Language of document : ECLI:EU:C:2022:515

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

30. Juni 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Lebensmittelrecht – Verordnung (EG) Nr. 2073/2005 – Mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel – Art. 3 Abs. 1 – Pflichten der Lebensmittelunternehmer – Anhang I – Kapitel 1 Nr. 1.2 – Grenzwerte für Listeria monocytogenes in Fischereierzeugnissen vor und nach dem Inverkehrbringen – Verordnung (EG) Nr. 178/2002 – Art. 14 Abs. 8 – Amtliche Kontrolle des Erzeugnisses auf der Stufe des Inverkehrbringens – Umfang“

In der Rechtssache C-51/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tallinna Halduskohus (Verwaltungsgericht Tallinn, Estland) mit Entscheidung vom 28. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 2021, in dem Verfahren

Aktsiaselts M.V.WOOL

gegen

Põllumajandus- ja Toiduamet,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Jääskinen sowie der Richter N. Piçarra (Berichterstatter) und M. Gavalec,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen:

–        der Aktsiaselts M.V.WOOL, vertreten durch C. Ginter, A. Jõks und K. Kask, vandeadvokaadid,

–        des Põllumajandus- ja Toiduamet, vertreten durch H. Noot und T. Pikamäe, vandeadvokaadid,

–        der Regierung von Estland, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, M. Van Regemorter und L. Van den Broeck als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Pavliš, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Vignato, Avvocato dello Stato,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Farrell, I. Galindo Martín und E. Randvere als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung (EG) Nr. 2073/2005 der Kommission vom 15. November 2005 über mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel (ABl. 2005, L 338, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) 2019/229 der Kommission vom 7. Februar 2019 (ABl. 2019, L 37, S. 106) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2073/2005).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Aktsiaselts M.V.WOOL (im Folgenden: MVWOOL), einem Hersteller von Lebensmitteln auf Fischbasis, und dem Põllumajandus- ja Toiduamet (Amt für Landwirtschaft und Lebensmittel, Estland) (im Folgenden: estnische Behörde) um die Rechtmäßigkeit zweier Entscheidungen, die diese Behörde an MVWOOL richtete, nachdem in von MVWOOL in den Verkehr gebrachten Lebensmitteln das Bakterium Listeria monocytogenes nachgewiesen worden war.

 Rechtlicher Rahmen

 Verordnung (EG) Nr. 178/2002

3        Art. 3 („Sonstige Definitionen“) der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. 2002, L 31, S. 1) bestimmt in Nr. 8:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

8. ‚Inverkehrbringen‘ das Bereithalten von Lebensmitteln oder Futtermitteln für Verkaufszwecke einschließlich des Anbietens zum Verkauf oder jeder anderen Form der Weitergabe, gleichgültig, ob unentgeltlich oder nicht, sowie den Verkauf, den Vertrieb oder andere Formen der Weitergabe selbst;

…“

4        Art. 14 („Anforderungen an die Lebensmittelsicherheit“) dieser Verordnung bestimmt in Abs. 8:

„Entspricht ein Lebensmittel den für es geltenden spezifischen Bestimmungen, so hindert dies die zuständigen Behörden nicht, geeignete Maßnahmen zu treffen, um Beschränkungen für das Inverkehrbringen dieses Lebensmittels zu verfügen oder seine Rücknahme vom Markt zu verlangen, wenn, obwohl es den genannten Bestimmungen entspricht,... der begründete Verdacht besteht, dass es nicht sicher ist.“

 Verordnung Nr. 2073/2005

5        In den Erwägungsgründen 1 bis 3 der Verordnung Nr. 2073/2005 heißt es:

„(1)      Zu den grundlegenden Zielen des Lebensmittelrechts zählt ein hohes Schutzniveau der Gesundheit der Bevölkerung, wie in der Verordnung [Nr. 178/2002] festgelegt....

(2)      Lebensmittel sollten keine Mikroorganismen oder deren Toxine oder Metaboliten in Mengen enthalten, die ein für die menschliche Gesundheit unannehmbares Risiko darstellen.

