Language of document : ECLI:EU:C:2022:684

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

15. September 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2009/81/EG – Koordinierung der Verfahren zur Vergabe bestimmter Bau‑, Liefer- und Dienstleistungsaufträge – Art. 38 und 49 – Verpflichtung zur Prüfung, ob ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliegt – In einer nationalen Regelung vorgesehenes Kriterium für die Beurteilung der Frage, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist – Nichtanwendbarkeit – Erfordernis einer Mindestanzahl von drei Angeboten – Kriterium, das auf dem Erfordernis beruht, dass ein Angebot mehr als 20 % günstiger ist als der Mittelwert der Angebote der anderen Bieter – Gerichtliche Nachprüfung“

In der Rechtssache C‑669/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 10. November 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Dezember 2020, in dem Verfahren

Veridos GmbH

gegen

Ministar na vatreshnite raboti na Republika Bulgaria,

Mühlbauer ID Services GmbH – S&T

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richter S. Rodin (Berichterstatter) und J.‑C. Bonichot sowie der Richterinnen L. S. Rossi und O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Veridos GmbH, vertreten durch T. P. Nenov, Advokat,

–        der Mühlbauer ID Services GmbH – S&T, vertreten durch Y. Lambovski, Advokat,

–        der bulgarischen Regierung, vertreten durch M. Georgieva und L. Zaharieva als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, A.‑L. Desjonquères und É. Toutain als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Ondrůšek, G. Wils und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. Februar 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 56 und 69 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65), der Art. 38 und 49 der Richtlinie 2009/81/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe bestimmter Bau‑, Liefer- und Dienstleistungsaufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit und zur Änderung der Richtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG (ABl. 2009, L 216, S. 76) und des Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Veridos GmbH auf der einen Seite und dem Ministar na vatreshnite raboti na Republika Bulgaria (Innenminister der Republik Bulgarien) und dem Konsortium „Mühlbauer ID Services GmbH – S&T“ auf der anderen Seite wegen einer Entscheidung über die Reihung der Bieter und die Auswahl des Zuschlagsempfängers für einen öffentlichen Auftrag.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2014/24

3        Gemäß Art. 56 („Allgemeine Grundsätze“) Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 werden Aufträge auf der Grundlage von in Einklang mit den Art. 67 bis 69 dieser Richtlinie festgelegten Kriterien vergeben, sofern der öffentliche Auftraggeber gemäß den Art. 59 bis 61 dieser Richtlinie überprüft hat, dass eine Reihe von Bedingungen erfüllt ist.

4        Art. 69 („Ungewöhnlich niedrige Angebote“) der Richtlinie 2014/24 sieht vor:

„(1)      Die öffentlichen Auftraggeber schreiben den Wirtschaftsteilnehmern vor, die im Angebot vorgeschlagenen Preise oder Kosten zu erläutern, wenn diese im Verhältnis zu den angebotenen Bauleistungen, Lieferungen oder Dienstleistungen ungewöhnlich niedrig erscheinen.

(2)      Die Erläuterungen im Sinne des Absatzes 1 können sich insbesondere auf Folgendes beziehen:

a)      die Wirtschaftlichkeit des Fertigungsverfahrens, der Erbringung der Dienstleistung oder des Bauverfahrens;

b)      die gewählten technischen Lösungen oder alle außergewöhnlich günstigen Bedingungen, über die der Bieter bei [der Lieferung] der Waren oder der Erbringung der Dienstleistung sowie der Durchführung der Bauleistungen verfügt;

c)      die Originalität der Bauleistungen, der Lieferungen oder der Dienstleistungen wie vom Bieter angeboten;

d)      die Einhaltung der in Artikel 18 Absatz 2 genannten Verpflichtungen;

e)      die Einhaltung der in Artikel 71 genannten Verpflichtungen;

f)      die Möglichkeit für den Bieter, staatliche Hilfe zu erhalten.

(3)      Der öffentliche Auftraggeber bewertet die beigebrachten Informationen mittels einer Rücksprache mit dem Bieter. Er kann das Angebot nur dann ablehnen, wenn die beigebrachten Nachweise das niedrige Niveau des vorgeschlagenen Preises beziehungsweise der vorgeschlagenen Kosten unter Berücksichtigung der in Absatz 2 genannten Faktoren nicht zufriedenstellend erklären.

Die öffentlichen Auftraggeber lehnen das Angebot ab, wenn sie festgestellt haben, dass das Angebot ungewöhnlich niedrig ist, weil es den geltenden Anforderungen gemäß Artikel 18 Absatz 2 nicht genügt.

(4)      Stellt der öffentliche Auftraggeber fest, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, weil der Bieter eine staatliche Beihilfe erhalten hat, so darf er das Angebot allein aus diesem Grund nur nach Rücksprache mit dem Bieter ablehnen, sofern dieser binnen einer von dem öffentlichen Auftraggeber festzulegenden ausreichenden Frist nicht nachweisen kann, dass die betreffende Beihilfe mit dem Binnenmarkt im Sinne des Artikels 107 AEUV vereinbar war. Lehnt der öffentliche Auftraggeber ein Angebot unter diesen Umständen ab, so teilt er dies der Kommission mit.

