Language of document : ECLI:EU:C:2022:821

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ANTHONY COLLINS

vom 20. Oktober 2022(1)

Rechtssache C412/21

Dual Prod SRL

gegen

Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Cluj-Napoca, Comisia regională pentru autorizarea operatorilor de produse supuse accizelor armonizate

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Satu Mare [Landgericht Satu Mare, Rumänien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verbrauchsteuer – Richtlinie 2008/118/EG – Art. 16 – Maßnahme zur Aussetzung der Erlaubnis eines zugelassenen Lagerinhabers – Parallele Verfahren – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 48 Abs. 1 – Unschuldsvermutung – Art. 50 – Grundsatz ne bis in idem“






I.      Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Satu Mare (Landgericht Satu Mare, Rumänien) hat folgenden Sachverhalt zum Gegenstand. Die Dual Prod SRL, eine Gesellschaft mit Sitz in Rumänien, ist berechtigt, ein Steuerlager zu betreiben, in dem sie u. a. Alkohol herstellt. Nachdem bei einer Kontrolle eine Reihe von Unregelmäßigkeiten in den Räumlichkeiten festgestellt worden waren, setzten die zuständigen Behörden diese Zulassung für acht Monate aus. Im Anschluss an diese Kontrolle wurde beschlossen, ein Strafverfahren gegen Dual Prod einzuleiten. In Erwartung des Ergebnisses dieses Verfahrens wurde die Zulassung von Dual Prod ein zweites Mal ausgesetzt. Im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht macht Dual Prod geltend, dass die zweite Aussetzung gegen die Unschuldsvermutung in Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und gegen den Grundsatz ne bis in idem in deren Art. 50 verstoße.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

2.        Art. 16 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG(2) lautet:

„(1)      Die Eröffnung und der Betrieb eines Steuerlagers durch einen zugelassenen Lagerinhaber bedürfen der Zulassung durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaates, in dem das Steuerlager belegen ist.

Die Zulassung unterliegt den Bedingungen, die die Behörden zur Vorbeugung von Steuerhinterziehung oder ‑missbrauch festlegen können.

(2)      Der zugelassene Lagerinhaber ist verpflichtet:

a)      erforderlichenfalls eine Sicherheit zur Abdeckung der mit der Herstellung, der Verarbeitung und der Lagerung der verbrauchsteuerpflichtigen Waren verbundenen Risiken zu leisten;

b)      den von dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sich das Steuerlager befindet, vorgeschriebenen Verpflichtungen nachzukommen;

c)      eine nach Lagern getrennte Buchhaltung über die Bestände und Warenbewegungen verbrauchsteuerpflichtiger Waren zu führen;

d)      alle in einem Verfahren der Steueraussetzung beförderten verbrauchsteuerpflichtigen Waren nach Beendigung der Beförderung in sein Steuerlager zu verbringen und in seinen Büchern zu erfassen, sofern Artikel 17 Absatz 2 keine Anwendung findet;

e)      alle Maßnahmen zur Kontrolle oder zur amtlichen Bestandsaufnahme zu dulden.

…“

B.      Rumänisches Recht

3.        Art. 364 Abs. 1 Buchst. d der Legea nr. 227/2015 privind Codul fiscal (Gesetz Nr. 227/2015 über das Steuergesetzbuch) vom 8. September 2015(3) (im Folgenden: Steuergesetzbuch) sieht vor, dass eine Zulassung für ein Steuerlager nicht erteilt wird, wenn der Antragsteller wegen bestimmter Straftaten, einschließlich Straftaten nach dem Steuergesetzbuch, rechtskräftig verurteilt wurde.

4.        Gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. b des Steuergesetzbuchs kann die Zulassung für ein Steuerlager für einen Zeitraum von einem bis zu zwölf Monaten ausgesetzt werden, wenn festgestellt wird, dass die u. a. in Art. 452 Abs. 1 Buchst. i genannten Handlungen begangen wurden(4). Nach Art. 369 Abs. 3 Buchst. c des Steuergesetzbuchs wird diese Zulassung bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens wegen einer in Art. 364 Abs. 1 Buchst. d genannten Straftat ausgesetzt. Die letztgenannte Bestimmung schließt Straftaten nach dem Steuergesetzbuch ein.

5.        Nach Art. 452 Abs. 1 Buchst. h des Steuergesetzbuchs macht sich strafbar, wer verbrauchsteuerpflichtige Waren, die nicht oder nicht ordnungsgemäß gekennzeichnet sind, in Mengen, die die im Steuergesetzbuch festgelegten Schwellenwerte überschreiten, außerhalb eines Steuerlagers aufbewahrt oder in Rumänien in den Verkehr bringt.

6.        Nach Art. 452 Abs. 1 Buchst. i des Steuergesetzbuchs ist es strafbar, bewegliche Rohrleitungen, elastische Schläuche oder andere Leitungen ähnlicher Art oder ungeeichte Tanks zu verwenden oder vor Zählern Behältnisse oder Hähne aufzustellen, durch die vom Zähler nicht erfasste Alkohol- oder Destillatmengen entnommen werden können.

III. Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

7.        Dual Prod ist ein zugelassener Lagerinhaber, der in seinem Steuerlager Alkohol und alkoholische Getränke herstellt. Am 1. August 2018 wurde bei einer von den Zollbehörden veranlassten Kontrolle dieser Räumlichkeiten festgestellt, dass ein mobiles System von Rohren und Schläuchen installiert worden war, durch das Alkohol entnommen wurde, ohne dass er ordnungsgemäß verbucht wurde. Eine Alkoholmenge wurde auch in einem Tank außerhalb des Steuerlagers gefunden.

8.        Am folgenden Tag versiegelten die Zollbehörden die Räumlichkeiten von Dual Prod mit der Begründung, dass gegen die im Steuergesetzbuch vorgeschriebene Sonderregelung für den Umgang mit verbrauchsteuerpflichtigen Waren verstoßen worden sei. In einem anschließenden Verfahren stellte die Curtea de Apel Oradea – Secția de contencios administrativ (Berufungsgericht Oradea – Abteilung für Verwaltungssachen, Rumänien) fest, dass die Versiegelung des Betriebsgeländes rechtswidrig gewesen sei, da sie in Ermangelung einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung über das Verschulden von Dual Prod einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung darstelle.

