Language of document : ECLI:EU:C:2022:1004

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 15. Dezember 2022(1)

Rechtssache C618/21

AR,

BF,

ZN,

NK Sp. z o.o., s.k.,

KP,

RD Sp. z o.o.

gegen

PK S.A.,

CR,

SI S.A.,

MB S.A.,

PK S.A.,

SI S.A.,

EZ S.A.

(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Rejonowy dla m.st. Warszawy w Warszawie [Rayongericht für die Hauptstadt Warschau, Polen])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung – Richtlinie 2009/103/EG – Art. 3 – Haftpflicht bei Fahrzeugen – Kfz-Haftpflichtversicherungspflicht – Art. 18 – Direktanspruch – Umfang – Bestimmung des Entschädigungsbetrags – Hypothetische Kosten – Möglichkeit, die Zahlung der Entschädigung von bestimmten Voraussetzungen abhängig zu machen – Verkauf des Fahrzeugs“






I.      Einleitung

1.        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 18 in Verbindung mit Art. 3 der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht(2).

2.        Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen sechs Fahrzeugeigentümern und den Haftpflichtversicherern der Personen, die für die an den Fahrzeugen der Fahrzeugeigentümer verursachten Schäden verantwortlich sind.

3.        Diese Rechtssache bietet dem Gerichtshof erstmals Gelegenheit, den Umfang des Direktanspruchs zu präzisieren, den ein Geschädigter, der den Ersatz sämtlicher durch ein Kraftfahrzeug verursachter Schäden begehrt, gegen ein Versicherungsunternehmen hat.

4.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich darlegen, weshalb ich der Ansicht bin, dass das Unionsrecht dem ausschließlich finanziellen Charakter der von einem Versicherungsunternehmen geschuldeten Leistung nicht entgegensteht und dass die praktische Wirksamkeit der Richtlinie 2009/103 beeinträchtigt würde, wenn der Direktanspruch des Geschädigten begrenzt oder ausgeschlossen werden müsste, weil das beschädigte Fahrzeug nicht tatsächlich repariert wird.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Richtlinie 2009/103

5.        Im 30. Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/103 heißt es:

„(30)      Das Recht, sich auf den Versicherungsvertrag berufen und seinen Anspruch gegenüber dem Versicherungsunternehmen direkt geltend machen zu können, ist für den Schutz des Opfers eines Kraftfahrzeugunfalls von großer Bedeutung. Zur Erleichterung einer effizienten und raschen Regulierung von Schadensfällen und zur weitestmöglichen Vermeidung kostenaufwändiger Rechtsverfahren sollte ein Direktanspruch gegenüber dem Versicherungsunternehmen, das die Haftpflicht des Unfallverursachers deckt, für alle Opfer von Kraftfahrzeugunfällen vorgesehen werden.“

6.        Art. 3 („Kfz-Haftpflichtversicherungspflicht“) der Richtlinie bestimmt:

„Jeder Mitgliedstaat trifft vorbehaltlich der Anwendung des Artikels 5 alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist.

Die Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung werden im Rahmen der in Absatz 1 genannten Maßnahmen bestimmt.

Jeder Mitgliedstaat trifft alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass der Versicherungsvertrag überdies folgende Schäden deckt:

a)      die im Gebiet der anderen Mitgliedstaaten gemäß den Rechtsvorschriften dieser Staaten verursachten Schäden;

b)      die Schäden, die Angehörigen der Mitgliedstaaten auf den direkten Strecken zwischen einem Gebiet, in dem der EG-Vertrag gilt, und einem anderen solchen Gebiet zugefügt werden, wenn für das durchfahrene Gebiet ein nationales Versicherungsbüro nicht besteht; in diesem Fall ist der Schaden gemäß den die Versicherungspflicht betreffenden Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu decken, in dessen Gebiet das Fahrzeug seinen gewöhnlichen Standort hat.

Die in Absatz 1 bezeichnete Versicherung hat sowohl Sachschäden als auch Personenschäden zu umfassen.“

7.        Art. 18 („Direktanspruch“) dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Geschädigte eines Unfalls, der durch ein durch die Versicherung nach Artikel 3 gedecktes Fahrzeug verursacht wurde, einen Direktanspruch gegen das Versicherungsunternehmen haben, das die Haftpflicht des Unfallverursachers deckt.“

B.      Polnisches Recht

8.        Art. 363 § 1 des Kodeks Cywilny (Zivilgesetzbuch) bestimmt:

„Der Schaden ist nach Wahl des Geschädigten entweder durch Wiederherstellung des früheren Zustands oder durch Zahlung eines angemessenen Geldbetrages zu ersetzen. Ist die Wiederherstellung des früheren Zustands jedoch unmöglich oder mit übermäßigen Schwierigkeiten oder Kosten für den Verpflichteten verbunden, beschränkt sich der Anspruch des Geschädigten auf eine Geldzahlung.“

9.        Art. 822 §§ 1 und 4 des Zivilgesetzbuchs sieht vor:

„§ 1:      Mit dem Haftpflichtversicherungsvertrag verpflichtet sich der Versicherer zur Zahlung einer im Vertrag festgelegten Entschädigung für Dritten entstandene Schäden, denen gegenüber der Versicherungsnehmer oder der Versicherte für den Schaden haftet.

§ 4:      Der im Zusammenhang mit einem von einem Haftpflichtversicherungsvertrag umfassten Ereignis zum Schadensersatz Berechtigte kann seinen Anspruch unmittelbar gegen den Versicherer geltend machen.“

III. Sachverhalt der Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10.      Sechs Rechtsstreitigkeiten sind beim Sąd Rejonowy dla m.st. Warszawy w Warszawie (Rayongericht für die Hauptstadt Warschau, Polen) anhängig. Fünf von ihnen haben zum Gegenstand, dass Versicherungsunternehmen, die die Haftpflicht des Verursachers eines Verkehrsunfalls, durch den Schäden an Fahrzeugen verursacht worden sind, decken (Beklagte des Ausgangsverfahrens), sich weigern, den Geschädigten, die ihren Direktanspruch nach Art. 18 der Richtlinie 2009/103 geltend gemacht haben (Kläger des Ausgangsverfahrens), Kosten für die Reparatur dieser Fahrzeuge zu zahlen, die ihnen nicht entstanden sind. Diese Kosten werden vom vorlegenden Gericht als „hypothetische Reparaturkosten“ bezeichnet.

