Language of document : ECLI:EU:C:2023:5

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

12. Januar 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2008/675/JI – Art. 3 Abs. 1 – Grundsatz der Gleichstellung in einem anderen Mitgliedstaat ergangener früherer Verurteilungen – Pflicht, diese Verurteilungen mit gleichwertigen Wirkungen zu versehen wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen – Nationale Vorschriften über die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe – Mehrere Straftaten – Festlegung einer Gesamtstrafe – Obergrenze von fünfzehn Jahren bei zeitigen Freiheitsstrafen – Art. 3 Abs. 5 – Ausnahme – Straftat, die begangen wurde, bevor die Verurteilungen im anderen Mitgliedstaat erfolgten oder vollstreckt wurden“

In der Rechtssache C‑583/22 PPU

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 29. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 7. September 2022, in dem Strafverfahren

MV,

Beteiligter:

Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: S. Beer, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. November 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von MV, vertreten durch Rechtsanwalt S. Akay,

–        des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof, vertreten durch C. Maslow und L. Otte als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Dezember 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren (ABl. 2008, L 220, S. 32).

2        Es ergeht im Rahmen einer von MV beim Bundesgerichtshof (Deutschland) eingelegten Revision gegen ein Urteil des Landgerichts Freiburg im Breisgau (Deutschland), mit dem MV wegen besonders schwerer Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 1 bis 5, 8, 9 und 13 des Rahmenbeschlusses 2008/675 heißt es:

„(1)      Die Europäische Union hat sich die Erhaltung und Weiterentwicklung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zum Ziel gesetzt. Hierzu müssen Informationen über in den Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen auch außerhalb des Urteilsmitgliedstaats zur Verhinderung neuer Straftaten und im Rahmen neuer Strafverfahren herangezogen werden können.

(2)      Am 29. November 2000 hat der Rat [der Europäischen Union] entsprechend den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere das Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen angenommen; hierin wird Folgendes vorgesehen: ‚Annahme eines oder mehrerer Rechtsakte, in denen der Grundsatz verankert ist, dass das Gericht eines Mitgliedstaats die in den anderen Mitgliedstaaten ergangenen rechtskräftigen Entscheidungen in Strafsachen heranziehen können muss, um die strafrechtliche Vergangenheit eines Täters bewerten, eine Rückfälligkeit berücksichtigen und die Art der Strafen und die Einzelheiten des Strafvollzugs entsprechend festlegen zu können‘.

(3)      Zweck dieses Rahmenbeschlusses ist es, eine Mindestverpflichtung für die Mitgliedstaaten bezüglich der Berücksichtigung von in anderen Mitgliedstaaten ergangenen Verurteilungen festzulegen. …

(4)      Während in manchen Mitgliedstaaten in anderen Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen Wirkungen entfalten, werden in anderen Mitgliedstaaten nur die im Inland ergangenen Verurteilungen berücksichtigt.

(5)      Als Grundsatz sollte gelten, dass eine in einem anderen Mitgliedstaat nach innerstaatlichem Recht ergangene Verurteilung mit gleichwertigen tatsächlichen bzw. verfahrens- oder materiellrechtlichen Wirkungen versehen werden sollte wie denjenigen, die das innerstaatliche Recht den im Inland ergangenen Verurteilungen zuerkennt. Eine Harmonisierung der in den verschiedenen Rechtsordnungen für frühere Verurteilungen vorgesehenen Rechtswirkungen durch diesen Rahmenbeschluss ist jedoch nicht beabsichtigt, und in anderen Mitgliedstaaten ergangene frühere Verurteilungen müssen nur in dem Maße berücksichtigt werden wie im Inland nach innerstaatlichem Recht ergangene Verurteilungen.

….

(8)      Liegen bei einem Strafverfahren in einem Mitgliedstaat Informationen über eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene frühere Verurteilung vor, so sollte so weit wie möglich vermieden werden, dass die betreffende Person schlechter behandelt wird, als wenn die frühere Verurteilung im Inland ergangen wäre.

(9)      Artikel 3 Absatz 5 sollte, unter anderem in Übereinstimmung mit Erwägungsgrund 8, dahin gehend ausgelegt werden, dass, wenn das nationale Gericht in dem neuen Strafverfahren bei der Berücksichtigung eines in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen früheren Urteils der Ansicht ist, dass die Verhängung eines bestimmten Strafmaßes im Rahmen der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften bezogen auf die Umstände des jeweiligen Einzelfalles dem Straftäter gegenüber unverhältnismäßig streng wäre, und wenn der Zweck der Bestrafung auch durch ein milderes Urteil erreicht werden kann, das einzelstaatliche Gericht das Strafmaß entsprechend verringern kann, falls ein solches Vorgehen in rein innerstaatlichen Fällen möglich gewesen wäre.