(3)      ... Lebensmittelunternehmer müssen Lebensmittel, die nicht sicher sind, vom Markt nehmen. Als Beitrag zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und zur Verhinderung unterschiedlicher Auslegungen sollten harmonisierte Sicherheitskriterien für die Akzeptabilität von Lebensmitteln festgelegt werden, insbesondere, was das Vorhandensein bestimmter pathogener Mikroorganismen anbelangt.“

6        Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 2073/2005 bestimmt:

„Mit der vorliegenden Verordnung werden die mikrobiologischen Kriterien für bestimmte Mikroorganismen sowie die Durchführungsbestimmungen festgelegt, die von den Lebensmittelunternehmern bei der Durchführung allgemeiner und spezifischer Hygienemaßnahmen... einzuhalten sind Die zuständige Behörde überprüft die Einhaltung der in der vorliegenden Verordnung festgelegten Bestimmungen und Kriterien..., unbeschadet ihres Rechts, weitere Probenahmen und Untersuchungen im Rahmen von Prozesskontrollen in Fällen, in denen der Verdacht besteht, dass Lebensmittel nicht unbedenklich sind, oder im Zusammenhang mit einer Risikoanalyse durchzuführen, um andere Mikroorganismen, deren Toxine oder Metaboliten nachzuweisen und zu messen.

…“

7        Art. 2 dieser Verordnung enthält folgende Begriffsbestimmungen:

„…

b)      ‚Mikrobiologisches Kriterium‘: ein Kriterium, das die Akzeptabilität eines Erzeugnisses, einer Partie Lebensmittel oder eines Prozesses anhand des Nichtvorhandenseins, des Vorhandenseins oder der Anzahl von Mikroorganismen und/oder anhand der Menge ihrer Toxine/Metaboliten je Einheit Masse, Volumen, Fläche oder Partie festlegt;

f)      ‚Haltbarkeitsdauer‘: entweder der der Datumsangabe ‚Verbrauchen bis‘ auf dem Erzeugnis oder der dem Mindesthaltbarkeitsdatum gemäß Artikel 9 bzw. 10 der Richtlinie 2000/13/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (ABl. 2000, L 109, S. 29)] entsprechende Zeitraum;

l)      Einhaltung der mikrobiologischen Kriterien: die Erzielung befriedigender oder akzeptabler Ergebnisse gemäß Anhang I bei der Untersuchung anhand der für das Kriterium festgelegten Werte durch Probenahme, Untersuchung und Durchführung von Korrekturmaßnahmen gemäß dem Lebensmittelrecht und den von der zuständigen Behörde gegebenen Anweisungen;

…“

8        Art. 3 („Allgemeine Anforderungen“) dieser Verordnung sieht in Abs. 1 vor:

„Die Lebensmittelunternehmer stellen sicher, dass Lebensmittel die in Anhang I zu dieser Verordnung aufgeführten entsprechenden mikrobiologischen Kriterien einhalten. Dazu treffen die Lebensmittelunternehmer Maßnahmen auf allen Stufen der Herstellung, der Verarbeitung und des Vertriebs von Lebensmitteln, einschließlich des Einzelhandels, im Rahmen ihrer auf den HACCP [hazard analysis and critical control point]-Grundsätzen beruhenden Verfahren und der Anwendung der guten Hygienepraxis, um zu gewährleisten, dass:

b)      die während der gesamten Haltbarkeitsdauer der Erzeugnisse geltenden Lebensmittelsicherheitskriterien unter vernünftigerweise vorhersehbaren Bedingungen für Vertrieb, Lagerung und Verwendung eingehalten werden.“

9        Das in Anhang I der Verordnung Nr. 2073/2005 enthaltene Kapitel 1 („Lebensmittelsicherheitskriterien“) sieht in Nr. 1.2 vor:

