Language of document : ECLI:EU:C:2022:402

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

19. Mai 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Wandererwerbstätige – Soziale Sicherheit – Anzuwendende Rechtsvorschriften – Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 – Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i und ii – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 11 Abs. 5 – Art. 13 Abs. 1 Buchst. a und b – Begriff ‚Heimatbasis‘ – Fliegendes Personal – Erwerbstätige, die im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt sind – Anknüpfungskriterien“

In der Rechtssache C‑33/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 21. Dezember 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Januar 2021, in dem Verfahren

Istituto nazionale per l’assicurazione contro gli infortuni sul lavoro (INAIL),

Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS)

gegen

Ryanair DAC

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. Passer, des Richters F. Biltgen (Berichterstatter) und der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Istituto nazionale per l’assicurazione contro gli infortuni sul lavoro (INAIL), vertreten durch L. Frasconà und G. Catalano, Avvocati,

–        des Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS), vertreten durch A. Sgroi, L. Maritato, E. De Rose und C. D’Aloisio, Avvocati,

–        der Ryanair DAC, vertreten durch S. Piras, Avvocato, E. Vahida, Avocat, S. Rating, Abogado und Rechtsanwalt, I.‑G. Metaxas-Maranghidis, Dikigoros, und S. Bargellini, Avvocata,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Rocchitta, Avvocato dello Stato,

–        von Irland, vertreten durch M. Browne im Beistand von E. Egan McGrath, Barrister-at-Law, sowie durch J. Quaney und T. Joyce als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und D. Recchia als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1), in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 631/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 (ABl. 2004, L 100, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71).

2        Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Istituto nazionale per l’assicurazione contro gli infortuni sul lavoro (INAIL) (Staatliche Unfallversicherungsanstalt, Italien) bzw. dem Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS) (Staatliche Sozialversicherungsanstalt, Italien) und der in Irland ansässigen Ryanair DAC wegen deren Weigerung, ihr dem Flughafen Orio al Serio (Bergamo, Italien) zugewiesenes fliegendes Personal bei diesen Versicherungsanstalten zu versichern.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Verordnung Nr. 1408/71

3        Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde mit Wirkung zum 1. Mai 2010 aufgehoben und ersetzt. Da es in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten um die Nichtzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen in der Zeit von Juni 2006 bis Februar 2010 sowie von Unfallversicherungsbeiträgen in der Zeit von Januar 2008 bis Januar 2013 geht, können sie in den Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 fallen. In dieser Verordnung gab es einen Titel II („Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften“), in dem die Art. 13 bis 17 aufgeführt waren.

4        Art. 13 („Allgemeine Regelung“) der Verordnung Nr. 1408/71 sah vor:

„(1)      Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(2)      Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt folgendes:

a)      Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat;

…“

5        Art. 14 („Sonderregelung für andere Personen als Seeleute, die eine abhängige Beschäftigung ausüben“) der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmte:

„Vom Grundsatz des Artikels 13 Absatz 2 Buchstabe a) gelten folgende Ausnahmen und Besonderheiten:

2.      Eine Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten abhängig beschäftigt ist, unterliegt den wie folgt bestimmten Rechtsvorschriften:

a)      Eine Person, die als Mitglied des fahrenden oder fliegenden Personals eines Unternehmens beschäftigt wird, das für Rechnung Dritter oder für eigene Rechnung im internationalen Verkehrswesen die Beförderung von Personen oder Gütern im Schienen‑, Straßen‑, Luft- oder Binnenschifffahrtsverkehr durchführt und seinen Sitz im Gebiet des Mitgliedstaats hat, unterliegt den Rechtsvorschriften des letzten Mitgliedstaats mit folgender Einschränkung:

i)      Eine Person, die von einer Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt wird, die das Unternehmen außerhalb des Gebietes des Mitgliedstaats, in dem es seinen Sitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält, unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich die Zweigstelle oder die ständige Vertretung befindet;

ii)      eine Person, die überwiegend im Gebiet des Mitgliedstaats beschäftigt wird, in dem sie wohnt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates auch dann, wenn das Unternehmen, das sie beschäftigt, dort weder seinen Sitz noch die Zweigstelle oder eine ständige Vertretung hat“.

6        Art. 17 („Ausnahmen von den Art. 13 bis 16“) der Verordnung Nr. 1408/71 lautete:

„Zwei [oder] mehr Mitgliedstaaten, die zuständigen Behörden dieser Staaten oder die von diesen Behörden bezeichneten Stellen können im Interesse bestimmter Personengruppen oder bestimmter Personen Ausnahmen von den Artikeln 13 bis 16 vereinbaren.“

7        In Titel IV („Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer“) der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmte Art. 80 („Zusammensetzung und Arbeitsweise“) in Abs. 1:

„Der bei der [Europäischen] Kommission … eingesetzten Verwaltungskommission für die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer – im Folgenden ‚Verwaltungskommission‘ genannt – gehört je ein Regierungsvertreter jedes Mitgliedstaats an, der gegebenenfalls von Fachberatern unterstützt wird. Ein Vertreter der Kommission … nimmt mit beratender Stimme an den Sitzungen der Verwaltungskommission teil.“

8        In Titel VI („Verschiedene Vorschriften“) der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmte Art. 84a („Beziehungen zwischen Trägern und Personen im Geltungsbereich dieser Verordnung“) in Abs. 3:

„Werden durch Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung dieser Verordnung die Rechte einer Person im Geltungsbereich dieser Verordnung in Frage gestellt, so setzt sich der Träger des zuständigen Staates bzw. des Wohnstaats der betreffenden Person mit dem Träger des anderen betroffenen Mitgliedstaats oder den Trägern der anderen betroffenen Mitgliedstaaten in Verbindung. Wird binnen einer angemessenen Frist keine Lösung gefunden, so können die betreffenden Behörden die Verwaltungskommission befassen.“