(5)      Die Mitgliedstaaten müssen den anderen Mitgliedstaaten im Wege der Verwaltungszusammenarbeit auf Anfrage alle ihnen zur Verfügung stehenden Informationen – wie Gesetze, Vorschriften, allgemein verbindliche Tarifverträge oder nationale technische Normen – über die Nachweise und Unterlagen übermitteln, die im Hinblick auf in Absatz 2 genannte Einzelheiten beigebracht wurden.“

 Richtlinie 2009/81

5        Art. 35 („Unterrichtung der Bewerber und Bieter“) der Richtlinie 2009/81 lautet:

„(1)      Der Auftraggeber teilt den Bewerbern und Bietern schnellstmöglich seine Entscheidungen über die Zuschlagserteilung oder den Abschluss einer Rahmenvereinbarung mit, einschließlich der Gründe, aus denen beschlossen wurde, auf die Vergabe eines Auftrags oder den Abschluss einer Rahmenvereinbarung, für den bzw. die eine Ausschreibung stattgefunden hat, zu verzichten oder das Verfahren erneut einzuleiten; diese Information wird schriftlich erteilt, falls dies beim Auftraggeber beantragt wurde.

(2)      Auf Verlangen der betroffenen Partei unterrichtet der Auftraggeber vorbehaltlich des Absatzes 3 unverzüglich, spätestens aber 15 Tage nach Eingang des schriftlichen Antrags,

a)      jeden nicht erfolgreichen Bewerber über die Gründe für die Ablehnung der Bewerbung;

b)      jeden nicht berücksichtigten Bieter über die Gründe für die Ablehnung des Angebots; dazu gehört insbesondere [in den Fällen des Artikels 18 Absätze 4 und 5] eine Unterrichtung über die Gründe für seine Entscheidung, dass keine Gleichwertigkeit vorliegt oder dass die Bauleistungen, Lieferungen oder Dienstleistungen nicht den Leistungs- oder Funktionsanforderungen entsprechen, und in den Fällen der Artikel 22 und 23 eine Unterrichtung über die Gründe für seine Entscheidung, dass keine Gleichwertigkeit bezüglich der Erfordernisse an Informationssicherheit und Versorgungssicherheit vorliegt;

c)      jeden Bieter, der ein ordnungsgemäßes Angebot eingereicht hat, das jedoch abgelehnt worden ist, über die Merkmale und Vorteile des ausgewählten Angebots sowie über den Namen des Zuschlagsempfängers oder der Parteien der Rahmenvereinbarung.

(3)      Die Auftraggeber können beschließen, bestimmte in Absatz 1 genannte Angaben über die Zuschlagserteilung oder den Abschluss von Rahmenvereinbarungen nicht mitzuteilen, wenn die Offenlegung dieser Angaben den Gesetzesvollzug behindern, dem öffentlichen Interesse, insbesondere den Verteidigungs- und/oder Sicherheitsinteressen, zuwiderlaufen, berechtigte geschäftliche Interessen öffentlicher oder privater Wirtschaftsteilnehmer schädigen oder den lauteren Wettbewerb zwischen ihnen beeinträchtigen würde.“

6        Art. 38 („Überprüfung der Eignung und Auswahl der Teilnehmer und Vergabe des Auftrags“) der Richtlinie 2009/81 bestimmt:

„(1)      Die Auftragsvergabe erfolgt aufgrund der in den Artikeln 47 und 49 festgelegten Kriterien unter Berücksichtigung des Artikels 19, nachdem die Auftraggeber die Eignung der Wirtschaftsteilnehmer, die nicht aufgrund von Artikel 39 oder 40 ausgeschlossen wurden, geprüft haben; diese Eignungsprüfung erfolgt nach den in den Artikeln 41 bis 46 genannten Kriterien der wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit sowie der beruflichen und technischen Fachkunde und gegebenenfalls nach den in Absatz 3 des vorliegenden Artikels genannten nicht diskriminierenden Vorschriften und Kriterien.

(2)      Die Auftraggeber können Mindestanforderungen an die Leistungsfähigkeit gemäß den Artikeln 41 und 42 stellen, denen die Bewerber genügen müssen.

Der Umfang der Informationen gemäß den Artikeln 41 und 42 sowie die für einen bestimmten Auftrag gestellten Mindestanforderungen an die Leistungsfähigkeit müssen mit dem Auftragsgegenstand zusammenhängen und ihm angemessen sein.

Diese Mindestanforderungen werden in der Bekanntmachung angegeben.

