Language of document : ECLI:EU:C:2023:465

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

TAMARA ĆAPETA

vom 8. Juni 2023(1)

Rechtssache C218/22

BU

gegen

Comune di Copertino

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Lecce [Gericht Lecce, Italien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Arbeitszeitgestaltung – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 – Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für bezahlten und vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub – Gefahr der ‚Monetisierung‘ – Nationale Vorschrift über die Nichtgewährung einer finanziellen Vergütung zwecks Kontrolle der öffentlichen Ausgaben – Beweislast für das Unvermögen, während der Dauer des Arbeitsverhältnisses Urlaub zu nehmen“






I.      Einleitung

1.        Haben Arbeitnehmer einen Anspruch auf Abgeltung ihres nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs? Mit anderen Worten, können sie auf ihren Anspruch auf eine Pause von der Arbeit verzichten und sich stattdessen bei Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses den Geldwert dieses Anspruchs auszahlen lassen? Hindert das Unionsrecht die Mitgliedstaaten an der Einführung von Maßnahmen, die darauf abzielen, eine solche Wahl seitens des Arbeitnehmers zu verhindern?

2.        Diese Fragen ergeben sich in der vorliegenden Rechtssache aus dem beim Tribunale di Lecce (Gericht Lecce, Italien), dem vorlegenden Gericht, anhängigen Verfahren. Dieses Gericht ersucht im Wesentlichen um eine Entscheidung darüber, inwieweit die Arbeitszeitrichtlinie(2) die „Monetisierung“ bezahlten Jahresurlaubs verhindert, d. h. die Umwandlung eines nicht wahrgenommenen Anspruchs oder nicht wahrgenommener Ansprüche auf bezahlten Urlaub in eine Geldsumme.

3.        Dieser Sache liegt ein Rechtsstreit zwischen BU, der im öffentlichen Dienst beschäftigt war, und seinem Arbeitgeber, der Comune di Copertino (Gemeinde Copertino, Italien), zugrunde(3). BU begehrt die Feststellung eines Anspruchs auf finanzielle Vergütung bezahlten Jahresurlaubs, den er während der Dauer der Beschäftigung nicht genommen hatte.

II.    Hintergrund des Ausgangsrechtsstreits, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof

4.        BU, der Kläger im Ausgangsverfahren, war von Februar 1992 bis Oktober 2016 in der Position eines „Istruttore Direttivo Tecnico“ (Technischer Leiter für öffentliche Bauvorhaben) als Beschäftigter des öffentlichen Dienstes in der Gemeinde Copertino tätig.

5.        Mit einem an die Gemeinde Copertino gerichteten Schreiben vom 24. März 2016 schied BU auf eigenen Wunsch aus dem Dienst aus, um in den vorzeitigen Ruhestand einzutreten(4). Seine Tätigkeit endete daher am 1. Oktober 2016.

6.        Im Rahmen des Ausgangsverfahrens behauptet BU, dass sich sein nicht genommener Jahresurlaub im Zeitraum zwischen 2013 und 2016 auf 79 Tage belaufen habe. Er macht daher für jene Tage einen Ausgleichsanspruch geltend, da er der Auffassung ist, nicht in der Lage gewesen zu sein, diesen Jahresurlaub zu nehmen, während er im Dienst gewesen sei(5).

7.        Die Gemeinde Copertino erwidert, dass BU sich seiner Verpflichtung, seinen Resturlaub zu nehmen, bewusst gewesen sei und dass der Resturlaub nicht abgegolten werden könne(6). Dazu stützt sie sich auf die Regelung in Art. 5 Abs. 8 des italienischen Decreto-legge Nr. 95/2012(7), wonach Arbeitnehmer im Bereich der öffentlichen Verwaltung Jahresurlaub nach den für die Verwaltung, in der sie angestellt seien, geltenden Vorschriften nehmen müssten und keinesfalls einen Anspruch auf finanzielle Vergütung des nicht genommenen Jahresurlaubs hätten. Diese Vorschrift gelte gleichermaßen für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund von Arbeitsplatzwechsel, Kündigung, Auflösung oder Eintritt in den Ruhestand.

8.        Das vorlegende Gericht führt aus, dass die in Rede stehende Rechtsvorschrift Teil des Regelungspakets gewesen sei, das nach der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 verabschiedet worden sei, um eine bessere Kontrolle über den Haushalt und die Einsparungen im Bereich der öffentlichen Verwaltung zu bewirken. Dieser Zweck werde zudem durch die Überschrift der maßgeblichen Bestimmung, d. h. Art. 5 („Kürzung der Ausgaben der öffentlichen Verwaltung“) des Decreto-legge Nr. 95/2012, bestätigt.

9.        Darüber hinaus habe die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) in ihrem Urteil Nr. 95/2016(8) Klagen auf Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Art. 5 Abs. 8 des Decreto-legge Nr. 95/2012 als unbegründet abgewiesen. Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) habe eine eigene Auslegung der betreffenden Bestimmung vorgenommen und sei zu der Auffassung gelangt, dass die Bestimmung in dieser Auslegung weder gegen die italienische Verfassung noch gegen das anwendbare Unionsrecht verstoße. Nach Ansicht der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) verfolge die Unterbindung einer unkontrollierten Abgeltung von Urlaubsansprüchen neben der Eindämmung der öffentlichen Ausgaben weitere Ziele. Zu diesen Zielen gehörten die Bekräftigung der Bedeutung der tatsächlichen Inanspruchnahme des Jahresurlaubs und die Förderung einer ordnungsgemäßen Planung des bezahlten Jahresurlaubs. Vor diesem Hintergrund sei die betreffende Regelung dahin ausgelegt worden, dass sie die Auszahlung von Ersatzleistungen in Fällen verbiete, in denen es möglich gewesen sei, die Inanspruchnahme des Urlaubs im Voraus zu planen, wovon verschiedene Fallgestaltungen einschließlich der Kündigung erfasst seien.

