Language of document : ECLI:EU:C:2023:670

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

14. September 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Grundsatz ne bis in idem – Rechtskräftige Einstellung eines ersten Verfahrens, das wegen Verstoßes gegen eine Bestimmung des nationalen Glücksspielrechts eingeleitet wurde – Verwaltungsstrafe, die wegen eines auf demselben Sachverhalt beruhenden Verstoßes gegen eine andere Bestimmung dieses Rechts verhängt wurde – Einstellung des ersten Verfahrens wegen einer falschen rechtlichen Einordnung des begangenen Verstoßes“

In der Rechtssache C‑55/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Vorarlberg (Österreich) mit Beschluss vom 18. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 2022, in dem Verfahren

NK

gegen

Bezirkshauptmannschaft Feldkirch

erlässt


DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb (Berichterstatter), des Richters A. Kumin und der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NK und der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch (Österreich) wegen Verwaltungsstrafen, die diese gegen NK wegen Verstößen gegen das österreichische Glücksspielrecht verhängt hat.

 Rechtlicher Rahmen

3        § 2 („Ausspielungen“) des Glücksspielgesetzes vom 21. Dezember 1989 (BGBl. 620/1989) in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: GSpG) bestimmt:

„(1)      Ausspielungen sind Glücksspiele,

1.      die ein Unternehmer veranstaltet, organisiert, anbietet oder zugänglich macht und

2.      bei denen Spieler oder andere eine vermögenswerte Leistung in Zusammenhang mit der Teilnahme am Glücksspiel erbringen (Einsatz) und

3.      bei denen vom Unternehmer, von Spielern oder von anderen eine vermögenswerte Leistung in Aussicht gestellt wird (Gewinn).

(2)      Unternehmer ist, wer selbstständig eine nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen aus der Durchführung von Glücksspielen ausübt, mag sie auch nicht auf Gewinn gerichtet sein.

Wenn von unterschiedlichen Personen in Absprache miteinander Teilleistungen zur Durchführung von Glücksspielen mit vermögenswerten Leistungen im Sinne der Z 2 und 3 des Abs. 1 an einem Ort angeboten werden, so liegt auch dann Unternehmereigenschaft aller an der Durchführung des Glücksspiels unmittelbar beteiligten Personen vor, wenn bei einzelnen von ihnen die Einnahmenerzielungsabsicht fehlt oder sie an der Veranstaltung, Organisation oder dem Angebot des Glücksspiels nur beteiligt sind.

(4)      Verbotene Ausspielungen sind Ausspielungen, für die eine Konzession oder Bewilligung nach diesem Bundesgesetz nicht erteilt wurde und die nicht vom Glücksspielmonopol des Bundes gemäß § 4 ausgenommen sind.“

4        § 52 („Verwaltungsstrafbestimmungen“) GSpG sieht vor:

„(1)      Es begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Behörde … mit einer Geldstrafe von bis zu 60 000 Euro … zu bestrafen,

1.      wer zur Teilnahme vom Inland aus verbotene Ausspielungen im Sinne des § 2 Abs. 4 veranstaltet, organisiert oder unternehmerisch zugänglich macht oder sich als Unternehmer im Sinne des § 2 Abs. 2 daran beteiligt;

(2)      Bei Übertretung des Abs. 1 Z 1 mit bis zu drei Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenständen ist für jeden Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenstand eine Geldstrafe in der Höhe von 1 000 Euro bis zu 10 000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 3 000 Euro bis zu 30 000 Euro, bei Übertretung mit mehr als drei Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenständen für jeden Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenstand eine Geldstrafe von 3 000 Euro bis zu 30 000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 6 000 Euro bis zu 60 000 Euro zu verhängen.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

5        NK ist Betreiber eines Lokals namens I.

6        Bei einer am 29. Dezember 2017 in diesem Lokal durchgeführten Kontrolle wurde festgestellt, dass dort vier funktionsfähige Glücksspielgeräte aufgestellt waren, obwohl keine Konzession für deren Betrieb erteilt worden war.

