines solchen Status schützt die Rechte der Familie und des Kindes somit nicht notwendigerweise besser als die Gewährung der Rechte, die in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 oder im Rahmen der Richtlinie 2003/86 ausdrücklich zu diesem Zweck vorgesehen sind.

134. Zum einen weise ich darauf hin, dass es sich bei der Flüchtlingseigenschaft oder dem subsidiären Schutzstatus um eine Besonderheit handelt, die zur Anwendung eines Instrumentariums besonderer Regeln und Pflichten führt. In einigen Mitgliedstaaten setzt die Gewährung von internationalem Schutz voraus, dass die begünstigte Person keinen Kontakt mehr zu ihrem Herkunftsland, auch nicht zu dessen Konsularbehörden, unterhält und sich nicht in dieses Land begibt, da ihr der Schutz sonst entzogen wird oder erlischt. Diese Regel ist zwar durchaus gerechtfertigt, um den Schutz derjenigen zu gewährleisten, die aufgrund ihrer Flucht Gefahr laufen, Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt zu sein, doch hat ihre Anwendung meines Erachtens keinen Sinn in einer Situation wie der vorliegenden, in der dem Kind ohne legitimen Grund die Bindungen zu dem Land, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, genommen würden. Ebenso erscheint es mir in einer solchen Situation nicht gerechtfertigt, dass der Aufnahmemitgliedstaat den nationalen Schutz, den das Kind genießt, durch einen internationalen Schutz ersetzt und ihm gegenüber die seinem Herkunftsland obliegenden Verpflichtungen wahrnimmt.

135. Andererseits darf nicht außer Acht gelassen werden, dass das Gemeinsame Europäische Asylsystem über die Bestimmungen des Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 hinaus den Schutz des Familienlebens des Flüchtlings und die Gewährleistung des Kindeswohls durch andere Instrumente des abgeleiteten Rechts ermöglicht, was die Union von anderen Rechtssystemen unterscheidet.

136. Im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sieht die Richtlinie 2003/86 somit eine Sonderregelung und günstigere Bedingungen für die Familienzusammenführung von Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, vor(91). Die Familienzusammenführung folgt hier aus dem Recht des Flüchtlings auf Einheit der Familie und Wahrung dieses Familienverbands. Im Urteil vom 12. April 2018, A und S(92), hat der Gerichtshof einen „innere[n] Zusammenhang“ „zwischen dem Recht auf Familienzusammenführung aus Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 und der Flüchtlingseigenschaft“(93) aufgezeigt. Das Vorhandensein dieses Zusammenhangs bedeutet nicht, dass die spezifischen Vorschriften für die Gewährung von internationalem Schutz mit den Vorschriften zur Achtung des Familienlebens der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verwechselt werden, sondern vielmehr, dass die beiden Regelwerke miteinander verknüpft werden, um ihren jeweiligen Sinn und ihre jeweilige praktische Wirksamkeit zu gewährleisten.

137. Wie aus ihrem sechsten Erwägungsgrund hervorgeht, betrifft die Richtlinie 2003/86 nicht nur die Wahrung, sondern auch die Herstellung des Familienlebens, da die familiären Bindungen vor oder nach der Einreise des Zusammenführenden in den Aufnahmemitgliedstaat entstanden sein können(94). Außerdem sind die Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 nach ständiger Rechtsprechung im Licht des Art. 7 und des Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta auszulegen und anzuwenden, wonach die Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohles der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, prüfen müssen(95).

138. In diesem Zusammenhang und in Beantwortung der dritten Vorlagefrage bin ich der Auffassung, dass in einer Situation wie der vorliegenden, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/86 zu fallen scheint, die Möglichkeiten der Neuansiedlung einer Familie in einem Drittland nicht zur Gewährleistung der Achtung des Familienlebens der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zu berücksichtigen sind. Ohne eine Missachtung von Sinn und Zweck dieser Richtlinie könnte man nämlich von dieser Person nicht verlangen oder auch nur vernünftigerweise erwarten, dass sie hierzu die Entscheidung trifft, auf den ihr durch den Aufnahmemitgliedstaat gewährten internationalen Schutz zu verzichten, indem sie sich in einem Drittland niederlässt.