9.        Am 5. September 2018 setzten die Zollbehörden die Zulassung von Dual Prod gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. b des Steuergesetzbuchs in Verbindung mit dessen Art. 452 Abs. 1 Buchst. h für einen Zeitraum von zwölf Monaten aus. Den schriftlichen Erklärungen der rumänischen Regierung zufolge wurde diese vorsorgliche Verwaltungsmaßnahme aufgrund von Beweisen ergriffen, die bei der Nachprüfung zutage getreten seien und ernsthafte Zweifel an der Einhaltung der Steuerregelung und der Zulassungsbedingungen durch Dual Prod hätten aufkommen lassen. Auf die Klage von Dual Prod gegen diese Aussetzung hin verkürzte die Curtea de Apel Oradea (Berufungsgericht Oradea) die Dauer der Aussetzung auf acht Monate.

10.      Im anschließenden Strafverfahren wurden die in Art. 452 Abs. 1 Buchst. h und i des Steuergesetzbuchs angesprochenen Umstände festgestellt, die Personen innerhalb von Dual Prod betrafen. Am 14. Januar 2020 wurde Dual Prod zum Beschuldigten. Am 21. Oktober 2020 wurde Dual Prod förmlich angeklagt, Straftaten nach Art. 452 Abs. 1 Buchst. h und i des Steuergesetzbuchs begangen zu haben. Am 19. November 2020 wurde die Zulassung von Dual Prod gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. c des Steuergesetzbuchs bis zum Abschluss dieses Strafverfahrens ausgesetzt.

11.      Dual Prod focht diese zweite Aussetzung vor dem vorlegenden Gericht an, das beschlossen hat, dem Gerichtshof der Europäischen Union die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 48 Abs. 1 der Charta, in dem der Grundsatz der Unschuldsvermutung verankert ist, in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen, dass er einer Rechtslage wie der im vorliegenden Fall entgegensteht/nicht entgegensteht, nach der eine Verwaltungsmaßnahme zur Aussetzung einer Zulassung der Ausübung der Tätigkeit als Alkoholhersteller auf der Grundlage bloßer Vermutungen angeordnet werden kann, die Gegenstand laufender strafrechtlicher Ermittlungen sind, ohne dass eine rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilung vorliegt?

2.      Ist Art. 50 der Charta, in dem der Grundsatz ne bis in idem verankert ist, in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 dahin auszulegen, dass er einer Rechtslage wie der im vorliegenden Fall entgegensteht/nicht entgegensteht, nach der gegen dieselbe Person wegen derselben Tat zwei gleichartige Sanktionen (die Aussetzung der Zulassung der Ausübung der Tätigkeit als Alkoholhersteller) verhängt werden können, wobei der einzige Unterschied in der Dauer der Sanktionen besteht?

12.      Dual Prod, die italienische und die rumänische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht.

13.      Dual Prod macht erstens geltend, dass die Aussetzung ihrer Zulassung bis zum Abschluss des Strafverfahrens schwerwiegende Folgen für die Ausübung ihrer Geschäftstätigkeit habe und gegen die Unschuldsvermutung in Art. 48 Abs. 1 der Charta verstoße. Zweitens werde gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen, wenn eine Person wegen desselben Sachverhalts zweimal bestraft werde, wie dies bei den beiden Aussetzungen nach Art. 369 Buchst. b und c des Strafgesetzbuchs der Fall sei, und zwar unabhängig von der Art der zu verhängenden Sanktionen. Außerdem hätten die Aussetzungen aufgrund ihres Strafcharakters und ihres engen Zusammenhangs mit dem gegen sie anhängigen Strafverfahren strafrechtlichen Charakter.

14.      Die italienische Regierung, die rumänische Regierung und die Kommission tragen vor, dem in der Vorlageentscheidung dargestellten Sachverhalt sei zu entnehmen, dass die Aussetzungen keinen strafrechtlichen Charakter hätten und zur Verhinderung von Steuerhinterziehung und ‑missbrauch im Sinne von Art. 16 der Richtlinie 2008/118 erlassen worden seien. Die Anhängigkeit eines Strafverfahrens stehe der Verhängung solcher Maßnahmen nicht entgegen. Die Kommission hält darüber hinaus Art. 41 der Charta bei der Beurteilung der Frage für relevant, ob die Aussetzungen bei kumulativer Betrachtung mit dem Recht auf eine gute Verwaltung, insbesondere dem Recht einer Person, ihre Angelegenheiten innerhalb einer angemessenen Frist erledigt zu sehen, vereinbar seien.

IV.    Rechtliche Würdigung

A.      Anwendung von Art. 48 Abs. 1 und Art. 50 der Charta sowie der entsprechenden Bestimmungen der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK)

15.      Die Europäische Union ist der EMRK nicht beigetreten, so dass dieses Rechtsinstrument nicht förmlich in die Unionsrechtsordnung aufgenommen worden ist. Gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV sind die von der EMRK anerkannten Grundrechte, die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, allgemeine Grundsätze des Unionsrechts. Art. 52 Abs. 3 der Charta, wonach die in der Charta enthaltenen Rechte, die den in der EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben wie die in der EMRK verankerten Rechte, soll die Kohärenz zwischen diesen Rechten gewährleisten, ohne die Autonomie des Unionsrechts und des Gerichtshofs zu beeinträchtigen(5).

16.      Die Fragen des vorlegenden Gerichts beziehen sich auf die Dual Prod erteilte „Zulassung der Tätigkeit als Alkoholhersteller“. Ich verstehe dies so, dass es sich um eine Zulassung im Sinne von Art. 16 der Richtlinie 2008/118 handelt, die unter den im nationalen Recht festgelegten Bedingungen entzogen wurde, um einer möglichen Steuerhinterziehung oder einem möglichen Steuermissbrauch vorzubeugen. Gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta fallen die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften in den Anwendungsbereich des Unionsrechts. Die Charta ist daher grundsätzlich auf die in den Fragen an den Gerichtshof aufgeworfenen Probleme anwendbar(6).