7        Mit Straferkenntnis vom 19. Februar 2018 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch gegen NK wegen Verstößen gegen § 52 Abs. 1 Z 1 drittes Tatbild GSpG in Verbindung mit § 2 Abs. 2 und 4 sowie § 4 GSpG vier Geldstrafen samt Ersatzfreiheitsstrafen, weil er als Betreiber des Lokals I Glücksspiele in Form von verbotenen Ausspielungen unternehmerisch zugänglich gemacht habe.

8        Mit Erkenntnis vom 13. August 2018 hob das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg (Österreich), bei dem es sich um das hier vorlegende Gericht handelt, das Straferkenntnis vom 19. Februar 2018 auf und stellte das Verfahren mit der Begründung ein, dass ausweislich der getroffenen Sachverhaltsfeststellungen NK Glücksspiele nicht im Sinne von § 52 Abs. 1 Z 1 drittes Tatbild GSpG zugänglich gemacht, sondern im Sinne von § 52 Abs. 1 Z 1 erstes Tatbild GSpG veranstaltet habe. Nach Ansicht dieses Gerichts hätte eine Abänderung des Straferkenntnisses der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch dahin, dass NK als Betreiber des Lokals I zu verantworten habe, dass er verbotene Ausspielungen veranstaltet habe, eine „unzulässige Auswechslung der Tat“ bedeutet.

9        Weder die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch noch der Bundesminister für Finanzen (Österreich) erhoben gegen das Erkenntnis vom 13. August 2018 Revision, obwohl sie die rechtliche Möglichkeit dazu gehabt hätten.

10      Mit Straferkenntnis vom 30. November 2018 verhängte die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch gegen NK wegen Verstößen gegen § 52 Abs. 1 Z 1 erstes Tatbild GSpG in Verbindung mit § 2 Abs. 2 und 4 sowie § 4 GSpG vier Geldstrafen samt Ersatzfreiheitsstrafen, weil er als Eigentümer von Glücksspielgeräten und als Betreiber des Lokals I am 29. Dezember 2017 Glücksspiele in Form von verbotenen Ausspielungen veranstaltet habe.

11      Mit Erkenntnis vom 4. Juli 2019 hob das vorlegende Gericht das Straferkenntnis vom 30. November 2018 auf. Das vorlegende Gericht führte aus, dass die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch NK erneut für dieselbe Tat am selben Ort zur selben Zeit bestraft und somit denselben Sachverhalt nur unter ein anderes Tatbild subsumiert habe. Es liege eine Doppel- oder Mehrfachbestrafung im Sinne von Art. 4 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 zur am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vor. Das Straferkenntnis sei deshalb aufzuheben und das Verwaltungsstrafverfahren einzustellen.

12      Gegen das Erkenntnis vom 4. Juli 2019 erhob die Bezirkshauptmannschaft Feldkirch Revision an den Verwaltungsgerichtshof (Österreich).

13      Mit Erkenntnis vom 14. Juni 2021 hob der Verwaltungsgerichtshof das Erkenntnis vom 4. Juli 2019 mit der Begründung auf, dass die rechtskräftige Einstellung des Strafverfahrens mit Erkenntnis vom 13. August 2018 es nicht verwehre, das Strafverfahren zur Feststellung der Verwirklichung des ersten Tatbilds nach § 52 Abs. 1 Z 1 GSpG fortzuführen und somit NK nach diesem Tatbild zu bestrafen.

14      Das vorlegende Gericht, das nach dem Erkenntnis vom 14. Juni 2021 erneut zu entscheiden hat, führt aus, dass es nach § 63 Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofsgesetzes grundsätzlich an die Rechtsansicht des Verwaltungsgerichtshofs gebunden sei, dies nach dessen Rechtsprechung jedoch nicht gelte, wenn nach der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs eine abweichende Entscheidung des Gerichtshofs ergehe.