 Verordnung Nr. 883/2004

9        Mit der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) wurde ab dem 1. Mai 2010, dem Zeitpunkt des Beginns ihrer Anwendung, die Verordnung Nr. 1408/71 aufgehoben und ersetzt. Vor diesem Zeitpunkt wurde die Verordnung Nr. 883/2004 durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 (ABl. 2009, L 284, S. 43) geändert (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004 in der 2009 geänderten Fassung). Sie wurde ferner durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 (ABl. 2012, L 149, S. 4), die am 28. Juni 2012 in Kraft getreten ist, geändert (im Folgenden: Verordnung Nr. 883/2004 in der 2012 geänderten Fassung). Die Verordnung Nr. 883/2004 ist in diesen beiden Fassungen auf die vorliegende Rechtssache anwendbar, soweit diese sich auf die Weigerung der Zahlung von Versicherungsbeiträgen für den Zeitraum vom 25. Januar 2008 bis zum 25. Januar 2013 bezieht.

10      Der Erwägungsgrund 18b der Verordnung Nr. 883/2004 in der 2012 geänderten Fassung lautet:

„In Anhang III der Verordnung (EWG) Nr. 3922/91 des Rates vom 16. Dezember 1991 zur Harmonisierung der technischen Vorschriften und der Verwaltungsverfahren in der Zivilluftfahrt [(ABl. 1991, L 373, S. 4)] ist das Konzept der ‚Heimatbasis‘ für Mitglieder von Flug- und Kabinenbesatzungen definiert als der vom Luftfahrtunternehmer gegenüber dem Besatzungsmitglied benannte Ort, wo das Besatzungsmitglied normalerweise eine Dienstzeit oder eine Abfolge von Dienstzeiten beginnt und beendet und wo der Luftfahrtunternehmer normalerweise nicht für die Unterbringung des betreffenden Besatzungsmitglieds verantwortlich ist. Um die Anwendung des Titels II dieser Verordnung auf Mitglieder von Flug- und Kabinenbesatzungen zu erleichtern, ist es gerechtfertigt, das Konzept der ‚Heimatbasis‘ als das Kriterium für die Bestimmung der für die Mitglieder von Flug- und Kabinenbesatzungen geltenden Rechtsvorschriften heranzuziehen. Es sollte jedoch für Kontinuität bei den für die Mitglieder von Flug- und Kabinenbesatzungen geltenden Rechtsvorschriften gesorgt werden, und das Prinzip der Heimatbasis sollte nicht zu einem häufigen Wechsel der geltenden Rechtsvorschriften aufgrund der Arbeitsmuster oder des saisonbedingten Bedarfs der Branche führen.“

11      Titel II („Bestimmung des anwendbaren Rechts“) der Verordnung Nr. 883/2004 in beiden Fassungen enthält die Art. 11 bis 16. Er übernimmt die Bestimmungen aus Titel II der Verordnung Nr. 1408/71.

12      Der vier Absätze umfassende Art. 11 der Verordnung Nr. 883/2004 in der 2009 geänderten Fassung bestimmt in den Abs. 1 und 3:

„(1)      Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(3)      Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:

a)      eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats;

…“

13      Mit der Verordnung Nr. 465/2012 wurde Art. 11 ein Abs. 5 angefügt. Dieser sieht vor: „Eine Tätigkeit, die ein Flug- oder Kabinenbesatzungsmitglied in Form von Leistungen im Zusammenhang mit Fluggästen oder Luftfracht ausübt, gilt als in dem Mitgliedstaat ausgeübte Tätigkeit, in dem sich die ‚Heimatbasis‘ im Sinne von Anhang III der Verordnung (EWG) Nr. 3922/91 befindet.“

14      Art. 13 („Ausübung von Tätigkeiten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten“) der Verordnung Nr. 883/2004 in ihren beiden Fassungen sieht in Abs. 1 Buchst. a vor, dass eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats unterliegt, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt. Art. 13 Abs. 1 Buchst. b sieht seinerseits vor, dass diese Person, wenn sie im Wohnmitgliedstaat keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat.

15      Art. 16 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in ihren beiden Fassungen übernimmt den Inhalt von Art. 17 der Verordnung Nr. 1408/71.

16      Art. 71 und Art. 76 Abs. 6 der Verordnung Nr. 883/2004 in ihren beiden Fassungen entsprechen im Wesentlichen Art. 80 und Art. 84a Abs. 3 der Verordnung Nr. 1408/71.

17      Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 in ihren beiden Fassungen lautet:

„Gelten für eine Person infolge dieser Verordnung die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, der durch Titel II der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 bestimmt wird, bleiben diese Rechtsvorschriften so lange, wie sich der bis dahin vorherrschende Sachverhalt nicht ändert, und auf jeden Fall für einen Zeitraum von höchstens zehn Jahren ab dem Geltungsbeginn dieser Verordnung anwendbar, es sei denn, die betreffende Person beantragt, den nach dieser Verordnung anzuwendenden Rechtsvorschriften unterstellt zu werden. Der Antrag ist innerhalb von drei Monaten nach dem Geltungsbeginn dieser Verordnung bei dem zuständigen Träger des Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften nach dieser Verordnung anzuwenden sind, zu stellen, wenn die betreffende Person den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats ab dem Beginn der Anwendung dieser Verordnung unterliegen soll. Wird der Antrag nach Ablauf dieser Frist gestellt, gelten diese Rechtsvorschriften für die betreffende Person ab dem ersten Tag des darauf folgenden Monats.“