11.      Der sechste Rechtsstreit unterscheidet sich von den vorstehend genannten nur dadurch, dass der Schaden auf das Herunterfallen eines Garagentors zurückzuführen ist, das das Fahrzeug des Klägers des Ausgangsverfahrens zerstört hat.

12.      Diese Rechtsstreitigkeiten ergeben sich daraus, dass die Geschädigten eine Entschädigung in Geld für die an ihren Fahrzeugen entstandenen Schäden auf der Grundlage einer hoch angesetzten Schätzung der Reparaturkosten (Teile und Dienstleistung) und nicht auf der Grundlage von Belegen über ihre Reparaturkosten – mit anderen Worten: die tatsächlich entstandenen Kosten – verlangen. Die Versicherungsunternehmen machen jedoch geltend, dass diese Entschädigung nicht die Höhe des tatsächlich erlittenen, nach der sogenannten Differenzmethode berechneten Schadens übersteigen dürfe. Dieser Betrag müsse der Differenz zwischen dem Wert, den das beschädigte Fahrzeugs ohne den Unfall gehabt hätte, und dem aktuellen Wert dieses Fahrzeugs in seinem beschädigten oder – auch nur teilweise – reparierten Zustand entsprechen.

13.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass der Schadensersatz nach nationalem Recht darauf gerichtet sei, dem Vermögen der geschädigten Partei den Wert zu ersetzen, den es ohne den Schadenseintritt gehabt hätte, ohne es dieser Partei zu ermöglichen, sich zu bereichern.

14.      Nach der polnischen Rechtsprechung gewähren die Gerichte jedoch eine Entschädigung für an Fahrzeugen verursachte Schäden in Höhe der hypothetischen Reparaturkosten, deren Betrag den nach der Differenzmethode ermittelten Vermögensschaden des Geschädigten deutlich übersteigt. Gleiches gilt bei einem Verkauf des beschädigten Fahrzeugs, das die Geschädigten in Zukunft niemals werden reparieren lassen können.

15.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts könnte diese Rechtsprechung, die insofern kritikwürdig sei, als sie es der geschädigten Partei erlaube, sich in bestimmten Fällen zu bereichern, durch den sich aus dem Unionsrecht ergebenden besonderen Schutz der Opfer von Verkehrsunfällen gerechtfertigt werden. Das Gericht hält es daher für erforderlich, den Umfang der Rechte des Geschädigten zu klären, die sich aus dem Direktanspruch, den der Geschädigte gegen das Versicherungsunternehmen geltend machen kann, ergeben.

16.      Das vorlegende Gericht führt hierzu aus, es bestehe ein Konflikt zwischen einerseits diesem Direktanspruch in Verbindung mit dem Umstand, dass der Geschädigte nach polnischem Recht zwei verschiedene Klagen gegen den Unfallverursacher erheben könne, nämlich eine Klage auf Zahlung einer Entschädigung und eine Klage auf Wiederherstellung des Zustands vor Schadenseintritt in natura, und andererseits dem sich aus dem polnischen Schuldrecht ergebenden Grundsatz, dass die vom Haftpflichtversicherer erbrachte Leistung eine „Zahlung“, also eine Geldleistung, sei.

17.      Das vorlegende Gericht möchte daher wissen, ob das Unionsrecht Bestimmungen des nationalen Rechts entgegensteht, die dazu führen, dass dem Geschädigten, der unmittelbar gegen das Versicherungsunternehmen Klage erheben möchte, eine der im nationalen Recht vorgesehenen Möglichkeiten zum Ersatz des Schadens vorenthalten wird, was allgemein abschreckend wäre.

18.      Das vorlegende Gericht stellt sich ebenfalls die Frage, ob der Geschädigte – um die Wirksamkeit seines Antrags nach Art. 18 der Richtlinie 2009/103 zu gewährleisten – gegen den Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers über einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe eines Betrags verfügen muss, der den Kosten entspricht, die erforderlich wären, um die Reparaturen an dem beschädigten Fahrzeug selbst vornehmen zu lassen, ohne diese Reparaturen unterlassen zu können. Somit könnte der Schadensersatz auf einem tatsächlichen Ausgleich beruhen.

19.      Die letzte Frage des vorlegenden Gerichts bezieht sich auf die Situation, in der das beschädigte Fahrzeug nicht mehr repariert werden kann, weil es z. B. verkauft wurde. Das Gericht neigt zu der Auffassung, dass die Entschädigung eines Geschädigten nur der Differenz zwischen dem Preis, den er für das beschädigte Fahrzeug erhalten hat, und dem Preis, den er erhalten hätte, wenn er das unbeschädigte Fahrzeug verkauft hätte, entsprechen darf.

20.      Unter diesen Umständen hat der Sąd Rejonowy dla m.st. Warszawy w Warszawie (Rayongericht für die Hauptstadt Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 18 in Verbindung mit Art. 3 der Richtlinie 2009/103 dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Geschädigter, der den Direktanspruch auf Ersatz des durch Kraftfahrzeuge entstandenen Schadens an seinem Fahrzeug gegen das Versicherungsunternehmen geltend macht, das die Haftpflicht des Unfallverursachers deckt, von dem Versicherungsunternehmen nur Schadensersatz in Höhe seiner tatsächlichen und gegenwärtigen Vermögenseinbuße erlangen kann, d. h. der Differenz zwischen dem Wert des Fahrzeugs in seinem Zustand vor dem Unfall und dem Wert des beschädigten Fahrzeugs, zuzüglich der bereits tatsächlich für die Reparatur des Fahrzeugs entstandenen angemessenen Kosten und anderer tatsächlich infolge des Unfalls entstandenen angemessenen Kosten, während er, wenn er den Ersatz des Schadens unmittelbar vom Unfallverursacher begehren würde, von diesem wahlweise statt einer Entschädigung verlangen könnte, den Zustand des Fahrzeugs vor dem Schadenseintritt wiederherzustellen (Reparatur durch den Verursacher selbst oder durch eine von ihm bezahlte Werkstatt)?