(13)      Dieser Rahmenbeschluss trägt der Vielfalt der innerstaatlichen Lösungen und Verfahren für die Berücksichtigung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Verurteilung Rechnung. …“

4        Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„In diesem Rahmenbeschluss wird festgelegt, unter welchen Voraussetzungen in einem Mitgliedstaat in einem Strafverfahren gegen eine Person frühere Verurteilungen, die gegen dieselbe Person wegen einer anderen Tat in einem anderen Mitgliedstaat ergangen sind, berücksichtigt werden.“

5        Art. 3 („Berücksichtigung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Verurteilung in einem neuen Strafverfahren“) des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat stellt sicher, dass nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts in einem Strafverfahren gegen eine Person frühere, in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen derselben Person wegen einer anderen Tat, zu denen im Rahmen geltender Rechtsinstrumente über die Rechtshilfe oder den Austausch von Informationen aus Strafregistern Auskünfte eingeholt wurden, in dem Maße berücksichtigt werden wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen und dass sie mit gleichwertigen Rechtswirkungen versehen werden wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen.

(2)      Absatz 1 findet auf das Stadium vor dem Strafverfahren, im Strafverfahren selbst und bei der Strafvollstreckung Anwendung, insbesondere im Hinblick auf die anwendbaren Verfahrensvorschriften einschließlich der Vorschriften über die Untersuchungshaft, die rechtliche Einordnung des Tatbestands, Art und Umfang der Strafe sowie die Vollstreckungsvorschriften.

(5)      Wurde die Straftat, die Gegenstand des neuen Verfahrens ist, begangen, bevor die frühere Verurteilung erfolgte oder vollständig vollstreckt wurde, so haben die Absätze 1 und 2 nicht die Wirkung, dass die Mitgliedstaaten ihre innerstaatlichen Vorschriften über die Verhängung von Strafen anwenden müssen, wenn die Anwendung dieser Vorschriften auf im Ausland ergangene Verurteilungen das Gericht darin einschränken würde, in einem neuen Verfahren eine Strafe zu verhängen.

Die Mitgliedstaaten stellen jedoch sicher, dass ihre Gerichte frühere in anderen Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen in solchen Fällen auf andere Weise berücksichtigen können.“

 Deutsches Recht

6        Die Bildung von Gesamtstrafen ist in den §§ 53 bis 55 des Strafgesetzbuchs vom 13. November 1998 (BGBl. 1998 I S. 3322) in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: StGB) geregelt.

7        § 53 StGB („Tatmehrheit“) bestimmt in Abs. 1:

„Hat jemand mehrere Straftaten begangen, die gleichzeitig abgeurteilt werden, und dadurch mehrere Freiheitsstrafen oder mehrere Geldstrafen verwirkt, so wird auf eine Gesamtstrafe erkannt.“

8        § 54 StGB („Bildung der Gesamtstrafe“) sieht in den Abs. 1 und 2 vor:

„(1)      Ist eine der Einzelstrafen eine lebenslange Freiheitsstrafe, so wird als Gesamtstrafe auf lebenslange Freiheitsstrafe erkannt. In allen übrigen Fällen wird die Gesamtstrafe durch Erhöhung der verwirkten höchsten Strafe, bei Strafen verschiedener Art durch Erhöhung der ihrer Art nach schwersten Strafe gebildet. Dabei werden die Person des Täters und die einzelnen Straftaten zusammenfassend gewürdigt.

(2)      Die Gesamtstrafe darf die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen. Sie darf bei zeitigen Freiheitsstrafen fünfzehn Jahre und bei Geldstrafe siebenhundertzwanzig Tagessätze nicht übersteigen.“

9        § 55 StGB („Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe“) bestimmt in Abs. 1:

„Die §§ 53 und 54 sind auch anzuwenden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat. Als frühere Verurteilung gilt das Urteil in dem früheren Verfahren, in dem die zugrunde liegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10      Am 10. Oktober 2003 entführte MV, ein französischer Staatsangehöriger, eine Studentin von einem Universitätscampus in Deutschland und vergewaltigte sie.

11      Zuvor war MV in Deutschland nie strafrechtlich verurteilt worden. Sein Strafregister in Frankreich enthält dagegen 25 Eintragungen. Unter anderem ergingen gegen ihn nach dem genannten Zeitpunkt wegen Taten, die zwischen August 2002 und September 2003 begangen worden waren, fünf Urteile französischer Gerichte.

12      Am 30. September 2004 wurde MV vom Tribunal de grande instance Guéret (Regionalgericht Guéret, Frankreich) zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

13      Am 29. Februar 2008 verhängte die Cour d’assises du Loir-et-Cher (Schwurgericht Loir-et-Cher) in Blois (Frankreich) gegen MV eine Freiheitsstrafe von 15 Jahren. In dieser Strafe gingen weitere Verurteilungen vom 16. Mai 2008 durch die Cour d’assises de Loire-Atlantique (Schwurgericht Loire-Atlantique) in Nantes (Frankreich) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und vom 23. April 2012 durch die Cour d’appel (Berufungsgericht) in Grenoble (Frankreich) zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten auf.

14      Am 24. Januar 2013 verurteilte die Cour d’assises du Maine-et-Loire (Schwurgericht Maine-et-Loire) in Angers (Frankreich) MV zu einer weiteren Freiheitsstrafe von sieben Jahren.

