Language of document : ECLI:EU:C:2022:708

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

22. September 2022(*)(i)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und Einwanderung – Richtlinie 2011/95/EU – Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus – Aberkennung des Status – Richtlinie 2013/32/EU – Gemeinsame Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes – Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit – Stellungnahme einer Fachbehörde – Akteneinsicht“

In der Rechtssache C‑159/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) mit Entscheidung vom 27. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 11. März 2021, in dem Verfahren

GM

gegen

Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság,

Alkotmányvédelmi Hivatal,

Terrorelhárítási Központ

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richterin I. Ziemele sowie der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von GM, vertreten durch B. Pohárnok, Ügyvéd,

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, R. Kissné Berta und M. Tátrai als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und A. Hanje als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma, L. Grønfeldt und A. Tokár als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 28. April 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 14 und 17 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9), der Art. 4, 10, 11, 12, 23 und 45 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) sowie der Art. 41 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen einer Klage von GM, einem Drittstaatsangehörigen, gegen die Entscheidung der Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság (Nationale Generaldirektion der Fremdenpolizei, Ungarn, im Folgenden: Generaldirektion), mit der ihm die Flüchtlingseigenschaft aberkannt und die Zuerkennung der Gewährung des subsidiären Schutzstatus verweigert wird.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2011/95

3        Art. 2 Buchst. d und f der Richtlinie 2011/95 lautet:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

d)      ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;

f)      ‚Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz‘ einen Drittstaatsangehörigen oder einen Staatenlosen, der die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling nicht erfüllt, der aber stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass er bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland oder, bei einem Staatenlosen, in das Land seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts tatsächlich Gefahr liefe, einen ernsthaften Schaden im Sinne des Artikel 15 zu erleiden, und auf den Artikel 17 Absätze 1 und 2 keine Anwendung findet und der den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Gefahr nicht in Anspruch nehmen will“.

4        Art. 12 dieser Richtlinie definiert die Fälle, in denen die Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen wird.

5        Art. 14 Abs. 4 Buchst. a dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten können einem Flüchtling die ihm von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen, wenn

a)      es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält“.

6        In Art. 17 Abs. 1 Buchst. b und d der Richtlinie heißt es:

„Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er

b)      eine schwere Straftat begangen hat;

d)      eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.“

 Richtlinie 2013/32

7        Die Erwägungsgründe 16, 20, 34 und 49 der Richtlinie 2013/32 lauten:

„(16)      Es ist von entscheidender Bedeutung, dass sämtliche Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz auf der Grundlage von Tatsachen ergehen und erstinstanzlich von Behörden getroffen werden, deren Bedienstete über angemessene Kenntnisse in Fragen des internationalen Schutzes verfügen oder die hierzu erforderliche Schulung erhalten haben.

(20)      Ist ein Antrag voraussichtlich unbegründet oder bestehen schwerwiegende Bedenken hinsichtlich der nationalen Sicherheit oder der öffentlichen Ordnung, sollte es den Mitgliedstaaten unter genau bestimmten Umständen möglich sein, das Prüfungsverfahren unbeschadet der Durchführung einer angemessenen und vollständigen Prüfung und der effektiven Inanspruchnahme der in dieser Richtlinie vorgesehenen wesentlichen Grundsätze und Garantien durch den Antragsteller zu beschleunigen, insbesondere indem kürzere, jedoch angemessene Fristen für bestimmte Verfahrensschritte eingeführt werden.

(34)      Die Verfahren zur Prüfung des Bedürfnisses nach internationalem Schutz sollten so gestaltet sein, dass die zuständigen Behörden in die Lage versetzt werden, Anträge auf internationalen Schutz gründlich zu prüfen.

(49)      Bezüglich der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus sollten die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass Personen mit internationalem Schutzstatus ordnungsgemäß über eine eventuelle Überprüfung ihres Status informiert werden und die Möglichkeit haben, den Behörden ihren Standpunkt darzulegen, bevor diese eine begründete Entscheidung über die Aberkennung ihres Status treffen können.“

8        Art. 2 Buchst. f der Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

f)      ‚Asylbehörde‘ jede gerichtsähnliche Behörde beziehungsweise jede Verwaltungsstelle eines Mitgliedstaats, die für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständig und befugt ist, erstinstanzliche Entscheidungen über diese Anträge zu erlassen“.

9        Art. 4 Abs. 1 bis 3 dieser Richtlinie lautet:

„(1)      Die Mitgliedstaaten benennen für alle Verfahren eine Asylbehörde, die für eine angemessene Prüfung der Anträge gemäß dieser Richtlinie zuständig ist. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass diese Behörde zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach Maßgabe dieser Richtlinie angemessen ausgestattet ist und über kompetentes Personal in ausreichender Zahl verfügt.

(2)      Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass eine andere Behörde als die in Absatz 1 genannte für folgende Tätigkeiten zuständig ist:

a)      die Bearbeitung von Anträgen nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31)] und

b)      die Gewährung oder die Verweigerung der Einreise im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 43 unter den dort genannten Voraussetzungen und auf der Grundlage der mit Gründen versehenen Stellungnahme der Asylbehörde.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass das Personal der in Absatz 1 genannten Asylbehörde hinreichend geschult ist. Hierzu stellen die Mitgliedstaaten einschlägige Lehrgänge … bereit. Die Mitgliedstaaten berücksichtigen dabei auch das einschlägige Schulungsangebot, das vom Europäischen Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) aufgestellt und entwickelt wurde. Personen, von denen die Antragsteller nach Maßgabe dieser Richtlinie befragt werden, müssen außerdem allgemeine Kenntnisse über die Probleme erworben haben, die die Fähigkeit des Antragstellers, angehört zu werden, beeinträchtigen könnten, beispielsweise Anzeichen dafür, dass der Antragsteller in der Vergangenheit möglicherweise gefoltert worden ist.“

10      Art. 10 Abs. 2 und 3 der Richtlinie bestimmt:

„(2)      Bei der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz stellt die Asylbehörde zuerst fest, ob der Antragsteller die Voraussetzungen für die Anerkennung als Flüchtling erfüllt; ist dies nicht der Fall, wird festgestellt, ob der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Asylbehörde ihre Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz nach angemessener Prüfung trifft. Zu diesem Zweck stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass

d)      die für die Prüfung und Entscheidung der Anträge zuständigen Bediensteten die Möglichkeit erhalten, in bestimmten, unter anderem medizinischen, kulturellen, religiösen, kinder- oder geschlechtsspezifischen Fragen, den Rat von Sachverständigen einzuholen, wann immer dies erforderlich ist.“

11      In Art. 11 („Anforderungen an die Entscheidung der Asylbehörde“) Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten stellen ferner sicher, dass bei der Ablehnung eines Antrags auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und/oder des subsidiären Schutzstatus die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Ablehnung in der Entscheidung dargelegt werden und eine schriftliche Belehrung beigefügt wird, wie eine ablehnende Entscheidung angefochten werden kann.