(3)      Bei [nicht offenen Verfahren, bei] Verhandlungsverfahren mit Veröffentlichung einer Bekanntmachung [und beim wettbewerblichen Dialog] können die Auftraggeber die Zahl der Bewerber, die zu Verhandlungen oder zum wettbewerblichen Dialog eingeladen werden, begrenzen. In diesem Fall gilt Folgendes:

–        Die Auftraggeber geben in der Bekanntmachung die von ihnen vorgesehenen objektiven und nicht diskriminierenden Kriterien oder Vorschriften, die vorgesehene Mindestzahl und gegebenenfalls auch die Höchstzahl an einzuladenden Bewerbern an. Die Mindestzahl der einzuladenden Bewerber darf nicht niedriger als drei sein;

–        Die Auftraggeber laden anschließend, sofern geeignete Bewerber in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen, eine Anzahl von Bewerbern ein, die zumindest der im Voraus bestimmten Mindestzahl an Bewerbern entspricht.

Sofern die Zahl von Bewerbern, die die Eignungskriterien und die Mindestanforderungen an die Leistungsfähigkeit erfüllen, unter der Mindestanzahl liegt, kann der Auftraggeber das Verfahren fortführen, indem er den oder die Bewerber einlädt, die über die geforderte Leistungsfähigkeit verfügen.

Ist der Auftraggeber der Auffassung, dass die Zahl der geeigneten Bewerber zu gering ist, um einen echten Wettbewerb zu gewährleisten, so kann er das Verfahren aussetzen und die erste Bekanntmachung gemäß Artikel 30 Absatz 2 und Artikel 32 zur Festsetzung einer neuen Frist für die Einreichung von Anträgen auf Teilnahme erneut veröffentlichen. In diesem Fall werden die nach der ersten sowie die nach der zweiten Veröffentlichung ausgewählten Bewerber gemäß Artikel 34 eingeladen. Diese Möglichkeit besteht unbeschadet des Rechts des Auftraggebers, das laufende Vergabeverfahren einzustellen und ein neues Verfahren auszuschreiben.

(4)      Der Auftraggeber kann Wirtschaftsteilnehmer, die sich nicht um die Teilnahme beworben haben, oder Bewerber, die nicht über die geforderte Leistungsfähigkeit verfügen, nicht zu einem Vergabeverfahren zulassen.

(5)      Machen die Auftraggeber von der in Artikel 26 Absatz 3 und Artikel 27 Absatz 4 vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch, die Zahl der zu erörternden Lösungen oder der Angebote, über die verhandelt wird, zu verringern, so tun sie dies aufgrund der Zuschlagskriterien, die sie in der Bekanntmachung oder in den Verdingungsunterlagen angegeben haben. In der Schlussphase müssen noch so viele Angebote vorliegen, dass ein echter Wettbewerb gewährleistet ist, sofern eine ausreichende Zahl von Lösungen oder geeigneten Bewerbern vorliegt.“

7        Art. 49 („Ungewöhnlich niedrige Angebote“) der Richtlinie 2009/81 sieht vor:

„(1)      Erwecken im Fall eines bestimmten Auftrags Angebote den Eindruck, im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig zu sein, so muss der Auftraggeber vor Ablehnung dieser Angebote schriftlich Aufklärung über die Einzelposten des Angebots verlangen, wo er dies für angezeigt hält.

Die betreffenden Erläuterungen können insbesondere Folgendes betreffen:

a)      die Wirtschaftlichkeit des Bauverfahrens, des Fertigungsverfahrens oder der Erbringung der Dienstleistung,

b)      die gewählten technischen Lösungen und/oder alle außergewöhnlich günstigen Bedingungen, über die der Bieter bei der Durchführung der Bauleistungen bzw. der Lieferung der Waren oder der Erbringung der Dienstleistung verfügt,

c)      die Originalität der Bauleistungen, der Lieferungen oder der Dienstleistungen wie vom Bieter angeboten,

d)      die Einhaltung der Vorschriften über Arbeitsschutz und Arbeitsbedingungen, die am Ort der Leistungserbringung gelten,

e)      die etwaige Gewährung einer staatlichen Beihilfe an den Bieter.

(2)      Der Auftraggeber prüft – in Rücksprache mit dem Bieter – die betreffende Zusammensetzung und berücksichtigt dabei die gelieferten Nachweise.

(3)      Stellt der Auftraggeber fest, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, weil der Bieter eine staatliche Beihilfe erhalten hat, so kann er das Angebot allein aus diesem Grund nur nach Rücksprache mit dem Bieter ablehnen, sofern dieser binnen einer von dem Auftraggeber festzulegenden ausreichenden Frist nicht nachweisen kann, dass die betreffende Beihilfe rechtmäßig gewährt wurde. Lehnt der Auftraggeber ein Angebot unter diesen Umständen ab, so teilt er dies der Kommission mit.“

8        Art. 55 („Anwendungsbereich und Zugang zu Nachprüfungsverfahren“) Abs. 2 und 4 der Richtlinie 2009/81 lautet:

„(2)      Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Entscheidungen von Auftraggebern wirksam und vor allem möglichst rasch nach Maßgabe der Artikel 56 bis 62 auf Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachgeprüft werden können.