15      Am 20. Oktober 2003 wurde MV aufgrund eines von den französischen Behörden erlassenen Haftbefehls in den Niederlanden festgenommen und kam in Auslieferungshaft. Am 17. Mai 2004 wurde er den französischen Behörden übergeben. Er befand sich in Frankreich bis zum 23. Juli 2021 ununterbrochen in Haft, so dass bis dahin 17 Jahre und neun Monate der oben in den Rn. 12 bis 14 aufgeführten Freiheitsstrafen vollstreckt worden waren.

16      Am 23. Juli 2021 überstellten die französischen Behörden MV den deutschen Behörden. Er wurde aufgrund eines vom Amtsgericht Freiburg im Breisgau (Deutschland) erlassenen Haftbefehls in Deutschland in Untersuchungshaft genommen.

17      Am 21. Februar 2022 verurteilte das Landgericht Freiburg im Breisgau MV wegen der am 10. Oktober 2003 in Deutschland begangenen besonders schweren Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Dabei ging es davon aus, dass die „wirklich angemessene“ Freiheitsstrafe für die von MV in Deutschland begangene Tat sieben Jahre betragen würde. Aufgrund der fehlenden Möglichkeit einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung mit den in Frankreich verhängten Strafen setzte das Gericht die von ihm verhängte Strafe jedoch „als Härteausgleich“ um ein Jahr herab.

18      MV hat gegen dieses Urteil Revision beim Bundesgerichtshof, dem vorlegenden Gericht, eingelegt.

19      Das vorlegende Gericht möchte unter zwei verschiedenen Aspekten wissen, ob das Urteil des Landgerichts Freiburg im Breisgau mit den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/675 vereinbar ist.

20      Erstens hebt es hervor, dass die Möglichkeit, gegen MV wegen der besonders schweren Vergewaltigung, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sei, eine Freiheitsstrafe zu verhängen, von der Auslegung des durch Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675 umgesetzten Grundsatzes der Gleichstellung in anderen Mitgliedstaaten ergangener strafrechtlicher Verurteilungen und der in Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Ausnahme von diesem Grundsatz abhänge.

21      Es stellt fest, dass die in Frankreich gegen MV ergangenen Urteile nach § 55 Abs. 1 StGB grundsätzlich in eine Gesamtstrafe einbezogen werden könnten, wenn sie wie Verurteilungen in Deutschland behandelt würden.

22      Die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe gemäß § 55 Abs. 1 StGB solle dafür sorgen, dass ein Mehrfachtäter nicht unterschiedlich behandelt werde, je nachdem, ob die Straftaten Gegenstand nur eines Verfahrens seien, in dem nach § 53 Abs. 1 StGB auf eine Gesamtstrafe erkannt werden könne, oder mehrerer gesonderter Verfahren, bei denen gemäß § 55 Abs. 1 StGB nachträglich eine Gesamtstrafe gebildet werden könne.

23      Bei der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe sei die in § 54 Abs. 2 StGB vorgesehene Obergrenze von 15 Jahren für befristete Freiheitsstrafen zu berücksichtigen. Im Fall einer Einbeziehung der in Frankreich gegen MV ergangenen Urteile sei diese Obergrenze aber bereits mit seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren durch die Cour d’assises du Loir-et-Cher (Schwurgericht Loir-et-Cher) in Blois (Frankreich) am 29. Februar 2008 erreicht worden.

24      Folglich könnte bei einer Gleichstellung der Verurteilungen in Frankreich und in Deutschland gegen MV wegen der von ihm begangenen besonders schweren Vergewaltigung zwar eine Einzelstrafe verhängt werden. Nach § 54 Abs. 2 StGB dürfe die Gesamtstrafe jedoch die Obergrenze von 15 Jahren Freiheitsentzug nicht überschreiten, so dass die gegen MV verhängte Strafe in der Praxis nicht vollstreckt werden könnte.

25      Die nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe mit Strafen, die in einem anderen Staat verhängt worden seien, auf der Grundlage von § 55 Abs. 1 StGB scheide aber aus völkerrechtlichen Gründen aus. In einem solchen grenzüberschreitenden Kontext würde die Gesamtstrafenbildung nämlich sowohl in die Rechtskraft der ausländischen Verurteilung als auch in die Vollstreckungshoheit des ausländischen Staates eingreifen.

26      Da es mithin nach deutschem Recht nicht möglich sei, unter Einbeziehung in einem anderen Mitgliedstaat ergangener Verurteilungen nachträglich eine Gesamtstrafe zu bilden, stelle sich die Frage nach der Auslegung von Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675.

27      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verpflichte Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675 die Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass in einem anderen Mitgliedstaat ergangene frühere Verurteilungen mit gleichwertigen Rechtswirkungen versehen würden wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen.

28      Fraglich sei jedoch, welche Bedeutung die in Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675 vorgesehene Ausnahme habe. Wegen der besonders schweren Vergewaltigung, die Gegenstand des Ausgangsverfahrens sei, könnte gegen MV nur dann eine vollstreckbare Strafe verhängt werden, wenn diese Bestimmung dahin auszulegen wäre, dass sie der in Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses vorgesehenen Berücksichtigung in anderen Mitgliedstaaten ergangener Verurteilungen entgegenstehe, falls dies zu einer Überschreitung der in § 54 Abs. 2 StGB für zeitige Freiheitsstrafen vorgesehenen Obergrenze von 15 Jahren führen würde.