 Verordnung (EWG) Nr. 574/72

18      In der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71, geändert und aktualisiert durch die Verordnung Nr. 118/97 (ABl. 1997, L 28, S. 1), in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (ABl. 2005, L 117, S. 1) geänderten Fassung bestimmte Art. 12a („Vorschriften für die in Artikel 14 [Nummern] 2 und 3, Artikel 14a [Nummern] 2 bis 4 und Artikel 14c der Verordnung genannten Personen, die eine Beschäftigung oder selbstständige Tätigkeit gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaaten ausüben“) in Abs. 1a:

„Gelten nach Artikel 14 [Nummer] 2 Buchstabe a der Verordnung [Nr. 1408/71] für eine Person, die als Mitglied des fahrenden oder fliegenden Personals eines internationalen Transportunternehmens beschäftigt wird, die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich entweder der Sitz, die Zweigstelle oder die ständige Vertretung des Unternehmens, das sie beschäftigt, oder aber der Ort befindet, an dem sie wohnt und überwiegend beschäftigt ist, so stellt der von der zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats bezeichnete Träger der betroffenen Person eine Bescheinigung darüber aus, dass die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für sie gelten.“

 Verordnung (EG) Nr. 987/2009

19      Mit der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004 (ABl. 2009, L 284, S. 1) wurde die Verordnung Nr. 574/72, geändert und aktualisiert durch die Verordnung Nr. 118/97, in ihrer durch die Verordnung Nr. 647/2005 geänderten Fassung ab dem 1. Mai 2010 aufgehoben und ersetzt.

20      Art. 5 der Verordnung Nr. 987/2009 sieht vor:

„(1)      Vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, sind für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden.

(2)      Bei Zweifeln an der Gültigkeit eines Dokuments oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den im Dokument enthaltenen Angaben zugrunde liegt, wendet sich der Träger des Mitgliedstaats, der das Dokument erhält, an den Träger, der das Dokument ausgestellt hat, und ersucht diesen um die notwendige Klarstellung oder gegebenenfalls um den Widerruf dieses Dokuments. Der Träger, der das Dokument ausgestellt hat, überprüft die Gründe für die Ausstellung und widerruft das Dokument gegebenenfalls.

(3)      Bei Zweifeln an den Angaben der betreffenden Personen, der Gültigkeit eines Dokuments oder der Belege oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den darin enthaltenen Angaben zugrunde liegt, nimmt der Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts, soweit dies möglich ist, nach Absatz 2 auf Verlangen des zuständigen Trägers die nötige Überprüfung dieser Angaben oder dieses Dokuments vor.

(4)      Erzielen die betreffenden Träger keine Einigung, so können die zuständigen Behörden frühestens einen Monat nach dem Zeitpunkt, zu dem der Träger, der das Dokument erhalten hat, sein Ersuchen vorgebracht hat, die Verwaltungskommission anrufen. Die Verwaltungskommission bemüht sich binnen sechs Monaten nach ihrer Befassung um eine Annäherung der unterschiedlichen Standpunkte.“

21      In Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 heißt es:

„Bei der Anwendung von Artikel 13 Absätze 1 und 2 der [Verordnung Nr. 883/2004] bedeutet die Ausübung ‚eines wesentlichen Teils der Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit‘ in einem Mitgliedstaat, dass der Arbeitnehmer oder Selbständige dort einen quantitativ erheblichen Teil seiner Tätigkeit ausübt, was aber nicht notwendigerweise der größte Teil seiner Tätigkeit sein muss.

Um festzustellen, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, werden folgende Orientierungskriterien herangezogen:

a)      im Falle einer Beschäftigung die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt und

b)      im Falle einer selbständigen Erwerbstätigkeit der Umsatz, die Arbeitszeit, die Anzahl der erbrachten Dienstleistungen und/oder das Einkommen.

Wird im Rahmen einer Gesamtbewertung bei den genannten Kriterien ein Anteil von weniger als 25 % erreicht, so ist dies ein Anzeichen dafür, dass ein wesentlicher Teil der Tätigkeit nicht in dem entsprechenden Mitgliedstaat ausgeübt wird.“

 Verordnung (EG) Nr. 44/2001

22      Abschnitt 5 des Kapitels II der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1), der aus den Art. 18 bis 21 der Verordnung besteht, legt die Zuständigkeitsregeln für Rechtsstreitigkeiten über individuelle Arbeitsverträge fest.

23      Art. 18 Abs. 1 der Verordnung Nr. 44/2001 lautet:

„Bilden ein individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag den Gegenstand des Verfahrens, so bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 4 und des Artikels 5 Nummer 5 nach diesem Abschnitt.“

24      Art. 19 der Verordnung Nr. 44/2001 bestimmt:

„Ein Arbeitgeber, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann verklagt werden:

1.      vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat, oder

2.      in einem anderen Mitgliedstaat

a)      vor dem Gericht des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder zuletzt gewöhnlich verrichtet hat, oder

b)      wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat verrichtet oder verrichtet hat, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich die Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, befindet bzw. befand.“

 Italienisches Recht

25      Das Regio decreto legge, n. 1827 convertito con modificazioni dalla L. 6 aprile 1936, n. 1155 – Perfezionamento e coordinamento legislativo della previdenza sociale (Königliches Gesetzesdekret Nr. 1827, mit Änderungen in ein Gesetz umgewandelt durch das Gesetz Nr. 1155 vom 6. April 1936 – Verbesserung und gesetzliche Koordinierung der Sozialversicherung) vom 4. Oktober 1935 (Gazzetta Ufficiale del Regno d’Italia Nr. 147 vom 26. Juni 1936) sieht in Art. 37 vor, dass die Invaliditäts- und Rentenversicherung, die Tuberkuloseversicherung und die Versicherung gegen unfreiwillige Arbeitslosigkeit unter dem Vorbehalt der in diesem Decreto legge vorgesehenen Ausschlusstatbestände für Personen beiderlei Geschlechts und aller Staatsangehörigkeiten, die das 15. Lebensjahr vollendet haben und nicht älter als 65 Jahre sind und die gegen Entgelt in abhängiger Beschäftigung Arbeitsleistungen erbringen, verpflichtend sind.