139. Viertens scheint mir § 26 Abs. 2 AsylG der Absicht des Unionsgesetzgebers zuwiderzulaufen, allen Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die gleichen Rechte und Leistungen zu gewähren, damit sie unabhängig vom Aufnahmemitgliedstaat in den Genuss einer gleichwertigen Behandlung und gleichwertiger Lebensbedingungen kommen. Indem diese Rechtsvorschriften die Gewährung internationalen Schutzes für das minderjährige Kind einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, nämlich unabhängig von der Situation, in der sich dieses Kind befindet, nahezu automatisch vorsehen, sind sie geeignet, die Gefahr der Sekundärmigrationen von Personen, die internationalen Schutz beantragt haben, zu erhöhen.

140. Angesichts dieser Erwägungen würde § 26 Abs. 2 AsylG in einer Situation wie der in Rede stehenden dazu führen, dass der Klägerin des Ausgangsverfahrens internationaler Schutz zuerkannt wird, obwohl sie erstens zwei Jahre, nachdem ihrem Vater, einem syrischen Staatsangehörigen, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, im deutschen Hoheitsgebiet geboren wurde, zweitens eine andere Staatsangehörigkeit als die ihres Vaters besitzt und grundsätzlich den Schutz des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt (Tunesien), genießt, drittens keinen internationalen Schutz wegen einer Verfolgungsgefahr in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, verlangt, viertens aufgrund ihrer Geburt im deutschen Hoheitsgebiet grundsätzlich über eine Aufenthaltserlaubnis verfügt(96) und schließlich fünftens gerade aufgrund der Flüchtlingseigenschaft ihres Vaters in Deutschland einen Anspruch auf das in der Richtlinie 2003/86 verankerte Recht auf Familienzusammenführung geltend machen kann.

141. In Anbetracht dieser Gesichtspunkte liefe es daher der allgemeinen Systematik und den Zielen der Richtlinie 2011/95 zuwider, wenn einem Kind, das sich in einer Situation wie der hier in Rede stehenden befindet, die meines Erachtens keinerlei Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes im Sinne des Urteils vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova(97), aufweist, die in dieser Richtlinie vorgesehenen Status gewährt würden.

142. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass Art. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach denen die zuständige nationale Behörde die Wahrung des Familienverbands eines Flüchtlings oder einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, dadurch gewährleisten soll, dass sie dem minderjährigem Kind dieser Person internationalen Schutz gewährt, ohne dass diese Behörde eine individuelle Prüfung des Antrags vornimmt und unabhängig davon, ob die Situation dieses Kindes das Bestehen eines Bedarfs an internationalem Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95 erkennen lässt oder einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweist.

143. In Anbetracht der von mir vorgeschlagenen Antworten auf die erste und die zweite Vorlagefrage ist die dritte Vorlagefrage meines Erachtens nicht isoliert zu beantworten.

V.      Ergebnis

144. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Bundesverwaltungsgerichts (Deutschland) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach denen die zuständige nationale Behörde die Wahrung des Familienverbands einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, dadurch gewährleisten soll, dass sie den Familienangehörigen dieser Person und insbesondere ihrem minderjährigen Kind, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erfüllen, diesen Schutz gewähren.

2.      Art. 3 der Richtlinie 2011/95 ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach denen die zuständige nationale Behörde die Wahrung des Familienverbands eines Flüchtlings oder einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, dadurch gewährleisten soll, dass sie dem minderjährigen Kind dieser Person internationalen Schutz gewährt, ohne dass diese Behörde eine individuelle Prüfung des Antrags vornimmt und unabhängig davon, ob die Situation dieses Kindes das Bestehen eines Bedarfs an internationalem Schutz im Sinne dieser Richtlinie erkennen lässt oder einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweist.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Die Konvention trat am 22. April 1954 in Kraft (Recueil des traités des Nations unies, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]), im Folgenden: Genfer Flüchtlingskonvention. Sie wurde ergänzt durch das am 31. Januar 1967 in New York abgeschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (im Folgenden: Protokoll von 1967), das am 4. Oktober 1967 in Kraft trat.