29      Zweitens stelle sich, sofern Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675 dahin auszulegen sein sollte, dass der in dessen Art. 3 Abs. 1 aufgestellte Grundsatz der Gleichstellung in anderen Mitgliedstaaten ergangener strafrechtlicher Verurteilungen unter den Umständen des Ausgangsverfahrens nicht anwendbar sei, die Frage nach der Auslegung von Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 2.

30      Insoweit bedürfe der Klärung, ob die Berücksichtigung der in einem anderen Mitgliedstaat verhängten Strafe nach Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675 in der Weise vorzunehmen sei, dass der aus der fehlenden Möglichkeit der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe gemäß § 55 Abs. 1 StGB resultierende Nachteil bei der Bemessung der Strafe für die im Inland begangene Straftat „konkret auszuweisen und zu begründen“ sei.

31      Bei der Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/675 in deutsches Recht habe der deutsche Gesetzgeber im Hinblick auf dessen Art. 3 keinen Umsetzungsbedarf gesehen. Der Ansatz, dass die in einem anderen Staat ergangenen Verurteilungen zwar nicht formell in eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung einbezogen werden könnten, der Verurteilte dadurch aber möglichst nicht benachteiligt werden solle, entspreche dem von deutschen Gerichten bei früheren Verurteilungen im Ausland praktizierten „Härteausgleich“.

32      Nach der Rechtsprechung des vorlegenden Gerichts zu diesem Punkt werde dem Nachteil, der durch die fehlende Möglichkeit der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe mit Verurteilungen in einem anderen Mitgliedstaat entstehe, in der Regel im Rahmen der Strafzumessung durch einen im Ermessen des Tatgerichts stehenden unbezifferten „Härteausgleich“ Rechnung getragen. Insoweit werde es als ausreichend angesehen, dass das Tatgericht die fehlende Möglichkeit der nachträglichen Gesamtstrafenbildung als Gesichtspunkt zugunsten des Verurteilten berücksichtige.

33      Mit den Vorschriften von Art. 3 Abs. 1 und 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675 stehe aber allein ein nachvollziehbar begründeter und bezifferter Ausgleich des durch die fehlende Möglichkeit der nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe entstehenden Nachteils im Einklang.

34      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Anwendung des Rahmenbeschlusses sei die Art und Weise der Berücksichtigung früherer, in einem anderen Mitgliedstaat ergangener Verurteilungen möglichst weitgehend der Berücksichtigung früherer nationaler Verurteilungen anzugleichen. Um einer Gesamtstrafenbildung, wie sie in den §§ 53 bis 55 StGB in Form einer zu beziffernden Bewertung vorgesehen sei, möglichst nahe zu kommen, sei es erforderlich, dass das Tatgericht den aus der fehlenden Möglichkeit einer Gesamtstrafenbildung resultierenden Nachteil konkret ausweise und von der neu zu verhängenden Gesamtstrafe in Abzug bringe.

35      Ein begründeter und bezifferter Ausgleich des aus der fehlenden Möglichkeit einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung resultierenden Nachteils sei nicht nur aus Transparenzgründen unverzichtbar, sondern auch aus Gründen der Nachprüfbarkeit der Straffestsetzung durch das Revisionsgericht.

36      Im Ausgangsverfahren habe das Landgericht Freiburg im Breisgau bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt, dass mit einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren die in § 54 Abs. 2 StGB für zeitige Freiheitsstrafen festgelegte Obergrenze des Freiheitsentzugs von 15 Jahren überschritten werde. Außerdem habe es nicht angegeben, welches konkrete Kriterium es bei der Berücksichtigung der Verurteilungen in Frankreich im Einklang mit Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675 herangezogen habe.

37      Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Kann angesichts des Gleichbehandlungsgebots aus Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675 und vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675 bei einer an sich bestehenden Gesamtstrafenlage zwischen deutschen und EU-ausländischen Verurteilungen für die inländische Straftat auch dann eine Strafe verhängt werden, wenn eine fiktive Einbeziehung der EU-ausländischen Strafe dazu führen würde, dass das nach deutschem Recht zulässige Höchstmaß für eine Gesamtstrafe bei zeitigen Freiheitsstrafen überschritten würde?

2.      Falls die erste Frage bejaht wird:

Ist die nach Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675 vorgesehene Berücksichtigung der EU-ausländischen Strafe in der Weise vorzunehmen, dass der aus der fehlenden Möglichkeit der Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe resultierende Nachteil – entsprechend den Grundsätzen der Gesamtstrafenbildung nach deutschem Recht – bei der Bemessung der Strafe für die inländische Straftat konkret auszuweisen und zu begründen ist?