10.      Diese Auslegung stehe nach Ansicht der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) im Übrigen im Einklang mit der Rechtsprechung der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) und des Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), die einen Anspruch der Arbeitnehmer auf eine finanzielle Vergütung für Urlaub anerkennen, der aus von ihnen nicht zu vertretenden Gründen nicht genommen wurde.

11.      Da die von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) angeführte Rechtsprechung für das Verständnis des Zusammenhangs, in dem das Vorabentscheidungsersuchen steht, maßgeblich ist, werde ich diese Rechtsprechung kurz darstellen.

12.      Die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) war zunächst der Auffassung, dass eine Abgeltung voraussetze, dass der Arbeitnehmer nachweise, dass er seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub aufgrund „außergewöhnlicher und berechtigter dienstlicher Erfordernisse oder höherer Gewalt“(9) nicht habe wahrnehmen können. In der Folge entschied sie, dass der Arbeitnehmer einen Anspruch auf eine finanzielle Vergütung habe, es sei denn, der Arbeitgeber könne nachweisen, dass er dem Arbeitnehmer die Möglichkeit eröffnet habe, seinen Urlaubsanspruch vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses tatsächlich wahrzunehmen und dass er den Arbeitnehmer unter ausdrücklichem Hinweis auf den möglichen Verlust des Anspruchs in angemessener Weise über diese Folge informiert habe(10). Konkret hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) einen Abgeltungsanspruch im Fall einer Kündigung am Ende des Mutterschaftsurlaubs anerkannt, da die Arbeitnehmerin, obwohl das Arbeitsverhältnis aufgrund einer freiwilligen Entscheidung ihrerseits wirksam beendet worden sei, während des Zeitraums, in dem das Arbeitsverhältnis geruht habe, in keiner Weise in der Lage gewesen wäre, bezahlten Jahresurlaub zu nehmen(11).

13.      Der Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) hat in seinen Urteilen zu Art. 5 Abs. 8 des Decreto-legge Nr. 95/2012 darauf bestanden, dass medizinische Gründe wie diejenigen, die sich aus einer Arbeitsunfähigkeit ergeben, den Abgeltungsanspruch für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub nicht berührten(12).

14.      Das vorlegende Gericht führt aus, dass diese Auslegung der maßgeblichen Bestimmung des Decreto-legge Nr. 95/2012 die Abgeltung von Jahresurlaub nur für diejenigen Fälle erlaube, in denen eine Inanspruchnahme des Urlaubs aus Gründen unterblieben sei, die der Arbeitnehmer nicht zu vertreten habe (z. B. Krankheit). Jedoch könne die Abgeltung einem Arbeitnehmer verwehrt werden, wenn die Beendigung der Arbeit vorhersehbar gewesen sei, wozu auch der Fall der Kündigung durch den Arbeitnehmer gehöre.

15.      Auch nach dieser Auslegung bestehe ein potenzieller Konflikt zwischen Art. 5 Abs. 8 des Decreto-legge Nr. 95/2012 und der Arbeitszeitrichtlinie in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof. Das vorlegende Gericht verweist insoweit auf das Urteil job-medium(13).

16.      Da das Tribunale di Lecce (Gericht Lecce) Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der italienischen Regelung mit der Arbeitszeitrichtlinie hegt, hat es beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegenstehen, die zugunsten der Eindämmung öffentlicher Ausgaben sowie wegen organisatorischer Erfordernisse des öffentlichen Arbeitgebers ein Urlaubsabgeltungsverbot im Fall der Eigenkündigung eines im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeitnehmers vorsieht?

2.      Sind darüber hinaus, falls dies bejaht wird, Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie und Art. 31 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen, dass ein Beschäftigter des öffentlichen Dienstes nachweisen muss, dass es ihm nicht möglich war, den Urlaub während des laufenden Arbeitsverhältnisses in Anspruch zu nehmen?

17.      BU, die Gemeinde Copertino, die italienische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht. Eine mündliche Verhandlung hat nicht stattgefunden.

III. Würdigung

18.      Das Vorabentscheidungsersuchen ergibt sich aus dem italienischen Recht und der einschlägigen Rechtsprechung zu dessen Auslegung einschließlich der Rechtsprechung der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof). Das vorlegende Gericht scheint die Auffassung der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof), wonach die in Rede stehende italienische Regelung im Einklang mit der Arbeitszeitrichtlinie stehe, nicht zu teilen.

19.      Keine der bisherigen Rechtsstreitigkeiten in Italien im Zusammenhang mit der in Rede stehenden Regelung hat zu Vorabentscheidungsverfahren geführt. Es ist daher das erste Mal, dass der Gerichtshof ersucht wird, zu erläutern, ob die Mitgliedstaaten beschließen können, die Abgeltung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub in der Weise zu verhindern, in der es Italien im Bereich der öffentlichen Verwaltung getan hat.

20.      Bevor ich weiter mit meiner Analyse fortfahre, ist eine Vorbemerkung angezeigt. Entsprechend der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten im Vorabentscheidungsverfahren kann der Gerichtshof nicht nationales Recht auslegen; er hat in Bezug auf den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen von den Feststellungen in der Vorlageentscheidung auszugehen(14).

21.      Daher gehe ich unter Berücksichtigung der Ausführungen in der Vorlageentscheidung von folgender Auslegung der italienischen Regelung aus: Mit dem Ziel, die Abgeltung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub im Bereich der öffentlichen Verwaltung zu verhindern, aber auch, um die Arbeitnehmer dazu anzuhalten, diesen Urlaub tatsächlich zu nehmen, hat die italienische Regelung die Umwandlung nicht wahrgenommener Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub in einen Geldbetrag verboten. In der Auslegung durch die Rechtsprechung, einschließlich der Rechtsprechung der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof), scheint diese Regelung eine Abgeltung nicht unter allen Umständen zu verbieten, sondern nur in den Fällen, in denen die Arbeitnehmer die Möglichkeit hatten, die Inanspruchnahme ihres bezahlten Jahresurlaubs zu planen.