…“

12      Art. 12 der Richtlinie stellt mehrere Garantien für Antragsteller auf.

13      Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Rechtsanwalt oder ein sonstiger nach nationalem Recht zugelassener oder zulässiger Rechtsberater, der einen Antragsteller gemäß den nationalen Rechtsvorschriften unterstützt oder vertritt, Zugang zu den Informationen in der Akte des Antragstellers erhält, auf deren Grundlage über den Antrag entschieden wurde oder entschieden wird.

Die Mitgliedstaaten können hiervon abweichen, wenn die Offenlegung von Informationen oder Quellen die nationale Sicherheit, die Sicherheit der Organisationen oder Personen, von denen diese Informationen stammen, oder die Sicherheit der Personen, die die Informationen betreffen, gefährden oder wenn die Ermittlungsinteressen im Rahmen der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten oder die internationalen Beziehungen der Mitgliedstaaten beeinträchtigt würden. In diesen Fällen

a)      gewähren die Mitgliedstaaten den staatlichen Stellen gemäß Kapitel V Zugang zu den betreffenden Informationen oder Quellen und

b)      legen die Mitgliedstaaten in ihrem nationalen Recht Verfahren fest, mit denen gewährleistet wird, dass die Verteidigungsrechte des Antragstellers geachtet werden.

Hinsichtlich der Regelung in Buchstabe b können die Mitgliedstaaten insbesondere einem Rechtsanwalt oder sonstigen Rechtsberater, der einer Sicherheitsprüfung unterzogen wurde, Zugang zu diesen Informationen oder Quellen gewähren, soweit diese Informationen für die Prüfung des Antrags oder für die Entscheidung zur Aberkennung des internationalen Schutzes relevant sind.“

14      Art. 45 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass in Fällen, in denen die zuständige Behörde in Erwägung zieht, den internationalen Schutz eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen … abzuerkennen, die betreffende Person über folgende Garantien verfügt:

a)      Sie ist schriftlich davon in Kenntnis zu setzen, dass die zuständige Behörde den Anspruch auf internationalen Schutz überprüft und aus welchen Gründen eine solche Überprüfung stattfindet, und

b)      ihr ist in einer persönlichen Anhörung … Gelegenheit zu geben, Gründe vorzubringen, die dagegen sprechen, ihr den internationalen Schutz abzuerkennen.

(3)      Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Entscheidung der zuständigen Behörde, den internationalen Schutz abzuerkennen, schriftlich ergeht. Die Entscheidung enthält eine sachliche und rechtliche Begründung sowie eine schriftliche Rechtsbehelfsbelehrung.

(4)      Sobald die zuständige Behörde die Entscheidung erlassen hat, den internationalen Schutz abzuerkennen, sind Artikel 20, Artikel 22, Artikel 23 Absatz 1 und Artikel 29 gleichermaßen anwendbar.

(5)      Abweichend von den Absätzen 1 bis 4 können die Mitgliedstaaten beschließen, dass der internationale Schutz im Falle eines eindeutigen Verzichts der Person mit Anspruch auf internationalen Schutz auf ihre Anerkennung als solche von Rechts wegen erlischt. Ein Mitgliedstaat kann auch vorsehen, dass der internationale Schutz von Rechts wegen erlischt, wenn die Person mit Anspruch auf internationalen Schutz die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats erworben hat.“

15      In Art. 46 Abs. 1 in Kapitel V („Rechtsbehelfe“) der Richtlinie 2013/32 heißt es:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Antragsteller das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem Gericht haben gegen

a)      eine Entscheidung über ihren Antrag auf internationalen Schutz, einschließlich einer Entscheidung,

i)      einen Antrag als unbegründet in Bezug auf die Flüchtlingseigenschaft und/oder den subsidiären Schutzstatus zu betrachten;

c)      eine Entscheidung zur Aberkennung des internationalen Schutzes nach Artikel 45.“

 Ungarisches Recht

16      § 57 Abs. 1 und 3 des Menedékjogról szóló 2007. évi LXXX. törvény (Gesetz Nr. LXXX von 2007 über das Asylrecht) bestimmt:

„(1)      In den durch dieses Gesetz geregelten Verfahren nimmt die Fachbehörde zu den Fachfragen Stellung, deren Beurteilung als Angelegenheit der Verwaltung in ihre Zuständigkeit fällt.

(3)      Von der Stellungnahme der Fachbehörde darf die Asylbehörde nicht abweichen, wenn die Beurteilung der darin enthaltenen Feststellungen nicht in ihre Zuständigkeit fällt.

…“

17      § 11 des Minősített adat védelméről szóló 2009. évi CLV. törvény (Gesetz Nr. CLV von 2009 über den Schutz von Verschlusssachen) sieht vor:

„(1)      Auf der Grundlage einer von der für die Einstufung zuständigen Stelle erteilten Kenntnisnahmegenehmigung ist die betroffene Person ohne Sicherheitsbescheid für Personen berechtigt, Kenntnis von ihren personenbezogenen Daten in einer nationalen Verschlusssache zu erhalten. Die betroffene Person muss, bevor sie Kenntnis von einer nationalen Verschlusssache erhält, schriftlich eine Geheimhaltungserklärung abgeben und die Vorschriften zum Schutz nationaler Verschlusssachen einhalten.

(2)      Über die Erteilung der Kenntnisnahmegenehmigung beschließt die für die Einstufung zuständige Stelle auf Antrag der betroffenen Person innerhalb von 15 Tagen. Beeinträchtigt die Kenntnisnahme von der Information das der Einstufung zugrunde liegende öffentliche Interesse, lehnt die für die Einstufung zuständige Stelle die Erteilung der Kenntnisnahmegenehmigung ab. Die Ablehnung der Kenntnisnahmegenehmigung ist von der für die Einstufung zuständigen Stelle zu begründen.

(3)      Wird die Kenntnisnahmegenehmigung abgelehnt, so kann die betroffene Person diesen Bescheid auf dem Verwaltungsrechtsweg anfechten. …“

18      Art. 12 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:

„Der für eine Verschlusssache Verantwortliche kann es ablehnen, der betroffenen Person das Recht auf Zugang zu ihren personenbezogenen Daten zu gewähren, wenn das öffentliche Interesse, das der Einstufung zugrunde liegt, durch die Ausübung dieses Rechts beeinträchtigt wird.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

19      GM wurde 2002 von einem ungarischen Gericht wegen des Handels mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

20      Während er diese Strafe verbüßte, stellte er 2005 in Ungarn einen Asylantrag. Auf diesen Antrag hin wurde ihm der Status einer „aufgenommenen Person“ zuerkannt, 2010 verlor er diesen Status.