„Lebensmittelkategorie

Mikroorganismen/deren Toxine, Metaboliten

Probenahmeplan

Grenzwerte

Analytische Referenzmethode

Stufe, für die das Kriterium gilt



n

C

m

M



1.2 Andere als für Säuglinge oder für besondere medizinische Zwecke bestimmte, verzehrfertige Lebensmittel, die die Vermehrung von [Listeria] monocytogenes begünstigen können

Listeria monocytogenes

5

0

100 KBE [(Kolonie bildende Einheiten)]/g [5]

EN/ISO 11290-2

In Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer



5

0

In 25 g nicht nachweisbar

EN/ISO 11290-1

Bevor das Lebensmittel die unmittelbare Kontrolle des Lebensmittelunternehmers, der es hergestellt hat, verlassen hat

...

(5) Dieses Kriterium gilt, sofern der Hersteller zur Zufriedenheit der zuständigen Behörde nachweisen kann, dass das Erzeugnis während der gesamten Haltbarkeitsdauer den Wert von 100 KBE/g nicht übersteigt. Der Unternehmer kann Zwischengrenzwerte während des Verfahrens festlegen, die niedrig genug sein sollten, um zu garantieren, dass der Grenzwert von 100 KBE/g am Ende der Haltbarkeitsdauer nicht überschritten wird.

...

(7) Dieses Kriterium gilt für Erzeugnisse, bevor sie aus der unmittelbaren Kontrolle des Lebensmittelunternehmers, der sie hergestellt hat, gelangt sind, wenn er nicht zur Zufriedenheit der zuständigen Behörde nachweisen kann, dass das Erzeugnis den Grenzwert von 100 KBE/g während der gesamten Haltbarkeitsdauer nicht überschreitet.“


 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10      Am 2. August 2019 entnahm die estnische Behörde in einem Einzelhandelsgeschäft Proben bestimmter von MVWOOL hergestellter Produkte auf Basis von Lachs und Forelle. Da bei der Untersuchung der Proben Listeria monocytogenes nachgewiesen wurden, erteilte die estnische Behörde MVWOOL am 7. August 2019 die Anordnung, die Herstellung dieser Produkte anzuhalten, sämtliche Chargen zurückzurufen und die Verbraucher über diesen Rückruf zu informieren.

11      Im Oktober 2019 nahm MVWOOL, nachdem sie in einigen ihrer Produkte Listeria monocytogenes entdeckt hatte, eine Desinfektion zweier Betriebsstätten vor. Trotz dieser Maßnahme wurden in einigen Produkten, die aus diesen Betriebsstätten stammten, weiterhin Listeria monocytogenes nachgewiesen. Daher erteilte die estnische Behörde MVWOOL am 25. November 2019 die Anordnung, ihre Tätigkeit in diesen Betriebsstätten bis zu dem Nachweis, dass diese Verunreinigung beseitigt wurde, auszusetzen.

12      MVWOOL erhob beim Tallinna Halduskohus (Verwaltungsgericht Tallinn, Estland) Klagen auf Nichtigerklärung dieser Anordnungen. Sie machte geltend, dass die estnische Behörde nicht berechtigt gewesen sei, auf in einem Einzelhandelsgeschäft entnommene Proben den in Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung Nr. 2073/2005 vorgesehenen Grenzwert anzuwenden, nach dem in 25 g des betreffenden Lebensmittels Listeria monocytogenes nicht nachweisbar sein dürfe (im Folgenden: Nulltoleranzgrenze). Dieser Grenzwert sei auf bereits in den Verkehr gebrachte Produkte nicht anwendbar. Für diese gelte der in derselben Vorschrift vorgesehene Grenzwert von 100 KBE/g während der Haltbarkeitsdauer. Eine über diesem Wert liegende Konzentration von Listeria monocytogenes sei in ihren Produkten nie festgestellt worden.