(4)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Nachprüfungsverfahren entsprechend den gegebenenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegenden Bedingungen zumindest jeder Person zur Verfügung stehen, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen behaupteten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht.“

 Bulgarisches Recht

9        Art. 72 („Ungewöhnlich günstige Angebote“) des Zakon za obshtestvenite porachki (Vergabegesetz) bestimmt in Abs. 1:

„Ist das zu bewertende Angebot eines Teilnehmers in Bezug auf Preis oder Kosten hinsichtlich desselben Bewertungsfaktors um mehr als 20 % günstiger als der Mittelwert der Angebote der übrigen Teilnehmer, verlangt der öffentliche Auftraggeber eine ausführliche schriftliche Rechtfertigung, wie das Angebot erstellt wurde; diese Rechtfertigung ist innerhalb von fünf Tagen nach Erhalt der Aufforderung vorzulegen.“

10      Nach Art. 212 dieses Gesetzes entscheidet die Komisia za zashtita na konkurentsiata (Wettbewerbsbehörde, Bulgarien) über den Rechtsbehelf gegen die Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers innerhalb einer Frist von einem Monat oder 15 Tagen nach Einleitung des Verfahrens; eine mit Gründen versehene Entscheidung ist spätestens innerhalb von sieben Tagen, nachdem über den Rechtsbehelf entschieden worden ist, abzusetzen und zu veröffentlichen.

11      Außerdem sieht Art. 216 dieses Gesetzes ein beschleunigtes Verfahren mit verkürzten Fristen für bestimmte Verfahrensschriftstücke vor. Nach Art. 216 Abs. 6 entscheidet der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) innerhalb eines Monats nach Eingang der gegen die Entscheidung der Wettbewerbsbehörde eingelegten Kassationsbeschwerde und seine Entscheidung ist endgültig.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12      Mit Entscheidung vom 15. August 2018 leitete der Zamestnik-ministar na vatreshnite raboti (Stellvertretender Innenminister) ein „nicht offenes“ Vergabeverfahren für die Planung, den Aufbau und die Verwaltung eines Systems zur Ausstellung bulgarischer Ausweisdokumente der Generation 2019 ein. Dabei wurde ein Hilfsausschuss eingesetzt, um die Vorauswahl der Bewerber sowie die Prüfung, Bewertung und Reihung der Angebote vorzunehmen.

13      Nach der Vorauswahl wurden Veridos und das Konsortium „Mühlbauer ID Services GmbH – S&T“ zur Abgabe von Angeboten aufgefordert. Mit Entscheidung des stellvertretenden Innenministers vom 29. April 2020 wurde der Auftrag an dieses Konsortium vergeben.

14      Veridos legte gegen diese Entscheidung einen Rechtsbehelf bei der Wettbewerbsbehörde ein, die diesen mit Entscheidung vom 25. Juni 2020 zurückwies. Am 13. Juli 2020 legte Veridos gegen letztere Entscheidung Kassationsbeschwerde beim Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht), dem vorlegenden Gericht, ein.

15      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts soll mit dem Vorabentscheidungsersuchen geklärt werden, ob der öffentliche Auftraggeber nach den im Unionsrecht verankerten Grundsätzen der Transparenz, der Nichtdiskriminierung und der Gleichbehandlung verpflichtet ist, zu prüfen, ob ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliegt, um einen objektiven Vergleich der Angebote zu gewährleisten und unter wirksamen Wettbewerbsbedingungen das wirtschaftlich günstigste Angebot zu ermitteln, ohne dass es sich jedoch um ein ungewöhnlich niedriges Angebot handelt, das den Wettbewerb verfälscht.

16      Außerdem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Art. 72 Abs. 1 des Vergabegesetzes das Prüfkriterium für ein ungewöhnlich günstiges Angebot regle, indem er verlange, dass dieses „hinsichtlich desselben Bewertungsfaktors um mehr als 20 % günstiger als der Mittelwert der Angebote der übrigen Teilnehmer“ sein müsse. Somit verlange der bulgarische Gesetzgeber implizit mindestens drei Angebote, wobei die Bewertung eines dieser Angebote anhand des Mittelwerts der beiden anderen zu erfolgen habe. In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Wettbewerbsbehörde unter diesen Rahmenbedingungen diese Bestimmung für nicht anwendbar gehalten habe, da nur zwei Angebote eingereicht worden seien und dieser Mittelwert daher nicht berechnet werden könne.

17      Der öffentliche Auftraggeber, d. h. der stellvertretende Innenminister, verfüge über keinen im Licht des Unionsrechts nachprüfbaren Algorithmus zur Bewertung und Untersuchung der Frage, ob ein ungewöhnlich niedriges und vorab bekanntes Angebot vorliege.