21      Nachdem ein neuer Asylantrag gestellt worden war, wurde GM mit Urteil des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) vom 29. Juni 2012 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

22      Mit Entscheidung vom 15. Juli 2019 erkannte die Generaldirektion GM die Flüchtlingseigenschaft ab und lehnte es ab, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, wobei ihm gegenüber das Refoulement-Verbot zur Anwendung kam. Diese Entscheidung erging auf der Grundlage einer nicht begründeten Stellungnahme des Alkotmányvédelmi Hivatal (Amt für Verfassungsschutz, Ungarn) und der Terrorelhárítási Központ (Zentralstelle für Terrorismusabwehr, Ungarn) (im Folgenden zusammen: Fachbehörden), in der diese beiden Behörden zu dem Ergebnis kamen, dass der Aufenthalt von GM die nationale Sicherheit gefährde.

23      Gegen diese Entscheidung hat GM Klage bei dem vorlegenden Gericht erhoben.

24      Dieses Gericht hat zunächst Zweifel daran, ob die ungarischen Vorschriften über den Zugang zu Verschlusssachen mit Art. 23 der Richtlinie 2013/32 und verschiedenen Bestimmungen der Charta vereinbar sind.

25      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich aus der Rechtsprechung der Kúria (Oberster Gerichtshof, Ungarn) ergebe, dass in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens die Verfahrensrechte der betroffenen Person dadurch gewährleistet würden, dass dem zuständigen Gericht zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung über den internationalen Schutz die Möglichkeit eingeräumt werde, die vertraulichen Informationen, auf denen die Stellungnahme der Fachbehörden beruhe, einzusehen.

26      Jedoch hätten weder die betroffene Person noch ihr Vertreter nach ungarischem Recht eine konkrete Möglichkeit, sich zu der nicht begründeten Stellungnahme dieser Behörden zu äußern. Sie hätten zwar das Recht, einen Antrag auf Zugang zu vertraulichen Informationen über diese Person zu stellen, doch dürften sie die vertraulichen Informationen, zu denen ihnen Zugang gewährt worden sei, im Rahmen von Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren jedenfalls nicht verwenden.

27      Das vorlegende Gericht fragt sich sodann, ob mit dem Unionsrecht die im ungarischen Recht vorgesehene Regelung vereinbar ist, wonach sich die Generaldirektion auf eine nicht begründete Stellungnahme der Fachbehörden zu stützen hat, ohne selbst die Anwendung der Ausschlussklausel in dem bei ihm anhängigen Fall prüfen zu können, so dass sie ihre eigene Entscheidung nur unter Bezugnahme auf diese nicht begründete Stellungnahme begründen könne. Das vorlegende Gericht ist dabei zum einen der Ansicht, dass diese Fachbehörden nicht die von der Richtlinie 2013/32 aufgestellten Voraussetzungen für eine solche Prüfung und den Erlass einer solchen Entscheidung erfüllten, und zum anderen, dass die fragliche nationale Vorschrift der Anwendung der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Verfahrensgarantien entgegenstehen könne.

28      Schließlich fragt sich das vorlegende Gericht, inwieweit bei der Beurteilung der etwaigen Zuerkennung subsidiären Schutzes nach der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine strafrechtliche Verurteilung zu einer 16 Jahre zuvor verbüßten Strafe berücksichtigt werden könne, die den Behörden, die die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt hätten, bereits bekannt gewesen sei und von diesen nicht für die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft herangezogen worden sei.

29      Unter diesen Umständen hat der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 11 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2, Art. 23 Abs. 1, dort insbesondere Unterabs. 2 Buchst. b, sowie Art. 45 Abs. 1 und 3 bis 5 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass sie verlangen, dass im Fall des Vorliegens der in Art. 23 Abs. 1 dieser Richtlinie angeführten Ausnahmen im Zusammenhang mit einem Grund der nationalen Sicherheit die mitgliedstaatliche Behörde bzw. die die Geheimhaltung festlegende Fachbehörde, die die ablehnende Entscheidung über den internationalen Schutz oder über seine Aberkennung trifft, die sich auf einen mit der nationalen Sicherheit zusammenhängenden Grund stützt, dafür sorgen muss, dass sichergestellt ist, dass der betreffende Antragsteller/Flüchtling/subsidiär Schutzberechtigte und sein rechtlicher Vertreter in jedem Fall von dem zumindest wesentlichen Inhalt der als geheim bzw. als Verschlusssache eingestuften Daten und Informationen, die der auf diesem Grund beruhenden Entscheidung zugrunde liegen, Kenntnis nehmen können und das Recht haben, sie im Verfahren in Bezug auf die Entscheidung zu verwenden, wenn sich die zuständige Behörde darauf beruft, dass die Offenlegung dem Grund der nationalen Sicherheit widerspräche?

2.      Bejahendenfalls: Was genau ist bei der Anwendung von Art. 23 Abs. 1, dort insbesondere Unterabs. 2 Buchst. b, der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit den Art. 41 und 47 der Charta unter „wesentlicher Inhalt“ der als geheim eingestuften Gründe, auf deren Grundlage eine solche Entscheidung ergeht, zu verstehen?

3.      Sind Art. 14 Abs. 4 Buchst. a bzw. Art. 17 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95, Art. 45 Abs. 1 Buchst. a, Abs. 3 und 4 sowie der 49. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen, dass sie einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegenstehen, auf deren Grundlage die Aberkennung des Flüchtlingsstatus oder des Status einer subsidiär schutzberechtigten Person bzw. der Ausschluss von diesem Status aufgrund einer Entscheidung ohne Begründung erfolgt, die sich ausschließlich auf die automatische Bezugnahme auf die verbindliche, ebenfalls nicht begründete, die Gefährdung der nationalen Sicherheit feststellende fachbehördliche Stellungnahme, die keine Ausnahme zulässt, stützt?

4.      Sind die Erwägungsgründe 20 und 34, Art. 4, Art. 10 Abs. 2 und 3, dort insbesondere Buchst. d, der Richtlinie 2013/32 sowie Art. 14 Abs. 4 Buchst. a und Art. 17 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass sie einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift entgegenstehen, auf deren Grundlage eine Fachbehörde die Prüfung des Ausschlussgrundes durchführt und über diesen in der Sache in einem Verfahren entscheidet, das nicht den materiell-rechtlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften der Richtlinie 2013/32 und der Richtlinie 2011/95 unterworfen ist?