26      Das Decreto del Presidente della Repubblica n. 1124 – Testo unico delle disposizioni per l’assicurazione obbligatoria contro gli infortuni sul lavoro e le malattie professionali (Dekret Nr. 1124 des Präsidenten der Republik betreffend eine kodifizierte Fassung der Vorschriften über die Pflichtversicherung gegen Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten) vom 30. Juni 1965 (GURI Nr. 257 vom 13. Oktober 1965) bestimmt in Art. 4, dass diese Versicherung Personen erfasst, die abhängig und weisungsgebunden beschäftigt ständig oder gelegentlich körperliche Arbeit gegen Entgelt erbringen, und zwar unabhängig von der Art des Entgelts, sowie Personen, auf die diese Voraussetzungen zutreffen und die, ohne dass sie sich physisch an der Arbeit beteiligen, die Arbeit von anderen überwachen.

 Ausgangsrechtsstreitigkeiten und Vorlagefrage

27      Nach einer Inspektion vertrat das INPS die Auffassung, dass die dem Flughafen Orio al Serio in Bergamo zugewiesenen 219 Beschäftigten von Ryanair eine Beschäftigung im italienischen Hoheitsgebiet ausübten und in Anwendung des italienischen Rechts und von Art. 13 der Verordnung Nr. 1408/71 für den Zeitraum von Juni 2006 bis Februar 2010 beim INPS zu versichern seien.

28      Auch das INAIL war der Auffassung, dass diese Beschäftigten nach italienischem Recht für den Zeitraum vom 25. Januar 2008 bis zum 25. Januar 2013 beim INAIL gegen die Risiken der am Boden zu erbringenden Arbeit zu versichern seien, da sie der Heimatbasis von Ryanair auf dem Flughafen Orio al Serio zugewiesen seien.

29      Das INPS und das INAIL verlangten daher von Ryanair die Zahlung der auf diese Zeiträume (im Folgenden: betreffende Zeiträume) entfallenden Sozial- und Unfallversicherungsbeiträge, wogegen Ryanair vor den italienischen Gerichten vorging.

30      Das Tribunale di Bergamo (Gericht Bergamo, Italien) und die Corte d’appello di Brescia (Berufungsgericht Brescia, Italien) wiesen die Ansprüche des INPS und des INAIL mit der Erwägung als unbegründet zurück, dass die Arbeitnehmer von Ryanair für diese Zeiträume unter irisches Recht fielen.

31      Diese Gerichte ließen die verspätete Vorlage von E101-Bescheinigungen durch Ryanair zu, die von der zuständigen irischen Stelle ausgestellt worden waren und bescheinigten, dass auf die darin bezeichneten Beschäftigten die irischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit anwendbar seien.

32      Das mit der Berufung befasste Gericht bestätigte, dass E101-Bescheinigungen nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs gegenüber den nationalen Gerichten bindend seien, und kam zu dem Ergebnis, dass die von den vorgelegten E101-Bescheinigungen erfassten Arbeitnehmer von Ryanair während der betreffenden Zeiträume den irischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherung unterlagen. Das Gericht stellte allerdings nach Prüfung der Bescheinigungen fest, dass diese weder nummeriert noch in verständlicher oder organisierter Weise geordnet waren, dass es 321 Bescheinigungen und mithin wahrscheinlich Duplikate gab und dass sie nicht alle 219 dem Flughafen Orio al Serio zugewiesenen Beschäftigten von Ryanair während der gesamten betreffenden Zeiträume erfassten. Es folgerte daraus, dass hinsichtlich derjenigen Beschäftigten, für die das Vorliegen einer E101-Bescheinigung nicht nachgewiesen worden sei, die gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 anzuwendenden Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit bestimmt werden müssten.

33      Hierzu wies das Gericht darauf hin, dass die 219 dem Flughafen Orio al Serio zugewiesenen Beschäftigten von Ryanair mit einem irischen Arbeitsvertrag eingestellt worden seien, der konkret über aus Irland erhaltene Weisungen abgewickelt worden sei, und dass sie 45 Minuten pro Tag im italienischem Hoheitsgebiet und für den Rest der Arbeitszeit an Bord von Flugzeugen mit irischer Registrierung gearbeitet hätten. Das Gericht war der Auffassung, dass Ryanair im italienischen Hoheitsgebiet keine Zweigstelle oder ständige Vertretung habe, und leitete daraus ab, dass gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 die italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit nicht anwendbar seien.

34      Was den Zeitraum betrifft, in dem diese Verordnung nicht mehr anwendbar war, so ging das Berufungsgericht davon aus, dass es nicht über die zur Anwendung der in den Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 vorgesehenen Kriterien erforderlichen Angaben verfüge und dass das neue, in der Verordnung Nr. 883/2004 in der 2012 geänderten Fassung vorgesehene Anknüpfungskriterium der „Heimatbasis“ in jedem Fall in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar sei. Es folgerte daraus, dass während dieses Zeitraums die irischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit auf die 219 nicht von einer E101-Bescheinigung erfassten Beschäftigten von Ryanair anwendbar gewesen seien.

35      Das INPS und das INAIL legten beim vorlegenden Gericht, der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien), Kassationsbeschwerde ein.