17.      Nach Art. 48 Abs. 1 der Charta, auf den die erste Frage Bezug nimmt, gilt jede angeklagte Person bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis ihrer Schuld als unschuldig. Demnach ist es nicht Sache des Angeklagten, seine Unschuld zu beweisen. Damit ein Gericht strafrechtliche Sanktionen verhängen kann, muss die Staatsanwaltschaft rechtlich hinreichend nachweisen, dass der Angeklagte der ihm zur Last gelegten Straftaten schuldig ist. Äußerungen der Behörden, wonach ein Angeklagter einer Straftat schuldig sei, bevor ein Strafverfahren zu einer Verurteilung geführt hat, verstoßen gegen diese Vermutung, da sie das Gericht beeinflussen und die Öffentlichkeit zu der Annahme veranlassen können, dass der Angeklagte schuldig sei(7).

18.      Die Unschuldsvermutung steht jedoch geeigneten und verhältnismäßigen Maßnahmen nicht entgegen, die darauf abzielen, eine tatsächliche und erhebliche Gefahr zu mindern, dass Angeklagte die ihnen vorgeworfene Straftat wieder oder weiter begehen oder sich der Justiz dadurch entziehen, dass sie sich nicht vor Gericht verantworten oder den Ablauf des Verfahrens unzulässig beeinflussen. Entscheidungen über Untersuchungshaft und Kaution sind Maßnahmen dieser Art(8).

19.      Der Gerichtshof hat entschieden, dass die in Art. 48 der Charta verankerte Unschuldsvermutung auch zugunsten juristischer Personen gilt(9). Diese Bestimmung gilt jedoch im Rahmen von Strafverfahren und Verfahren, die zu strafrechtlichen Sanktionen führen, ebenso wie die entsprechende Bestimmung in Art. 6 Abs. 2 EMRK(10).

20.      Nach Art. 50 der Charta, auf den die zweite Frage Bezug nimmt, „[darf n]iemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden“. Der Grundsatz ne bis in idem verbietet die Verdoppelung von Verfahren und Strafen strafrechtlicher Art wegen derselben Tat und gegen dieselbe Person(11). Er entspricht Art. 4 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK(12).

B.      Handelt es sich bei der zweiten Aussetzung um eine strafrechtliche Maßnahme?

21.      Um festzustellen, ob eine Maßnahme im Sinne der Charta und der EMRK strafrechtlicher Natur ist, sind drei Kriterien maßgeblich. Das erste ist die rechtliche Einstufung der Zuwiderhandlung nach nationalem Recht, das zweite ist ihr Wesen und das dritte ist die Schwere der Strafe, die verhängt werden kann(13). Die Erfüllung des ersten Kriteriums ist nicht ausschlaggebend. Wird die betreffende Zuwiderhandlung nach innerstaatlichem Recht nicht als strafbar angesehen, so ist zu prüfen, ob ihr strafrechtlicher Charakter anhand der beiden anderen Kriterien, die kumulativ oder getrennt angewandt werden können, festgestellt werden kann(14).

22.      Im vorliegenden Fall sieht das nationale Recht die Aussetzung einer Zulassung bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens wegen einer Straftat im Sinne von Art. 364 Abs. 1 Buchst. d des Steuergesetzbuchs vor. Weder der Vorlageentscheidung noch den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen ist zu entnehmen, dass die Aussetzung einer Zulassung im Fall einer strafrechtlichen Verfolgung nach nationalem Recht strafrechtlichen Charakter hat. Die zuständige Behörde, die meines Erachtens diejenige ist, die die Zulassung erteilt hat, ist befugt, diese auszusetzen, und nicht die Behörde, die eine Strafverfolgung nach dem Steuergesetzbuch betreibt.

23.      Ich werde daher prüfen, wie die beiden anderen Kriterien in der Rechtsprechung des Gerichtshofs und des EGMR angewandt worden sind, bevor ich mich mit der Frage befasse, wie diese Rechtsprechung auf die streitige Aussetzung vor dem vorlegenden Gericht angewendet werden könnte.

1.      Rechtsprechung des Gerichtshofs

24.      Sanktionen im Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik, die in der Zahlung eines Zuschlags bestehen, der auf der Grundlage des zu Unrecht gezahlten Beihilfebetrags berechnet wird, und der Ausschluss eines Erzeugers von der Beihilfe für einen Zeitraum nach Auftreten einer Unregelmäßigkeit wurden nicht als strafrechtliche Sanktionen betrachtet(15). Im Bereich der Ausfuhrerstattungen wurde eine Sanktion, die im Verhältnis zu dem von einem Ausführer zu Unrecht erhaltenen Betrag festgelegt wurde, nicht als strafrechtliche Sanktion angesehen(16). Im Bereich des öffentlichen Auftragswesens wurde die Entscheidung, Bewerber ohne vollständige Prüfung ihres Angebots von einem Vergabeverfahren auszuschließen, weil sie wegen falscher Angaben verurteilt worden waren, nicht als strafrechtliche Sanktion angesehen(17).

25.      Die Entscheidung einer Finanzaufsichtsbehörde, einem Mitglied der Geschäftsleitung einer beaufsichtigten Wertpapierfirma die Ausübung seiner Tätigkeit zu untersagen, weil er sich als nicht vertrauenswürdig erwiesen hatte, fiel nicht in den Anwendungsbereich des Strafrechts. Nach der Richtlinie 2004/39/EG(18) kann eine Aufsichtsbehörde die Zulassung einer Wertpapierfirma verweigern oder entziehen, wenn sie nicht davon überzeugt ist, dass die Personen, die sie leiten, ausreichend gut beleumdet sind. Unbeschadet der Verfahren für den Entzug einer Zulassung oder des Rechts der Mitgliedstaaten, strafrechtliche Sanktionen zu verhängen, könnten geeignete nicht strafrechtliche Sanktionen verhängt werden. Der Gerichtshof hat befunden, dass die Maßnahmen, die eine Behörde ergreifen muss, wenn sie feststellt, dass eine Person das Erfordernis der Zuverlässigkeit nicht mehr erfüllt, zu den Verfahren für den Entzug einer Zulassung gehören. Ihre Anwendung habe nichts mit Fällen zu tun, die unter das Strafrecht im Sinne der Richtlinie fielen(19).