22.      Das Gericht möchte mit seinen beiden Fragen im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie eine solche nationale Regelung verbietet und, wenn nicht, ob der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber den Nachweis dafür zu erbringen hat, dass der Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit hatte, den bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Ich werde diese Fragen der Reihe nach behandeln.

A.      Zur ersten Frage

23.      Mit seiner ersten Frage möchte das Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie einer nationalen Regelung entgegensteht, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Abgeltungsverbot für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub vorsieht.

24.      Ich werde auf diese Frage wie folgt eingehen: Zunächst werde ich prüfen, unter welchen Voraussetzungen die Arbeitszeitrichtlinie den Anspruch auf Urlaubsabgeltung regelt. Sodann werde ich darlegen, dass die Richtlinie der tatsächlichen Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs den Vorrang einräumt, da dies im Einklang mit den Vorteilen des Urlaubs für die Gesundheit der Arbeitnehmer steht. Schließlich werde ich prüfen, ob eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende erlassen werden kann, um Arbeitnehmer dazu anzuhalten, den bezahlten Jahresurlaub tatsächlich zu nehmen.

1.      Wann besteht ein Anspruch auf eine finanzielle Vergütung?

25.      Das vorlegende Gericht nimmt Bezug auf das Urteil job-medium, um seine Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der in Rede stehenden italienischen Regelung mit der Arbeitszeitrichtlinie darzulegen. Es führt folgenden Absatz dieses Urteils an: „Ferner ergibt sich aus einer ständigen Rechtsprechung, dass Art. 7 Abs. 2 der [Arbeitszeitrichtlinie] für das Entstehen des Anspruchs auf eine finanzielle Vergütung keine andere Voraussetzung aufstellt als die, dass zum einen das Arbeitsverhältnis beendet ist und dass zum anderen der Arbeitnehmer bzw. die Arbeitnehmerin nicht den gesamten Jahresurlaub genommen hat, auf den er bzw. sie bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hatte“(15).

26.      Aus dieser Feststellung folgt, dass die Mitgliedstaaten keine zusätzlichen Voraussetzungen für das Entstehen des Anspruchs auf die finanzielle Vergütung aufstellen können.

27.      In Bezug auf die erste Voraussetzung, die die finanzielle Vergütung mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses verknüpft, bestätigt die Rechtsprechung, dass, wenn der bezahlte Jahresurlaub auf der Grundlage eines Bezugszeitraums (der in der Regel zwölf Monate umfasst) gewährt wird, eine Abgeltung während oder am Ende dieses Bezugszeitraums nicht möglich ist(16). Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass es eine Übertragungsfrist geben muss, wenn der Urlaub nach Ablauf dieses Zeitraums aus Gründen nicht genommen wird, die dem Arbeitnehmer nicht zuzurechnen sind(17). Befindet sich der Arbeitnehmer noch im Arbeitsverhältnis, kann er keine Auszahlung von Ersatzleistungen verlangen.

28.      Bei der finanziellen Vergütung handelt es sich daher nicht um ein eigenständiges, den Arbeitnehmern durch die Arbeitszeitrichtlinie verliehenes Recht. Ein Arbeitnehmer kann nicht die finanzielle Vergütung anstelle des bezahlten Jahresurlaubs wählen. Nur für den Fall, dass das Arbeitsverhältnis beendet wird, lässt Art. 7 Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie zu, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub durch eine finanzielle Vergütung abgegolten wird(18).

29.      Zudem stellt die finanzielle Vergütung lediglich eine Ausnahme dar(19), die, wie in der zweiten Voraussetzung im Urteil job-medium zum Ausdruck kommt(20), vom Bestehen des Anspruchs auf Jahresurlaub im Zeitpunkt der Beantragung der finanziellen Vergütung abhängt: Der Abgeltungsanspruch entsteht, sofern der Arbeitnehmer nicht den gesamten Jahresurlaub genommen hat, auf den er bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hatte.

30.      Daher besteht der Anspruch auf finanzielle Vergütung nur, wenn der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub noch besteht.

31.      Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ergibt sich unmittelbar aus der Arbeitszeitrichtlinie, allein aufgrund des Bestehens des Arbeitsverhältnisses, und die Mitgliedstaaten können keinerlei zusätzliche Voraussetzungen für das Entstehen eines solchen Anspruchs schaffen(21). Sie dürfen jedoch Voraussetzungen für die Ausübung des Anspruchs auf Jahresurlaub festlegen(22). Insoweit können sie vorsehen, dass der erworbene Anspruch erlischt, wenn er nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums wahrgenommen wird. Daher können die Mitgliedstaaten die Dauer des Übertragungszeitraums für nicht genommenen Jahresurlaub begrenzen(23).

32.      Im Urteil Max-Planck-Gesellschaft hat der Gerichtshof entschieden, dass „Art. 7 Abs. 1 der [Arbeitszeitrichtlinie] grundsätzlich einer nationalen Regelung, die für die Wahrnehmung des mit dieser Richtlinie ausdrücklich verliehenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub Modalitäten vorsieht, die sogar den Verlust dieses Anspruchs am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums umfassen, nicht entgegensteht, allerdings unter der Voraussetzung, dass der Arbeitnehmer, dessen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen ist, tatsächlich die Möglichkeit hatte, den ihm mit der Richtlinie verliehenen Anspruch wahrzunehmen“(24).

33.      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Arbeitszeitrichtlinie im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht immer dem Wegfall nicht genommenen Jahresurlaubs entgegensteht.

34.      Wenn der Anspruch auf nicht genommenen Jahresurlaub im Zeitpunkt der Beendigung eines Arbeitsverhältnisses erloschen war, besteht kein Sekundäranspruch auf eine finanzielle Vergütung.