 Zur Einleitung des Eilvorabentscheidungsverfahrens

38      In Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 107 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs hat der Präsident des Gerichtshofs die Zweite Kammer aufgefordert, zu prüfen, ob es notwendig ist, die vorliegende Rechtssache von Amts wegen dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 23a Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu unterwerfen.

39      Die Voraussetzungen für die Einleitung dieses Verfahrens sind im Rahmen der vorliegenden Rechtssache erfüllt.

40      Erstens können nach Art. 107 Abs. 1 der Verfahrensordnung dem Eilverfahren nur Vorabentscheidungsersuchen unterliegen, die eine oder mehrere Fragen in Bezug auf einen der in Titel V („Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) des Dritten Teils des AEU-Vertrags genannten Bereiche aufwerfen.

41      Zu den von Titel V erfassten Bereichen gehört u. a. die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen.

42      Im vorliegenden Fall betrifft das Vorabentscheidungsersuchen die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2008/675, der die Berücksichtigung in anderen Mitgliedstaaten wegen einer anderen Tat ergangener Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren regelt.

43      Außerdem wurde der Rahmenbeschluss 2008/675 auf der Grundlage von Art. 31 EUV erlassen, der durch die Art. 82, 83 und 85 AEUV ersetzt wurde. Diese Artikel des AEU-Vertrags gehören zu dessen Kapitel über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen.

44      Aus dem Vorstehenden folgt, dass das Vorabentscheidungsersuchen mehrere Fragen in Bezug auf einen der in Titel V des Dritten Teils des AEU-Vertrags genannten Bereiche, und zwar die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, aufwirft und daher dem Eilverfahren unterworfen werden kann.

45      Zweitens ist das Kriterium der Dringlichkeit nach ständiger Rechtsprechung erfüllt, wenn der im Ausgangsverfahren betroffenen Person zum Zeitpunkt der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens ihre Freiheit entzogen ist und ihre weitere Inhaftierung von der Entscheidung des Ausgangsverfahrens abhängt (vgl. zuletzt Urteil vom 28. April 2022, C und CD [Rechtliche Hindernisse der Durchführung einer Übergabeentscheidung], C‑804/21 PPU, EU:C:2022:307, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46      Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass MV seiner Freiheit beraubt ist und dass die Entscheidung des Ausgangsverfahrens Einfluss auf die Frage seiner weiteren Inhaftierung haben kann.

47      Das vorlegende Gericht hat ausgeführt, sofern Art. 3 Abs. 1 und 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675 dahin auszulegen sein sollte, dass die in Frankreich ergangenen früheren Verurteilungen mit gleichwertigen Wirkungen zu versehen seien wie im Inland ergangene Verurteilungen, könne gegen MV wegen Überschreitung der in § 54 Abs. 2 StGB für zeitige Freiheitsstrafen vorgesehenen Obergrenze von 15 Jahren keine Strafe mehr vollstreckt werden.

48      Unter diesen Umständen hat die Zweite Kammer des Gerichtshofs am 27. September 2022 auf Vorschlag der Berichterstatterin und nach Anhörung des Generalanwalts beschlossen, das Vorabentscheidungsersuchen von Amts wegen dem Eilvorabentscheidungsverfahren zu unterwerfen.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

49      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 1 und 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat sicherstellen muss, dass in einem Strafverfahren gegen eine Person deren frühere Verurteilungen in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer anderen Tat mit gleichwertigen Wirkungen versehen werden wie denen, die im Inland ergangene frühere Verurteilungen nach den Vorschriften des betreffenden nationalen Rechts über die Gesamtstrafenbildung haben, wenn zum einen die Straftat, die Gegenstand des neuen Verfahrens ist, begangen wurde, bevor die früheren Verurteilungen erfolgten, und zum anderen eine im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts erfolgende Berücksichtigung der früheren Verurteilungen das mit dem genannten Verfahren befasste nationale Gericht daran hindern würde, gegen die betreffende Person eine vollstreckbare Strafe zu verhängen.

50      Der Rahmenbeschluss 2008/675 bezweckt nach seinen Erwägungsgründen 5 bis 8, dass jeder Mitgliedstaat sicherstellt, dass frühere, in einem anderen Mitgliedstaat ergangene strafrechtliche Verurteilungen gleichwertige Rechtswirkungen entfalten wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen nach seinem nationalen Recht (Urteil vom 15. April 2021, AV [Gesamturteil], C‑221/19, EU:C:2021:278, Rn. 49).

51      Im Einklang mit diesem Ziel wird den Mitgliedstaaten in Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses im Licht seines fünften Erwägungsgrundes die Verpflichtung auferlegt, sicherzustellen, dass in einem neuen Strafverfahren gegen eine Person deren frühere, in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen wegen anderer Taten, zu denen im Rahmen geltender Rechtsinstrumente über die Rechtshilfe oder den Austausch von Informationen aus Strafregistern Auskünfte eingeholt wurden, zum einen in gleichem Maß berücksichtigt werden wie nach innerstaatlichem Recht im Inland ergangene frühere Verurteilungen und dass ihnen zum anderen gleichwertige tatsächliche bzw. verfahrens- oder materiell-rechtliche Wirkungen zuerkannt werden wie den nach diesem Recht im Inland ergangenen früheren Verurteilungen.