36      Dieses erkennt zwar an, dass die von Ryanair vorgelegten E101-Bescheinigungen bindend sind, ist jedoch der Meinung, dass es – da das Berufungsgericht auf der Grundlage seiner Sachverhaltswürdigung, die das vorlegende Gericht nicht in Frage stellen könne, davon ausgegangen sei, dass die E101-Bescheinigungen in Wirklichkeit nicht alle 219 dem Flughafen Orio al Serio zugewiesenen Beschäftigten von Ryanair für alle betreffenden Zeiträume erfasst hätten – für die Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten erforderlich sei, die gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 anwendbaren Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit zu bestimmen.

37      Das vorlegende Gericht wirft insbesondere die Frage auf, ob diese Rechtsvorschriften in Anwendung von Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i oder von Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. ii der Verordnung Nr. 1408/71 zu bestimmen sind.

38      Hierzu verweist es darauf, dass der Gerichtshof in seinen Urteilen vom 14. September 2017, Nogueira u. a. (C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688), sowie vom 2. April 2020, CRPNPAC und Vueling Airlines (C‑370/17 und C‑37/18, EU:C:2020:260, Rn. 54 bis 59), Hinweise gegeben habe, die für die Beurteilung, ob Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 im vorliegenden Fall anwendbar sei, nützlich seien.

39      Das vorlegende Gericht hegt jedoch, bezogen auf fliegendes Personal, Zweifel an der Auslegung des Ausdrucks „Person, die überwiegend im Gebiet des Mitgliedstaats beschäftigt wird, in dem sie wohnt“ im Sinne von Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. ii der Verordnung Nr. 1408/71. Es möchte insbesondere wissen, ob diesem Begriff im Wege der Analogie eine Auslegung zu geben ist, die derjenigen entspricht, die der Gerichtshof für den in Art. 19 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001 verwendeten Begriff des „Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet“ gewählt habe, u. a. im Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a. (C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688, Rn. 57), das sich auf bei einer Fluggesellschaft beschäftigte oder ihr zur Verfügung gestellte Arbeitnehmer bezogen habe und in dem der Gerichtshof entschieden habe, dass dieser Begriff weit auszulegen sei (vgl. entsprechend Urteil vom 12. September 2013, Schlecker, C‑64/12, EU:C:2013:551, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung), in dem Sinne, dass er sich auf den Ort beziehe, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber tatsächlich erfülle.

40      Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Kann der Ausdruck „Person, die überwiegend im Gebiet des Mitgliedstaats beschäftigt wird, in dem sie wohnt“ in Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. ii [der Verordnung Nr. 1408/71] analog zu jener Formulierung ausgelegt werden, die (im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen, im gerichtlichen Bereich und im Bereich von individuellen Arbeitsverträgen [Verordnung Nr. 44/2001]) in Art. 19 Nr. 2 Buchst. a [dieser Verordnung] definiert wird als „Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet“, und zwar entsprechend den Ausführungen [im Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a. (C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688)] und ebenfalls im Bereich der Luftfahrt und des fliegenden Personals (Verordnung Nr. 3922/91)?

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

41      Ryanair und Irland machen geltend, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig. Sie sind der Auffassung, dass die von Ryanair vorgelegten E101-Bescheinigungen gemäß einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs für die nationalen Gerichte bindend seien, so dass weder das mit der Berufung befasste Gericht noch das vorlegende Gericht für eine Bestimmung der auf die 219 dem Flughafen Orio al Serio zugewiesenen Beschäftigten von Ryanair gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 anwendbaren Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit zuständig seien.

42      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in einem Verfahren nach Art. 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit der Rechtssache befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 12. Oktober 2016, Ranks und Vasiļevičs, C‑166/15, EU:C:2016:762, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Nach ständiger Rechtsprechung spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über das Vorabentscheidungsersuchen eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, um auf die ihm vorgelegten Fragen eine zweckdienliche Antwort zu geben (Urteil vom 12. Oktober 2016, Ranks und Vasiļevičs, C‑166/15, EU:C:2016:762, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Im vorliegenden Fall lässt sich der dem Gerichtshof vorliegenden Akte entnehmen, dass das Berufungsgericht ausdrücklich auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs verwiesen hat, nach der E101-Bescheinigungen für die nationalen Gerichte bindend sind, bevor es die ihm von Ryanair vorgelegten E101-Bescheinigungen geprüft hat und zu dem Ergebnis gekommen ist, dass kein Nachweis darüber erbracht worden sei, dass sie alle dem Flughafen Orio al Serio zugewiesenen 219 Beschäftigten von Ryanair während der gesamten betreffenden Zeiträume erfassten. Das Gericht war daher der Auffassung, dass die gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 anwendbaren Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit für diejenigen Beschäftigten zu bestimmen seien, für die keine E101-Bescheinigung vorliege.

45      Daher geht es in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten um die Frage, welche Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit während der betreffenden Zeiträume auf die nicht von den E101-Bescheinigungen erfassten, dem Flughafen Orio al Serio zugewiesenen Beschäftigten von Ryanair (im Folgenden: in Rede stehende Arbeitnehmer) anwendbar sind.

46      Das Vorabentscheidungsersuchen ist folglich zulässig.

 Zur Vorlagefrage

47      Auch wenn das vorlegende Gericht seine Frage formal auf die Auslegung des Ausdrucks „Person, die überwiegend im Gebiet des Mitgliedstaats beschäftigt wird, in dem sie wohnt“ in Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. ii der Verordnung Nr. 1408/71 beschränkt hat, ist einleitend anzumerken, dass dieser Umstand den Gerichtshof nicht daran hindert, dem Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung in dem bei ihm anhängigen Verfahren von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob es bei seiner Fragestellung darauf Bezug genommen hat.