26.      Der Gerichtshof kam zu diesem Ergebnis durch eine kontextbezogene Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie. Generalanwältin Kokott, die in derselben Rechtssache die Engel-Kriterien anwandte, vertrat ebenfalls die Auffassung, dass die Entscheidung der Behörde keinen strafrechtlichen Charakter im Sinne von Art. 50 der Charta habe. Die fragliche Entscheidung könne nicht in einer für das Strafrecht typischen Weise gegen Mitglieder der Allgemeinheit verhängt werden. Sie könne sich nur gegen die Personen richten, die sich entschlossen hätten, Leitungsfunktionen in zulassungspflichtigen Wertpapierfirmen auszuüben. Die Feststellung, dass das Vertrauen in den Geschäftsführer nicht mehr gegeben sei, bestrafe diesen nicht, sondern schütze die Anleger und gewährleiste die Stabilität des Finanzsystems. Vielmehr war sie lediglich eine unmittelbare Rechtsfolge der Richtlinie, dass nur Personen mit gutem Leumund bestimmte Funktionen übernehmen dürfen, und hatte keinen Strafzweck. Die Entscheidung habe zwar weitreichende Folgen für den Betroffenen, verbiete ihm aber weder die Ausübung anderer beruflicher Tätigkeiten noch schließe sie ihn dauerhaft von der Tätigkeit als Geschäftsführer einer Wertpapierfirma aus(20).

27.      Andererseits gilt die Unschuldsvermutung für die Verhängung von Geldbußen in wettbewerbsrechtlichen Fällen, die bis zu 10 % des betreffenden Umsatzes betragen können(21). Ebenso wurde eine Geldstrafe, die bis zum Zehnfachen des durch die Marktmanipulation erzielten Erlöses oder Gewinns betragen kann, aufgrund ihrer Schwere als von strafrechtlicher Natur eingestuft(22). Im Fall der Nichtzahlung der Mehrwertsteuer wurde eine Geldstrafe in Höhe von 30 % der geschuldeten Mehrwertsteuer als strafrechtliche Sanktion angesehen(23). Die Verhängung von Strafpunkten gegen Fahrzeugführer wegen eines Verkehrsdelikts wurde als im Zusammenhang mit der Begehung einer Straftat stehend angesehen, wenn berücksichtigt wurde, dass i) sie im Zusammenhang mit Verkehrsverstößen einer bestimmten Schwere verhängt werden, ii) sie zusätzlich zur Strafe für die Begehung solcher Verstöße verhängt werden, und iii) ihre Anhäufung Rechtsfolgen wie die Verpflichtung zur Ablegung einer Fahrprüfung oder ein Fahrverbot nach sich zieht(24). In einer anderen Rechtssache vertrat Generalanwalt Bot die Auffassung, dass ein Zollvergehen, das mit dem Straftatbestand des Schmuggels identisch ist und mit Strafen von bis zum Zehnfachen des geschuldeten Steuerbetrags geahndet wird, strafrechtlicher Natur ist(25).

2.      Rechtsprechung des EGMR

28.      Der EGMR ist der Auffassung, dass Straftaten, die zu einer Vorstrafe oder einer Ersatzfreiheitsstrafe führen können, per definitionem strafbar seien, ebenso wie solche, die zu Geldstrafen führen, die bei Nichterfüllung eine Ersatzfreiheitsstrafe nach sich ziehen(26).

29.      Der EGMR hat entschieden, dass der strafrechtliche Teil von Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht auf Disziplinarverfahren wegen beruflicher Verfehlungen gegen einen Rechtsanwalt anwendbar ist. Die fraglichen Bestimmungen richteten sich nicht an die Allgemeinheit, sondern an die Mitglieder einer Berufsgruppe, die einen besonderen Status besaß; sie sollten sicherstellen, dass die Mitglieder der Anwaltskammern bestimmte Berufsregeln einhalten; die anwendbaren Sanktionen umfassten einen schriftlichen Verweis, eine Geldstrafe von bis zu ca. 36 000 Euro, die vorübergehende Aussetzung des Rechts auf Berufsausübung oder die Streichung aus dem Verzeichnis. Der EGMR befand, dass diese Sanktionen mit Ausnahme der Geldbuße für Disziplinarstrafen charakteristisch seien. Außerdem führte die Nichtzahlung der Geldstrafe nicht zur Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe(27). Ebenso wurden Disziplinarverfahren, die zur Zwangspensionierung oder Entlassung eines Beamten führten, nicht als strafrechtliche Vorwürfe betrachtet(28). Der Entzug einer Lizenz für den Ausschank alkoholischer Getränke in einer Gaststätte, weil der Lizenzinhaber als ungeeignet angesehen wurde, führte nicht zur Feststellung eines strafrechtlichen Vorwurfs(29); auch der dauerhafte Entzug der Zulassung eines Konkursverwalters wurde nicht als Sanktion im Sinne von Art. 7 EMRK eingestuft(30). Andererseits vertrat der EGMR die Auffassung, dass Zuwiderhandlungen im Zusammenhang mit Marktmanipulation, die zu Geldstrafen mit erheblichen finanziellen Auswirkungen führen, strafrechtlicher Natur seien(31).

3.      Anwendung der Rechtsprechung auf die zweite Aussetzung

30.      Auch wenn es letztlich Sache des vorlegenden Gerichts ist, darüber zu entscheiden, bin ich aus den folgenden Gründen nicht davon überzeugt, dass die zweite Aussetzung strafrechtlichen Charakter im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung hat(32).