35.      Im Urteil job-medium entschied der Gerichtshof, dass die Eigenkündigung für sich genommen kein Grund für die Verweigerung der finanziellen Vergütung sein kann. Diese Rechtssache betraf jedoch einen Sachverhalt, in dem der Anspruch auf Jahresurlaub bestand(25). Wäre der Anspruch auf Jahresurlaub erloschen oder hätte er aus irgendeinem Grund nicht fortbestanden, könnte ein Arbeitnehmer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses keine finanzielle Vergütung fordern.

36.      Ob ein solcher Wegfall der finanziellen Vergütung toleriert werden darf, hängt von der Überprüfung ab, ob der Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt wurde, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub wahrzunehmen. Daher kann ein solcher Wegfall nicht automatisch eintreten(26).

37.      Hat der Arbeitnehmer seinen bezahlten Jahresurlaub aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen nicht genommen, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen, ohne dass der Arbeitgeber verpflichtet wäre, den Arbeitnehmer dazu zu zwingen, diesen Anspruch tatsächlich wahrzunehmen, stehen, wie der Gerichtshof ausgeführt hat, Art. 7 Abs. 1 und 2 der Arbeitszeitrichtlinie und Art. 31 Abs. 2 der Charta dem Verlust dieses Anspruchs und – bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses – auch dem entsprechenden Wegfall der finanziellen Vergütung für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub nicht entgegen(27).

38.      Zusätzlich zu dem Erfordernis, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt worden sein muss, Jahresurlaub zu nehmen, hat der Gerichtshof zudem hervorgehoben, dass der Arbeitgeber den betreffenden Arbeitnehmer über das mögliche Erlöschen von dessen Anspruch in Kenntnis setzen muss(28).

39.      Der Anspruch auf finanzielle Vergütung stellt daher kein eigenständiges Recht dar, das dem Arbeitnehmer die Wahl zwischen der Inanspruchnahme des Jahresurlaubs und dem finanziellen Ausgleich für den nicht genommenen Urlaub lässt. Vielmehr handelt es sich um einen Anspruch, der vom Fortbestehen des Anspruchs auf nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub abhängt, dessen Geltungsdauer die Mitgliedstaaten begrenzen dürfen.

40.      Der subsidiäre Charakter der finanziellen Vergütung folgt logisch aus dem Zweck des Jahresurlaubs, der im Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer besteht, indem die Möglichkeit eröffnet wird, sich von der Arbeit zu erholen. Daher muss der bezahlte Jahresurlaub nach Art. 7 Abs. 1 der Arbeitszeitrichtlinie grundsätzlich tatsächlich genommen werden(29). Im folgenden Abschnitt werde ich kurz darlegen, dass Jahresurlaub tatsächlich Vorteile bringt, wenn er wirklich genommen wird, bevor ich die Frage beantworten werde, ob die Mitgliedstaaten Maßnahmen wie diejenigen des vorliegenden Falles erlassen können, um darauf hinzuwirken, dass der Jahresurlaub tatsächlich genommen wird.

2.      Vorteile des bezahlten Jahresurlaubs

41.      Der Vorrang der tatsächlichen Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs gegenüber dessen Abgeltung, der sich im Wortlaut von Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie widerspiegelt(30), ist durch den Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gerechtfertigt. Wie die Rechtsprechung erläutert, besteht der Zweck dieses Anspruchs darin, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen(31).

42.      Der Gerichtshof hat wiederholt die Auffassung geäußert, dass sich die Wirkung des bezahlten Jahresurlaubs für die Sicherheit und die Gesundheit des Arbeitnehmers in vollem Umfang entfaltet, wenn der Urlaub in dem hierfür vorgesehenen Jahr genommen wird.

43.      Zudem hat der Gerichtshof entschieden, dass die Ruhezeit ihre Bedeutung auch nicht verliert, wenn sie zu einer späteren Zeit genommen wird(32). Jedoch hat der Gerichtshof im Urteil KHS festgestellt, dass über eine gewisse zeitliche Grenze hinaus „dem Jahresurlaub nämlich seine positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit [fehlt]; erhalten bleibt ihm lediglich seine Eigenschaft als Zeitraum für Entspannung und Freizeit“(33). Diese Feststellung ist die Rechtfertigung dafür, dass die Mitgliedstaaten die Dauer der Übertragungsfrist für nicht genommenen Urlaub begrenzen können(34).

44.      Die empirische Forschung hierzu stützt den Standpunkt des Gerichtshofs.

45.      In der Literatur scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass eine über die tägliche und wöchentliche Ruhezeit hinausgehende Erholung tatsächlich positive Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Arbeitnehmer hat(35). Diese Vorteile betreffen sowohl Kurzurlaube(36) als auch lange Urlaube(37).

46.      Was vielleicht weniger bekannt ist oder seltener für möglich gehalten wird, ist, dass diese positiven Auswirkungen nur von kurzer Dauer sind(38). Einige „schwinden innerhalb eines Monats nach Wiederaufnahme der Arbeit“(39).

47.      Man konnte aus diesen Studien ableiten, dass bezahlter Jahresurlaub die größten Vorteile bringt, wenn er regelmäßig genommen wird, indem man im Laufe des Jahres kürzere und längere Pausen von der Arbeit miteinander kombiniert. Die Forschung bestätigt jedenfalls, dass es wichtig ist, den bezahlten Jahresurlaub während des Bezugszeitraums zu nehmen.

48.      Selbst wenn man bezahlten Jahresurlaub aus verschiedenen persönlichen Gründen (wichtige Reise, weit entfernt lebende Familie etc.) ansammeln darf, ist es, ohne diese persönliche Entscheidung in Frage zu stellen, zweifelhaft, dass dies unter dem Blickwinkel der Wiederherstellung der Arbeitskraft von Vorteil sein wird.