48      Der Gerichtshof hat insoweit nämlich aus dem gesamten vom vorlegenden Gericht zur Verfügung gestellten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Verfahrens einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 8. Juli 2021, Staatsanwaltschaft Köln und Bundesamt für Güterverkehr, C‑937/19, EU:C:2021:555, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass es in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten um die Bestimmung der auf die in Rede stehenden Arbeitnehmer für die betreffenden Zeiträume anwendbaren Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit geht. Während indessen die Verordnung Nr. 1408/71 in dem gesamten für den Rechtsstreit zwischen dem INPS und Ryanair maßgeblichen Zeitraum von Juni 2006 bis Februar 2010 tatsächlich anwendbar war, ist dies in dem Zeitraum, der in dem Rechtsstreit zwischen dem INAIL und Ryanair maßgeblich ist, das ist der vom 25. Januar 2008 bis zum 25. Januar 2013, nicht der Fall. Die Verordnung Nr. 1408/71 wurde nämlich durch die Verordnung Nr. 883/2004 ab dem 1. Mai 2010 aufgehoben und ersetzt. Folglich ist für die Bestimmung der im vorliegenden Fall anwendbaren Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit nicht nur auf die Verordnung Nr. 1408/71 abzustellen, auf die sich das vorlegende Gericht bezieht, sondern auch auf die Verordnung Nr. 883/2004 in ihren beiden Fassungen.

50      Daher ist die Vorlagefrage so zu verstehen, dass mit ihr geklärt werden soll, welche Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit gemäß den einschlägigen Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 und der Verordnung Nr. 883/2004 in ihren beiden Fassungen auf fliegendes Personal einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Fluggesellschaft anwendbar sind, das nicht von E101-Bescheinigungen erfasst ist und täglich 45 Minuten in einem für die Besatzung bestimmten, als „crew room“ bezeichneten Raum arbeitet, über den die Fluggesellschaft im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verfügt, in dem das fliegende Personal wohnt, das sich für den Rest der Arbeitszeit an Bord von Flugzeugen dieser Fluggesellschaft befindet.

51      Erstens lässt sich dem Vorabentscheidungsersuchen zur Verordnung Nr. 1408/71 entnehmen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die in den Ausgangsrechtsstreitigkeiten anwendbaren Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit nach Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i dieser Verordnung oder nach deren Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. ii zu bestimmen sind.

52      Diese Bestimmungen, die eine Abweichung von dem in Art. 14 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 vorgesehenen Grundsatz darstellen, nach dem eine Person, die als Mitglied des fahrenden oder fliegenden Personals eines Unternehmens beschäftigt wird, das für Rechnung Dritter oder für eigene Rechnung im internationalen Verkehrswesen die Beförderung von Personen oder Gütern im Schienen‑, Straßen‑, Luft- oder Binnenschifffahrtsverkehr durchführt und seinen Sitz im Gebiet eines Mitgliedstaats hat, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats unterliegt, sehen unterschiedliche Regelungen vor, die sich gegenseitig ausschließen. Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. ii der Verordnung ist nämlich nur dann anzuwenden, wenn die anwendbaren Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit nicht nach Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung bestimmt werden können.

53      Nach Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die zum fliegenden Personal einer Fluggesellschaft, die internationale Flüge durchführt, gehört und von einer Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt wird, die diese Gesellschaft außerhalb des Gebiets des Mitgliedstaats, in dem sie ihren Sitz hat, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats unterhält, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet sich die Zweigstelle oder die ständige Vertretung befindet.

54      Die Anwendung dieser Bestimmung hängt davon ab, dass zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind: Die betreffende Fluggesellschaft muss in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sie ihren Sitz hat, eine Zweigstelle oder eine ständige Vertretung haben, und die betreffende Person muss von dieser Zweigstelle oder ständigen Vertretung beschäftigt werden (Urteil vom 2. April 2020, CRPNPAC und Vueling Airlines, C‑370/17 und C‑37/18, EU:C:2020:260, Rn. 55).

55      Zur ersten Voraussetzung hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Verordnung Nr. 1408/71 weder eine Definition der Begriffe „Zweigstelle“ und „ständige Vertretung“ enthält noch insoweit auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, so dass sie autonom auszulegen sind. Wie identische oder ähnliche Begriffe in anderen Bestimmungen des Unionsrechts sind sie so zu verstehen, dass mit ihnen eine Form der dauerhaft und fortgesetzt betriebenen Zweitniederlassung gemeint ist, mit der eine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt werden soll und die zu diesem Zweck über organisierte materielle und personelle Mittel verfügt sowie über eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber der Hauptniederlassung (Urteil vom 2. April 2020, CRPNPAC und Vueling Airlines, C‑370/17 und C‑37/18, EU:C:2020:260, Rn. 56).

56      In Bezug auf die zweite Voraussetzung hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass das Arbeitsverhältnis des fliegenden Personals einer Fluggesellschaft eine enge Verknüpfung mit dem Ort aufweist, von dem aus dieses Personal den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber erfüllt. Dabei handelt es sich um den Ort, von dem aus das Personal seine Verkehrsdienste erbringt, an den es danach zurückkehrt, an dem es Anweisungen dazu erhält und seine Arbeit organisiert und an dem sich die Arbeitsmittel befinden; er kann seiner Heimatbasis entsprechen (Urteil vom 2. April 2020, CRPNPAC und Vueling Airlines, C‑370/17 und C‑37/18, EU:C:2020:260, Rn. 57). Der Gerichtshof war daher der Ansicht, dass der Ort, an dem das fliegende Personal beschäftigt war, als eine Zweigstelle oder eine ständige Vertretung im Sinne von Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 angesehen werden konnte, da er dem Ort entsprach, von dem aus dieses Personal den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber erfüllte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, CRPNPAC und Vueling Airlines, C‑370/17 und C‑37/18, EU:C:2020:260, Rn. 58).