13      Die estnische Behörde ist der Auffassung, da MVWOOL nicht nachgewiesen habe, dass ihre Produkte den Grenzwert von 100 KBE/g Listeria monocytogenes während ihrer Haltbarkeitsdauer nicht überschritten hätten, die Nulltoleranzgrenze unabhängig davon gelte, ob sich diese Produkte unter der unmittelbaren Kontrolle des Herstellers befunden hätten oder bereits in den Verkehr gebracht worden seien. Diese Auslegung werde durch die Praxis anderer Mitgliedstaaten sowie durch den Codex Alimentarius der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation und der Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nationen bestätigt.

14      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Auslegung der Bestimmungen in Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2. der Verordnung Nr. 2073/2005, über die sich die Parteien uneinig seien, unmittelbare Auswirkung auf die Rechtmäßigkeit der Anordnungen der estnischen Behörde vom 7. August und vom 25. November 2019 habe.

15      Die von MVWOOL vertretene Auslegung werde durch die Systematik der Verordnung Nr. 2073/2005 bestätigt, aus der sich ergebe, dass die Fälle, in denen die Nulltoleranzgrenze anwendbar sei, in dieser Verordnung abschließend festgelegt seien. Wäre dieser Auslegung zu folgen, wären die von MVWOOL angefochtenen Anordnungen rechtswidrig.

16      Hingegen stehe die von der estnischen Behörde vertretene Auslegung im Einklang mit dem Ziel der Verordnung Nr. 2073/2005, die Sicherheit von Lebensmitteln während der gesamten Haltbarkeitsdauer und ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit und das Leben des Menschen sicherzustellen. Nach dieser Auslegung habe MVWOOL, da sie Lebensmittel in den Verkehr gebracht habe, die die Nulltoleranzgrenze nicht eingehalten hätten, während sie sich unter ihrer unmittelbaren Kontrolle befunden hätten, gegen ihre Pflicht aus Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2073/2005 verstoßen.

17      Unter diesen Umständen hat das Tallinna Halduskohus (Verwaltungsgericht Tallinn, Estland) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist das in Art. 3 Abs. 1 und in Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung Nr. 2073/2005 angeführte mikrobiologische Kriterium der Nulltoleranzgrenze unter Berücksichtigung dieser Verordnung und des Schutzes der öffentlichen Gesundheit sowie der mit dieser Verordnung und der Verordnung Nr. 178/2002 verfolgten Ziele dahin auszulegen, dass, wenn der Lebensmittelunternehmer nicht in der Lage war, der zuständigen Behörde gegenüber hinreichend nachzuweisen, dass andere als für Säuglinge oder für besondere medizinische Zwecke bestimmte verzehrfertige Lebensmittel, die die Vermehrung von Listeria monocytogenes begünstigen können, den Grenzwert von 100 KBE/g während der Haltbarkeitsdauer nicht überschreiten, dann auch für in Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer in jedem Fall dieses mikrobiologische Kriterium gilt?

2.      Falls Frage 1 verneint wird: Ist das in Art. 3 Abs. 1 und in Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung Nr. 2073/2005 angeführte zweite mikrobiologische Kriterium der Nulltoleranzgrenze unter Berücksichtigung dieser Verordnung und des Schutzes der öffentlichen Gesundheit sowie der mit der Verordnung Nr. 2073/2005 und der Verordnung Nr. 178/2002 verfolgten Ziele dahin auszulegen, dass unabhängig davon, ob der Lebensmittelunternehmer der zuständigen Behörde gegenüber hinreichend nachweisen kann, dass das Lebensmittel den Grenzwert von 100 KBE/g während der Haltbarkeitsdauer nicht überschreitet, dann für dieses Lebensmittel zwei alternative mikrobiologische Kriterien gelten, nämlich erstens, solange das Lebensmittel unter der Kontrolle des Lebensmittelunternehmers ist, das Nulltoleranzkriterium und zweitens, nachdem das Lebensmittel die Kontrolle des Lebensmittelunternehmers verlassen hat, das Kriterium „100 KBE/g“?