49.      Überdies könnte die Nichtinanspruchnahme bezahlten Jahresurlaubs zwar zu einer Erhöhung des Einkommens führen, doch ist sie mit einer Beeinträchtigung der Lebensqualität in Zusammenhang gebracht worden (erheblicher Rückgang der Zufriedenheit mit Freizeit und Gesundheit, verbunden mit einer Zunahme krankheitsbedingter Fehlzeiten)(40)

50.      Die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub ist daher ein wichtiges Mittel für Arbeitnehmer, um ihre geistige und körperliche Energie wiederherzustellen sowie, allgemeiner, zu ihrer Gesundheit innerhalb und außerhalb des beruflichen Umfelds beizutragen.

51.      Diese Ergebnisse stützen die Rechtsprechung, wonach dem Jahresurlaub über einen gewissen Übertragungszeitraum hinaus seine positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit fehlt und ihm lediglich seine Eigenschaft als Zeitraum für Entspannung und Freizeit erhalten bleibt(41). Sie rechtfertigen zudem die Rechtsprechung, mit der der Gerichtshof wiederholt klargestellt hat, dass der Mindestjahresurlaub außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden darf. Art. 7 Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie soll auch sicherstellen, dass der Arbeitnehmer über eine tatsächliche Ruhezeit verfügen kann, damit ein wirksamer Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit gewährleistet ist(42).

3.      Können die Mitgliedstaaten den Anspruch auf eine finanzielle Vergütung begrenzen?

52.      Die Mitgliedstaaten dürfen daher die tatsächliche Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs anstelle von dessen Abgeltung fördern, indem sie (durch eine Begrenzung der Dauer des Übertragungszeitraums) zeitliche Grenzen für die Dauer des erworbenen Anspruchs auf Jahresurlaub einführen. Könnten die Mitgliedstaaten versuchen, dieses Ziel auf verschiedene Weisen einschließlich des Erlasses eines Gesetzes wie des im vorliegenden Fall in Rede stehenden zu erreichen?

53.      Eine Möglichkeit besteht darin, dass der Gerichtshof entscheidet, dass die Festlegung einer zeitlichen Begrenzung für den Übertragungszeitraum, nach dessen Ablauf der Anspruch auf nicht genommene Urlaubstage verfällt, die einzig zulässige Form darstellt, in der die Mitgliedstaaten Arbeitnehmer zur tatsächlichen Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs anhalten dürfen.

54.      In den Bereichen geteilter Zuständigkeiten wie dem, in dem die Arbeitszeitrichtlinie erlassen wurde, hat der Unionsgesetzgeber jedoch darauf verzichtet, die Einzelheiten zu regeln, durch die ein Anreiz für Arbeitnehmer geschaffen werden könnte, bezahlten Urlaub tatsächlich zu nehmen. Er hat lediglich eine deutliche Präferenz für die tatsächliche Inanspruchnahme des Urlaubs geäußert, indem er die Abgeltung von Urlaub als sekundäres Recht angesehen hat. Unter diesen Umständen verbleibt die Zuständigkeit für die Ausgestaltung geeigneter Regelungen, mit denen Arbeitnehmer dazu angehalten werden, ihre jährliche Ruhezeit tatsächlich in Anspruch zu nehmen, weiterhin bei den Mitgliedstaaten. Daher können Begrenzungen des Übertragungszeitraums nicht als die einzige Möglichkeit zur Förderung der tatsächlichen Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs während des Bezugszeitraums, in dem der Urlaub genommen werden soll, angesehen werden. Gleichwohl ist jede von den Mitgliedstaaten getroffene gesetzgeberische Entscheidung im Einklang mit der Arbeitszeitrichtlinie in der Auslegung des Gerichtshofs zu treffen.

55.      Erfüllt eine nationale Regelung wie Art. 5 Abs. 8 des italienischen Decreto-legge Nr. 95/2012 die Voraussetzungen von Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie?

56.      Das italienische Recht scheint zumindest in der Auslegung der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) die Förderung der tatsächlichen Inanspruchnahme des Jahresurlaubs zum Ziel zu haben. Aus diesem Grund und zur Wahrung des Finanzvermögens der öffentlichen Hand wurde die Vorschrift eingeführt, wonach nicht in Anspruch genommene Zeiträume bezahlten Jahresurlaubs nicht abgegolten werden können.

57.      In der Auslegung der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) hält das italienische Recht Arbeitnehmer davon ab, eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen Jahresurlaub zu verlangen, wenn ihnen bewusst war, wann ihr Arbeitsverhältnis enden würde und sie daher die Inanspruchnahme des Jahresurlaubs vor diesem Zeitpunkt planen konnten. Eine solche Regelung hält Arbeitnehmer dazu an, Jahresurlaub im Bezugszeitraum zu nehmen(43).

58.      Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs(44) kann die italienische Rechtsvorschrift mit Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie im Einklang stehen, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind: Erstens kann sich das Abgeltungsverbot nicht auf den Urlaubsanspruch erstrecken, der in dem Bezugsjahr erworben wurde, in dem die Beendigung der Tätigkeit erfolgt. Zweitens muss der Arbeitnehmer in den vorangegangenen Bezugsjahren einschließlich des Mindestübertragungszeitraums tatsächlich in die Lage versetzt worden sein, den bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Drittens hat der Arbeitgeber den Arbeitnehmer dazu angehalten, den Jahresurlaub zu nehmen. Viertens hat der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer mitgeteilt, dass nicht genommener bezahlter Jahresurlaub nicht angesammelt werden könne, um durch eine finanzielle Vergütung im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ersetzt zu werden.

59.      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, ob die maßgebliche italienische Regelung in diesem Sinne ausgelegt werden kann und ob die aufgeführten Voraussetzungen im vorliegenden Fall erfüllt sind.