52      Nach Art. 3 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses besteht diese Verpflichtung im Stadium vor dem Strafverfahren, im Strafverfahren selbst und bei der Strafvollstreckung, insbesondere im Hinblick auf Art und Umfang der Strafe sowie die Vollstreckungsvorschriften.

53      Wie der Gerichtshof entschieden hat, ist der Rahmenbeschluss 2008/675 auf ein nationales Verfahren anwendbar, das die Verhängung einer Gesamtfreiheitsstrafe – für die Zwecke ihrer Vollstreckung – betrifft, bei der die vom innerstaatlichen Gericht gegen eine Person verhängte Strafe sowie die im Rahmen einer früheren Verurteilung durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats gegen dieselbe Person wegen einer anderen Tat verhängte Strafe berücksichtigt werden (Urteil vom 15. April 2021, AV [Gesamturteil], C‑221/19, EU:C:2021:278, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den oben in den Rn. 21 bis 24 zusammengefassten Erläuterungen des vorlegenden Gerichts, dass bei einer Gleichstellung der früheren Verurteilungen von MV durch französische Gerichte mit Verurteilungen deutscher Gerichte gemäß Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses das Tatgericht unter den Umständen des Ausgangsverfahrens gehalten wäre, im Einklang mit den §§ 53 bis 55 StGB eine Gesamtstrafe zu bilden. Dann könnte es wegen Überschreitung der in § 54 Abs. 2 StGB vorgesehenen Obergrenze von 15 Jahren für befristete Freiheitsstrafen gegen MV keine vollstreckbare Strafe verhängen.

55      Nach Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675 hat, falls die Straftat, die Gegenstand des neuen Verfahrens ist, begangen wurde, bevor die frühere Verurteilung erfolgte oder vollständig vollstreckt wurde, Art. 3 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses jedoch nicht die Wirkung, dass die Mitgliedstaaten ihre innerstaatlichen Vorschriften über die Verhängung von Strafen anwenden müssen, wenn die Anwendung dieser Vorschriften auf im Ausland ergangene Verurteilungen das Gericht darin einschränken würde, in einem neuen Verfahren eine Strafe zu verhängen.

56      Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass MV im Rahmen des Strafverfahrens vor den deutschen Gerichten einer am 10. Oktober 2003 begangenen besonders schweren Vergewaltigung für schuldig befunden wurde. Überdies ergingen seine im Rahmen dieses Verfahrens zu berücksichtigenden Verurteilungen durch französische Gerichte nach diesem Zeitpunkt. Somit ist die in Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675 enthaltene zeitliche Voraussetzung unter den Umständen des Ausgangsverfahrens erfüllt.

57      Folglich kann die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme unter den Umständen des Ausgangsverfahrens zur Anwendung kommen.

58      In Bezug auf die Tragweite dieser Ausnahme sieht Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses vor, dass die Mitgliedstaaten ihre „innerstaatlichen Vorschriften über die Verhängung von Strafen“ nicht auf frühere Verurteilungen in einem anderen Mitgliedstaat anwenden müssen, wenn die Anwendung dieser Vorschriften „das Gericht darin einschränken würde, in einem neuen Verfahren eine Strafe zu verhängen“.

59      Im vorliegenden Fall ist zum einen festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren angeführten Vorschriften des deutschen Rechts über die Gesamtstrafenbildung (§§ 53 bis 55 StGB) „innerstaatliche Vorschriften über die Verhängung von Strafen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses darstellen. Diese Vorschriften des deutschen Rechts regeln nämlich die Befugnis des Strafgerichts zur Verhängung einer Strafe im Fall mehrerer Straftaten, unabhängig davon, ob sie Gegenstand nur eines Verfahrens oder mehrerer gesonderter Verfahren sind.

60      Zum anderen würde die Anwendung dieser Vorschriften auf die früheren Verurteilungen in Frankreich das nationale Gericht daran hindern, im Rahmen des Ausgangsverfahrens eine vollstreckbare Strafe zu verhängen (siehe oben, Rn. 54).

61      Würden die in Frankreich ergangenen früheren Verurteilungen mit gleichwertigen Wirkungen versehen wie im Inland ergangene frühere Verurteilungen, würde dies somit unter den Umständen des Ausgangsverfahrens „das Gericht darin einschränken …, in einem neuen Verfahren eine Strafe zu verhängen“, wie es in Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675 heißt.

62      Aus dem Vorstehenden folgt, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme unter den Umständen des Ausgangsverfahrens anwendbar ist und das nationale Gericht mithin von der Verpflichtung befreit, die in Frankreich ergangenen früheren Verurteilungen mit Wirkungen zu versehen, die denen gleichwertig sind, mit denen im Inland ergangene frühere Verurteilungen nach den Vorschriften über die Gesamtstrafenbildung in den §§ 53 bis 55 StGB versehen sind.

63      Diese Auslegung wird sowohl durch den Kontext von Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675 als auch durch die mit dessen Art. 3 Abs. 5 verfolgten Ziele gestützt.