 Zu den Vorlagefragen

18      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung Nr. 2073/2005 dahin auszulegen ist, dass, wenn der Hersteller der zuständigen Behörde nicht zufriedenstellend nachweisen kann, dass die Lebensmittel während ihrer gesamten Haltbarkeitsdauer den Grenzwert von 100 KBE/g nicht überschreiten, für Lebensmittel, die während ihrer Haltbarkeitsdauer in den Verkehr gebracht wurden, hinsichtlich des Nachweises von Listeria monocytogenes die Nulltoleranzgrenze gilt.

19      Aus Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2073/2005 ergibt sich, dass die Lebensmittelunternehmer sicherstellen müssen, dass Lebensmittel die in Anhang I zu dieser Verordnung aufgeführten entsprechenden mikrobiologischen Kriterien im Sinne von Art. 2 Buchst. b und l dieser Verordnung auf allen Stufen der Herstellung, der Verarbeitung und des Vertriebs von Lebensmitteln, einschließlich des Einzelhandels während der gesamten Haltbarkeitsdauer der Produkte im Sinne von Art. 2 Buchst. f dieser Verordnung einhalten.

20      Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung Nr. 2073/2005 sieht für die Kategorie der anderen als für Säuglinge oder für besondere medizinische Zwecke bestimmten verzehrfertigen Lebensmittel, die das Wachstum von Listeria monocytogenes begünstigen können, zwei Grenzwerte für dieses Bakterium vor.

21      Wie der Fußnote 5 zu dieser Bestimmung zu entnehmen ist, gilt der erste Grenzwert von 100 KBE/g für während ihrer Haltbarkeitsdauer in Verkehr gebrachte Erzeugnisse, sofern der Hersteller zur Zufriedenheit der zuständigen Behörde nachweisen kann, dass diese Erzeugnisse diesen Wert während ihrer gesamten Haltbarkeitsdauer nicht überschreiten.

22      Der zweite Grenzwert, der eine Nulltoleranz festlegt, gilt nach dieser Bestimmung „[b]evor das Lebensmittel die unmittelbare Kontrolle des Lebensmittelunternehmers, der es hergestellt hat, verlassen hat“, und wie der Fußnote 7 zu dieser Bestimmung zu entnehmen ist, wenn der Lebensmittelunternehmer den zuständigen Behörden nicht zufriedenstellend nachweisen kann, dass das Erzeugnis den Grenzwert von 100 KBE/g während der gesamten Haltbarkeitsdauer nicht überschreitet.

23      Festzustellen ist, dass eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens, wo ein Lebensmittel, für das der Hersteller der zuständigen Behörde nicht zufriedenstellend nachweisen kann, dass der Grenzwert von 100 KBE/g während der gesamten Haltbarkeitsdauer nicht überschritten wird, bereits in den Verkehr gebracht wurde, von diesen Bestimmungen nicht erfasst ist.

24      Zwar bezieht sich Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung Nr. 2073/2005 im Licht der Fußnote 7 auf den Fall, dass der Hersteller „den zuständigen Behörden“ nicht „zufrieden stellend“ nachweisen kann, dass seine Erzeugnisse den Grenzwert von 100 KBE/g während ihrer gesamten Haltbarkeitsdauer nicht überschreiten, bestimmt jedoch, dass in diesem Fall für diese Erzeugnisse, die noch nicht aus der „unmittelbaren Kontrolle“ des Herstellers gelangt sind und damit noch nicht in den Verkehr gebracht wurden, hinsichtlich des Nachweises von Listeria monocytogenes die Nulltoleranzgrenze anzuwenden ist.

25      Daraus folgt, dass Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung Nr. 2073/2005 dahin auszulegen ist, dass, wenn der Hersteller der zuständigen Behörde nicht zufriedenstellend nachweisen kann, dass die Lebensmittel während ihrer gesamten Haltbarkeitsdauer den Grenzwert von 100 KBE/g nicht überschreiten, für Lebensmittel, die während ihrer Haltbarkeitsdauer in den Verkehr gebracht wurden, hinsichtlich des Nachweises von Listeria monocytogenes die Nulltoleranzgrenze nicht gilt. In einem solchen Fall muss der Hersteller davon absehen, diese Erzeugnisse in den Verkehr zu bringen.