18      So stellt das vorlegende Gericht fest, dass das Vorliegen eines gesetzlich vorgesehenen, aber praktisch unanwendbaren Kriteriums sowie das Fehlen anderer im Vorhinein bekannter Kriterien, anhand deren ungewöhnlich niedrige Angebote ermittelt werden könnten, zum einen die Frage aufwürfen, ob der öffentliche Auftraggeber von der Verpflichtung der Prüfung befreit sei, ob ein solches Angebot vorliege, da der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung ausdrücklich festgestellt habe, dass der öffentliche Auftraggeber sich vergewissern müsse, dass die ihm unterbreiteten Angebote seriös seien, und zum anderen die Frage, ob er immer verpflichtet sei, die Feststellung, dass ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliege, zu begründen, oder ob er seine Entscheidung über die Reihung der Bieter durch inhaltliches Vorbringen im Rahmen eines Verfahrens der gerichtlichen Nachprüfung verteidigen könne. In diesem Zusammenhang führt das vorlegende Gericht aus, dass die letztgenannte Frage im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu prüfen sei, wonach die Begründung einer solchen Entscheidung nur in Ausnahmefällen erstmals vor einem Gericht erläutert werden könne.

19      Unter diesen Umständen hat der Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 56 der Richtlinie 2014/24 in Verbindung mit deren Art. 69 bzw. Art. 38 der Richtlinie 2009/81 in Verbindung mit deren Art. 49 dahin auszulegen, dass der öffentliche Auftraggeber bei objektiver Nichtanwendbarkeit eines im nationalen Gesetz festgelegten Kriteriums für die Bewertung eines ungewöhnlich niedrigen Angebots und mangels eines anderen vom öffentlichen Auftraggeber gewählten und im Vorhinein bekannt gemachten Kriteriums nicht verpflichtet ist, eine Prüfung durchzuführen, ob ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliegt?

2.      Ist Art. 56 der Richtlinie 2014/24 in Verbindung mit deren Art. 69 bzw. Art. 38 der Richtlinie 2009/81 in Verbindung mit deren Art. 49 dahin auszulegen, dass der öffentliche Auftraggeber nur dann verpflichtet ist, eine Prüfung vorzunehmen, ob ungewöhnlich niedrige Angebote vorliegen, wenn hinsichtlich eines Angebots ein Verdacht besteht, oder ist der öffentliche Auftraggeber vielmehr verpflichtet, sich stets der Seriosität der eingegangenen Angebote zu vergewissern und dies entsprechend zu begründen?

3.      Gilt ein solches Erfordernis für den öffentlichen Auftraggeber, wenn nur zwei Angebote im Rahmen des Vergabeverfahrens eingegangen sind?

4.      Ist Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass die Beurteilung des öffentlichen Auftraggebers, dass kein Verdacht in Bezug auf das Vorliegen eines ungewöhnlich niedrigen Angebots besteht, bzw. dessen Überzeugung, dass hinsichtlich des erstgereihten Ausschreibungsteilnehmers ein seriöses Angebot vorliegt, der gerichtlichen Nachprüfung unterliegt?

5.      Falls die vorstehende Frage bejaht wird: Ist Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass ein öffentlicher Auftraggeber in einem Vergabeverfahren, der nicht geprüft hat, ob ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliegt, zur Rechtfertigung und Begründung verpflichtet ist, warum in Bezug auf das Vorliegen eines ungewöhnlich niedrigen Angebots, d. h. in Bezug auf die Seriosität des erstgereihten Angebots, kein Verdacht besteht?

 Zum Antrag auf Durchführung des beschleunigten Verfahrens

20      Das vorlegende Gericht hat beim Gerichtshof beantragt, die vorliegende Rechtssache gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen.

21      Zur Stützung seines Antrags macht das vorlegende Gericht zum einen geltend, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende öffentliche Auftrag die Ausstellung und die Verlängerung bulgarischer Ausweisdokumente betreffe und als solcher unmittelbar mit der nationalen Sicherheit und der legitimen Rechtsstellung bulgarischer Staatsangehöriger zusammenhänge, und zum anderen, dass gemäß den Art. 212 und 216 des Vergabegesetzes ein beschleunigtes Verfahren mit verkürzten Fristen hinsichtlich bestimmter Verfahrensschriftstücke durchgeführt worden sei.

22      Außerdem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass sich die Notwendigkeit, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem beschleunigten Verfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung zu unterwerfen, nicht aus der finanziellen Dimension des betreffenden öffentlichen Auftrags, sondern aus den Folgen seiner Durchführung und aus den Rechtsverhältnissen im Zusammenhang mit dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Gerichtsverfahren ergebe. Letzteres betrifft nämlich die Ausweisdokumente einer unbestimmten Zahl bulgarischer Staatsbürger sowie deren Fähigkeit zur Ausübung ihrer Grundrechte wie Freizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und Wahlrecht.