64      Zum Kontext von Art. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/675 ist darauf hinzuweisen, dass mit dem Rahmenbeschluss nach seinem fünften Erwägungsgrund keine Harmonisierung der in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen für frühere Verurteilungen vorgesehenen Rechtswirkungen beabsichtigt ist. Ferner geht aus dem dritten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses hervor, dass er lediglich eine Mindestverpflichtung für die Mitgliedstaaten bezüglich der Berücksichtigung in anderen Mitgliedstaaten ergangener Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren festlegt.

65      Überdies trägt der Rahmenbeschluss 2008/675 nach seinem 13. Erwägungsgrund der Vielfalt der innerstaatlichen Lösungen und Verfahren für die Berücksichtigung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Verurteilung Rechnung. Dadurch leistet er einen Beitrag zur Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts innerhalb der Union, in dem im Sinne von Art. 67 Abs. 1 AEUV die Vielfalt der Rechtsordnungen und ‑traditionen der Mitgliedstaaten geachtet wird.

66      Daher muss der in Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses aufgestellte Grundsatz der Gleichstellung in einem anderen Mitgliedstaat ergangener früherer Verurteilungen mit dem Erfordernis in Einklang gebracht werden, die Vielfalt der Strafrechtstraditionen und ‑ordnungen der Mitgliedstaaten zu achten. Im achten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses heißt es dazu, es sollte „so weit wie möglich“ vermieden werden, dass die betroffene Person schlechter behandelt wird, als wenn die frühere Verurteilung im Inland ergangen wäre.

67      In Bezug auf das mit Art. 3 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675 verfolgte Ziel geht aus seinem Wortlaut ausdrücklich hervor, dass er dafür sorgen soll, dass das Gericht befugt bleibt, „eine Strafe zu verhängen“, um eine Straftat zu ahnden, die im Inland begangen wurde, bevor die Verurteilungen in einem anderen Mitgliedstaat erfolgten oder vollstreckt wurden.

68      Wie der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof und die Europäische Kommission im Wesentlichen geltend machen, ist es in einem durch die Vielfalt der Strafrechtstraditionen und ‑ordnungen der Mitgliedstaaten, insbesondere in Bezug auf die Strafrahmen und die Modalitäten der Strafvollstreckung, gekennzeichneten Kontext nicht ausgeschlossen, dass die Berücksichtigung in einem anderen Mitgliedstaat ergangener Verurteilungen der Verhängung einer Strafe zur Ahndung einer Straftat, die im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats begangen wurde, bevor diese Verurteilungen erfolgten oder vollstreckt wurden, entgegenstehen könnte.

69      Im vorliegenden Fall wäre es nach den Angaben des vorlegenden Gerichts, wenn die in Frankreich ergangenen früheren Verurteilungen mit gleichwertigen Wirkungen versehen würden wie die, die inländische Verurteilungen im Rahmen der nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach § 55 Abs. 1 StGB haben, im Kontext des Ausgangsverfahrens nicht möglich, wegen der in Deutschland vor den genannten Verurteilungen begangenen besonders schweren Vergewaltigung eine vollstreckbare Strafe zu verhängen.

70      Das mit Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675 verfolgte Ziel besteht aber gerade darin, die Befugnis der nationalen Gerichte, in einem solchen Fall eine Strafe zu verhängen, unter Achtung der Vielfalt der Strafrechtstraditionen und ‑ordnungen der Mitgliedstaaten zu bewahren, indem sie von der Verpflichtung nach Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses befreit werden, frühere in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen früheren inländischen Verurteilungen gleichzustellen.

71      Hinzuzufügen ist, dass es den Mitgliedstaaten allerdings unbenommen bleibt, in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Verurteilungen in dem von Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/675 erfassten Fall mit gleichwertigen Wirkungen zu versehen wie inländische Verurteilungen. Nach dem dritten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses soll mit ihm eine Mindestverpflichtung bezüglich der Berücksichtigung in einem anderen Mitgliedstaat ergangener Verurteilungen festgelegt werden, so dass es den Mitgliedstaaten freisteht, solche Verurteilungen auch in Fällen zu berücksichtigen, in denen sie nach dem Rahmenbeschluss nicht dazu verpflichtet sind.

72      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 und 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat nicht sicherstellen muss, dass in einem Strafverfahren gegen eine Person deren frühere Verurteilungen in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer anderen Tat mit gleichwertigen Wirkungen versehen werden wie denen, die im Inland ergangene frühere Verurteilungen nach den Vorschriften des betreffenden nationalen Rechts über die Gesamtstrafenbildung haben, wenn zum einen die Straftat, die Gegenstand des neuen Verfahrens ist, begangen wurde, bevor die früheren Verurteilungen erfolgten, und zum anderen eine im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts erfolgende Berücksichtigung der früheren Verurteilungen das mit dem genannten Verfahren befasste nationale Gericht daran hindern würde, gegen die betreffende Person eine vollstreckbare Strafe zu verhängen.