2.      Falls die vorstehende Frage bejaht wird: Ist Art. 18 in Verbindung mit Art. 3 der Richtlinie 2009/103 dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Geschädigter, der den Direktanspruch auf Ersatz des durch Kraftfahrzeuge entstandenen Schadens an seinem Fahrzeug gegen das Versicherungsunternehmen geltend macht, das die Haftpflicht des Unfallverursachers deckt, von dem Versicherungsunternehmen statt Schadensersatz in Höhe seiner tatsächlichen und gegenwärtigen Vermögenseinbuße, d. h. der Differenz zwischen dem Wert des Fahrzeugs in seinem Zustand vor dem Unfall und dem Wert des beschädigten Fahrzeugs, zuzüglich der bereits tatsächlich für die Reparatur des Fahrzeugs entstandenen angemessenen Kosten und anderer tatsächlich infolge des Unfalls entstandenen angemessenen Kosten, nur einen Betrag in Höhe der Kosten für die Wiederherstellung des Zustands des Fahrzeugs vor dem Schadenseintritt erlangen kann, während er, wenn er den Ersatz des Schadens unmittelbar vom Unfallverursacher begehren würde, von diesem wahlweise statt einer Entschädigung verlangen könnte, den Zustand des Fahrzeugs vor Eintritt des Schadens wiederherzustellen (und nicht nur die Mittel zu diesem Zweck zur Verfügung zu stellen)?

3.      Falls die erste Frage bejaht und die zweite Frage verneint wird: Ist Art. 18 in Verbindung mit Art. 3 der Richtlinie 2009/103 dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Versicherungsunternehmen, das vom Eigentümer eines durch Kraftfahrzeuge geschädigten Fahrzeugs zur Zahlung hypothetischer Kosten aufgefordert wird, die ihm nicht entstanden sind, die er aber tragen müsste, wenn er sich dafür entscheiden würde, den Zustand des Fahrzeugs vor dem Unfall wiederherzustellen, dazu berechtigt ist:

a)      diese Auszahlung davon abhängig zu machen, dass der Geschädigte glaubhaft macht, dass er tatsächlich beabsichtigt, das Fahrzeug auf eine bestimmte Art und Weise von einem bestimmten Mechaniker zu einem bestimmten Preis für Teile und Dienstleistung reparieren zu lassen und die Mittel für diese Reparatur diesem Mechaniker (bzw. dem Verkäufer der für die Reparatur unbedingt erforderlichen Teile) direkt zukommen zu lassen, wobei die Auszahlung mit dem Vorbehalt der Erstattung versehen wird, wenn der Zweck, für den die Mittel ausgezahlt wurden, nicht erfüllt werden sollte, und falls nicht:

b)      diese Auszahlung von der Verpflichtung des Verbrauchers abhängig zu machen, entweder innerhalb einer vereinbarten Frist nachzuweisen, dass er die ausgezahlten Mittel zur Reparatur des Fahrzeugs verwendet hat, oder sie dem Versicherungsunternehmen zu erstatten, und falls nicht:

c)      nach Auszahlung dieser Mittel unter Angabe des Zwecks der Auszahlung (Art der Verwendung der Mittel) und Ablauf des unbedingt erforderlichen Zeitraums, in dem der Geschädigte das Fahrzeug reparieren lassen konnte, von ihm den Nachweis, dass diese Mittel für die Reparatur aufgewendet wurden, oder deren Erstattung zu verlangen,

um die Möglichkeit auszuschließen, dass sich der Geschädigte an dem Schaden bereichert?

4.      Falls die erste Frage bejaht und die zweite Frage verneint wird: Ist Art. 18 in Verbindung mit Art. 3 der Richtlinie 2009/103 dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Geschädigter, der nicht mehr Eigentümer des beschädigten Fahrzeugs ist, weil er es veräußert hat und als Gegenleistung dafür Geld erhalten hat, so dass er dieses Fahrzeug nicht mehr reparieren lassen kann, von dem Versicherungsunternehmen, das die Haftpflicht des Unfallverursachers deckt, nicht die Übernahme der Kosten für die Reparatur verlangen kann, die erforderlich wäre, um den Zustand des beschädigten Fahrzeugs vor Eintritt des Schadens wiederherzustellen, und sein Anspruch sich darauf beschränkt, von dem Versicherungsunternehmen Schadensersatz in Höhe seiner tatsächlichen und gegenwärtigen Vermögenseinbuße zu verlangen, d. h. der Differenz zwischen dem Wert des Fahrzeugs in seinem Zustand vor dem Unfall und dem Erlös aus dem Verkauf des Fahrzeugs, zuzüglich der bereits tatsächlich für die Reparatur des Fahrzeugs entstandenen angemessenen Kosten und anderer tatsächlich infolge des Unfalls entstandenen angemessenen Kosten?

21.      KP und RD Sp. z o.o., zwei der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, SI S.A., eine der Beklagten des Ausgangsverfahrens, die polnische, die tschechische und die deutsche Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftlich Stellung genommen.

IV.    Würdigung

A.      Zur Zulässigkeit

22.      Das Vorabentscheidungsersuchen beruht auf der Feststellung des vorlegenden Gerichts, dass das „nationale Schadensersatzrecht … die Versicherungsunternehmen dazu verpflichtet, den Geschädigten die sogenannten hypothetischen Reparaturkosten für das beschädigte Fahrzeug ohne jeden Zusammenhang mit der (zukünftigen) Durchführung der Reparaturen zu zahlen, und es damit den Geschädigten, die ihr Fahrzeug nicht reparieren lassen wollen, ermöglicht, anlässlich des erlittenen Schadens den Wert ihres Vermögens um die Differenz zwischen den Kosten für die Reparatur des beschädigten Fahrzeugs und dem Wertverlust des Fahrzeugs infolge des an diesem entstandenen Schadens – auf Kosten der Versicherungsunternehmen und in weiterer Folge sämtlicher Fahrzeugeigentümer, die Pflichtversicherungsbeiträge zahlen – zu erhöhen“.