5.      Ist Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass er dem Ausschluss aufgrund eines Umstands/einer Straftat entgegensteht, der bzw. die bereits vor Erlass des rechtskräftigen Urteils/der bestandskräftigen Entscheidung über die Anerkennung als Flüchtling bekannt war, aber weder in Bezug auf die Anerkennung als Flüchtling noch in Bezug auf den subsidiären Schutz einen Ausschlussgrund begründete?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten und zur zweiten Frage

30      Mit seiner ersten und seiner zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 11 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 und 2, Art. 23 Abs. 1 sowie Art. 45 Abs. 1 und 3 bis 5 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit den Art. 41 und 47 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die vorsieht, dass dann, wenn eine Entscheidung über die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz oder die Aberkennung eines solchen Schutzes auf Informationen, deren Offenlegung die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats gefährden würde, beruht, die betroffene Person oder ihr Rechtsberater nur nach einer entsprechenden Genehmigung Zugang zu diesen Informationen erhalten können, ihnen nicht einmal der wesentliche Inhalt der Gründe, auf denen solche Entscheidungen beruhen, mitgeteilt wird und sie die Informationen, zu denen sie Zugang hätten erhalten können, jedenfalls nicht für Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren verwenden dürfen.

31      Erstens ist vorab festzustellen, dass sich das vorlegende Gericht in seinen ersten beiden Fragen zwar auf Art. 11 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 und 2 sowie auf Art. 45 Abs. 1, 3 und 5 der Richtlinie 2013/32 bezieht, diese Bestimmungen jedoch für die Beantwortung dieser Fragen nicht unmittelbar relevant sind, da sie sich im Wesentlichen auf die in Art. 23 Abs. 1 dieser Richtlinie festgelegten Modalitäten für den Zugang zu den Informationen in der Akte beziehen.

32      Zweitens ist der in der ersten Frage genannte Art. 45 Abs. 4 der Richtlinie 2013/32 hingegen bei der Beantwortung der ersten beiden Fragen zu berücksichtigen, da diese Bestimmung klarstellt, dass Art. 23 Abs. 1 dieser Richtlinie in Verfahren zur Aberkennung des internationalen Schutzes anwendbar ist, sobald die zuständige Behörde die Entscheidung erlassen hat, diesen Schutz abzuerkennen.

33      Somit ergibt sich aus Art. 45 Abs. 4 der Richtlinie, dass die in ihrem Art. 23 Abs. 1 aufgestellten Regeln nicht nur in den Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz gelten, sondern auch in den Verfahren zur Aberkennung dieses Schutzes.

34      Drittens ist zu Art. 41 der Charta, den das vorlegende Gericht in seiner zweiten Frage anführt, darauf hinzuweisen, dass aus dem Wortlaut dieses Artikels klar hervorgeht, dass sich dieser nicht an die Mitgliedstaaten, sondern ausschließlich an die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union richtet (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2020, Minister van Buitenlandse Zaken, C‑225/19 und C‑226/19, EU:C:2020:951, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Allerdings spiegelt Art. 41 der Charta einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts wider, der für die Mitgliedstaaten gelten soll, wenn sie dieses Recht umsetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. November 2020, Minister van Buitenlandse Zaken, C‑225/19 und C‑226/19, EU:C:2020:951, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Dieser Grundsatz ist daher zur Konkretisierung der den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 auferlegten Verpflichtungen zu berücksichtigen.

37      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2013/32 vorsieht, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass der Rechtsanwalt oder ein sonstiger nach nationalem Recht zugelassener oder zulässiger Rechtsberater, der eine betroffene Person gemäß den nationalen Rechtsvorschriften unterstützt oder vertritt, Zugang zu den Informationen in der Akte dieser betroffenen Person erhält, auf deren Grundlage über den Antrag entschieden wurde oder entschieden wird.

38      Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie ermächtigt die Mitgliedstaaten jedoch, von dieser Regel abzuweichen, wenn die Offenlegung von Informationen oder ihrer Quellen insbesondere die nationale Sicherheit oder die Sicherheit dieser Quellen gefährdet.

39      In einem solchen Fall müssen die Mitgliedstaaten zum einen gemäß Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. a der Richtlinie den Gerichten, die dafür zuständig sind, über die Rechtmäßigkeit der den internationalen Schutz betreffenden Entscheidung zu befinden, Zugang zu diesen Informationen oder Quellen gewähren und zum anderen nach Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Richtlinie in ihrem nationalen Recht Verfahren festlegen, mit denen gewährleistet wird, dass die Verteidigungsrechte der betroffenen Person geachtet werden.

40      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 44 und 45 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, beziehen sich die ersten beiden Fragen nicht auf die den zuständigen Gerichten übertragenen Befugnisse, sondern auf die Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person, und sie betreffen daher allein die Auslegung der in Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 aufgestellten Verpflichtung.

41      Hierbei ist allerdings festzustellen, dass der Umfang dieser Verpflichtung in Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 3 dieser Richtlinie präzisiert wird, wonach die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Regelung in Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Richtlinie insbesondere einem Rechtsberater der betroffenen Person, der einer Sicherheitsprüfung unterzogen wurde, Zugang zu den Informationen in der Akte gewähren können, deren Offenlegung die nationale Sicherheit gefährden würde, soweit diese Informationen oder Quellen für die Prüfung des Antrags oder für die Entscheidung zur Aberkennung des internationalen Schutzes relevant sind.

42      Aus dem Wortlaut dieses Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 3 und vor allem aus der Verwendung des Wortes „insbesondere“ geht jedoch eindeutig hervor, dass die Festlegung des in dieser Bestimmung genannten Verfahrens nicht die einzige Möglichkeit ist, die den Mitgliedstaaten zur Verfügung steht, um Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 nachzukommen, und dass sie daher nicht verpflichtet sind, ein solches Verfahren festzulegen.