23      Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

24      Was insoweit zunächst den Umstand betrifft, dass die von der vorliegenden Rechtssache aufgeworfenen Fragen potenziell eine große Zahl bulgarischer Staatsangehöriger und Rechtsverhältnisse betreffen, so ist darauf hinzuweisen, dass das in dieser Bestimmung vorgesehene beschleunigte Verfahren ein Verfahrensinstrument ist, mit dem auf eine außerordentliche Dringlichkeitssituation reagiert werden soll (Urteil vom 28. April 2022, Caruter, C‑642/20, EU:C:2022:308, Rn. 21 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Die beträchtliche Zahl von Personen oder Rechtsverhältnissen, die möglicherweise von der Entscheidung betroffen sind, die ein vorlegendes Gericht zu treffen hat, nachdem es den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht hat, kann aber als solche keinen außergewöhnlichen Umstand darstellen, der die Anwendung eines beschleunigten Verfahrens rechtfertigen könnte (Urteil vom 3. März 2022, Presidenza del Consiglio dei Ministri u. a. [Ärzte in Weiterbildung zum Facharzt], C‑590/20, EU:C:2022:150, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Sodann verweist das vorlegende Gericht zwar auf den wichtigen und sensiblen Charakter des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Auftrags über die Ausstellung und Verlängerung bulgarischer Ausweisdokumente sowie der Antworten, die der Gerichtshof auf die ihm in dem betreffenden Bereich des Unionsrechts gestellten Fragen geben könnte, doch können diese verschiedenen Gesichtspunkte für sich allein es nicht rechtfertigen, die vorliegende Rechtssache dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 25. Februar 2021, Sea Watch, C‑14/21 und C‑15/21, EU:C:2021:149, Rn. 24).

27      Jedenfalls geht aus dem in Rn. 20 des vorliegenden Urteils erwähnten Antrag nicht hervor, inwiefern sich die Dauer des Verfahrens vor dem Gerichtshof auf die Erstellung oder die Erteilung solcher Dokumente auswirken könnte.

28      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich ferner, dass das bloße – wenn auch legitime – Interesse der Rechtsuchenden daran, den Umfang der ihnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte möglichst schnell zu klären, nicht geeignet ist, das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands im Sinne von Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung zu belegen (Urteil vom 28. April 2022, Phoenix Contact, C‑44/21, EU:C:2022:309, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Was schließlich das Vorliegen kurzer Verfahrensfristen betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass sich das Erfordernis der raschen Erledigung eines beim Gerichtshof anhängigen Rechtsstreits weder allein aus dem Umstand ergeben kann, dass das vorlegende Gericht verpflichtet ist, eine zügige Beilegung des Rechtsstreits sicherzustellen, noch allein daraus, dass die Verzögerung oder Aussetzung von Arbeiten, die Gegenstand eines öffentlichen Auftrags sind, für die Betroffenen schädliche Auswirkungen haben kann (Urteil vom 28. April 2022, Caruter, C‑642/20, EU:C:2022:308, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Unter diesen Umständen hat der Präsident des Gerichtshofs am 1. Februar 2021 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts beschlossen, den in Rn. 20 des vorliegenden Urteils genannten Antrag zurückzuweisen.

 Zu den Vorlagefragen

31      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Auslegung sowohl der Art. 38 und 49 der Richtlinie 2009/81 als auch der Art. 56 und 69 der Richtlinie 2014/24 ersucht. Da das vorlegende Gericht jedoch angibt, dass der fragliche öffentliche Auftrag zwar Elemente enthalte, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/24 fielen, der öffentliche Auftraggeber aber die Entscheidung getroffen habe, einen einzigen Auftrag nach den Modalitäten der Richtlinie 2009/81 zu vergeben, sind die einschlägigen Bestimmungen der letzteren Richtlinie auszulegen. Diese Auslegung ist auf die Bestimmungen der Richtlinie 2014/24 übertragbar, soweit diese im Wesentlichen mit denen der Richtlinie 2009/81 identisch sind.

 Zu den Fragen 1 bis 3

32      Mit seinen Fragen 1 bis 3, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 38 und 49 der Richtlinie 2009/81 dahin auszulegen sind, dass sie einen öffentlichen Auftraggeber verpflichten, zu prüfen, ob ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliegt, selbst wenn kein Verdacht in Bezug auf ein Angebot besteht oder wenn das hierfür in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Kriterium, das implizit darauf hinausläuft, dass zumindest drei Angebote vorliegen müssen, aufgrund der unzureichenden Zahl der eingereichten Angebote nicht anwendbar ist.

33      Das Unionsrecht definiert den Begriff „ungewöhnlich niedriges Angebot“ nicht. Wie jedoch der Generalanwalt in den Nrn. 30 bis 32 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, hat der Gerichtshof die Abgrenzung dieses Begriffs bereits im Rahmen der Auslegung anderer als der in der vorstehenden Randnummer genannten Richtlinien über öffentliche Aufträge vorgenommen.

34      So hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass es Sache der Mitgliedstaaten und insbesondere der öffentlichen Auftraggeber ist, festzulegen, wie die Ungewöhnlichkeitsschwelle für ein ungewöhnlich „niedriges“ Angebot zu errechnen ist (vgl. u. a. Urteile vom 27. November 2001, Lombardini und Mantovani, C‑285/99 und C‑286/99, EU:C:2001:640, Rn. 67, und vom 18. Dezember 2014, Data Medical Service, C‑568/13, EU:C:2014:2466, Rn. 49), oder einen Wert dafür festzusetzen, unter der Voraussetzung, dass eine objektive und nicht diskriminierende Methode angewandt wird. Er hat auch entschieden, dass es dem öffentlichen Auftraggeber obliegt, „die zweifelhaften Angebote zu ermitteln“ (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. November 2001, Lombardini und Mantovani, C‑285/99 und C‑286/99, EU:C:2001:640, Rn. 55).