31.      Die Richtlinie 2008/118 zielt darauf ab, die Bedingungen für die Erhebung von Steuern auf verbrauchsteuerpflichtige Waren zu harmonisieren, um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarkts zu gewährleisten. Das System der von den zuständigen Behörden zulassungspflichtigen Steuerlager ist ein wesentlicher Bestandteil dieses Systems. Nach Art. 16 der Richtlinie 2008/118 unterliegen die Zulassungen den Bedingungen, die die nationalen Behörden festlegen können, um Steuerhinterziehung oder ‑missbrauch zu verhindern. Damit soll das reibungslose Funktionieren des Systems der harmonisierten Verbrauchsteuern auf Waren im Binnenmarkt erleichtert und sichergestellt werden, dass diejenigen, die sich an die Vorschriften halten, gegenüber denjenigen, die dies nicht tun, keine Wettbewerbsnachteile erleiden und dass dem Staat keine Einnahmen entgehen.

32.      Wenn zu befürchten ist, dass gegen die an eine Zulassung geknüpften Bedingungen verstoßen wurde oder in Zukunft verstoßen werden könnte, ist die vorübergehende Aussetzung einer Zulassung eine Maßnahme, mit der sichergestellt werden soll, dass die in der vorstehenden Nummer der vorliegenden Schlussanträge dargestellten Ziele nicht gefährdet werden. Solche Umstände sind vergleichbar mit dem vorübergehenden Ausschluss eines Geschäftsführers im Zusammenhang mit einem Marktmissbrauchsdelikt, der als vorbeugende Maßnahme angesehen wurde, die so schnell wie möglich ergriffen werden sollte, um weiteres schädliches Fehlverhalten zu verhindern, bis ein Strafverfahren wegen desselben Verhaltens eingeleitet wird(33). In ähnlicher Weise können Personen, die gegenüber ihren Kunden oder der Öffentlichkeit eine Vertrauensstellung innehaben, wie Ärzte, Tierärzte, Lehrer oder Angehörige der Polizei, von ihren Aufgaben suspendiert werden, bis die Untersuchung eines mutmaßlichen Verhaltens abgeschlossen ist, das, falls es sich als zutreffend erweist, diejenigen geschädigt haben könnte, denen gegenüber sie eine berufliche Verpflichtung haben.

33.      Die Aussetzung richtet sich im Übrigen an Personen, die aus freien Stücken eine Zulassung erhalten und sich bereit erklärt haben, die dafür geltenden Bedingungen einzuhalten. Die sich aus der Nichteinhaltung der freiwillig eingegangenen Verpflichtungen ergebenden Konsequenzen haben nicht den gleichen Strafcharakter wie die Verhängung einer Ersatzfreiheitsstrafe oder einer hohen Geldstrafe für Handlungen, die der Allgemeinheit schaden. Eine Aussetzung bis zum Abschluss eines Ermittlungsverfahrens oder einer Strafverfolgung ist nicht unangemessen, wenn man sich die Verantwortung des zugelassenen Lagerinhabers im Rahmen des Verwaltungssystems der harmonisierten Verbrauchsteuern vor Augen hält. Sie kann auch nicht als besonders schwerwiegend bezeichnet werden, da es einer Person, deren Zulassung ausgesetzt wurde, weiterhin freisteht, ihre Tätigkeit auszuüben und die Räumlichkeiten, die Ausrüstung und das Personal des Unternehmens zu anderen Zwecken als der Herstellung und dem Besitz von Alkohol, für den die Entrichtung der Steuer ausgesetzt wurde, zu nutzen.

34.      Diese Erwägungen gelten meines Erachtens sinngemäß auch für die erste Aussetzung gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. b des Steuergesetzbuchs.

C.      Erste Frage

35.      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 48 Abs. 1 der Charta in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 dem Erlass von Maßnahmen entgegensteht, mit denen die Zulassung, als Alkoholhersteller tätig zu sein, auf der Grundlage bloßer Vermutungen, die Gegenstand eines laufenden strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens sind, ausgesetzt wird.

36.      Nach Art. 16 der Richtlinie 2008/118 ist es Sache der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten, die Eröffnung und den Betrieb von Steuerlagern in ihrem Hoheitsgebiet zuzulassen. Diese Zulassungen sind ausdrücklich an Bedingungen geknüpft, die diese Behörden festlegen können, um Steuerhinterziehung oder ‑missbrauch vorzubeugen. Da die Richtlinie 2008/118 dieses Ziel anerkennt und fördert, sind die nationalen Gerichte und Behörden befugt, die Zulassungen auszusetzen oder zu entziehen, wenn rechtlich hinreichend nachgewiesen ist, dass gegen die geltenden Bedingungen verstoßen wurde oder verstoßen zu werden droht(34).

37.      Da das Unionsrecht keine Vorschriften über die Beweisanforderungen im Zusammenhang mit der Aussetzung oder dem Entzug von Zulassungen im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 enthält, müssen die Behörden die Beweisanforderungen des nationalen Rechts einhalten, sofern diese die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts wie die Grundsätze der Effektivität, der Verhältnismäßigkeit und des Rechts auf eine gute Verwaltung beachten(35).

38.      Die Vorlageentscheidung enthält keine Angaben zu dem für Aussetzungen oder die Strafverfolgung geltenden Beweismaß. Obwohl das vorlegende Gericht andeutet, dass die zweite Aussetzung der Zulassung von Dual Prod auf einer „bloßen Vermutung“ eines Fehlverhaltens beruhte, wird in der Vorlageentscheidung nicht gesagt, wie diese Vermutung funktioniert. Nach Art. 369 Abs. 3 Buchst. c des Steuergesetzbuchs wird die Zulassung bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Strafverfahrens wegen einer Straftat ausgesetzt. Im vorliegenden Fall wurde die Zulassung von Dual Prod nach einer behördlichen Untersuchung ausgesetzt, nachdem in einem Strafverfahren festgestellt worden war, dass die in Art. 452 Abs. 1 Buchst. h und i des Steuergesetzbuchs angesprochenen Umstände vorlagen, und nachdem Dual Prod formell wegen der Begehung einer Straftat angeklagt worden war. Insoweit ist es in Anbetracht der Natur des Systems und der auf dem Spiel stehenden Interessen nicht unangemessen, dass das Gesetz die Möglichkeit vorsieht, eine Zulassung auszusetzen. Meines Erachtens beruht dies nicht auf einer „bloßen Vermutung“ eines Fehlverhaltens, sondern der Beweismaßstab, der für die Eröffnung eines Strafverfahrens gilt, ist in der Tat der Beweismaßstab, der die Verhängung einer Aussetzung nach Art. 369 Abs. 3 Buchst. c des Steuergesetzbuchs rechtfertigt.