23.      Das vorlegende Gericht sucht daher nach einer Lösung, um zu einer Entschädigung zu kommen, deren Höhe möglichst nah an den tatsächlichen Kosten der Geschädigten liegt. So weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Geschädigten beim Versicherer – anders als beim Schadensverursacher – keinen Antrag auf Naturalrestitution in Bezug auf das Fahrzeug stellen könnten.

24.      Diese Feststellung, dass diese beiden Ansprüche, die den Personen, die einen Anspruch auf Ersatz eines an einem Fahrzeug entstandenen Schadens haben, zur Verfügung stehen, im polnischen Recht unterschiedlich geregelt sind, veranlasste das vorlegende Gericht zu der Frage, welchen Umfang und welche Tragweite der Direktanspruch des Geschädigten nach Art. 18 der Richtlinie 2009/103 haben muss, damit seine Wirksamkeit gewährleistet ist. Demnach ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

25.      Nach der vom vorlegenden Gericht angeführten ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich das Vorabentscheidungsersuchen nämlich nicht auf den Umfang der Entschädigung beziehen, der im Wesentlichen durch das nationale Recht geregelt ist(3).

26.      Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 267 AEUV ergibt, dass die beantragte Vorabentscheidung „erforderlich“ sein muss, um dem vorlegenden Gericht den „Erlass seines Urteils“ in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu ermöglichen(4).

27.      Im vorliegenden Fall hat eine der sechs Rechtssachen, mit denen das vorlegende Gericht befasst ist, den Ersatz des Schadens zum Gegenstand, der durch ein Garagentor an einem Fahrzeug entstanden ist.

28.      Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Richtlinie 2009/103 nicht zum Ziel hat, die Haftpflicht zu gewährleisten, wenn der Schaden nicht vom Fahrzeug ausgeht(5). Wegen der Schwere der Sach- oder Personenschäden, die Unfallopfer aufgrund der Gefährlichkeit eines Kraftfahrzeugs, die seiner Bauart und Funktion innewohnt, erleiden können, soll die Richtlinie nämlich einen besonderen Schutz für sie schaffen.

29.      Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/103 sieht zudem vor, dass jeder Mitgliedstaat vorbehaltlich der Anwendung von Art. 5 dieser Richtlinie alle geeigneten Maßnahmen trifft, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei (Verwendung von) Fahrzeugen („circulation de véhicules“) mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist.

30.      Zwar ist der Begriff „Verwendung eines Fahrzeugs“ („circulation de véhicules“), der ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist, vom Gerichtshof insbesondere unter Berücksichtigung des Kontexts von Art. 3 Abs. 1(6) und des Umstands ausgelegt worden, dass das Ziel, die Opfer von durch diese Fahrzeuge verursachten Unfällen zu schützen, vom Unionsgesetzgeber stets verfolgt und gestärkt wurde(7).

31.      Dementsprechend hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/103 dahin auszulegen ist, dass der Begriff „Verwendung eines Fahrzeugs“ im Sinne dieser Bestimmung nicht auf Situationen der Verwendung im Straßenverkehr, d. h. im Verkehr auf öffentlichen Straßen, beschränkt ist und jede Verwendung eines Fahrzeugs umfasst, die dessen gewöhnlicher Funktion als Beförderungsmittel entspricht(8).

32.      Insoweit hat der Gerichtshof klargestellt, dass ein Fahrzeug entsprechend seiner Funktion als Beförderungsmittel verwendet wird, wenn es fährt, aber grundsätzlich auch während des Parkens zwischen zwei Fahrten(9).

33.      Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass ein Sachverhalt, in dem ein in einer Privatgarage eines Hauses abgestelltes, entsprechend seiner Funktion als Beförderungsmittel verwendetes Fahrzeug Feuer fing, durch das ein Brand, dessen Ursache beim Schaltkreis des Fahrzeugs lag, ausgelöst wurde, unter den Begriff „Verwendung eines Fahrzeugs“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/103 zu subsumieren ist(10). Gleiches gilt, wenn der Unfall auf ein Ölleck zurückgeht, das durch den mechanischen Zustand des fraglichen abgestellten Fahrzeugs verursacht wurde(11).

34.      Folglich sind vom Begriff „Verwendung eines Fahrzeugs“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/103 eindeutig Sachverhalte ausgeschlossen, in denen dem Unfall nicht das Verhalten oder eine technische Störung des Fahrzeugs zugrunde liegen.

35.      Außerdem hat der Gerichtshof entschieden, dass der Ausschluss eines Fahrzeugs von der in dieser Bestimmung vorgesehenen Versicherungspflicht es erfordert, dass es gemäß der anwendbaren nationalen Regelung offiziell stillgelegt worden ist(12).

36.      Somit besteht kein Zweifel daran, dass der Anwendungsbereich der Richtlinie 2009/103 in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof auf die Pflicht zur Haftpflichtversicherung für Schäden beschränkt ist, die ein Fahrzeug verursachen kann.

37.      Diese Auslegung kann nicht durch das Argument des vorlegenden Gerichts in Frage gestellt werden, dass es im Wesentlichen eine Gleichbehandlung im Bereich der Haftpflichtversicherung sicherstellen müsse, was die Anrufung des Gerichtshofs im Rahmen des Rechtsstreits über den Ersatz von Schäden, die durch ein Garagentor an einem Fahrzeug verursacht worden seien, rechtfertige.

38.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, das Vorabentscheidungsersuchen in diesem Punkt als unzulässig anzusehen.