3      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).


4      Zwölfter Erwägungsgrund der Richtlinie.


5      13. Erwägungsgrund dieser Richtlinie.


6      Vgl. u. a. Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn (Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen) (C‑808/18, EU:C:2020:1029).


7      BGBl. 2008 I S. 1798.


8      BGBl. 2019 I S. 1626, im Folgenden: AsylG.


9      Vgl. hierzu Urteil vom 24. Juni 2015, T. (C‑373/13, EU:C:2015:413, Rn. 68).


10      Siehe Überschrift und Abs. 1 dieses Artikels.


11      ABl. 2003, L 251, S. 12.


12      Vgl. sechster Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86, wonach diese den „Schutz der Familie und [die] Wahrung oder Herstellung des Familienlebens“ gewährleisten soll.


13      Der 36. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 betrifft nur Familienangehörige eines Flüchtlings, nicht aber Familienangehörige eines subsidiär Schutzberechtigten.


14      Vgl. zwölfter Erwägungsgrund der Richtlinie.


15      Art. 29 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 sieht jedoch für Personen mit subsidiärem Schutzstatus eine Beschränkung auf Kernleistungen vor.


16      C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 68.


17      KOM(2001) 510 endgültig.


18      Vgl. hierzu den früheren Art. 6 Abs. 1 dieses Vorschlags.


19      Vgl. Änderungsantrag 22 des Berichts vom 8. Oktober 2002 über diesen Vorschlag für eine Richtlinie (A5-0333/2002 endg.).


20      Richtlinie des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12). Vgl. zehnter Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95.


21      Art. 23 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 stellt klar, dass „[die] Absätze 1 und 2 [dieses Artikels] keine Anwendung [finden], wenn der Familienangehörige aufgrund der Kapitel III und V [dieser Richtlinie] von der Gewährung internationalen Schutzes ausgeschlossen ist oder ausgeschlossen wäre“.


22      In Art. 23 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95 heißt es: „Unbeschadet der Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten aus Gründen der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung die dort aufgeführten Leistungen verweigern, einschränken oder entziehen.“


23      EASO, Richterliche Analyse, Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes (Richtlinie 2011/95/EU), 2018 (S. 111).


24      Nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 bezeichnet der Ausdruck „Zusammenführender“ den sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhaltenden Drittstaatsangehörigen, der oder dessen Familienangehörige einen Antrag auf Familienzusammenführung mit ihm stellt bzw. stellen.


25      Vgl. Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2003/86.


26      Hervorhebung nur hier.


27      Vgl. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie 2003/86.


28      Vgl. Urteile vom 19. November 2020, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Militärdienst und Asyl) (C‑238/19, EU:C:2020:945, Rn. 19 und 20), sowie vom 13. Januar 2021, Bundesrepublik Deutschland (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft) (C‑507/19, EU:C:2021:3, Rn. 38 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


29      Vgl. Art. 78 Abs. 1 AEUV und Art. 18 der Charta. Vgl. auch Erwägungsgründe 4, 23 und 24 der Richtlinie 2011/95 sowie Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 80 bis 83 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


30      Siehe 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 sowie Urteil vom 23. Mai 2019, Bilali (C‑720/17, EU:C:2019:448, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).


31      Vgl. hierzu Feller, E., Türk, V., und Nicholson, R., La protection des réfugiés en droit international, Larcier, Brüssel, insbesondere Neunter Teil mit dem Titel „L’unité de la famille (Acte final, Conférence des Nations unies de 1951)“, S. 678.