15      Das vorlegende Gericht sieht sich vor die Frage gestellt, ob Art. 50 der Charta einer neuerlichen Verfolgung entgegensteht, wenn ein Strafverfahren nach dem GSpG wegen desselben Sachverhalts, der Gegenstand der neuerlichen Verfolgung ist, jedoch aufgrund einer anderen Bestimmung dieses Gesetzes nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Sachverhaltsermittlung eingestellt wurde.

16      Zur Anwendbarkeit der Charta führt das vorlegende Gericht zunächst aus, wenn sich ein Mitgliedstaat auf zwingende Gründe des Allgemeininteresses berufe, um eine Regelung zu rechtfertigen, die geeignet sei, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit zu behindern, sei diese Rechtfertigung im Licht der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und insbesondere der durch die Charta garantierten Grundrechte auszulegen.

17      Unter Heranziehung namentlich des Urteils vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 35 und 36), das ebenfalls zu einer Vorlage eines österreichischen Gerichts in Anwendung des österreichischen Glücksspielrechts ergangen sei, weist das vorlegende Gericht sodann darauf hin, dass es als „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen sei, wenn sich der Mitgliedstaat auf im Unionsrecht vorgesehene Ausnahmen berufe, um eine Beschränkung einer durch den AEU‑Vertrag garantierten Grundfreiheit zu rechtfertigen.

18      Schließlich seien Bürger der Europäischen Union Kunden des von NK betriebenen Lokals, und ein dort Angestellter sei Staatsangehöriger der Republik Bulgarien, somit eines anderen Mitgliedstaats.

19      Zum Grundsatz ne bis in idem weist das vorlegende Gericht zunächst darauf hin, dass dieser Grundsatz nicht nur in Art. 50 der Charta verankert sei, sondern insbesondere auch in Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19) (im Folgenden: SDÜ).

20      Sodann habe der Gerichtshof im Urteil vom 9. März 2006, Van Esbroeck (C‑436/04, EU:C:2006:165, Rn. 27 ff.), ausgeführt, dass Art. 54 SDÜ den Ausdruck „dieselbe Tat“ verwende und damit nur auf das Vorliegen der fraglichen Tat abstelle und nicht auf ihre rechtliche Einstufung.

21      Das vorlegende Gericht weist ferner auf das Urteil des Gerichtshofs vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 37 und 38), hin, worin er ausgeführt habe, dass für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handle, das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend sei, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt hätten, und dass die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte rechtliche Interesse für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliege, nicht erheblich seien, da die Reichweite des in Art. 50 der Charta gewährten Schutzes nicht von einem Mitgliedstaat zum anderen unterschiedlich sein könne.

22      Schließlich verweist das vorlegende Gericht auf das Urteil des Gerichtshofs vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483), wonach man sich, um zu bestimmen, ob ein Erkenntnis wie das seine eine Entscheidung darstelle, mit der ein Verfahren gegen jemanden im Sinne des Art. 54 SDÜ rechtskräftig abgeschlossen worden sei, vergewissern müsse, dass dieses Erkenntnis nach einer Prüfung in der Sache ergangen sei.

23      In Bezug auf den Fall, mit dem es befasst ist, führt das vorlegende Gericht zunächst aus, dass nicht geklärt werden müsse, ob es das erste Verfahren zu Recht eingestellt habe, da dieses Verfahren rechtskräftig abgeschlossen sei.

24      Das vorlegende Gericht geht sodann grundsätzlich davon aus, dass im ersten Strafverfahren, in dem der Sachverhalt ermittelt worden sei, ein Freispruch des Beschwerdeführers des Ausgangsverfahrens erfolgt sei und sich das zweite Strafverfahren auf dieselbe Tat bezogen habe. Dabei greife das Doppelverfolgungsverbot unabhängig davon, wie diese Tat rechtlich eingestuft werde, weshalb Art. 50 der Charta dahin auszulegen sei, dass er einer neuerlichen Bestrafung von NK entgegenstehe, und zwar, obwohl im ersten freisprechenden Erkenntnis festgehalten worden sei, dass es sich bei den gegenständlichen Spielen um verbotene Glücksspiele gehandelt habe. Diese Auslegung sei jedoch aufgrund des letztgenannten Umstands nicht derart offenkundig, dass keine Zweifel bleiben würden.