39.      Was die Zulässigkeit der gestellten Fragen betrifft, erscheint es mir nicht gerechtfertigt, davon auszugehen, dass – wie die polnische Regierung vorträgt – die ersten beiden Vorlagefragen, von denen die beiden anderen abhängen, hypothetischer Natur seien. Die polnische Regierung macht geltend, dass die Kläger in den Ausgangsverfahren nur die Zahlung einer finanziellen Entschädigung verlangten. Das vorlegende Gericht wirft jedoch gerade die Frage nach dieser Beschränkung der Schadensersatzarten bei Schäden auf, die durch Verkehrsunfälle verursacht wurden. Wenn das Unionsrecht dies nicht vorgibt, sieht sich das vorlegende Gericht berechtigt, die auf einer Kostenschätzung beruhenden Anträge zurückzuweisen.

40.      Unter diesen Umständen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen in ihrer Gesamtheit zu behandeln und anzunehmen, dass das vorlegende Gericht von ihm im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 18 der Richtlinie 2009/103 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die nur die Zahlung einer Entschädigung in Geld an die Geschädigten vorsieht, wenn sie ihren Direktanspruch gegen das Versicherungsunternehmen geltend machen, das die Haftpflicht der Person deckt, die für einen durch ein Fahrzeug verursachten Unfall verantwortlich ist, verbunden mit der Möglichkeit, die tatsächlichen Reparaturkosten im Fall eines an einem anderen Fahrzeug verursachten Schadens nicht belegen zu müssen.

B.      Zur Beantwortung der Vorlagefragen

41.      Das Vorabentscheidungsersuchen veranlasst den Gerichtshof dazu, den Gegenstand der in Art. 18 der Richtlinie 2009/103 vorgesehenen direkten Inanspruchnahme zu bestimmen.

42.      Konkret stellt sich dem vorlegenden Gericht die Frage, ob diese direkte Inanspruchnahme darauf abzielt, dass der Versicherer (anstelle der für den Schaden verantwortlichen Person) dazu verurteilt wird, dem Geschädigten zum Ersatz des von ihm erlittenen Schadens die Leistung zu erbringen, die von der für diesen Schaden verantwortlichen Person geschuldet wird, oder aber darauf, dass der Versicherer dazu verurteilt wird, dem Geschädigten die im Versicherungsvertrag vorgesehene Leistung unmittelbar zu erbringen.

43.      Als Erstes erscheint es mir angebracht, darauf hinzuweisen, dass der Direktanspruch des Geschädigten durch die Richtlinie 2000/26/EG(13) eingeführt wurde, die zu den vier durch die Richtlinie 2009/103 kodifizierten Richtlinien gehört(14).

44.      Dieser Anspruch ist in folgendem Zusammenhang festgeschrieben worden, auf den der Gerichtshof wiederholt hingewiesen hat:

–        die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, in ihrer nationalen Rechtsordnung eine allgemeine Versicherungspflicht für Fahrzeuge vorzusehen, und

–        jeder Mitgliedstaat hat dafür zu sorgen, dass vorbehaltlich bestimmter durch die Richtlinie 2009/103 vorgesehener Ausnahmen jedes Fahrzeug mit gewöhnlichem Standort im Inland von einem mit einem Versicherungsunternehmen abgeschlossenen Vertrag abgedeckt ist, um innerhalb der durch das Unionsrecht definierten Grenzen die Haftpflicht für dieses Fahrzeug zu garantieren(15).

45.      Die Richtlinie 2000/26 hat im Rahmen eines stetig zunehmenden Schutzes von durch Verkehrsunfälle Geschädigten zu deren Gunsten einen Direktanspruch gegen das Versicherungsunternehmen des Unfallverursachers oder seines Vertreters im Wohnsitzstaat des Geschädigten vorgesehen(16). Das Ziel war es, die Rechte der Opfer eines Verkehrsunfalls außerhalb ihres Wohnsitzstaats zu verbessern(17) und die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zu harmonisieren, von denen einige das Recht, unmittelbar Klage gegen den Versicherer des Verursachers erheben zu können, nicht kannten(18).

46.      Zur Erleichterung einer effizienten und raschen Regulierung von Schadensfällen sowie zur weitestmöglichen Vermeidung kostenaufwändiger Rechtsverfahren hat die Richtlinie 2005/14/EG(19) diesen Direktanspruch auf die Opfer aller Kraftfahrzeugunfälle ausgedehnt(20).

47.      Dieses Ziel ist in der Richtlinie 2009/103 erneut zum Ausdruck gebracht worden, in der auf die Bedeutung hingewiesen wird, den bei Kraftfahrzeug-Verkehrsunfällen Geschädigten unabhängig davon, in welchem Land der Union sich der Unfall ereignet, eine vergleichbare Behandlung zu garantieren(21). Im 30. Erwägungsgrund dieser Richtlinie wurde die im 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/14 aufgeführte Definition des Direktanspruchs gegenüber dem Versicherungsunternehmen, das die Haftpflicht des Verursachers eines Unfalls, an dem ein Kraftfahrzeug beteiligt ist, deckt, übernommen.

48.      Als Zweites ist hervorzuheben, dass dieser Anspruch nach diesem Erwägungsgrund definiert wird als „[d]as Recht, sich auf den Versicherungsvertrag berufen und seinen Anspruch gegenüber dem Versicherungsunternehmen direkt geltend machen zu können“.

49.      Wird der Schutz der Haftpflichtversicherung unmittelbar vom Geschädigten ausgelöst, der sein Recht aus Art. 18 der Richtlinie 2009/103 ausübt, garantiert folglich das Versicherungsunternehmen die Haftpflicht des Unfallverursachers in den Grenzen des mit diesem geschlossenen Vertrags(22). Insoweit werden die finanziellen Folgen der Haftpflicht auch dann abgedeckt, wenn der Versicherte die Reparaturen persönlich übernimmt, sowie im Fall von Personenschäden(23).