32      Vgl. Feller, E., Türk, V., und Nicholson, R., a. a. O., S. 624.


33      Empfehlung B, 1). Siehe auch Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft gemäß dem Abkommen von 1951 und dem Protokoll von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, UNHCR, Genf 1992, Abs. 183.


34      Ebenfalls in diesem Zusammenhang hat der Unionsgesetzgeber die Richtlinie 2003/86 erlassen, die nach ihren Erwägungsgründen 2, 6 und 8 den Schutz der Familie des Flüchtlings sowie die Wahrung oder die Herstellung seines Familienlebens durch die Regelung der Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung gewährleisten soll.


35      Vgl. Erwägungsgründe 5, 6 und 9 der Richtlinie 2011/95 sowie Urteil vom 8. Mai 2014, N. (C‑604/12, EU:C:2014:302, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).


36      Vgl. zwölfter Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95.


37      Abrufbar unter https://www.unhcr.org/fr/protection/operations/4b151d86e/commentaires-annotes-hcr-directive-200483ce-conseil-29-avril-2004-concernant.html.


38      Abrufbar unter https://www.unhcr.org/fr/excom/standcom/4b30a618e/questions-relatives-protection-famille.html.


39      Fragen betreffend den Schutz der Familie (Rn. 9). Hervorhebung nur hier.


40      Wie bei der Prüfung zur Feststellung des Bedarfs an internationalem Schutz, bei der nach Art. 4 der Richtlinie 2011/95 alle Tatsachen und Umstände, aber auch die „individuelle Lage … des Antragstellers“ (Art. 4 Abs. 3 Buchst. c) und das Bestehen eines nationalen Schutzes (Art. 4 Abs. 3 Buchst. e) zu berücksichtigen sind.


41      Vgl. auch 38. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95, wonach „[b]ei der Gewährung der Ansprüche auf die Leistungen gemäß dieser Richtlinie … die Mitgliedstaaten dem Wohl des Kindes sowie den besonderen Umständen der Abhängigkeit der nahen Angehörigen, die sich bereits in dem Mitgliedstaat aufhalten und die nicht Familienmitglieder der Person sind, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, von dieser Person Rechnung tragen [sollten]“.


42      C‑441/19, EU:C:2021:9.


43      Vgl. Urteil vom 14. Januar 2021, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Rückkehr eines unbegleiteten Minderjährigen) (C‑441/19, EU:C:2021:9, Rn. 46).


44      Vgl. auch Manuel de réinstallation du HCR, 2011 (Neuansiedlungshandbuch des UNHCR, 2011, abrufbar unter https://www.unhcr.org/fr/5162da949.pdf), insbesondere Punkt 3.1.5 „Abgeleitete Flüchtlingseigenschaft im Zusammenhang mit der Familienzusammenführung“, der klarstellt, dass „[d]ie Anträge auf Zuerkennung der abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft … von den für den Schutz oder für die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen zuständigen Bediensteten zu untersuchen [sind] und … eine sorgfältige Kontrolle aller verfügbaren Unterlagen und Informationen in Bezug auf die Identität des Antragstellers und seine Beziehung zu dem Flüchtling [erfordern]“, S. 86.


45      Vgl. 19. Erwägungsgrund dieser Richtlinie, wonach der Begriff „Familienangehörige“ ausgeweitet werden kann, „wobei den unterschiedlichen besonderen Umständen der Abhängigkeit Rechnung zu tragen und das Wohl des Kindes besonders zu berücksichtigen ist“. Vgl. auch EASO, Judicial Analysis, Evidence and Credibility Assessment in the Context of the Common European Asylum System, 2018, S. 62 („Individual assessment“), S. 126 („The best interests of the child“) und S. 136 („Family relationships and evidence assessment“).


46      Vgl. Urteil vom 2. Mai 2018, K. und H. F. (Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen) (C‑331/16 und C‑366/16, EU:C:2018:296, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).