25      Unter diesen Umständen hat das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist der Grundsatz [ne] bis in idem, so wie er durch Art. 50 der Charta garantiert ist, dahin auszulegen, dass die zuständige Verwaltungsstrafbehörde eines Mitgliedstaats gehindert ist, gegen eine Person eine Geldstrafe wegen Verstoßes gegen eine glücksspielrechtliche Bestimmung zu verhängen, wenn zuvor ein gegen dieselbe Person aufgrund eines Verstoßes gegen eine andere glücksspielrechtliche Bestimmung (oder allgemeiner: Regelung aus demselben Rechtsbereich?) geführtes Verwaltungsstrafverfahren, welchem derselbe Sachverhalt zugrunde lag, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme rechtskräftig eingestellt wurde?

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

26      Sowohl die österreichische Regierung als auch die Kommission machen die Unzuständigkeit des Gerichtshofs geltend, weil das vorlegende Gericht weder hinreichend konkret angegeben habe, inwieweit die in Rede stehenden Bestimmungen des nationalen Rechts zur Durchführung des Unionsrechts erlassen worden seien, noch inwieweit der bei ihm anhängige Rechtsstreit trotz seines rein innerstaatlichen Charakters einen Anknüpfungspunkt zu den Bestimmungen des Unionsrechts über die Grundfreiheiten aufweise, der die Auslegung im Wege der Vorabentscheidung, um die ersucht werde, für die Entscheidung dieses Rechtsstreits erforderlich mache.

27      Nach Art. 51 Abs. 1 der Charta gilt diese für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Unionsrechts.

28      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs finden die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung, aber nicht außerhalb derselben. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass er eine nationale Regelung, die nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, nicht anhand der Charta beurteilen kann. Sobald eine solche Regelung in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, hat der Gerichtshof dagegen im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert (Urteile vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C:2013:105, Rn. 19, sowie vom 5. Mai 2022, BPC Lux 2 u. a., C‑83/20, EU:C:2022:346, Rn. 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

29      In Bezug auf den Fall, dass sich eine nationale Regelung als geeignet erweist, die Ausübung einer oder mehrerer durch den Vertrag garantierter Grundfreiheiten zu beschränken, hat der Gerichtshof ferner entschieden, dass die im Unionsrecht vorgesehenen Ausnahmen für die betreffende Regelung nur insoweit als Rechtfertigung dieser Beschränkung gelten können, als den Grundrechten, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat, Genüge getan wird. Diese Verpflichtung zur Beachtung der Grundrechte fällt offensichtlich in den Geltungsbereich des Unionsrechts und folglich der Charta. Nimmt ein Mitgliedstaat im Unionsrecht vorgesehene Ausnahmen in Anspruch, um eine Beschränkung einer durch den Vertrag garantierten Grundfreiheit zu rechtfertigen, muss dies daher als „Durchführung des Rechts der Union“ im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta angesehen werden (vgl. Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a., C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 36).

30      Außerdem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Dienstleistungen, die ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Erbringer ohne Ortswechsel an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Empfänger erbringt, eine grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen im Sinne von Art. 56 AEUV darstellen (Urteile vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 26, sowie vom 3. Dezember 2020, BONVER WIN, C‑311/19, EU:C:2020:981, Rn. 19).