50.      Da sich die Rechte des Geschädigten ausschließlich aus dem Versicherungsvertrag ergeben(24) oder, mit anderen Worten, den Rechten des Versicherten nachgebildet sind, können sie nur zur Folge haben, dass dem Geschädigten eine Entschädigung gezahlt wird, und zwar diejenige, die der Versicherte vom Versicherungsunternehmen verlangen könnte, wenn er selbst den Geschädigten innerhalb der Grenzen des sie bindenden Vertrags befriedigt hätte. Dieses Ergebnis entspricht – wie die deutsche Regierung hervorhebt – der Tätigkeit von Versicherungsunternehmen.

51.      Mehrere andere Gesichtspunkte stützen eine solche Auslegung. Erstens entspricht der Direktanspruch des Geschädigten dem Ziel einer raschen Regulierung von Schadensfällen und fügt sich in den Rahmen der Kfz-Haftpflichtversicherung ein, deren besondere Bedeutung für die europäischen Bürger, die sich innerhalb der Union bewegen, sowie für die Versicherungsunternehmen der Gesetzgeber hervorgehoben hat(25). Dieser Aspekt der Vorlagefrage wird in Bezug auf grenzüberschreitende Sachverhalte meiner Ansicht nach sowohl von der Kommission als auch von der deutschen Regierung zu Recht betont, und spricht dafür, dass die Schadensersatzart der Naturalrestitution nicht zwingend ist.

52.      Zweitens ergibt sich der Grundsatz einer Entschädigung in Geld aus Art. 22 („Entschädigungsverfahren“) der Richtlinie 2009/103, der die Verpflichtungen des Versicherungsunternehmens festlegt, von dem der Geschädigte Schadensersatz verlangt hat. Dieser Grundsatz lässt sich auch daraus ableiten, dass der Unionsgesetzgeber Mindestdeckungssummen der Versicherung festgesetzt hat(26), die eine wesentliche Garantie für den Schutz der Geschädigten darstellen(27).

53.      Drittens sind die Versicherungsunternehmen verpflichtet, dem Geschädigten Schadensersatz zu leisten, um die Wirksamkeit des Schadensersatzanspruchs zu gewährleisten und den Geschädigten damit insbesondere vor der Gefahr der Zahlungsunfähigkeit der für den Schaden verantwortlichen Person zu schützen(28).

54.      Viertens müsste eine Prüfung der Verpflichtungen des Versicherungsunternehmens, dem gegenüber der Geschädigte seinen Direktanspruch auf dem Klageweg geltend machen wird, mit den Bestimmungen des Unionsrechts über die Zuständigkeit der Gerichte(29) und das in einem grenzüberschreitenden Sachverhalt anzuwendende Recht(30) sowie mit der Regelung des Anspruchs aus übergegangenem Recht, den der Versicherer wird geltend machen können, im Einklang stehen(31).

55.      In diesem Zusammenhang halte ich es somit nicht für denkbar, Art. 18 der Richtlinie 2009/103 dahin auszulegen, dass die Naturalrestitution, die der Geschädigte nach nationalem Recht vom Unfallverursacher erhalten könnte, vom Versicherer verlangt werden kann. Es geht gerade darum, die direkte Beziehung zwischen dem Geschädigten und dem Versicherer nicht mit der Beziehung zwischen dem Geschädigten und dem Haftpflichtigen zu verwechseln.

56.      Folglich bin ich der Ansicht, dass dieser Art. 18 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die – unabhängig von der Art des ersatzfähigen Schadens – nur die Zahlung einer Entschädigung in Geld an die Geschädigten vorsieht, wenn sie ihren Direktanspruch gegen das Versicherungsunternehmen geltend machen, das die Haftpflicht der Person deckt, die für einen durch ein Fahrzeug verursachten Unfall verantwortlich ist.

57.      Im Übrigen sind weitere Erwägungen hinzuzufügen, um die Fragen des vorlegenden Gerichts vollständig zu beantworten, das die Entschädigung des Geschädigten, der seinen Direktanspruch ausgeübt hat, möglichst nah an den tatsächlichen Kosten regeln möchte(32).

58.      Nach ständiger Rechtsprechung ist der Umfang des Schadensersatzes im Wesentlichen durch das nationale Recht geregelt(33).

59.      Es ist daher Sache der zuständigen Behörden, die Wirksamkeit des Direktanspruchs des Geschädigten im nationalen Recht zu gewährleisten.

60.      Insoweit genügt das in den schriftlichen Stellungnahmen von KP und SI beschriebene System, wonach Versicherungsunternehmen bei Kfz-Werkstätten, an die die dem Geschädigten geschuldete Entschädigung gezahlt wird(34), ein direktes Abrechnungssystem einrichten können, meines Erachtens dem sich aus der Richtlinie 2009/103 ergebenden Erfordernis, den Geschädigten zu schützen, wenn es nach dessen Wahl eingerichtet wird.

61.      Daher erscheint es mir vergeblich, durch eine Auslegung der Tragweite von Art. 18 der Richtlinie 2009/103 eine Lösung für die vom vorlegenden Gericht dargestellten Probleme bei der Handhabung von Rechtsstreitigkeiten zu suchen(35), die zu der Ungerechtigkeit hinzukommen, die dem vorlegenden Gericht zufolge in der Bereicherung des Geschädigten liegt(36).

62.      Die nationale Regelung darf den in Art. 18 der Richtlinie 2009/103 vorgesehenen Direktanspruch des Geschädigten jedoch nicht seiner praktischen Wirksamkeit berauben(37).  Dies wäre meiner Ansicht nach aber der Fall, wenn die Entschädigung des Geschädigten, der seinen Direktanspruch ausübt, entweder ausgeschlossen oder begrenzt würde, weil das beschädigte Fahrzeug nicht repariert wird, weil es verkauft worden ist oder weil ihm das Versicherungsunternehmen die Verpflichtung auferlegt, die Reparatur des Fahrzeugs vom Versicherten zu verlangen.