47      C‑369/17, EU:C:2018:713.


48      Vgl. Urteil vom 13. September 2018, Ahmed (C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 48 und 49). Vgl. auch Urteil vom 13. Januar 2021, Bundesrepublik Deutschland (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft) (C‑507/19, EU:C:2021:3, Rn. 51).


49      Vgl. Urteil vom 2. Mai 2018, K. und H. F. (Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen) (C‑331/16 und C‑366/16, EU:C:2018:296, Rn. 53 und 54).


50      Vgl. zwölfter Erwägungsgrund der Richtlinie. Vgl. auch Urteile vom 13. September 2018, Ahmed (C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 37), und vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 79)


51      Vgl. [EASO-]Praxisleitfaden: Anerkennung als international Schutzberechtigte/r, April 2018, insbesondere S. 11, 12 und 36.


52      Vgl. hierzu Abs. 90 des in Fn. 33 der vorliegenden Schlussanträge angeführten UNHCR-Handbuchs, in dem der UNHCR feststellt, dass „sich die begründete Furcht des Antragstellers vor Verfolgung auf das Land beziehen [muss], dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Solange seine Furcht vor Verfolgung sich nicht auf das Land bezieht, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, kann er den Schutz dieses Landes in Anspruch nehmen und auch in dieses Land zurückkehren. Er bedarf keines internationalen Schutzes und ist daher auch kein Flüchtling“ (vgl. auch Abs. 106 und 107 des UNHCR-Handbuchs). In der Rechtslehre vgl. insbesondere Hathaway, J. C., und Foster, M., The law of refugee status, 2. Aufl., Cambridge University Press, Cambridge, 2014, S. 55: „Dem Flüchtlingsrecht liegt die Annahme zugrunde, dass der nationale Schutz, wenn er zur Verfügung steht, dem ersatzweisen internationalen Schutz vorgeht. Im Rahmen des Entwurfs der Konvention brachten die entsandten Vertreter eindeutig ihre Auffassung zum Ausdruck, dass eine Person nicht als Flüchtling anerkannt werden sollte, es sei denn, sie ist entweder nicht in der Lage oder aus einem legitimen Grund nicht gewillt, den Schutz all jener Staaten in Anspruch zu nehmen, deren Staatsangehörige sie ist“, und S. 462: „Der Zweck des Flüchtlingsrechts besteht darin, einen ersatzweisen Schutz zu gewähren, bis ein nennenswerter nationaler Schutz wieder hergestellt oder eingerichtet worden ist“, sowie S. 494 und 495. Vgl. auch Goodwin-Gill, G. S., und McAdam, J., The refugee in international law, 3. Aufl.,  Oxford University Press, Oxford, 2007, S. 421: „Das Fehlen oder die Verweigerung des Schutzes ist ein Hauptmerkmal der Flüchtlingseigenschaft, und es obliegt dem Völkerrecht, seinerseits seinen eigenen Schutz an die Stelle des Schutzes zu setzen, den das Herkunftsland nicht gewähren kann oder will“, und S. 72: „Diejenigen, die die Staatsangehörigkeit eines anderen Staates besitzen, haben Anspruch auf dessen Schutz und fallen somit nicht unter die Definition des Flüchtlings“ (freie Übersetzungen).


53      Vgl. Art. 11 der Richtlinie 2011/95.


54      Vgl. Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95.


55      C‑255/19, EU:C:2021:36.


56      Vgl. Urteil vom 20. Januar 2021, Secretary of State for the Home Department (C‑255/19, EU:C:2021:36, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).


57      Vgl. Erwägungsgründe 5, 9 und 10 der Richtlinie 2011/95.


58      Vgl. 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95.


59      Mit Ausnahme der sich aus dem Grundsatz der Nichtzurückweisung ergebenden Rechte.


60      Am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet. Vgl. Erwägungsgründe 4, 16 und 17 der Richtlinie 2011/95 sowie Urteile vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a. (C‑411/10 und C‑493/10, EU:C:2011:865, Rn. 78), sowie vom 13. Januar 2021, Bundesrepublik Deutschland (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft) (C‑507/19, EU:C:2021:3, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).