60.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die erste Frage des vorlegenden Gerichts dahin zu beantworten, dass Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Abgeltungsverbot für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub vorsieht, wenn

–        sich das Abgeltungsverbot nicht auf den in dem Bezugsjahr, in dem die Beendigung der Tätigkeit erfolgt, erworbenen Urlaubsanspruch erstreckt;

–        der Arbeitnehmer in die Lage versetzt wurde, den bezahlten Jahresurlaub in den vorangegangenen Bezugsjahren einschließlich des Mindestübertragungszeitraums zu nehmen;

–        der Arbeitgeber den Arbeitnehmer dazu angehalten hat, den bezahlten Jahresurlaub zu nehmen;

–        der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer mitgeteilt hat, dass nicht genommener bezahlter Jahresurlaub nicht angesammelt werden könne, um im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch eine finanzielle Vergütung ersetzt zu werden.

B.      Zur zweiten Frage

61.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, wer die Beweislast für die Erfüllung der in der vorstehenden Nummer genannten Voraussetzungen trägt – der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber.

62.      Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie enthält bestimmte Elemente, die Leitlinien für die Beantwortung dieser Frage bieten. So hat der Gerichtshof im Urteil Fraport entschieden, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, zu prüfen, ob der Arbeitgeber seinen Obliegenheiten rechtzeitig nachgekommen ist, zur Inanspruchnahme des Urlaubs aufzufordern und darauf hinzuweisen(45). Es obliegt daher dem Arbeitgeber zu beweisen, dass er seinen eigenen Obliegenheiten nachgekommen ist.

63.      Aus der ständigen Rechtsprechung folgt auch, dass das Erlöschen des Urlaubsanspruchs bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses und das entsprechende Ausbleiben der Zahlung einer finanziellen Vergütung für den nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie darstellen, wenn der Arbeitgeber nicht nachweisen kann, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen(46).

64.      Mit anderen Worten, die Beweislast trägt nicht der Arbeitnehmer, sondern der Arbeitgeber.

65.      Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, in Beantwortung der zweiten Vorlagefrage festzustellen, dass Art. 7 Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie vorschreibt, dass der Arbeitgeber nachweist, dass er den Arbeitnehmer in die Lage versetzt und dazu angehalten hat, den Urlaub zu nehmen, dass er ihm mitgeteilt hat, dass die Abgeltung im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht möglich sein werde, und dass sich der Arbeitnehmer dennoch dafür entschieden hat, den Jahresurlaub nicht zu nehmen. Hat der Arbeitgeber dies unterlassen, ist dem Arbeitnehmer eine Entschädigung zu zahlen.

IV.    Ergebnis

66.      Ich schlage nach alledem dem Gerichtshof vor, die vom Tribunale di Lecce (Gericht Lecce, Italien) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung

steht einer nationalen Regelung nicht entgegen, die bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Abgeltungsverbot für nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub vorsieht, wenn

–        sich das Abgeltungsverbot nicht auf den in dem Bezugsjahr, in dem die Beendigung der Tätigkeit erfolgt, erworbenen Urlaubsanspruch erstreckt;

–        der Arbeitnehmer in die Lage versetzt wurde, den bezahlten Jahresurlaub in den vorangegangenen Bezugsjahren einschließlich des Mindestübertragungszeitraums zu nehmen;

–        der Arbeitgeber den Arbeitnehmer dazu angehalten hat, den bezahlten Jahresurlaub zu nehmen;

–        der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer mitgeteilt hat, dass nicht genommener bezahlter Jahresurlaub nicht angesammelt werden könne, um im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch eine finanzielle Vergütung ersetzt zu werden.

2.      Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88

schreibt vor, dass der Arbeitgeber nachweist, dass er den Arbeitnehmer in die Lage versetzt und dazu angehalten hat, den Urlaub zu nehmen, dass er ihm mitgeteilt hat, dass die Abgeltung im Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht möglich sein werde, und dass sich der Arbeitnehmer dennoch dafür entschieden hat, den Jahresurlaub nicht zu nehmen.

Hat der Arbeitgeber dies unterlassen, ist dem Arbeitnehmer eine Entschädigung zu zahlen.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9, im Folgenden: Arbeitszeitrichtlinie).


3      Es sei darauf hingewiesen, dass die Arbeitszeitrichtlinie gemäß Art. 1 Abs. 3 für alle „privaten oder öffentlichen“ Tätigkeitsbereiche gilt, weshalb diese Richtlinie auf einen Arbeitgeber wie den des Ausgangsverfahrens, eine Gemeinde, unstreitig anwendbar ist.


4      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass BU den Antrag auf Entlassung bereits im Jahr 2015 gestellt hatte. Der italienische Sozialversicherungsträger (INPS) teilte ihm zu diesem Zeitpunkt jedoch mit, dass sein Antrag auf eine vorzeitige Altersrente am 1. Juli 2015 „keine Aussicht auf Erfolg hat, da die Voraussetzungen für den Ruhestand nicht erfüllt waren“. BU blieb daher im Dienst, bis er den regulären Ruhestand in Anspruch nehmen konnte.


5      Es ist darauf hinzuweisen, dass die Gemeinde Copertino in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen die Zahl der Tage, auf die sich der Kläger im Ausgangsverfahren stützt, bestreitet. Dabei handelt es sich jedoch um eine Frage, deren Klärung dem nationalen Gericht obliegt.


6      Die Gemeinde Copertino weist in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen darauf hin, dass BU am 17. Mai 2016 beantragt habe, 93 Tage bezahlten Jahresurlaubs zu nehmen, der ihm für den Zeitraum 2013 bis 2016 zugestanden habe, und dass er sich vom 23. Mai 2016 bis zum 30. September 2016 tatsächlich im bezahlten Urlaub befunden habe. Daher sei unverständlich, auf welcher Grundlage BU einen Ausgleichsanspruch für 79 Tage nicht genommenen Jahresurlaubs geltend mache. Insoweit und im Anschluss an das Urteil vom 14. Mai 2019, CCOO (C‑55/18, EU:C:2019:402), lässt sich die Ansicht vertreten, dass die Gemeinde für jeden ihrer Arbeitnehmer eine Liste über den Stand des bezahlten Jahresurlaubs führen sollte, um die Richtigkeit jeglicher Ansprüche wie denen des Ausgangsverfahrens zu prüfen.