57      Der Gerichtshof hat sich somit auf die Rechtsprechung zur Bestimmung des anwendbaren Rechts im Bereich von individuellen Arbeitsverträgen im Sinne von Art. 19 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 44/2001 gestützt, insbesondere auf das Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a. (C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688). Für die Bestimmung des Ortes, von dem aus das fliegende Personal den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber erfüllt, ist hierbei auf ein Bündel von Indizien abzustellen, wobei sämtliche die Tätigkeit des Arbeitnehmers kennzeichnenden Merkmale zu berücksichtigen sind, die u. a. die Feststellung ermöglichen, in welchem Mitgliedstaat der Ort liegt, von dem aus der Arbeitnehmer seine Verkehrsdienste erbringt, an den er danach zurückkehrt, an dem er Anweisungen dazu erhält und seine Arbeit organisiert und an dem sich die Arbeitsmittel befinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. April 2020, CRPNPAC und Vueling Airlines, C‑370/17 und C‑37/18, EU:C:2020:260, Rn. 57).

58      Im vorliegenden Fall lässt sich der Vorlageentscheidung entnehmen, dass Ryanair während der betreffenden Zeiträume auf dem Flughafen Orio al Serio über einen für die Besatzung bestimmten Raum verfügte, der zur Verwaltung und Organisation der Schichtwechsel für die Dienste ihres Personals diente. Dieser Raum war mit Computern, Telefonen, Faxgeräten und Regalen für die Aufbewahrung von Dokumenten zu Personal und Flügen ausgerüstet und wurde vom gesamten Personal von Ryanair für die Vor- und Nachbereitungstätigkeiten zu jeder Schicht genutzt (check in und check out zur Zeiterfassung, operative Vorbesprechung und abschließende Nachbesprechung) wie auch für die Kommunikation mit dem Personal am Sitz von Ryanair in Dublin (Irland). Das zeitweilig nicht flugtaugliche Personal hatte seinen Dienst in diesem Raum zu verrichten. Die Bezugsperson für das anwesende und für das auf dem Flughafen verfügbare Personal, die die Besatzungen koordinierte, kontrollierte von ihrem Arbeitsplatz in diesem Raum aus das auf dem Flughafen arbeitende Personal und beorderte gegebenenfalls das zuhause gebliebene Reservepersonal dorthin. Schließlich durfte das Personal von Ryanair nicht mehr als eine Stunde von diesem Raum entfernt wohnen.

59      In Anbetracht der vorstehenden Gesichtspunkte ist davon auszugehen, dass der für die Besatzungen von Ryanair vorgesehene Raum auf dem Flughafen Orio al Serio eine Zweigstelle oder eine ständige Vertretung im Sinne von Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 darstellt, in der die in Rede stehenden Arbeitnehmer während der betreffenden Zeiträume beschäftigt waren, so dass sie während des Teils dieser Zeiträume, in dem diese Verordnung galt, nach der genannten Bestimmung den italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit unterlagen.

60      Daher ist festzustellen, dass die maßgeblichen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit auf der Grundlage von Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt werden können und folglich Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. ii dieser Verordnung nicht anzuwenden ist.

61      Zweitens ist zur Verordnung Nr. 883/2004 darauf hinzuweisen, dass diese in der 2009 geänderten Fassung im Gegensatz zur Verordnung Nr. 1408/71 keine besonderen Kollisionsnormen für fliegendes Personal vorsah.

62      In Art. 13 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 in ihren beiden Fassungen wird indes der Grundsatz aufgestellt, dass eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats unterliegt, wenn sie dort einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt.

63      Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 987/2009 stellt klar, dass bei der Anwendung von Art. 13 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 883/2004 in ihren beiden Fassungen die Ausübung eines „wesentlichen Teils“ der Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit in einem Mitgliedstaat bedeutet, dass der Arbeitnehmer oder Selbständige dort einen quantitativ erheblichen Teil seiner Tätigkeit ausübt, was aber nicht notwendigerweise der größte Teil seiner Tätigkeit sein muss. Um festzustellen, ob ein wesentlicher Teil der Tätigkeit in einem Mitgliedstaat ausgeübt wird, werden im Fall einer Beschäftigung die Arbeitszeit und/oder das Arbeitsentgelt herangezogen. Wird bei diesen Kriterien ein Anteil von weniger als 25 % erreicht, so ist dies ein Anzeichen dafür, dass ein wesentlicher Teil der Tätigkeit nicht in dem entsprechenden Mitgliedstaat ausgeübt wird.

64      Im vorliegenden Fall enthält die Vorlageentscheidung keine Angaben zum Arbeitsentgelt der in Rede stehenden Arbeitnehmer. Zu ihrer Arbeitszeit führt das vorlegende Gericht aus, dass die in Rede stehenden Arbeitnehmer während der betreffenden Zeiträume in Italien wohnten, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats – konkret 45 Minuten pro Tag in dem für die Besatzungen vorgesehenen Raum auf dem Flughafen Orio al Serio – arbeiteten und dass sie sich für den Rest der Arbeitszeit an Bord der Flugzeuge von Ryanair befanden. Unter dem Vorbehalt der Bestimmung der täglichen Gesamtarbeitszeit der in Rede stehenden Arbeitnehmer ist daher nicht ersichtlich, dass mindestens 25 % ihrer Arbeitszeit in ihrem Wohnmitgliedstaat erbracht worden wären.