61      Vgl. Urteile vom 26. März 2019, SM (Unter algerische Kafala gestelltes Kind) (C‑129/18, EU:C:2019:248, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 16. Juli 2020, B. M. M. u. a. (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


62      Vgl. Art. 3 und 9 des von der Generalversammlung der Vereinten Nationen mit Resolution 44/25 vom 20. November 1989 beschlossenen und am 2. September 1990 in Kraft getretenen Übereinkommens über die Rechte des Kindes. Vgl. auch EGMR, 6. Juli 2010, Neulinger und Shuruk/Schweiz, CE:ECHR:2010:0706JUD004161507, § 49 bis 64.


63      Davon zeugt seine Stellung in Kapitel VII der Richtlinie 2011/95.


64      Vgl. Feller, E., Türk, V., und Nicholson, R., a. a. O.: „Die Beachtung des Grundsatzes der Einheit der Familie ist eines der wichtigsten Mittel zum Schutz der Familie des Flüchtlings“, S. 624.


65      Vgl. Feller, E., Türk, V., und Nicholson, R., a. a. O., S. 626 und 627.


66      Vgl. insbesondere Erwägungsgründe 41 bis 48 der Richtlinie 2011/95.


67      Fragen betreffend den Schutz der Familie vom 4. Juni 1999, Rn. 15 (vgl. Fn. 38 der vorliegenden Schlussanträge).


68      Vgl. hierzu Urteil vom 18. Dezember 2014, M’Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


69      Da es sich um günstigere Vorschriften handeln muss, ist dieser Ermessensspielraum selbstverständlich unter Wahrung der Grundrechte der betroffenen Personen auszuüben.


70      C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403.


71      Vgl. Urteil vom 14. Mai 2019, M u. a. (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft) (C‑391/16, C‑77/17 und C‑78/17, EU:C:2019:403, Rn. 83).


72      Vgl. beispielsweise Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 in Art. 5 Abs. 3 (Folgeantrag), Art. 14 Abs. 4 und 5 (Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft), Art. 17 Abs. 3 (Ausschluss von der Gewährung subsidiären Schutzes), Art. 19 Abs. 2 (Aberkennung des subsidiären Schutzstatus), Art. 21 Abs. 2 und 3 (Schutz vor Zurückweisung), Art. 23 Abs. 4 und 5 (Wahrung des Familienverbands), Art. 29 Abs. 2 (Sozialhilfeleistungen) sowie Art. 35 (Rückkehr).


73      [EASO-]Praxisleitfaden: Anerkennung als international Schutzberechtigte/r, April 2018, S. 16.


74      Ich denke dabei beispielsweise an die Schwere der Verfolgungshandlung, deren Wiederholung, die Akteure, von denen die Verfolgung ausgeht, und die Verfolgungsgründe. Vgl. u. a. Urteil vom 5. September 2012, Y und Z (C‑71/11 und C‑99/11, EU:C:2012:518), zur Auslegung des Begriffs „Religionsfreiheit“.


75      Vgl. 36. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95.


76      Vgl. UNHCR, Note d’orientation sur les demandes d’asile relatives aux mutilations genitales feminines (Leitfaden zu Asylanträgen betreffend Genitalverstümmelung bei Frauen), Mai 2009, abrufbar unter https://www.unhcr.org/fr/publications/legal/4fd737379/note-dorientation-demandes-dasile-relatives-mutilations-genitales-feminines.html, Nr. 11.


77      C‑652/16, EU:C:2018:801.


78      Vgl. Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95, der die in Art. 1 Abschnitte D und E der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe aufgreift. Vgl. zur Veranschaulichung Urteil vom 13. Januar 2021, Bundesrepublik Deutschland (Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft) (C‑507/19, EU:C:2021:3, Rn. 49 und 50).