7      Art. 5 Abs. 8 des Decreto-legge 6 luglio 2012, n. 95, Disposizioni urgenti per la revisione della spesa pubblica con invarianza dei servizi ai cittadini nonché misure di rafforzamento patrimoniale delle imprese del settore bancario (Decreto-legge Nr. 95 vom 6. Juli 2012, Dringlichkeitsvorschriften zur Überprüfung der öffentlichen Ausgaben unter Beibehaltung der Dienstleistungen für Bürgerinnen und Bürger sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Eigenkapitalausstattung von Unternehmen im Bankensektor), mit Änderungen umgewandelt durch Art. 1 Abs. 1 der Legge 7 agosto 2012, n. 135 (Gesetz Nr. 135 vom 7. August 2012).


8      IT:COST:2016:95.


9      Corte suprema di cassazione, Sezione lavoro (Kassationsgerichtshof, Kammer für Arbeitsrecht), Beschluss vom 30. Juli 2018, Nr. 20091.


10      Corte suprema di cassazione, Sezione lavoro (Kassationsgerichtshof, Kammer für Arbeitsrecht), Beschluss vom 2. Juli 2020, Nr. 13613, Corte suprema di cassazione, Sezione lavoro (Kassationsgerichtshof, Kammer für Arbeitsrecht), Beschluss vom 5. Mai 2022, Nr. 14268.


11      Corte suprema di cassazione, Sezione lavoro (Kassationsgerichtshof, Kammer für Arbeitsrecht), Beschluss vom 15. Juni 2022, Nr. 19330.


12      Consiglio di Stato, Sezione VI (Staatsrat, Sechste Kammer), 8. Oktober 2010, IT:CDS:2010:7360SENT. Vgl. auch eine ähnliche Argumentation, jedoch mit einem etwas anderen Ergebnis, Consiglio di Stato, Sezione IV (Staatsrat, Vierte Kammer), 12. Oktober 2020, IT:CDS:2020:6047SENT.


13      Urteil vom 25. November 2021, job-medium (C‑233/20, EU:C:2021:960, im Folgenden: Urteil job-medium, insbesondere Rn. 31). Für weitere Ausführungen siehe Nrn. 25 ff. der vorliegenden Schlussanträge.


14      Vgl. z. B. Urteile vom 23. April 2009, Angelidaki u. a. (C‑378/07 bis C‑380/07, EU:C:2009:250, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung), und vom 26. Oktober 2017, Argenta Spaarbank (C‑39/16, EU:C:2017:813, Rn. 38).


15      Urteil Job-medium (Rn. 31). Dort wird Bezug auf Rn. 44 des Urteils vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth (C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, im Folgenden: Urteil Bauer und Willmeroth), genommen. Ähnliche Aussagen sind auch in früheren Urteilen enthalten, vgl. Urteile vom 12. Juni 2014, Bollacke (C‑118/13, EU:C:2014:1755), vom 20. Juli 2016, Maschek (C‑341/15, EU:C:2016:576, im Folgenden: Urteil Maschek) und, später, Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca (C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504, Rn. 84).


16      Urteil vom 6. April 2006, Federatie Nederlandse Vakbeweging (C‑124/05, EU:C:2006:244, Rn. 35).


17      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 22. November 2011, KHS (C‑214/10, EU:C:2011:761, im Folgenden: Urteil KHS, Rn. 38) und vom 3. Mai 2012, Neidel (C‑337/10, EU:C:2012:263, Rn. 41 und 42).


18      Vgl. u. a. Urteil vom 10. September 2009, Vicente Pereda (C‑277/08, EU:C:2009:542, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19      Dass die finanzielle Vergütung nur eine Ausnahme von der tatsächlichen Inanspruchnahme des Jahresurlaubs bildet, spiegelt sich auch in der Wahl der Formulierung in Art. 7 Abs. 2 der Arbeitszeitrichtlinie wider, wonach die tatsächliche Inanspruchnahme des bezahlten Jahresurlaubs außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden darf. Zum Beispiel verwendet die deutsche Sprachfassung die Formulierung „außer“, die französische Sprachfassung die Formulierung „sauf“, die kroatische Sprachfassung die Formulierung „osim“ und die italienische Sprachfassung die Formulierung „salvo“.


20      Siehe Nr. 25 der vorliegenden Schlussanträge.


21      Urteil vom 24. Januar 2012, Dominguez (C‑282/10, EU:C:2012:33, Rn. 18).


22      Urteil vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C‑350/06 und C‑520/06, EU:C:2009:18, im Folgenden: Urteil Schultz-Hoff, Rn. 28).


23      Vgl. in diesem Sinne Urteil KHS (Rn. 39).


24      Urteil vom 6. November 2018, Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (C‑684/16, EU:C:2018:874, im Folgenden: Urteil Max-Planck-Gesellschaft, Rn. 35). Vgl. hierzu bereits Urteil Schultz-Hoff (Rn. 43) und, aus jüngerer Zeit, Urteil vom 22. September 2022, LB (Verjährung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub) (C‑120/21, EU:C:2022:718, im Folgenden: Urteil LB, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).


25      Im Urteil job-medium stellte der Gerichtshof fest, dass sich der Umstand, dass der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis ohne wichtigen Grund vorzeitig beendet hat, für sich genommen nicht auf den Anspruch auf finanzielle Vergütung auswirkt. Die Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, betraf einen Sachverhalt, in dem jemand nach wenigen Monaten geleisteter Arbeit ohne Erklärung kündigte. In diesem Urlaubsjahr und unter Berücksichtigung der vom Rechtsmittelführer in jener Rechtssache erbrachten Arbeitstage hatte der Rechtsmittelführer noch Anspruch auf einige zusätzliche Tage nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs. Der Anspruch auf finanzielle Vergütung folgte daher aus dem Bestehen des Anspruchs auf Jahresurlaub.