39.      Es mag auch von Bedeutung sein, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass eine auf verschuldensunabhängiger Haftung beruhende Bußgeldregelung mit dem Unionsrecht und dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar sein könne, sofern das damit verfolgte Ziel ein öffentliches Interesse darstellt, das die Einführung einer solchen Regelung rechtfertigen kann(36).

40.      Darüber hinaus verlangt das Recht auf eine gute Verwaltung in Art. 41 der Charta, dass die Verwaltungsbehörden bei der Wahrnehmung ihrer Kontrollaufgaben eine sorgfältige, gewissenhafte und unparteiische Prüfung aller relevanten Angelegenheiten vornehmen, damit sie bei der Entscheidung über die Aussetzung einer Zulassung über möglichst vollständige und zuverlässige Informationen verfügen(37).

41.      Es mag auch von Bedeutung sein, dass der Gerichtshof in vergleichbaren Situationen entschieden hat, dass das Unionsrecht es den Behörden nicht verwehrt, Beweise, die in parallelen, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahren erlangt wurden, zum Nachweis rechtswidriger Praktiken im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens zu verwenden, vorausgesetzt, dass alle durch das Unionsrecht garantierten Rechte beachtet werden(38).

42.      Vorbehaltlich der Prüfung der in den Nrn. 37 bis 41 der vorliegenden Schlussanträge genannten Aspekte durch das vorlegende Gericht bin ich daher der Auffassung, dass der Umstand, dass das nationale Recht die Einleitung eines Strafverfahrens gegen Personen vorsieht, die an der rechtswidrigen Herstellung und dem rechtswidrigen Besitz von Alkohol beteiligt sein sollen, nicht bedeutet, dass eine Zulassung zum Betrieb eines Steuerlagers im Sinne von Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 erst ausgesetzt werden kann, wenn dieses Strafverfahren zu einer Verurteilung geführt hat. Die Logik des Vorbringens von Dual Prod besteht nämlich darin, dass das Unternehmen, dem eine Straftat im Zusammenhang mit der Geschäftstätigkeit, die es aufgrund einer Zulassung ausübt(39), zur Last gelegt wird, diese Tätigkeit so lange ausüben kann, bis es wegen dieser Straftat verurteilt wird. Keine Auslegung von Art. 16 der Richtlinie 2008/118 lässt eine solche Schlussfolgerung zu, die zudem die Gefahr mit sich brächte, dass die Wirksamkeit der und das Vertrauen in die in der Richtlinie 2008/118 vorgesehene(n) Regelung für zugelassene Lager erheblich untergraben würden(40).

43.      Gemäß der Pflicht zur Unparteilichkeit und der Unschuldsvermutung darf der Richter in einem anschließenden oder parallelen Strafverfahren die Aussetzungen nicht als Indiz für die Schuld des Angeklagten im Strafverfahren werten. Dies ist offensichtlich der einzige Kontext, in dem die Unschuldsvermutung relevant sein kann, da sie im Rahmen des Verwaltungsverfahrens, das zur Verhängung der zweiten Aussetzung führte, nicht gilt.

44.      Es ist auch von Bedeutung, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass der Grundsatz der Unschuldsvermutung der Anwendung einer gesetzlichen Vermutung in Strafsachen, die die Beweislast auf den Angeklagten verlagert, nicht entgegenstehe, sofern die Vermutung widerlegbar ist und die Verteidigungsrechte gewährleistet sind(41). Solche Vermutungen gelten beispielsweise in dem Bereich des Unionsrechts, der die Ermittlung und Ahndung von Kartellen regelt(42). In ähnlicher Weise hat der EGMR festgestellt, dass Tatsachen- oder Rechtsvermutungen in jeder Rechtsordnung bestehen und dass die EMRK die Berufung auf sie nicht verbietet. Die Mitgliedstaaten sind jedoch verpflichtet, die Anwendung solcher Vermutungen innerhalb angemessener Grenzen zu beschränken, wobei die Bedeutung dessen, was für den Angeklagten auf dem Spiel steht, und die Wahrung der Verteidigungsrechte in Strafverfahren zu berücksichtigen sind(43). Darüber hinaus ist es den Behörden nicht untersagt, auf der Grundlage aller verfügbaren Beweise vernünftige Schlüsse zu ziehen(44). Obwohl diese Überlegungen im Zusammenhang mit Strafverfahren und Sanktionen entwickelt wurden, gelten sie auch für nicht strafrechtliche Angelegenheiten.

45.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die erste Frage dahin zu beantworten, dass Art. 48 Abs. 1 der Charta in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 der Verhängung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion der Aussetzung einer Zulassung zum Zweck der Verhinderung einer möglichen Steuerhinterziehung oder eines möglichen Steuermissbrauchs vor einer rechtskräftigen Verurteilung in einem Strafverfahren nicht entgegensteht und es auch nicht ausschließt, sich in diesem Zusammenhang auf eine Vermutung zu stützen.

D.      Zweite Frage

46.      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob Art. 50 der Charta in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118 es den Behörden verwehrt, eine Zulassung in Bezug auf ein und denselben Sachverhalt zweimal auszusetzen.