35      Außerdem hat der Gerichtshof klargestellt, dass die Frage, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, im Verhältnis zu der betreffenden Leistung zu beurteilen ist. Daher kann der öffentliche Auftraggeber im Rahmen der Prüfung, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, zur Gewährleistung eines gesunden Wettbewerbs sämtliche im Hinblick auf diese Leistung maßgeblichen Gesichtspunkte berücksichtigen (vgl. u. a. Urteile vom 29. März 2012, SAG ELV Slovensko u. a., C‑599/10, EU:C:2012:191, Rn. 29 und 30, und vom 18. Dezember 2014, Data Medical Service, C‑568/13, EU:C:2014:2466, Rn. 50).

36      Insoweit ist der öffentliche Auftraggeber aufgrund der Art. 38 und 49 der Richtlinie 2009/81 verpflichtet, erstens die zweifelhaften Angebote zu identifizieren, zweitens den betroffenen Bietern zu ermöglichen, ihre Seriosität zu beweisen, indem er von ihnen Aufklärung verlangt, wo er dies für angezeigt hält, drittens die Stichhaltigkeit der von den Betroffenen eingereichten Erklärungen zu beurteilen und viertens über die Zulassung oder Ablehnung dieser Angebote zu entscheiden. Jedoch nur, wenn von vornherein zweifelhaft ist, ob ein Angebot verlässlich ist, gelten für den öffentlichen Auftraggeber die in diesen Artikeln vorgesehenen Verpflichtungen (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Oktober 2017, AgriConsulting Europe/Kommission, C‑198/16 P, EU:C:2017:784, Rn. 51 und 52 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Wie der Generalanwalt in Nr. 38 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, muss der öffentliche Auftraggeber anhand sämtlicher Merkmale des betreffenden Ausschreibungsgegenstands die Angebote identifizieren, die zweifelhaft erscheinen und deshalb dem kontradiktorischen Verfahren der Überprüfung gemäß Art. 49 der Richtlinie 2009/81 unterliegen. So sehr ein Vergleich mit den übrigen konkurrierenden Angeboten in bestimmten Fällen zur Feststellung einer Ungewöhnlichkeit auch hilfreich sein mag, kann er doch nicht das einzige Kriterium darstellen, das der öffentliche Auftraggeber anwendet.

38      Die Prüfung aller Gesichtspunkte, die sich auf die betreffende Ausschreibung und die Verdingungsunterlagen beziehen, muss es dem öffentlichen Auftraggeber ermöglichen, festzustellen, ob das zweifelhafte Angebot trotz einer Abweichung von den Angeboten der anderen Bieter hinreichend seriös ist. Hierzu kann sich der öffentliche Auftraggeber bei der Ermittlung ungewöhnlich niedriger Angebote auf nationale Vorschriften stützen, die eine bestimmte Methode festlegen.

39      In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist jedoch festzustellen, dass die Richtlinie 2009/81 nicht die Beurteilung ausschließt, ob es sich um ein ungewöhnlich niedriges Angebot handelt, wenn nur zwei Angebote eingereicht wurden. Vielmehr ist die Nichtanwendbarkeit des im nationalen Recht vorgesehenen Kriteriums für die Beurteilung der Frage, ob ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, nicht geeignet, den öffentlichen Auftraggeber von seiner in Rn. 36 des vorliegenden Urteils angeführten Verpflichtung zu befreien, die zweifelhaften Angebote zu ermitteln und bei Vorliegen solcher Angebote eine kontradiktorische Überprüfung vorzunehmen.

40      Nach alledem sind die Art. 38 und 49 der Richtlinie 2009/81 dahin auszulegen, dass ein öffentlicher Auftraggeber im Fall des Verdachts, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte der Ausschreibung und der Verdingungsunterlagen prüfen muss, ob dies tatsächlich der Fall ist, ohne dass es insoweit auf die Nichtanwendbarkeit der in nationalen Rechtsvorschriften hierfür vorgesehenen Kriterien und die Zahl der eingereichten Angebote ankäme.

 Zu den Fragen 4 und 5

41      Mit seiner vierten und seiner fünften Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 55 Abs. 2 der Richtlinie 2009/81 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Feststellung des öffentlichen Auftraggebers, dass kein Verdacht in Bezug auf das Vorliegen eines ungewöhnlich niedrigen Angebots besteht, oder die Tatsache, dass er von der Seriosität des Angebots eines erstgereihten Bieters überzeugt ist, einer gerichtlichen Nachprüfung unterliegt, und ob der öffentliche Auftraggeber somit verpflichtet ist, seine Schlussfolgerung im Rahmen der Entscheidung über die Vergabe des öffentlichen Auftrags zu begründen.