V.      Ergebnis

63.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Sąd Rejonowy dla m.st. Warszawy w Warszawie (Rayongericht für die Hauptstadt Warschau, Polen) wie folgt zu antworten:

Art. 18 der Richtlinie 2009/103/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und die Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht

ist dahin auszulegen, dass

–        er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die – unabhängig von der Art des ersatzfähigen Schadens – nur die Zahlung einer Entschädigung in Geld an die Geschädigten vorsieht, wenn sie ihren Direktanspruch gegen das Versicherungsunternehmen geltend machen, das die Haftpflicht der Person deckt, die für einen durch ein Fahrzeug verursachten Unfall verantwortlich ist;

–        die praktische Wirksamkeit des Direktanspruchs des Geschädigten beeinträchtigt würde, wenn dieser begrenzt oder ausgeschlossen werden müsste, weil das beschädigte Fahrzeug nicht tatsächlich repariert wird.


1 Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2009, L 263, S. 11.


3      Vgl. Urteil vom 10. Juni 2021, Van Ameyde España (C‑923/19, EU:C:2021:475, Rn. 36 und 38 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


4      Es muss daher ein Bezug zwischen dem fraglichen Rechtsstreit und den Bestimmungen des Unionsrechts, um deren Auslegung ersucht wird, bestehen, so dass diese Auslegung einem objektiven Erfordernis für die Entscheidung entspricht, die das nationale Gericht zu treffen hat. Vgl. Beschluss vom 10. Dezember 2020, OO (Aussetzung der Rechtsprechungstätigkeit) (C‑220/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:1022, Rn. 26).


5      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Juni 2019, Línea Directa Aseguradora (C‑100/18, im Folgenden: Urteil Línea Directa Aseguradora, EU:C:2019:517, Rn. 45).


6      Vgl. Urteil Línea Directa Aseguradora (Rn. 32).


7      Vgl. Urteil vom 20. Mai 2021, K.S. (Kosten der Überführung eines beschädigten Fahrzeugs) (C‑707/19, EU:C:2021:405, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8      Vgl. Urteil Línea Directa Aseguradora (Rn. 35 und 36). Vgl. auch den Wortlaut von Art. 1 Nr. 1a der Richtlinie 2009/103, hinzugefügt durch die Richtlinie (EU) 2021/2118 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2021 zur Änderung der Richtlinie 2009/103 (ABl. 2021, L 430, S. 1). Diese Richtlinie ist gemäß ihrem Art. 2 spätestens am 23. Dezember 2023 umzusetzen.


9      Vgl. Urteil Línea Directa Aseguradora (Rn. 42).


10      Vgl. Urteil Línea Directa Aseguradora (Rn. 48).


11      Vgl. Beschluss vom 11. Dezember 2019, Bueno Ruiz und Zurich Insurance (C‑431/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:1082, Rn. 42 bis 45).


12      Vgl. Urteil vom 29. April 2021, Ubezpieczeniowy Fundusz Gwarancyjny (C‑383/19, EU:C:2021:337, Rn. 58).


13      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Mai 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG des Rates (Vierte Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie) (ABl. 2000, L 181, S. 65).


14      Vgl. erster Erwägungsgrund dieser Richtlinie. Also lässt sich die zu diesen Richtlinien ergangene Rechtsprechung auf die Auslegung der entsprechenden Bestimmungen der Richtlinie 2009/103 übertragen. Vgl. u. a. Urteil vom 29. April 2021, Ubezpieczeniowy Fundusz Gwarancyjny (C‑383/19, EU:C:2021:337, Rn. 35).


15      Vgl. Urteil vom 10. Juni 2021, Van Ameyde España (C‑923/19, EU:C:2021:475, Rn. 25 und 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


16      Vgl. zur Entstehungsgeschichte dieser Richtlinie den Bericht des Europäischen Parlaments über den vom Vermittlungsausschuss gebilligten gemeinsamen Entwurf einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, und zur Änderung der Richtlinien 73/239/EWG und 88/357/EWG (Vierte Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie) (C5-0155/2000 –1997/0264[COD]) (Final A5-0130/2000), abrufbar unter folgender Internetadresse: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-5-2000-0130_DE.pdf, S. 6. Vgl. auch Pailler, P., Manuel de droit européen des assurances, 2. Aufl., Bruylant, Brüssel, 2022, insbesondere Nr. 263, S. 273.


17      Vgl. Erwägungsgründe 8 bis 14 der Richtlinie 2000/26.


18      Vgl. hierzu Art. 9 des am 4. Mai 1971 in Den Haag geschlossenen Übereinkommens über das auf Straßenverkehrsunfälle anzuwendende Recht. Vgl. auch Erläuternder Bericht von Herrn Eric W. Essén, abrufbar unter folgender Internetadresse: https://assets.hcch.net/docs/cef13270-0800-4ac5-b583-b8e4aa076a1c.pdf, insbesondere S. 214.


19      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 zur Änderung der Richtlinien 72/166/EWG, 84/5/EWG, 88/357/EWG und 90/232/EWG des Rates sowie der Richtlinie 2000/26/EG (ABl. 2005, L 149, S. 14). Diese hat der Richtlinie 2000/26 einen Erwägungsgrund 16a hinzugefügt, in dem der Unionsgesetzgeber hinsichtlich des Rechts des Geschädigten, eine Klage gegen den Versicherer vor dem Gericht des Ortes zu erheben, an dem der Geschädigte seinen Wohnsitz hat, auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. b und Art. 11 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) Bezug genommen hat. Vgl. insoweit Urteil vom 13. Dezember 2007, FBTO Schadeverzekeringen (C‑463/06, EU:C:2007:792, Rn. 29).


20      Vgl. 21. Erwägungsgrund dieser Richtlinie.


21      Vgl. 20. Erwägungsgrund dieser Richtlinie und Urteil vom 20. Mai 2021, K.S. (Kosten der Überführung eines beschädigten Fahrzeugs) (C‑707/19, EU:C:2021:405, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


22      Es ist zu beachten, dass diese Verpflichtung ihre Wirkungen unabhängig davon entfaltet, ob der Versicherungsvertrag aufgrund falscher ursprünglicher Angaben des Versicherungsnehmers nichtig ist. Vgl. hierzu Urteil vom 20. Juli 2017, Fidelidade-Companhia de Seguros (C‑287/16, EU:C:2017:575, Rn. 27).