26      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 2073/2005 zum Ziel hat, die Sicherheit der Lebensmittel während ihrer gesamten Haltbarkeitsdauer, aber auch ein hohes Schutzniveau der menschlichen Gesundheit zu gewährleisten, wie aus ihren Erwägungsgründen 1 bis 3 hervorgeht. Zu diesem Zweck belässt Art. 1 dieser Verordnung der zuständigen Behörde ein weites Ermessen, um intensivere Lebensmittelkontrollen zur Überprüfung der Einhaltung der in dieser Verordnung festgelegten Regeln und Kriterien durchzuführen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. September 2019, A u. a., C-347/17, EU:C:2019:720, Rn. 69). Zwar legt die Verordnung Nr. 2073/2005 die mikrobiologischen Kriterien fest, die Lebensmittel auf allen Stufen der Lebensmittelkette einhalten müssen, doch enthält sie keine Vorschriften über die Maßnahmen, die die zuständige Behörde ergreifen kann, nachdem Lebensmittel unter Verstoß gegen diese Kriterien in den Verkehr gebracht wurden.

27      In diesem Kontext ist die Verordnung Nr. 178/2002 heranzuziehen. Insbesondere räumt Art. 14 Abs. 8 dieser Verordnung den zuständigen nationalen Behörden die Befugnis ein, „geeignete Maßnahmen“ zu treffen, um Beschränkungen für das Inverkehrbringen von Lebensmitteln zu verfügen oder deren Rücknahme vom Markt zu verlangen, wenn, obwohl sie den für sie geltenden spezifischen unionsrechtlichen Bestimmungen entsprechen, nach Ansicht der Behörden objektiv der begründete Verdacht besteht, dass diese Lebensmittel nicht sicher sind. Diese Bestimmung ist angesichts der Rolle, die sie für das Erreichen eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit des Menschen und die Verbraucherinteressen spielt, weit auszulegen (vgl., in diesem Sinne, Urteil vom 28. April 2022, Romega, C-89/21, EU:C:2022:313, Rn. 23).

28      Somit kann die Anwendung der Nulltoleranzgrenze auf Lebensmittel, die in den Verkehr gebracht wurden, ohne dass der Hersteller der zuständigen Behörde zufriedenstellend nachgewiesen hat, dass diese Lebensmittel während ihrer Haltbarkeitsdauer den Grenzwert von 100 KBE/g nicht überschreiten, eine „geeignete Maßnahme“ im Sinne von Art. 14 Abs. 8 der Verordnung Nr. 178/2002 darstellen.

29      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung Nr. 2073/2005 dahin auszulegen ist, dass, wenn der Hersteller der zuständigen Behörde nicht zufriedenstellend nachweisen kann, dass die Lebensmittel während ihrer gesamten Haltbarkeitsdauer den Grenzwert von 100 KBE/g nicht überschreiten, für Lebensmittel, die während ihrer Haltbarkeitsdauer in den Verkehr gebracht wurden, hinsichtlich des Nachweises von Listeria monocytogenes die Nulltoleranzgrenze nicht gilt.

 Kosten

30      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I Kapitel 1 Nr. 1.2 der Verordnung (EG) Nr. 2073/2005 der Kommission vom 15. November 2005 über mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel in der durch die Verordnung (EU) 2019/229 der Kommission vom 7. Februar 2019 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass, wenn der Hersteller der zuständigen Behörde nicht zufriedenstellend nachweisen kann, dass die Lebensmittel während ihrer gesamten Haltbarkeitsdauer den Grenzwert von 100 Kolonie bildenden Einheiten/gramm (g) für Listeria monocytogenes nicht überschreiten, der in Nr. 1.2 dieses Anhangs vorgesehene Grenzwert, wonach Listeria monocytogenes in 25 g des betreffenden Erzeugnisses nicht nachweisbar sein darf, für Lebensmittel, die während ihrer Haltbarkeitsdauer in den Verkehr gebracht wurden, nicht gilt.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Estnisch.