31      Im vorliegenden Fall hält das vorlegende Gericht Art. 50 der Charta für anwendbar, da nach dem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 35 und 36), das ebenfalls zu einer Vorlage eines österreichischen Gerichts in Anwendung des österreichischen Glücksspielrechts ergangen sei, dieses Recht geeignet sei, die Ausübung der durch Art. 56 AEUV gewährleisteten Dienstleistungsfreiheit zu behindern. Das vorlegende Gericht hat außerdem darauf hingewiesen, dass Unionsbürger, d. h. Bürger anderer Mitgliedstaaten als der Republik Österreich, Kunden des im Zuständigkeitsbereich des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg in Österreich und in nur 40 km Entfernung von der Grenze zu Deutschland belegenen Lokals von NK seien.

32      Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der Gerichtshof dafür zuständig ist, über das Vorabentscheidungsersuchen zu befinden.

 Zur Zulässigkeit

33      Die österreichische Regierung vertritt die Ansicht, dass das Vorabentscheidungsersuchen als unzulässig zurückzuweisen sei, da ihm weder zu entnehmen sei, auf welche Regelungen des nationalen Rechts sich das vorlegende Gericht dabei konkret beziehe, noch inwieweit es – mit Blick auf solche Regelungen – Zweifel an der Auslegung des Unionsrechts habe. Die Kommission ihrerseits hält dieses Ersuchen deshalb für unzulässig, weil es im vorliegenden Fall an tatsächlichen und rechtlichen Angaben fehle, die für eine sachdienliche Beantwortung der Vorlagefrage erforderlich seien und die Entscheidungserheblichkeit der Frage aufzeigten.

34      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, ist, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (Urteil vom 5. Mai 2022, Universiteit Antwerpen u. a., C‑265/20, EU:C:2022:361, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Hieraus folgt, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 5. Mai 2022, Universiteit Antwerpen u. a., C‑265/20, EU:C:2022:361, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Da die Vorlageentscheidung die Grundlage des Verfahrens vor dem Gerichtshof bildet, ist es somit unerlässlich, dass das nationale Gericht darin den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Ausgangsrechtsstreits darlegt und ein Mindestmaß an Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang gibt, den es zwischen diesen Vorschriften und der nationalen Regelung herstellt, die auf den bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwenden ist (Urteil vom 5. Mai 2022, Universiteit Antwerpen u. a., C‑265/20, EU:C:2022:361, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Diese kumulativen Anforderungen an den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens sind in Art. 94 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ausdrücklich aufgeführt. Danach muss das Vorabentscheidungsersuchen insbesondere „eine Darstellung der Gründe, aus denen das vorlegende Gericht Zweifel bezüglich der Auslegung oder der Gültigkeit bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang [enthalten], den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt“.

38      Das vorlegende Gericht hat jedoch angegeben, es habe über die Rechtmäßigkeit eines zweiten Straferkenntnisses zu entscheiden, das gegen dieselbe Person wegen derselben Tat aufgrund eines Verstoßes gegen § 52 Abs. 1 Z 1 erstes Tatbild GSpG, d. h. die Veranstaltung von Glücksspielen in Form von verbotenen Ausspielungen, ergangen sei, nachdem ein erstes Strafverfahren eingestellt worden sei, das auf § 52 Abs. 1 Z 1 drittes Tatbild GSpG, d. h. das Zugänglichmachen solcher Glücksspiele, gestützt gewesen sei. Folglich stelle sich die Frage nach der Auslegung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem, den es für anwendbar hält, da nach dem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C‑390/12, EU:C:2014:281, Rn. 35 und 36), eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende geeignet sei, die Ausübung der durch Art. 56 AEUV gewährleisteten Dienstleistungsfreiheit zu behindern. Zur Auslegung dieses Grundsatzes hat das vorlegende Gericht u. a. ausgeführt, es gehe zwar grundsätzlich davon aus, dass im ersten Strafverfahren, in dem der Sachverhalt ermittelt worden sei, ein Freispruch von NK erfolgt sei und dass das in Art. 50 der Charta verankerte Doppelverfolgungsverbot unabhängig davon greife, wie diese Tat rechtlich eingestuft werde; da jedoch im ersten Erkenntnis festgehalten worden sei, dass es sich bei den gegenständlichen Spielen um verbotene Glücksspiele gehandelt habe, sei die Antwort auf die Vorlagefrage nicht derart offenkundig, dass keine Zweifel bleiben würden.