43      Da in der Richtlinie 2013/32 nicht klargestellt wird, in welcher Weise die Mitgliedstaaten die Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person gewährleisten müssen, wenn ihr Recht auf Akteneinsicht gemäß Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie eingeschränkt wird, sind daher die konkreten Modalitäten der zu diesem Zweck festgelegten Verfahren nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, wobei allerdings vorauszusetzen ist, dass diese Modalitäten nicht ungünstiger sein dürfen als diejenigen, die gleichartige innerstaatliche Sachverhalte regeln (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch die Rechtsordnung der Union verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. entsprechend Urteile vom 4. Juni 2020, C. F. [Steuerprüfung], C‑430/19, EU:C:2020:429, Rn. 34, und vom 9. September 2020, Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose [Ablehnung eines Folgeantrags – Rechtsbehelfsfrist], C‑651/19, EU:C:2020:681, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, wie in Rn. 35 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bei der Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten haben, dass sowohl die aus dem Recht auf eine gute Verwaltung folgenden Anforderungen als auch das in Art. 47 Abs. 1 der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewahrt werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Dezember 2019, Deutsche Umwelthilfe, C‑752/18, EU:C:2019:1114, Rn. 34, und vom 14. Mai 2020, Agrobet CZ, C‑446/18, EU:C:2020:369, Rn. 43); diese gebieten im Verwaltungsverfahren bzw. in einem etwaigen gerichtlichen Verfahren die Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. November 2014, Mukarubega, C‑166/13, EU:C:2014:2336, Rn. 45, und vom 11. März 2020, SF [Europäischer Haftbefehl – Garantie der Rücküberstellung in den Vollstreckungsstaat], C‑314/18, EU:C:2020:191, Rn. 58).

45      Was erstens das Verwaltungsverfahren betrifft, so ergibt sich insoweit aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Achtung der Verteidigungsrechte bedeutet, dass der Adressat einer Entscheidung, die seine Interessen spürbar beeinträchtigt, von den Verwaltungen der Mitgliedstaaten, wenn sie Maßnahmen treffen, die in den Geltungsbereich des Unionsrechts fallen, in die Lage versetzt werden muss, seinen Standpunkt zu den Gesichtspunkten, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, sachdienlich vorzutragen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 39, und vom 3. Juni 2021, Jumbocarry Trading, C‑39/20, EU:C:2021:435, Rn. 31).

46      Diese Anforderung zielt im Rahmen eines Verfahrens über internationalen Schutz insbesondere darauf ab, der Asylbehörde zu ermöglichen, in voller Kenntnis der Sache eine individuelle Prüfung sämtlicher maßgebender Ereignisse und Umstände vorzunehmen, was voraussetzt, dass der Adressat der Entscheidung einen Fehler berichtigen oder Umstände, die seine persönliche Situation betreffen, vortragen kann, die für oder gegen den Erlass oder für oder gegen einen bestimmten Inhalt der Entscheidung sprechen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Februar 2017, M, C‑560/14, EU:C:2017:101, Rn. 32 und 37, sowie vom 26. Juli 2017, Sacko, C‑348/16, EU:C:2017:591, Rn. 35).

47      Da die genannte Anforderung notwendigerweise voraussetzt, dass diesem Adressaten, gegebenenfalls durch einen Rechtsberater, eine konkrete Möglichkeit geboten wird, Kenntnis von den Gesichtspunkten zu erlangen, auf die die Verwaltung ihre Entscheidung zu stützen beabsichtigt, geht mit der Achtung der Verteidigungsrechte das Recht auf Einsicht in den gesamten Akteninhalt im Laufe des Verwaltungsverfahrens einher (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary, C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 51 bis 53 und die dort angeführte Rechtsprechung).

48      Was zweitens das gerichtliche Verfahren betrifft, so setzt die Achtung der Verteidigungsrechte, die insbesondere im Rahmen von Verfahren geboten ist, die Rechtsbehelfe im Bereich des internationalen Schutzes betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, Sacko, C‑348/16, EU:C:2017:591, Rn. 32), voraus, dass der Kläger nicht nur Zugang zu den Gründen der ihm gegenüber ergangenen Entscheidung, sondern auch, um zu diesen tatsächlich Stellung nehmen zu können, Einsicht in den gesamten Akteninhalt erhalten kann, auf den sich die Verwaltung gestützt hat (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 53, und vom 13. September 2018, UBS Europe u. a., C‑358/16, EU:C:2018:715, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49      Ferner besagt der Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens, der Bestandteil der Verteidigungsrechte nach Art. 47 der Charta ist, dass die Verfahrensbeteiligten das Recht haben müssen, von allen Schriftstücken oder Erklärungen, die dem Gericht vorgelegt werden, um seine Entscheidung zu beeinflussen, Kenntnis zu erhalten und dazu Stellung zu nehmen (Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung), was voraussetzt, dass die Person, der gegenüber eine Entscheidung über internationalen Schutz ergangen ist, von den sie betreffenden Aktenstücken Kenntnis nehmen können muss, die dem Gericht, das über den gegen diese Entscheidung eingelegten Rechtsbehelf zu befinden hat, zur Verfügung stehen.

50      Da die in Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 aufgestellte Verpflichtung nur dann einschlägig ist, wenn das Recht der betroffenen Person auf Akteneinsicht aus einem der in dieser Bestimmung genannten Gründe beschränkt wurde, ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Verteidigungsrechte keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen und das damit einhergehende Recht auf Akteneinsicht daher eingeschränkt werden kann, und zwar unter Abwägung zwischen dem Recht auf eine gute Verwaltung sowie dem Recht der betroffenen Person auf einen wirksamen Rechtsbehelf auf der einen und den als Rechtfertigung für die Nichtoffenlegung eines Aktenbestandteils gegenüber dieser Person angeführten Interessen auf der anderen Seite, insbesondere wenn diese Interessen die nationale Sicherheit betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 54, 57 und 64 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Diese Abwägung darf jedoch angesichts der gebotenen Beachtung von Art. 47 der Charta nicht dazu führen, dass den Verteidigungsrechten der betroffenen Person jede Wirksamkeit genommen und das in Art. 45 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 vorgesehene Recht auf einen Rechtsbehelf insbesondere dadurch ausgehöhlt wird, dass ihr oder gegebenenfalls ihrem Rechtsberater nicht zumindest der wesentliche Inhalt der Gründe mitgeteilt wird, auf denen die ihr gegenüber ergangene Entscheidung beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 65).

52      Diese Abwägung kann indessen dazu führen, dass bestimmte Aktenbestandteile der betroffenen Person nicht mitgeteilt werden, wenn die Offenlegung dieser Bestandteile geeignet ist, die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats insoweit unmittelbar und besonders zu beeinträchtigen, als sie insbesondere das Leben, die Gesundheit oder die Freiheit von Personen gefährden könnte oder die von den mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörden speziell angewandten Untersuchungsmethoden enthüllen und damit die zukünftige Erfüllung der Aufgaben dieser Behörden ernsthaft behindern oder sogar unmöglich machen könnte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Juni 2013, ZZ, C‑300/11, EU:C:2013:363, Rn. 66).