26      Urteil Max-Planck-Gesellschaft (Rn. 40, 55 und 61), Urteile vom 6. November 2018, Kreuziger (C‑619/16, EU:C:2018:872, im Folgenden: Urteil Kreuziger, Rn. 47 und 56), und vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus (C‑518/20 und C‑727/20, EU:C:2022:707, im Folgenden: Urteil Fraport, Rn. 39).


27      Urteil Max-Planck-Gesellschaft (Rn. 56) und Urteil Kreuziger (Rn. 54).


28      Urteil Max-Planck-Gesellschaft (Rn. 45 und 61), Urteil Kreuziger (Rn. 52 und 56), Urteil Fraport (Rn. 42) und Urteil LB (Rn. 25 und 45).


29      Urteil vom 16. März 2006, Robinson-Steele u. a. (C‑131/04 und C‑257/04, EU:C:2006:177, Rn. 49), Urteil Bauer und Willmeroth (Rn. 40), Urteil Kreuziger (Rn. 38) und Urteil Max-Planck-Gesellschaft (Rn. 31).


30      Siehe Fn. 19 der vorliegenden Schlussanträge.


31      Urteil KHS (Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung), Urteil Maschek (Rn. 34), Urteil job-medium (Rn. 28) und Urteil Fraport (Rn.27). Der Gerichtshof war zudem der Auffassung, dass der Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub von anderen Formen des Urlaubs abweicht, wie z. B. des Krankheitsurlaubs (Urteile vom 30. Juni 2016, Sobczyszyn, C‑178/15, EU:C:2016:502, im Folgenden: Urteil Sobczyszyn, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 4. Juni 2020, Fetico u. a., C‑588/18, EU:C:2020:420, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung) oder des Anspruchs auf Elternurlaub (Urteil vom 4. Oktober 2018, Dicu, C‑12/17, EU:C:2018:799, Rn. 29, 32 und 33).


32      Urteile vom 6. April 2006, Federatie Nederlandse Vakbeweging (C‑124/05, EU:C:2006:244, Rn. 30), Urteil KHS (Rn. 32) und Urteil Sobczyszyn (Rn. 33).


33      Urteil KHS (Rn. 33).


34      In meinen Schlussanträgen in den verbundenen Rechtssachen Keolis Agen (C‑271/22 bis C‑275/22, EU:C:2023:243, Nr. 51), in denen noch kein Urteil ergangen ist, vertrete ich die Auffassung, dass der Unionsgesetzgeber den Mitgliedstaaten die Möglichkeit offengelassen hat, die Dauer der Übertragungsfrist zu begrenzen. Gleichzeitig können die Mitgliedstaaten auch frei entscheiden, ob sie die Ansammlung nicht genutzter Ansprüche auf bezahlten Urlaub bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses zulassen.


35      Hurrell, A., und Keiser, J., „An Exploratory Examination of the Impact of Vacation Policy Structure on Satisfaction, Productivity, and Profitability“, The BRC Academy Journal of Business, Bd. 10, Nr. 1, 2020, S. 33‑63.


36      Blank, C., und Gatterer, K., „Short Vacation Improves Stress-Level and Well-Being in German-Speaking Middle-Managers – A Randomized Controlled Trial“, International Journal of Environmental Research and Public Health, Bd. 15, Nr. 1, 2018, S. 130.


37      De Bloom, J., Kompier, M., Geurts, S., de Weerth, C., Taris, T., und Sonnentag, S., „Do We Recover from Vacation? Meta-analysis of Vacation Effects on Health and Well-being“, Journal of Occupational Health, Bd. 51, Nr. 1, 2009, S. 13–25; de Bloom, J., Geurts, S., und Kompier, M. A. J., „Vacation (after‑) effects on employee health and well-being, and the role of vacation activities, experiences and sleep“, Journal of Happiness Studies, Bd. 14, 2013, S. 613–633.


38      De Bloom, J., Geurts, S., und Kompier, M. A. J., „Vacation (after‑) effects on employee health and well-being, and the role of vacation activities, experiences and sleep“, a. a. O., Etzion, D., Work, Vacation and Well-being, London, Routledge, 2019, Kapitel 5.


39      Sonnentag, S., Cheng, B. H., und Parker, S. L., „Recovery from Work: Advancing the Field Toward the Future“, Annual Review of Organizational Psychology and Organizational Behavior, Bd. 9, 2022, S. 33–60, auf S. 46 (mit weiteren angeführten Literaturzitaten) (freie Übersetzung).


40      Schnitzlein, D., „Extent and Effects of Employees in Germany Forgoing Vacation Time“, Leibniz Information Centre for Economics, Berlin, 2012, S. 25‑31, auf S. 31.


41      Urteil KHS (Rn. 33).


42      Vgl. in diesem Sinne Urteil Kreuziger (Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung) und Urteil Bauer und Willmeroth (Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


43      Es sei darauf hingewiesen, dass der Arbeitgeber nach der Rechtsprechung nicht einseitig entscheiden kann, wann der Arbeitnehmer bezahlten Jahresurlaub nehmen soll. Vgl. in dieser Hinsicht Urteil vom 7. September 2006, Kommission/Vereinigtes Königreich (C‑484/04, EU:C:2006:526, Rn. 43); vgl. auch Urteil Max-Planck-Gesellschaft (Rn. 44) und Urteil Kreuziger (Rn. 51).


44      Siehe z. B. die Verweise in den Fn. 17, 24, 26 und 45 der vorliegenden Schlussanträge.


45      Urteil Fraport (Rn. 42).


46      Urteil Max-Planck-Gesellschaft (Rn. 46) und Urteil Kreuziger (Rn. 53).