39      Somit hat das vorlegende Gericht die Gründe, aus denen es Zweifel bezüglich der Auslegung bestimmter Vorschriften des Unionsrechts hat, und den Zusammenhang, den es zwischen diesen Vorschriften und dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht herstellt, dargelegt.

40      Das Vorabentscheidungsersuchen ist daher zulässig.

 Zur Vorlagefrage

41      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 50 der Charta mit dem darin niedergelegten Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass er der Verhängung einer Strafe gegen eine Person wegen Verstoßes gegen eine Bestimmung einer nationalen Regelung, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit im Sinne von Art. 56 AEUV zu behindern, entgegensteht, wenn gegen diese Person bereits eine nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme erlassene und rechtskräftig gewordene gerichtliche Entscheidung ergangen ist, mit der sie vom Verstoß gegen eine andere Bestimmung dieser Regelung wegen desselben Sachverhalts freigesprochen wurde.

42      Nach Art. 50 („Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden“) der Charta „[darf n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden“.

43      Vorab ist festzustellen, dass der Grundsatz ne bis in idem eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne dieses Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat verbietet (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur der in Rede stehenden Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen sind nach der Rechtsprechung drei Kriterien maßgebend: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion (Urteile vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. September 2023, Volkswagen Group Italia und Volkswagen Aktiengesellschaft, C‑27/22, …, Rn. 45).

45      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, anhand der genannten Kriterien zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta sind.

46      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass sich die Anwendung von Art. 50 der Charta nicht allein auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die im nationalen Recht als „strafrechtlich“ eingestuft werden, beschränkt, sondern sich – unabhängig von einer solchen innerstaatlichen Einordnung – auf Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen erstreckt, die nach den beiden anderen oben in Rn. 44 angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur sind (Urteile vom 4. Mai 2023, MV – 98, C‑97/21, EU:C:2023:371, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 14. September 2023, Volkswagen Group Italia und Volkswagen Aktiengesellschaft, C‑27/22, …, Rn. 48).

47      Da das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen ausführt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen nach den oben in Rn. 44 angeführten Kriterien strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 der Charta seien, ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem erfüllt sind.

48      Nach der Rechtsprechung setzt die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem zweierlei voraus, nämlich zum einen, dass es eine frühere endgültige Entscheidung gibt (Voraussetzung „bis“), und zum anderen, dass bei der früheren Entscheidung und bei den späteren Verfolgungsmaßnahmen oder Entscheidungen auf denselben Sachverhalt abgestellt wird (Voraussetzung „idem“) (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 28).

49      Was die Voraussetzung „bis“ anbelangt, bedarf es, um zu bestimmen, ob eine gerichtliche Entscheidung eine Entscheidung darstellt, mit der eine Person rechtskräftig abgeurteilt wurde, insbesondere der Vergewisserung, dass diese Entscheidung nach einer Prüfung in der Sache erfolgt ist (Urteil vom 16. Dezember 2021, AB u. a. [Rücknahme einer Amnestie], C‑203/20, EU:C:2021:1016, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Diese Auslegung wird durch den Wortlaut von Art. 50 der Charta bestätigt, da die in dieser Bestimmung verwendeten Begriffe „Verurteilung“ und „Freispruch“ notwendigerweise implizieren, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit der betreffenden Person geprüft wurde und eine Entscheidung darüber ergangen ist (Urteil vom 16. Dezember 2021, AB u. a. [Rücknahme einer Amnestie], C‑203/20, EU:C:2021:1016, Rn. 57).