 Zur zweiten Frage

73      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675 dahin auszulegen ist, dass die Berücksichtigung früherer in einem anderen Mitgliedstaat ergangener Verurteilungen im Sinne dieser Bestimmung vom nationalen Gericht verlangt, den aus der fehlenden Möglichkeit der – für frühere inländische Verurteilungen vorgesehenen – nachträglichen Gesamtstrafenbildung resultierenden Nachteil konkret darzulegen und zu begründen.

74      Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung müssen die Mitgliedstaaten in allen Strafverfahren, die unter die in Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 1 des Rahmenbeschlusses vorgesehene Ausnahme fallen, sicherstellen, dass „ihre Gerichte frühere in anderen Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen … auf andere Weise berücksichtigen können“.

75      Um dieser Pflicht nachzukommen, genügt es, dass die Mitgliedstaaten unter Beachtung des Unionsrechts und der mit dem Rahmenbeschluss verfolgten Ziele vorsehen, dass ihre nationalen Gerichte die Möglichkeit haben, frühere in anderen Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen auf andere Weise zu berücksichtigen.

76      Dagegen kann dieser Bestimmung keine Verpflichtung in Bezug auf die konkreten, von den nationalen Gerichten bei der tatsächlichen Berücksichtigung früherer in anderen Mitgliedstaaten ergangener Verurteilungen zu beachtenden materiell-rechtlichen oder verfahrensrechtlichen Modalitäten entnommen werden.

77      Mangels näherer Angaben in den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2008/675 ist festzustellen, dass er den Mitgliedstaaten einen Spielraum hinsichtlich der konkreten Umsetzungsmodalitäten in Bezug auf die Möglichkeit der nationalen Gerichte belässt, frühere in anderen Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen gemäß Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 2 des Rahmenbeschlusses zu berücksichtigen.

78      Folglich kann Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675 keine Verpflichtung des Tatgerichts entnommen werden, unter den Umständen des Ausgangsverfahrens eine bezifferte Berechnung des Nachteils vorzunehmen, der sich daraus ergibt, dass es nicht möglich ist, die für inländische Verurteilungen geltenden nationalen Vorschriften über die Gesamtstrafenbildung anzuwenden, und sodann die Strafe, beruhend auf dieser Berechnung, herabzusetzen.

79      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 85 und 86 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, besteht das einzige Erfordernis, das dieser Bestimmung entnommen werden kann, darin, dass die nationalen Gerichte die Möglichkeit haben müssen, frühere in anderen Mitgliedstaaten ergangene Verurteilungen zu berücksichtigen, ohne dass der Unionsgesetzgeber jedoch die konkreten Modalitäten ihrer Berücksichtigung festgelegt hat.

80      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass das Landgericht Freiburg im Breisgau die früheren in Frankreich ergangenen Verurteilungen tatsächlich berücksichtigt hat. In seinem Urteil vom 21. Februar 2022 hat dieses Gericht nämlich die ursprüngliche Freiheitsstrafe von sieben Jahren als „Härteausgleich“ um ein Jahr herabgesetzt, um der fehlenden Möglichkeit einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung mit den Verurteilungen in Frankreich Rechnung zu tragen.

81      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675 dahin auszulegen ist, dass die Berücksichtigung früherer in einem anderen Mitgliedstaat ergangener Verurteilungen im Sinne dieser Bestimmung vom nationalen Gericht nicht verlangt, den aus der fehlenden Möglichkeit der – für frühere inländische Verurteilungen vorgesehenen – nachträglichen Gesamtstrafenbildung resultierenden Nachteil konkret darzulegen und zu begründen.

 Kosten

82      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 3 Abs. 1 und 5 des Rahmenbeschlusses 2008/675/JI des Rates vom 24. Juli 2008 zur Berücksichtigung der in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ergangenen Verurteilungen in einem neuen Strafverfahren

ist dahin auszulegen, dass

ein Mitgliedstaat nicht sicherstellen muss, dass in einem Strafverfahren gegen eine Person deren frühere Verurteilungen in einem anderen Mitgliedstaat wegen einer anderen Tat mit gleichwertigen Wirkungen versehen werden wie denen, die im Inland ergangene frühere Verurteilungen nach den Vorschriften des betreffenden nationalen Rechts über die Gesamtstrafenbildung haben, wenn zum einen die Straftat, die Gegenstand des neuen Verfahrens ist, begangen wurde, bevor die früheren Verurteilungen erfolgten, und zum anderen eine im Einklang mit den Vorschriften des nationalen Rechts erfolgende Berücksichtigung der früheren Verurteilungen das mit dem genannten Verfahren befasste nationale Gericht daran hindern würde, gegen die betreffende Person eine vollstreckbare Strafe zu verhängen.

2.      Art. 3 Abs. 5 Unterabs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/675

ist dahin auszulegen, dass

die Berücksichtigung früherer in einem anderen Mitgliedstaat ergangener Verurteilungen im Sinne dieser Bestimmung vom nationalen Gericht nicht verlangt, den aus der fehlenden Möglichkeit der – für frühere inländische Verurteilungen vorgesehenen – nachträglichen Gesamtstrafenbildung resultierenden Nachteil konkret darzulegen und zu begründen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.