79      Vgl. Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, der Personen, die ein Verbrechen gegen den Frieden oder die Menschlichkeit, ein Kriegsverbrechen oder eine schwere nicht politische Straftat begangen haben oder sich Handlungen haben zuschulden kommen lassen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen, von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausschließt. Dieser Artikel nimmt die in Art. 1 Abschnitt F der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe auf.


80      C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661. In der Rechtssache B (C‑57/09) vertrat die zuständige nationale Behörde die Auffassung, dass B wegen der von ihm begangenen schweren nicht politischen Straftat von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen werden müsse. In der Rechtssache D (C‑101/09) sei D die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden, bevor wegen der angeblichen Begehung einer schweren Straftat und des Vorliegens von Handlungen, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderlaufen, ein Aberkennungsverfahren eingeleitet wurde.


81      Vgl. Urteil vom 9. November 2010, B und D (C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 114 und 115).


82      Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova (C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 74).


83      C‑542/13, EU:C:2014:2452.


84      C‑542/13, EU:C:2014:2452.


85      Urteil vom 18. Dezember 2014, M’Bodj (C‑542/13, EU:C:2014:2452, Rn. 44).


86      Ich teile daher die Auffassung des vorlegenden Gerichts, der zufolge der deutsche Gesetzgeber den durch Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 gebotenen „Familienschutz“ für Familienangehörige, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, „überschießend“ umgesetzt habe.


87      Im deutschen Recht wird dieser Status als „Familienasyl“ bezeichnet. Die Überschrift des § 26 lautet: „Familienasyl und internationaler Schutz für Familienangehörige“.


88      C‑652/16, EU:C:2018:514.


89      Schlussanträge des Generalanwalts Mengozzi in der Rechtssache Ahmedbekova (C‑652/16, EU:C:2018:514, Nr. 55).


90      C‑652/16, EU:C:2018:801.


91      Vgl. achter Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 sowie Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 32). Vgl. auch Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat – Leitlinien zur Anwendung der Richtlinie 2003/86/EG des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, COM(2014) 210 final (Ziff. 6). Vgl. ferner Urteil des EGMR vom 10. Juli 2014, Tanda-Muzinga/Frankreich, CE:ECHR:2014:0710JUD000226010, § 76. Die Richtlinie 2003/86 betrifft nur die Familienzusammenführung von Flüchtlingen. In Anbetracht der mit der Richtlinie 2011/95 (die nach der Richtlinie 2003/86 erlassen wurde) verfolgten Ziele und der Empfehlungen des UNHCR in seiner Antwort auf das Grünbuch der Kommission zum Recht auf Familienzusammenführung von in der Europäischen Union lebenden Drittstaatsangehörigen (Richtlinie 2003/86/EG) (KOM[2011] 735 endgültig) (abrufbar unter https://www.unhcr.org/protection/operations/4f54e3fb13/refugee-family-reunification-unhcrs-response-european-commission-green.html) sollte subsidiär Schutzberechtigten das Recht auf Achtung des Familienlebens jedoch unter denselben Bedingungen wie Flüchtlingen zuerkannt werden.


92      C‑550/16, EU:C:2018:248.


93      Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 62).


94      Vgl. hierzu Urteil vom 4. März 2010, Chakroun (C‑578/08, EU:C:2010:117, Rn. 59). Vgl. auch das in Fn. 91 der vorliegenden Schlussanträge angeführte Grünbuch der Kommission, insbesondere Ziff. 4.2 „Fragen im Zusammenhang mit Asyl“ (S. 7). Vgl. in diesem Sinne auch EGMR, 10. Juli 2014, Mugenzi/Frankreich, CE:ECHR:2014:0710JUD005270109, § 54.


95      Vgl. Urteil vom 16. Juli 2020, B. M. M. u. a. (Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind) (C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


96      Vgl. hierzu § 33 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1950). Im vorliegenden Fall geht aus den Akten nicht hervor, dass der Aufenthalt der Familie oder eines ihre Mitglieder im deutschen Hoheitsgebiet bedroht wäre.


97      C‑652/16, EU:C:2018:801.