53      Auch wenn Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/32 die Mitgliedstaaten ermächtigt, der betroffenen Person namentlich dann, wenn die nationale Sicherheit dies verlangt, keinen direkten Zugang zu ihrer gesamten Akte zu gewähren, kann diese Bestimmung somit nicht ohne Verstoß gegen den Effektivitätsgrundsatz, das Recht auf eine gute Verwaltung und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf dahin ausgelegt werden, dass sie es den zuständigen Behörden ermöglicht, diese Person in eine Lage zu versetzen, in der weder sie noch ihr Rechtsberater in der Lage wären, sich – gegebenenfalls im Rahmen eines speziellen Verfahrens, das der Wahrung der nationalen Sicherheit dient – in zweckdienlicher Weise Kenntnis vom wesentlichen Inhalt entscheidender Bestandteile dieser Akte zu verschaffen.

54      Zum einen ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass, wenn die Offenlegung von Informationen in der Akte aus einem Grund der nationalen Sicherheit beschränkt wurde, die Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person nicht hinreichend dadurch gewährleistet wird, dass diese Person unter bestimmten Voraussetzungen eine Genehmigung für den Zugang zu diesen Informationen erhalten kann, die mit einem vollständigen Verbot der Verwendung der so erlangten Informationen für die Zwecke des Verwaltungsverfahrens oder eines etwaigen gerichtlichen Verfahrens verbunden ist.

55      Den in den Rn. 45 bis 49 des vorliegenden Urteils genannten Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Achtung der Verteidigungsrechte ergeben, lässt sich nämlich entnehmen, dass das Recht auf Zugang zu Informationen in der Akte es der betroffenen Person, gegebenenfalls durch einen Rechtsberater, ermöglichen soll, vor den zuständigen Behörden oder Gerichten ihren Standpunkt zu diesen Informationen und zu ihrer Erheblichkeit für die zu treffende oder für die erlassene Entscheidung geltend zu machen.

56      Daher reicht ein Verfahren, das der betroffenen Person oder ihrem Rechtsberater die Möglichkeit einräumt, Zugang zu diesen Informationen zu erhalten, ihnen aber gleichzeitig die Verwendung dieser Informationen für die Zwecke des Verwaltungsverfahrens oder eines etwaigen gerichtlichen Verfahrens untersagt, nicht aus, um die Verteidigungsrechte dieser Person zu wahren, und kann daher nicht dahin verstanden werden, dass es es einem Mitgliedstaat ermöglicht, der Verpflichtung aus Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 nachzukommen.

57      Zum anderen ist, da sich aus der Vorlageentscheidung und den Erklärungen der ungarischen Regierung ergibt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung auf der Erwägung beruht, dass die Verteidigungsrechte der betroffenen Person durch die Möglichkeit des zuständigen Gerichts, Einsicht in die Akte zu nehmen, hinreichend gewährleistet sind, darauf hinzuweisen, dass eine solche Möglichkeit nicht an die Stelle des Zugangs zu den Informationen in dieser Akte durch die betroffene Person oder ihren Rechtsberater treten kann.

58      Abgesehen davon, dass diese Befugnis im Verwaltungsverfahren nicht anwendbar ist, bedeutet Achtung der Verteidigungsrechte nicht, dass das zuständige Gericht über alle für seine Entscheidung relevanten Angaben verfügt, sondern dass die betroffene Person, gegebenenfalls durch einen Rechtsberater, ihre Interessen geltend machen kann, indem sie ihren Standpunkt hierzu zum Ausdruck bringt.

59      Diese Beurteilung wird im Übrigen dadurch bestätigt, dass sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2013/32 ergibt, dass der Unionsgesetzgeber davon ausgegangen ist, dass der Zugang zu den Informationen in der Akte seitens der zuständigen Gerichte und die Festlegung von Verfahren, mit denen gewährleistet wird, dass die Verteidigungsrechte der betroffenen Person geachtet werden, zwei unterschiedliche und kumulative Anforderungen sind.

60      Nach alledem ist auf die ersten beiden Fragen zu antworten, dass Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 45 Abs. 4 dieser Richtlinie sowie unter Berücksichtigung des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes betreffend das Recht auf eine gute Verwaltung und von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die vorsieht, dass dann, wenn eine Entscheidung über die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz oder die Aberkennung eines solchen Schutzes auf Informationen, deren Offenlegung die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats gefährden würde, beruht, die betroffene Person oder ihr Rechtsberater nur nach einer entsprechenden Genehmigung Zugang zu diesen Informationen erhalten können, ihnen nicht einmal der wesentliche Inhalt der Gründe, auf denen solche Entscheidungen beruhen, mitgeteilt wird und sie die Informationen, zu denen sie Zugang hätten erhalten können, jedenfalls nicht für Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren verwenden dürfen.

 Zur dritten und zur vierten Frage

61      Mit seiner dritten und vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. a und Art. 17 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 sowie Art. 4, Art. 10 Abs. 2 und Art. 45 Abs. 1, 3 und 4 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der die Asylbehörde systematisch verpflichtet ist, dann, wenn mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betraute Fachbehörden mit einer nicht begründeten Stellungnahme festgestellt haben, dass eine Person eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle, auf der Grundlage dieser Stellungnahme diese Person von der Gewährung subsidiären Schutzes auszuschließen bzw. einen dieser Person zuvor gewährten internationalen Schutz abzuerkennen.

62      Erstens ist festzustellen, dass die Richtlinie 2013/32 vorsieht, dass die Mitgliedstaaten der „Asylbehörde“ eine besondere Rolle zuweisen, die in Art. 2 Buchst. f der Richtlinie als jede gerichtsähnliche Behörde beziehungsweise jede Verwaltungsstelle eines Mitgliedstaats definiert wird, die für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständig und befugt ist, erstinstanzliche Entscheidungen über diese Anträge zu erlassen.

63      Art. 4 Abs. 1 Satz 1 dieser Richtlinie sieht demnach vor, dass die Mitgliedstaaten für alle Verfahren eine Asylbehörde benennen, die für eine angemessene Prüfung der Anträge gemäß dieser Richtlinie zuständig ist.

64      Außerdem ergibt sich aus Art. 45 der Richtlinie 2013/32, dass die Entscheidung, ob der internationale Schutz abzuerkennen ist, der Asylbehörde obliegt.

65      Im 16. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es dazu, dass es von entscheidender Bedeutung ist, dass sämtliche Entscheidungen über Anträge auf internationalen Schutz auf der Grundlage von Tatsachen ergehen und erstinstanzlich von Behörden getroffen werden, deren Bedienstete über angemessene Kenntnisse in Fragen des internationalen Schutzes verfügen oder die hierzu erforderliche Schulung erhalten haben.