47.      Da ich der Auffassung bin, dass keine der beiden Aussetzungen strafrechtlicher Natur ist, findet der Grundsatz ne bis in idem gemäß Art. 50 der Charta und Art. 4 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK keine Anwendung, ebenso wenig wie die Rechtsprechung, die in Fällen entwickelt wurde, in denen eng miteinander verbundene parallele strafrechtliche und nicht strafrechtliche Verfahren auf demselben Sachverhalt beruhen(45). Ich schließe mich auch den Ausführungen der italienischen Regierung an, dass die Vorlageentscheidung nicht hinreichend erläutert, warum der Sachverhalt, der zu den beiden Aussetzungen geführt hat, derselbe ist, da die erste Aussetzung der Vorlageentscheidung zufolge gemäß Art. 452 Abs. 1 Buchst. i des Steuergesetzbuchs erlassen wurde, der sich auf die Verwendung von Geräten bezieht, mit denen Alkohol- oder Destillatmengen ungemessen entnommen werden können, und die zweite gemäß Art. 452 Abs. 1 Buchst. i und h des Steuergesetzbuchs, wobei sich Buchst. h auf die Aufbewahrung verbrauchsteuerpflichtiger Waren außerhalb eines Steuerlagers bezieht. Die zweite Frage ist daher hypothetisch, selbst wenn die Aussetzungen oder eine von ihnen als von strafrechtlicher Natur angesehen würden(46).

48.      Die Kommission ist der Auffassung, dass die Verhängung zweier verwaltungsrechtlicher Sanktionen in Fällen, in denen der Täter, der Sachverhalt und das geschützte Interesse identisch sind, unter Bezugnahme auf die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der guten Verwaltung begrenzt werden sollte, um sicherzustellen, dass sie zusammen genommen nicht von übermäßiger Dauer sind(47). Meines Erachtens gilt der in der vorstehenden Nummer der vorliegenden Schlussanträge dargelegte Einwand: Da erhebliche Ungewissheit darüber besteht, ob die wesentlichen Tatsachen, die zu den beiden Aussetzungen geführt haben, dieselben sind, ist die mögliche Anwendung eines verwaltungsrechtlichen Äquivalents des Grundsatzes ne bis in idem hypothetisch. Es wäre daher nicht sinnvoll, sie im Rahmen dieser Vorlage zur Vorabentscheidung zu prüfen, zumal die Kommission der einzige Verfahrensbeteiligte war, der diese Frage aufgeworfen hat, und das vorlegende Gericht keine hilfsweise formulierte Frage in diesem Sinne gestellt hat.

V.      Ergebnis

49.      Ich schlage daher vor, dass der Gerichtshof die vom Tribunalul Satu Mare (Landgericht Satu Mare, Rumänien) gestellten Fragen wie folgt beantwortet:

Art. 48 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2008/118/EG des Rates vom 16. Dezember 2008 über das allgemeine Verbrauchsteuersystem und zur Aufhebung der Richtlinie 92/12/EWG

ist dahin auszulegen, dass

er der Verhängung einer verwaltungsrechtlichen Sanktion der Aussetzung einer Zulassung zum Zweck der Verhinderung einer möglichen Steuerhinterziehung oder eines möglichen Steuermissbrauchs vor einer rechtskräftigen Verurteilung in einem Strafverfahren nicht entgegensteht und es auch nicht ausschließt, sich in diesem Zusammenhang auf eine Vermutung zu stützen.


1      Originalsprache: Englisch.


2      ABl. 2009, L 9, S. 12.


3      Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 688 vom 10. September 2015.


4      Die in Art. 452 Abs. 1 Buchst. h genannte Handlung gehört offensichtlich nicht zu den aufgeführten Handlungen.


5      Siehe z. B. Urteil vom 2. Februar 2021, Consob (C‑481/19, EU:C:2021:84, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).


6      Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 17 bis 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).


7      Im Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung für natürliche Personen in Strafverfahren siehe Art. 4 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) und z. B. das Urteil vom 5. September 2019, AH u. a. (Unschuldsvermutung) (C‑377/18, EU:C:2019:670, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8      Im Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung natürlicher Personen in Strafverfahren siehe den 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343, der sich auf Verdacht oder belastende Beweismittel gestützte vorläufige Entscheidungen verfahrensrechtlicher Natur wie Entscheidungen über Untersuchungshaft bezieht, und die Erwägungsgründe 18 und 19, die sich auf die öffentliche Verbreitung von Informationen über Strafverfahren beziehen. Vgl. z. B. auch Urteil vom 28. November 2019, Spetsializirana prokuratura (C‑653/19 PPU, EU:C:2019:1024).


9      Vgl. z. B. Urteil vom 8. Juli 1999, Hüls/Kommission (C‑199/92 P, EU:C:1999:358, Rn. 150 und die dort angeführte Rechtsprechung).


10      Siehe Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17). Vgl. z. B. auch Urteil vom 9. September 2021, Adler Real Estate u. a. (C‑546/18, EU:C:2021:711, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung), und Art. 3 der Richtlinie 2016/343.


11      Urteil vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


12      Siehe Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17).


13      Urteil vom 5. Juni 2012, Bonda (C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die drei Kriterien werden auch als „Engel-Kriterien“ bezeichnet, die auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 8. Juni 1976, Engel u. a./Niederlande, CE:ECHR:1976:0608JUD000510071, zurückgehen. Die Engel-Kriterien wurden aufgestellt, um festzustellen, ob eine strafrechtliche Anklage im Sinne von Art. 6 EMRK vorliegt. Um die kohärente Auslegung der EMRK zu erleichtern, hat der EGMR entschieden, dass dieselben Kriterien für die Anwendbarkeit von Art. 7 EMRK und des Grundsatzes ne bis in idem in Art. 4 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK gelten (EGMR, Urteil vom 25. Juni 2020, Ghoumid u. a./Frankreich, CE:ECHR:2020:0625JUD005227316, § 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14      Urteil vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 29 und 30 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


15      Urteile vom 27. Oktober 1992, Deutschland/Kommission (C‑240/90, EU:C:1992:408, Rn. 25 bis 27), vom 11. Juli 2002, Käserei Champignon Hofmeister (C‑210/00, EU:C:2002:440, Rn. 36 bis 44 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 5. Juni 2012, Bonda (C‑489/10, EU:C:2012:319, Rn. 40 bis 46).


16      Urteil vom 6. Dezember 2012, SEPA (C‑562/11, EU:C:2012:779, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


17      Urteil vom 26. September 2014, Flying Holding u. a./Kommission (T‑91/12 und T‑280/12, EU:T:2014:832, Rn. 60 bis 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).