42      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 47 und 48 seiner Schlussanträge festgestellt hat, erlegt Art. 49 der Richtlinie 2009/81, der die ungewöhnlich niedrigen Angebote regelt, dem öffentlichen Auftraggeber keine unterschiedslos geltende Verpflichtung auf, ausdrücklich Stellung zu nehmen, ob das entsprechende Angebot möglicherweise ungewöhnlich niedrig ist. Vielmehr gilt diese Verpflichtung nach dem Wortlaut dieses Art. 49 dann, wenn der öffentliche Auftraggeber „im Fall eines bestimmten Auftrags“ der Auffassung ist, dass „Angebote“ den Eindruck erwecken, „im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich niedrig zu sein“.

43      Insoweit ergibt sich aus Art. 35 der Richtlinie 2009/81, dass der öffentliche Auftraggeber den Bewerbern und Bietern schnellstmöglich seine Entscheidungen über die Zuschlagserteilung mitteilt und dass diese Information schriftlich erteilt wird, falls dies beantragt wurde. Insbesondere unterrichtet der öffentliche Auftraggeber den betroffenen Verfahrensteilnehmer auf dessen schriftlichen Antrag hin u. a. über entsprechende Details, auf denen die in einem Vergabeverfahren getroffenen wesentlichen Entscheidungen beruhen. Wenn daher ein öffentlicher Auftraggeber feststellt, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig erscheint, und er folglich einen kontradiktorischen Austausch mit dem betreffenden Bieter führt, sollte das Ergebnis dieses Austauschs schriftlich festgehalten werden.

44      Daher muss der öffentliche Auftraggeber nur dann, wenn der Verdacht besteht, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, und nach dem in Rn. 37 des vorliegenden Urteils genannten kontradiktorischen Überprüfungsverfahren förmlich eine mit Gründen versehene Entscheidung über die Zulassung oder Ablehnung des fraglichen Angebots erlassen.

45      Im vorliegenden Fall ergibt sich jedoch aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten, dass der öffentliche Auftraggeber weder das in Art. 49 der Richtlinie 2009/81 vorgesehene kontradiktorische Überprüfungsverfahren eingeleitet noch insoweit eine ausdrückliche Entscheidung erlassen hat.

46      In diesem Fall verlangt die sich aus Art. 55 Abs. 2 der Richtlinie 2009/81 und aus Art. 47 der Charta ergebende Verpflichtung, wonach die Entscheidung über die Vergabe des in Rede stehenden Auftrags wirksam nachgeprüft werden können muss, dass die Bieter, die sich in ihren Rechten für verletzt erachten, ein Verfahren zur Nachprüfung dieser Entscheidung mit dem Vorbringen anstrengen können, dass das ausgewählte Angebot als „ungewöhnlich niedrig“ hätte eingestuft werden müssen.

47      Insoweit kann die Tatsache, dass ein Angebot nicht als „ungewöhnlich niedrig“ angesehen wird, ohne dass dies spezifisch begründet wird, als solche nicht zur Nichtigerklärung des Vergabeverfahrens führen, da der Unionsgesetzgeber den öffentlichen Auftraggebern nicht die Verpflichtung auferlegt hat, eine ausdrückliche und mit Gründen versehene Entscheidung zu erlassen, mit der festgestellt würde, dass keine ungewöhnlich niedrigen Angebote vorliegen.

48      Nach alledem ist auf die vierte und die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 55 Abs. 2 der Richtlinie 2009/81 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Beurteilung eines öffentlichen Auftraggebers, wenn dieser kein Überprüfungsverfahren im Hinblick darauf eingeleitet hat, ob möglicherweise ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliegt, weil er davon ausgegangen ist, dass keines der bei ihm eingereichten Angebote ungewöhnlich niedrig sei, im Rahmen der Anfechtung der Entscheidung über die Vergabe des betreffenden Auftrags einer gerichtlichen Nachprüfung unterliegen kann.

 Kosten

49      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Die Art. 38 und 49 der Richtlinie 2009/81/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe bestimmter Bau, Liefer- und Dienstleistungsaufträge in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit und zur Änderung der Richtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG

sind wie folgt auszulegen:

Ein öffentlicher Auftraggeber muss im Fall des Verdachts, dass ein Angebot ungewöhnlich niedrig ist, unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Aspekte der Ausschreibung und der Verdingungsunterlagen prüfen, ob dies tatsächlich der Fall ist, ohne dass es insoweit auf die Nichtanwendbarkeit der in nationalen Rechtsvorschriften hierfür vorgesehenen Kriterien und die Zahl der eingereichten Angebote ankäme.

2.      Art. 55 Abs. 2 der Richtlinie 2009/81 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

ist wie folgt auszulegen:

Die Beurteilung eines öffentlichen Auftraggebers kann, wenn dieser kein Überprüfungsverfahren im Hinblick darauf eingeleitet hat, ob möglicherweise ein ungewöhnlich niedriges Angebot vorliegt, weil er davon ausgegangen ist, dass keines der bei ihm eingereichten Angebote ungewöhnlich niedrig sei, im Rahmen der Anfechtung der Entscheidung über die Vergabe des betreffenden Auftrags einer gerichtlichen Nachprüfung unterliegen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Bulgarisch.