23      Vgl. Art. 3 letzter Absatz der Richtlinie 2009/103 in seiner Auslegung durch den Gerichtshof. Vgl. Urteil vom 23. Januar 2014, Petillo (C‑371/12, EU:C:2014:26, Rn. 33 bis 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Zum polnischen Gesetz vgl. Urteil vom 21. Dezember 2021, Skarb Państwa (Deckung der Kfz-Haftpflichtversicherung) (C‑428/20, EU:C:2021:1043, Rn. 16.).


24      Vgl. Urteil vom 21. Januar 2016, ERGO Insurance und Gjensidige Baltic (C‑359/14 und C‑475/14, EU:C:2016:40, Rn. 54 und 58).


25      Vgl. zweiter Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/103.


26      Vgl. Art. 9 der Richtlinie 2009/103 und Urteil vom 10. Juni 2021, Van Ameyde España (C‑923/19, EU:C:2021:475, Rn. 41).


27      Vgl. zwölfter Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/103 und insbesondere Urteil vom 21. Januar 2016, ERGO Insurance und Gjensidige Baltic (C‑359/14 und C‑475/14, EU:C:2016:40, Rn. 39).


28      Vgl. ferner für den Fall, dass die Pflicht zur Versicherung des am Unfall beteiligten Fahrzeugs nicht erfüllt worden ist, Urteil vom 29. April 2021, Ubezpieczeniowy Fundusz Gwarancyjny (C‑383/19, EU:C:2021:337, Rn. 56), um das Ziel des Schutzes der Opfer von Verkehrsunfällen in Erinnerung zu rufen, das bei der Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2009/103 unbedingt zu beachten ist.


29      Vgl. Urteil vom 13. Dezember 2007, FBTO Schadeverzekeringen (C‑463/06, EU:C:2007:792, Rn. 29), und hinsichtlich der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1) Urteil vom 30. Juni 2022, Allianz Elementar Versicherung (C‑652/20, EU:C:2022:514, Rn. 30, 32, 45, 49, 50, 53 und 54 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


30      Weder dem Wortlaut noch den Zielen der Richtlinie 2009/103 lässt sich entnehmen, dass mit dieser Richtlinie Kollisionsnormen festgelegt werden sollen, wie der Gerichtshof im Urteil vom 21. Januar 2016, ERGO Insurance und Gjensidige Baltic (C‑359/14 und C‑475/14, EU:C:2016:40, Rn. 40), ausgeführt hat. Vgl. auch Rn. 47 bis 54 dieses Urteils zu den Voraussetzungen für die Anwendung der Verordnungen (EG) Nrn. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) (ABl. 2008, L 177, S. 6) und 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Juli 2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“) (ABl. 2007, L 199, S. 40). Vgl. ferner zur Verpflichtung, das am 4. Mai 1971 in Den Haag geschlossene Übereinkommen über das auf Straßenverkehrsunfälle anzuwendende Recht anzuwenden, u. a. Urteil vom 24. Oktober 2013, Haasová (C‑22/12, EU:C:2013:692, Rn. 36), sowie die Ausführungen des Generalanwalts Wahl zu den hiermit verbundenen Schwierigkeiten in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Lazar (C‑350/14, EU:C:2015:586, Nr. 36).


31      Vgl. zur Veranschaulichung Urteil vom 21. Januar 2016, ERGO Insurance und Gjensidige Baltic (C‑359/14 und C‑475/14, EU:C:2016:40, Rn. 56).


32      Siehe Nrn. 18 und 19 sowie 22 und 23 der vorliegenden Schlussanträge.


33      Siehe Nr. 25 der vorliegenden Schlussanträge. Vgl. zur Veranschaulichung auch Urteil vom 23. Januar 2014, Petillo (C‑371/12, EU:C:2014:26, Rn. 43).


34      Vgl. zur Veranschaulichung Urteil vom 21. Oktober 2021, T. B. und D. (Zuständigkeit für Versicherungssachen) (C‑393/20, nicht veröffentlicht, EU:C:2021:871, Rn. 17 und 18).


35      Das vorlegende Gericht hat geltend gemacht, dass die polnische Rechtsprechung, auf die in Nr. 14 der vorliegenden Schlussanträge hingewiesen worden ist, die Versicherer dazu verleite, es systematisch zu unterlassen, die Entschädigungen gemäß dieser Rechtsprechung freiwillig auszuzahlen, um die Gerichte von einer Änderung der Rechtsprechungslinie zu überzeugen, indem sie zwar einen „Ersatz für hypothetische Kosten“ zahlten, aber diese Kosten willkürlich errechneten, wobei sie davon ausgingen, dass es in diesem Fall ausreichend sei, für die Berechnung der Preise Substitute minderer Qualität oder verschiedene Abzüge, Nachlässe, „Abschreibungen“ usw. zu verwenden, so dass die meisten Rechtssachen vor den Gerichten anhängig gemacht würden, was deren Arbeitsbelastung steigen ließe.


36      Siehe Nr. 15 der vorliegenden Schlussanträge.


37      Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass die nationalen Vorschriften über den Ersatz von Schäden, die sich aus der Verwendung eines Fahrzeugs ergeben, nicht dazu führen dürfen, dass der Anspruch des Geschädigten auf eine Entschädigung durch die obligatorische Haftpflichtversicherung der für diese Schäden verantwortlichen Person von Amts wegen ausgeschlossen oder unverhältnismäßig begrenzt wird. Vgl. zur Erinnerung an diese Grundsätze Urteile vom 23. Oktober 2012, Marques Almeida (C‑300/10, EU:C:2012:656, Rn. 31 und 32), vom 23. Januar 2014, Petillo (C‑371/12, EU:C:2014:26, Rn. 41, sowie zur Anwendung im vorliegenden Fall, Rn. 44 und 45), und vom 10. Juni 2021, Van Ameyde España (C‑923/19, EU:C:2021:475, Rn. 44).