18      Richtlinie 2004/39/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Märkte für Finanzinstrumente, zur Änderung der Richtlinien 85/611/EWG und 93/6/EWG des Rates und der Richtlinie 2000/12/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 93/22/EWG des Rates (ABl. 2004, L 145, S. 1).


19      Urteil vom 13. September 2018, UBS Europe u. a. (C‑358/16, EU:C:2018:715, Rn. 46).


20      Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache UBS Europe u. a. (C‑358/16, EU:C:2017:606, Nrn. 60 bis 71 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch EGMR, Urteil vom 1. Februar 2007, Storbraten/Norwegen (CE:ECHR:2007:0201DEC001227704).


21      Urteil vom 14. Februar 2012, Toshiba Corporation u. a. (C‑17/10, EU:C:2012:72, Rn. 94 und die dort angeführte Rechtsprechung).


22      Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 35).


23      Urteil vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 33).


24      Urteil vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima (Strafpunkte) (C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 86 bis 93 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie EGMR, Urteil vom 23. September 1998, Malige/Frankreich (CE:ECHR:1998:0923JUD002781295, §§ 35 bis 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).


25      Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Karelia (C‑81/15, EU:C:2016:66, Nrn. 44 bis 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).


26      EGMR, Urteil vom 8. Juni 1976, Engel u. a./Niederlande (CE:EHCR:1976:0608JUD000510071, § 82), sowie EGMR, Urteil vom 31. Mai 2011, Žugić/Kroatien (CE:ECHR:2011:0531JUD000369908, § 68).


27      EGMR, Urteil vom 19. Februar 2013, Müller-Hartburg/Österreich (CE:ECHR:2013:0219JUD004719506, §§ 45 bis 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


28      EGMR, Urteil vom 15. Dezember 2020, Pişkin/Türkei (CE:ECHR:2020:1215JUD003339918, §§ 105 bis 109 und die dort angeführte Rechtsprechung).


29      EGMR, Urteil vom 7. Juli 1989, Tre Traktörer Aktiebolag/Schweden (CE:ECHR:1989:0707JUD001087384, § 46).


30      EGMR, Urteil vom 4. Juni 2019, Rola/Slowenien (CE:ECHR:2019:0604JUD001209614, §§ 60 bis 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).


31      EGMR, Urteil vom 4. März 2014, Grande Stevens/Italien (CE:ECHR:2014:0304JUD001864010, §§ 95 bis 101 und die dort angeführte Rechtsprechung).


32      Urteil vom 20. März 2018, Menci (C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


33      Siehe Nr. 26 der vorliegenden Schlussanträge und die dort angeführte Rechtsprechung.


34      Siehe auch die Art. 2, 7 und 8 der Empfehlung der Kommission vom 29. November 2000 zur Festlegung von Leitlinien für die Zulassung von Lagerinhabern gemäß der Richtlinie 92/12/EWG des Rates in Bezug auf verbrauchsteuerpflichtige Waren (ABl. 2000, L 314, S. 29).


35      Vgl. entsprechend Urteile vom 16. Oktober 2019, Glencore Agriculture Hungary (C‑189/18, EU:C:2019:861, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 4. Juni 2020, C.F. (Steuerprüfung) (C‑430/19, EU:C:2020:429, Rn. 45).


36      Siehe z. B. Urteil vom 9. Februar 2012, Urbán (C‑210/10, EU:C:2012:64, Rn. 45 bis 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).


37      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, AGROBET CZ (C‑446/18, EU:C:2020:369, Rn. 42 und 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


38      Urteile vom 17. Dezember 2015, WebMindLicenses (C‑419/14, EU:C:2015:832, Rn. 68), und vom 24. Februar 2022, SC Cridar Cons (C‑582/20, EU:C:2022:114, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).


39      Oder im Zusammenhang mit der ersten Aussetzung gemäß Art. 369 Abs. 3 Buchst. b des Steuergesetzbuchs, wenn es eine Handlung im Sinne von Art. 452 Abs. 1 Buchst. i des Steuergesetzbuchs begangen hat.


40      Vgl. entsprechend im Zusammenhang mit strafrechtlichen Sanktionen, die von einer Verwaltungsbehörde verhängt werden, EGMR, Urteil vom 28. Juni 2018, G.I.E.M. S.r.l. u. a./Italien (CE:ECHR:2018:0628JUD000182806, § 254 und die dort angeführte Rechtsprechung).


41      Urteil vom 23. Dezember 2009, Spector Photo Group und Van Raemdonck (C‑45/08, EU:C:2009:806, Rn. 43 und 44 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


42      Siehe z. B. Urteile vom 7. Januar 2004, Aalborg Portland u. a./Kommission (C‑204/00 P, C‑205/00 P, C‑211/00 P, C‑213/00 P, C‑217/00 P und C‑219/00 P, EU:C:2004:6, Rn. 81 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 27. Januar 2021, The Goldman Sachs Group/Kommission (C‑595/18 P, EU:C:2021:73, Rn. 31 bis 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).


43      EGMR, Urteil vom 7. Oktober 1988, Salabiaku/Frankreich (CE:ECHR:1988:1007JUD001051983, § 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).


44      EGMR, Urteil vom 8. Februar 1996, John Murray/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1996:0208JUD001873191 § 54).


45      EGMR, Urteil vom 15. November 2016, A und B/Norwegen (CE:ECHR:2016:1115JUD002413011), sowie EGMR, Urteil vom 18. Mai 2017, Jóhannesson u. a./Island (CE:ECHR:2017:0518JUD002200711).


46      Beschluss vom 7. Oktober 2013, Società cooperativa Madonna dei miracoli (C‑82/13, EU:C:2013:655, Rn. 12 und die dort angeführte Rechtsprechung).


47      Vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2009, Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission (C‑385/07 P, EU:C:2009:456, Rn. 181 und 182 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch Grundsatz 3 der am 13. Februar 1991 vom Ministerkomitee des Europarats angenommenen Empfehlung Nr. R(91) 1, wonach eine Person nicht zweimal für dieselbe Handlung auf der Grundlage derselben Rechtsnorm oder von Vorschriften zum Schutz desselben sozialen Interesses verwaltungsrechtlich bestraft werden darf.