66      Zu diesem Zweck stellen die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie sicher, dass die Asylbehörde zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach Maßgabe dieser Richtlinie angemessen ausgestattet ist und über kompetentes Personal in ausreichender Zahl verfügt. Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie konkretisiert diese Verpflichtung, indem genauere Pflichten in Bezug auf die Ausbildung und die Kenntnisse dieser Bediensteten festgelegt werden.

67      Der Unionsgesetzgeber wollte so gewährleisten, dass die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz durch eine gerichtsähnliche Behörde oder eine Verwaltungsstelle, die mit besonderen Mitteln und Fachpersonal ausgestattet ist, eine wesentliche Phase der von den Mitgliedstaaten angewandten gemeinsamen Verfahren ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2020, Addis, C‑517/17, EU:C:2020:579, Rn. 61), wobei eine solche Stelle auch zu entscheiden hat, ob der internationale Schutz abzuerkennen ist.

68      Zwar ermächtigt Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 die Mitgliedstaaten, vorzusehen, dass einer anderen Behörde als der Asylbehörde bestimmte Aufgaben im Bereich des internationalen Schutzes übertragen werden können, die abschließend aufgezählt werden, doch können sich diese Aufgaben nicht auf die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz oder auf die Aberkennung dieses Schutzes erstrecken, die daher zwangsläufig der Asylbehörde zuzuweisen sind.

69      Im Übrigen geht aus Art. 10 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2013/32 ausdrücklich hervor, dass das Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz von der Asylbehörde durchzuführen ist und nach einer angemessenen Prüfung mit einer von dieser Behörde erlassenen Entscheidung endet.

70      Was speziell die Berücksichtigung einer möglichen Gefahr für die nationale Sicherheit betrifft, so ist darauf hinzuweisen, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 den Mitgliedstaaten gestattet, die einem Flüchtling zuerkannte Rechtsstellung abzuerkennen, wenn es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

71      Art. 17 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie sieht vor, dass ein Drittstaatsangehöriger von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen ist, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit oder für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält.

72      Die Anwendung jeder dieser Bestimmungen setzt voraus, dass die zuständige Behörde in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, vornimmt, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Situation der betreffenden Person, die im Übrigen die Voraussetzungen, um internationalen Schutz zu erlangen oder diesen Schutz weiter zu genießen, erfüllt, zu einem der in diesen Bestimmungen genannten Fälle gehört (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 31. Januar 2017, Lounani, C‑573/14, EU:C:2017:71, Rn. 72, und vom 13. September 2018, Ahmed, C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 55).

73      Diese Würdigung stellt einen integralen Bestandteil des Verfahrens des internationalen Schutzes dar, das gemäß den Richtlinien 2011/95 und 2013/32 durchzuführen ist und entgegen dem Vorbringen der ungarischen Regierung nicht auf die bloße Prüfung, inwieweit die betroffene Person internationalen Schutzes bedarf, beschränkt werden darf.

74      Mithin ergibt sich aus den Definitionen der Ausdrücke „Flüchtling“ und „Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz“ in Art. 2 Buchst. d und f der Richtlinie 2011/95, dass diese eine Person bezeichnen, die nicht nur internationalen Schutzes bedarf, sondern zudem auch nicht in den Anwendungsbereich der in dieser Richtlinie aufgeführten Ausschlussklauseln fällt.

75      Es ist daher allein Sache der Asylbehörde, unter gerichtlicher Kontrolle alle relevanten Tatsachen und Umstände einschließlich derjenigen, die sich auf die Anwendung der Art. 14 und 17 der Richtlinie 2011/95 beziehen, zu prüfen, und nach Vornahme dieser Prüfung ihre Entscheidung zu erlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Januar 2018, F, C‑473/16, EU:C:2018:36, Rn. 40 und 41).

76      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 bei der Ablehnung eines Antrags auf Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft und/oder des subsidiären Schutzstatus die sachlichen und rechtlichen Gründe für die Ablehnung in der Entscheidung der Asylbehörde dargelegt werden.

77      Ebenso sieht Art. 45 Abs. 3 dieser Richtlinie vor, dass die Entscheidung der zuständigen Behörde, den internationalen Schutz abzuerkennen, eine sachliche und rechtliche Begründung dieser Entscheidung enthält.

78      In solchen Fällen sind daher die Gründe, die die zuständige Behörde zum Erlass ihrer Entscheidung veranlasst haben, in dieser Entscheidung anzugeben.

79      Aus den vorstehenden Erwägungen, die sich sowohl auf die Rolle der Asylbehörde als auch auf die ihr obliegende Begründungspflicht beziehen, ergibt sich, dass diese Behörde sich nicht darauf beschränken darf, eine von einer anderen Behörde erlassene Entscheidung, die für sie nach nationalem Recht verbindlich ist, umzusetzen, und dass sie nicht allein auf dieser Grundlage die Entscheidung treffen darf, die Gewährung subsidiären Schutzes auszuschließen oder einen zuvor gewährten internationalen Schutz abzuerkennen.

80      Die Asylbehörde muss vielmehr über alle relevanten Informationen verfügen und anhand dieser Informationen ihre eigene Würdigung des Sachverhalts und der Umstände vornehmen, um den Inhalt ihrer Entscheidung zu bestimmen und diese umfassend zu begründen.

81      Im Übrigen ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 4 Buchst. a der Richtlinie 2011/95, dass diese Behörde über einen Ermessensspielraum verfügen muss, um zu entscheiden, ob Erwägungen, die die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats betreffen, zur Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft führen müssen oder nicht, was es ausschließt, dass die Feststellung einer Gefahr für diese Sicherheit automatisch eine solche Aberkennung nach sich zieht.

82      Allerdings schließen die vorstehenden Feststellungen keineswegs aus, dass ein Teil der Informationen, die von der zuständigen Behörde für die Durchführung ihrer Würdigung verwendet werden, aus eigener Initiative oder auf Ersuchen der Asylbehörde von mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörden erteilt werden kann. Zudem können einige dieser Informationen gegebenenfalls in dem in Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 festgelegten Rahmen einer Vertraulichkeitsregelung unterworfen werden.

83      Dennoch müssen die Tragweite dieser Informationen und ihre Relevanz für die zu erlassende Entscheidung angesichts der der Asylbehörde eigenen Aufgaben von dieser Behörde frei beurteilt werden, so dass sie nicht verpflichtet sein kann, sich auf eine nicht begründete Stellungnahme zu stützen, die von mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betrauten Fachbehörden auf der Grundlage einer Bewertung abgegeben wurde, deren Tatsachengrundlage ihr nicht mitgeteilt wurde.