65      Die anhand der vorstehend ausgeführten Kriterien vorzunehmende Prüfung, ob die in Rede stehenden Arbeitnehmer während der betreffenden Zeiträume einen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit in dem Mitgliedstaat ausübten, in dem sie wohnen, mithin in Italien, obliegt allerdings dem vorlegenden Gericht. Soweit dies bejaht wird, ist davon auszugehen, dass sie gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 in der 2009 geänderten Fassung ab dem 1. Mai 2010, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung, unter die italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit fallen.

66      Soweit dies verneint wird, ist Art. 13 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 883/2004 in ihren beiden Fassungen anzuwenden, soweit darin vorgesehen ist, dass eine Person, die gewöhnlich in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats unterliegt, in dem das Unternehmen oder der Arbeitgeber seinen Sitz oder Wohnsitz hat, wenn sie im Wohnmitgliedstaat keinen wesentlichen Teil ihrer Tätigkeit ausübt, so dass die in Rede stehenden Arbeitnehmer ab dem 1. Mai 2010 grundsätzlich den irischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit unterlagen.

67      Bei einer solchen Fallgestaltung ist allerdings anzumerken, dass Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 in ihren beiden Fassungen vorsieht, dass der betreffende Arbeitnehmer, wenn die Anwendung der Verordnung dazu führt, dass Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit anwendbar sind, die nicht denen nach Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 entsprechen, weiterhin den Rechtsvorschriften unterliegt, denen er gemäß der Verordnung Nr. 1408/71 unterlag, es sei denn, er beantragt, die nach der Verordnung Nr. 883/2004 maßgeblichen Rechtsvorschriften auf ihn anzuwenden.

68      Im vorliegenden Fall lässt sich der Vorlageentscheidung nicht entnehmen, dass die in Rede stehenden Arbeitnehmer derartige Anträge gestellt hätten, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist. Falls keinerlei Antrag gestellt wurde, ist davon auszugehen, dass die in Rede stehenden Arbeitnehmer gemäß Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 nach dem 1. Mai 2010 weiterhin den italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit unterlagen.

69      Drittens ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 883/2004 in der 2012 geänderten Fassung in Art. 11 Abs. 5 eine neue Kollisionsnorm enthält, nach der eine Tätigkeit, die ein Flug- oder Kabinenbesatzungsmitglied in Form von Leistungen im Zusammenhang mit Fluggästen oder Luftfracht ausübt, als in dem Mitgliedstaat ausgeübte Tätigkeit gilt, in dem sich die Heimatbasis im Sinne von Anhang III der Verordnung Nr. 3922/91 befindet.

70      In diesem Anhang wird die Heimatbasis als vom Luftfahrtunternehmer gegenüber dem Besatzungsmitglied benannter Ort definiert, wo das Besatzungsmitglied normalerweise eine Dienstzeit oder eine Abfolge von Dienstzeiten beginnt und beendet und wo der Luftfahrtunternehmer normalerweise nicht für die Unterbringung des betreffenden Besatzungsmitglieds verantwortlich ist.

71      Angesichts der Angaben des vorlegenden Gerichts zu dem für die Besatzung von Ryanair vorgesehenen Raum auf dem Flughafen Orio al Serio, insbesondere des Umstands, dass die in Rede stehenden Arbeitnehmer dort ihren Arbeitstag begannen und beendeten und auch weniger als eine Stunde von ihm entfernt zu wohnen hatten, ist ein solcher Raum als eine „Heimatbasis“ im Sinne von Art. 11 Abs. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 in der 2012 geänderten Fassung anzusehen. Damit unterlagen die in Rede stehenden Arbeitnehmer in der Zeit vom 28. Juni 2012 bis zum 25. Januar 2013 gemäß der Verordnung Nr. 883/2004 in der 2012 geänderten Fassung den italienischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit.

72      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die während der betreffenden Zeiträume auf die dem Flughafen Orio al Serio zugewiesenen Beschäftigten von Ryanair, die nicht von den durch diese vorgelegten E101-Bescheinigungen erfasst sind, anwendbaren Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit unter dem Vorbehalt der Prüfung durch das vorlegende Gericht die italienischen Rechtsvorschriften sind.

73      Folglich ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung Nr. 1408/71, Art. 13 Abs. 1 Buchst. a und Art. 87 Abs. 8 der Verordnung Nr. 883/2004 in ihren beiden Fassungen sowie Art. 11 Abs. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 in der 2012 geänderten Fassung dahin auszulegen sind, dass die Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit, die auf fliegendes Personal einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Fluggesellschaft anwendbar sind, das nicht von E101-Bescheinigungen erfasst ist und täglich 45 Minuten in einem für die Besatzung bestimmten, als „crew room“ bezeichneten Raum arbeitet, über den die Fluggesellschaft im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verfügt, in dem das fliegende Personal wohnt, das sich für den Rest der Arbeitszeit an Bord von Flugzeugen dieser Fluggesellschaft befindet, die Rechtsvorschriften des letztgenannten Mitgliedstaats sind.

 Kosten

74      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, geändert und aktualisiert durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 631/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 geänderten Fassung, Art. 13 Abs. 1 Buchst. a und Art. 87 Abs. 8 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EG) Nr. 988/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 und sodann durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung sowie Art. 11 Abs. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass die Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit, die auf fliegendes Personal einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Fluggesellschaft anwendbar sind, das nicht von E101-Bescheinigungen erfasst ist und täglich 45 Minuten in einem für die Besatzung bestimmten, als „crew room“ bezeichneten Raum arbeitet, über den die Fluggesellschaft im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verfügt, in dem das fliegende Personal wohnt, das sich für den Rest der Arbeitszeit an Bord von Flugzeugen dieser Fluggesellschaft befindet, die Rechtsvorschriften des letztgenannten Mitgliedstaats sind.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.