84      Soweit die ungarische Regierung geltend macht, die diesen Behörden übertragenen Aufgaben fielen nach den Art. 72 und 73 AEUV ausschließlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, ist ferner darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmungen nicht so ausgelegt werden können, als ermächtigten sie die Mitgliedstaaten, durch bloße Berufung auf ihre Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit von Bestimmungen des Unionsrechts abzuweichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main, C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

85      Die ungarische Regierung hat sich insoweit jedoch auf allgemeine Ausführungen beschränkt, ohne darzutun, dass die besondere Situation Ungarns es rechtfertigen würde, in bestimmten Fällen die den Asylbehörden übertragene Rolle zu beschränken.

86      Folglich ist auf die dritte und vierte Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 11 Abs. 2 sowie Art. 45 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 Buchst. a und Art. 17 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der die Asylbehörde systematisch verpflichtet ist, dann, wenn mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betraute Fachbehörden mit einer nicht begründeten Stellungnahme festgestellt haben, dass eine Person eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle, auf der Grundlage dieser Stellungnahme diese Person von der Gewährung subsidiären Schutzes auszuschließen bzw. einen dieser Person zuvor gewährten internationalen Schutz abzuerkennen.

 Zur fünften Frage

87      Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein Antragsteller aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung, die den zuständigen Behörden bereits bekannt war, nach dieser Bestimmung von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen ist, wenn die zuständigen Behörden diesem Antragsteller als Ergebnis eines früheren Verfahrens einen Flüchtlingsstatus zuerkannt haben, der ihm später aberkannt worden ist.

88      Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 bestimmt, dass ein Drittstaatsangehöriger von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen ist, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er eine schwere Straftat begangen hat.

89      Da der in dieser Bestimmung vorgesehene Grund für den Ausschluss vom subsidiären Schutz somit allgemein auf eine schwere Straftat abstellt, ist er weder territorial noch zeitlich noch in Bezug auf die Art der in Rede stehenden Straftaten beschränkt (Urteile vom 13. September 2018, Ahmed, C‑369/17, EU:C:2018:713, Rn. 47, sowie vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 155).

90      Folglich sieht Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 in keiner Weise vor, dass die dort genannte schwere Straftat erst kürzlich begangen worden sein muss oder dass in dem Fall, dass der Antragsteller nacheinander mehrere Verfahren des internationalen Schutzes eingeleitet hat, eine schwere Straftat, die in einem ersten Verfahren nicht als Grund für die Anwendung einer Ausschlussklausel angesehen wurde, später nicht mehr berücksichtigt werden könnte. Die Verwendung des Ausdrucks „ist … ausgeschlossen“ in dieser Bestimmung bedeutet vielmehr, dass die Asylbehörde, sobald sie festgestellt hat, dass die betreffende Person eine schwere Straftat begangen hat, über keinen Ermessensspielraum verfügt.

91      Auch aus anderen Bestimmungen der Richtlinien 2011/95 oder 2013/32 geht nicht hervor, dass die Asylbehörde nach der Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft für die Zukunft an Beurteilungen gebunden wäre, die in dem Verfahren, das zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt hat, über die Anwendung einer Ausschlussklausel getroffen wurden.

92      Allerdings darf sich die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats auf den in Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 vorgesehenen Ausschlussgrund, der sich auf die Begehung einer schweren Straftat durch die Person, die internationalen Schutz beantragt, bezieht, erst berufen, nachdem sie in jedem Einzelfall eine Würdigung der genauen tatsächlichen Umstände, die ihr bekannt sind, vorgenommen hat, um zu ermitteln, ob schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass die Handlungen des Betreffenden, der im Übrigen die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erfüllt, unter diesen Ausschlusstatbestand fallen, wobei die Beurteilung der Schwere der fraglichen Straftat eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls erfordert (Urteil vom 2. April 2020, Kommission/Polen, Ungarn und Tschechische Republik [Vorübergehender Umsiedlungsmechanismus für internationalen Schutz beantragende Personen], C‑715/17, C‑718/17 und C‑719/17, EU:C:2020:257, Rn. 154).

93      Auf die fünfte Frage ist daher zu antworten, dass Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er dem nicht entgegensteht, dass ein Antragsteller aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung, die den zuständigen Behörden bereits bekannt war, nach dieser Bestimmung von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen ist, wenn die zuständigen Behörden diesem Antragsteller als Ergebnis eines früheren Verfahrens einen Flüchtlingsstatus zuerkannt haben, der ihm später aberkannt worden ist.

 Kosten

94      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ist in Verbindung mit Art. 45 Abs. 4 dieser Richtlinie sowie unter Berücksichtigung des allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatzes betreffend das Recht auf eine gute Verwaltung und von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass

er einer nationalen Regelung entgegensteht, die vorsieht, dass dann, wenn eine Entscheidung über die Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz oder die Aberkennung eines solchen Schutzes auf Informationen, deren Offenlegung die nationale Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats gefährden würde, beruht, die betroffene Person oder ihr Rechtsberater nur nach einer entsprechenden Genehmigung Zugang zu diesen Informationen erhalten können, ihnen nicht einmal der wesentliche Inhalt der Gründe, auf denen solche Entscheidungen beruhen, mitgeteilt wird und sie die Informationen, zu denen sie Zugang hätten erhalten können, jedenfalls nicht für Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren verwenden dürfen.

2.      Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 11 Abs. 2 sowie Art. 45 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 sind in Verbindung mit Art. 14 Abs. 4 Buchst. a und Art. 17 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes

dahin auszulegen, dass

sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, nach der die Asylbehörde systematisch verpflichtet ist, dann, wenn mit Aufgaben der nationalen Sicherheit betraute Fachbehörden mit einer nicht begründeten Stellungnahme festgestellt haben, dass eine Person eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstelle, auf der Grundlage dieser Stellungnahme diese Person von der Gewährung subsidiären Schutzes auszuschließen bzw. einen dieser Person zuvor gewährten internationalen Schutz abzuerkennen.

3.      Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95

ist dahin auszulegen, dass

er dem nicht entgegensteht, dass ein Antragsteller aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung, die den zuständigen Behörden bereits bekannt war, nach dieser Bestimmung von der Gewährung subsidiären Schutzes ausgeschlossen ist, wenn die zuständigen Behörden diesem Antragsteller als Ergebnis eines früheren Verfahrens einen Flüchtlingsstatus zuerkannt haben, der ihm später aberkannt worden ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Ungarisch.


i      Die vorliegende Sprachfassung ist in Rn. 49 gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.