51      Als Ausfluss des Grundsatzes res iudicata soll der Grundsatz ne bis in idem Rechtssicherheit und Gerechtigkeit gewährleisten, indem er sicherstellt, dass wer einmal verfolgt und gegebenenfalls mit einer Sanktion belegt worden ist, die Sicherheit hat, für denselben Verstoß nicht noch einmal verfolgt zu werden (Urteil vom 22. März 2022, Nordzucker u. a., C‑151/20, EU:C:2022:203, Rn. 62).

52      Im vorliegenden Fall geht aus den Feststellungen des vorlegenden Gerichts zunächst hervor, dass die erste gegen NK wegen Verstoßes gegen das Glücksspielrecht verhängte Sanktion durch ein rechtskräftiges Erkenntnis dieses Gerichts vom 13. August 2018 aufgehoben wurde, das nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Sachverhaltsermittlung erlassen wurde. Sodann hat das vorlegende Gericht darauf hingewiesen, dass es aufgrund des Ergebnisses des Beweisverfahrens in diesem Erkenntnis zu dem Entschluss habe kommen können, dass NK keine verbotenen Glücksspiele im Sinne von § 52 Abs. 1 Z 1 drittes Tatbild GSpG unternehmerisch zugänglich gemacht habe, und dass dieses Erkenntnis nach nationalem Recht die Wirkungen eines Freispruchs entfalte. Schließlich hat das vorlegende Gericht festgestellt, dass NK solche Spiele im Sinne von § 52 Abs. 1 Z 1 erstes Tatbild GSpG veranstaltet habe, ohne jedoch insoweit eine Sanktion zu verhängen.

53      Aus den in der vorstehenden Randnummer genannten Gesichtspunkten ergibt sich, dass das vorlegende Gericht sein Erkenntnis im Rahmen des ersten Verfahrens vor dem Hintergrund einer Prüfung in der Sache erließ und über die strafrechtliche Verantwortlichkeit der verfolgten Person befinden konnte, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu überprüfen ist.

54      Was die Voraussetzung „idem“ betrifft, ergibt sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs schon aus dem Wortlaut von Art. 50 der Charta, dass dieser es verbietet, dieselbe Person mehr als einmal wegen derselben Straftat in einem Strafverfahren zu verfolgen oder zu bestrafen (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 31).

55      Im vorliegenden Fall steht fest, dass die beiden in Rede stehenden Strafverfahren dieselbe Person, nämlich NK, betreffen.

56      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist für die Beurteilung, ob es sich um dieselbe Straftat handelt, das Kriterium der Identität der materiellen Tat maßgebend, verstanden als das Vorliegen einer Gesamtheit konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände, die zum Freispruch oder zur rechtskräftigen Verurteilung des Betroffenen geführt haben. Art. 50 der Charta verbietet somit, wegen derselben Tat am Ende verschiedener zu diesem Zweck durchgeführter Verfahren mehrere Sanktionen strafrechtlicher Natur zu verhängen (Urteile vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 37, sowie vom 2. September 2021, LG und MH [Selbstgeldwäsche], C‑790/19, EU:C:2021:661, Rn. 78).

57      Um zu bestimmen, ob eine solche Gesamtheit konkreter Umstände vorliegt, müssen die zuständigen nationalen Gerichte feststellen, ob die materiellen Taten, um die es in den beiden Verfahren geht, einen Komplex von Tatsachen darstellen, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind (Urteil vom 2. September 2021, LG und MH [Selbstgeldwäsche], C‑790/19, EU:C:2021:661, Rn. 79 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58      Darüber hinaus erfordert die Voraussetzung „idem“ angesichts der oben in Rn. 56 angeführten Rechtsprechung eine identische materielle Tat. Dagegen findet der Grundsatz ne bis in idem keine Anwendung, wenn der fragliche Sachverhalt nicht identisch, sondern nur ähnlich ist (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 36).

59      Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass die rechtliche Einordnung der Tat nach nationalem Recht und das geschützte rechtliche Interesse für die Feststellung, ob dieselbe Straftat vorliegt, nicht erheblich sind, da die Reichweite des durch Art. 50 der Charta gewährten Schutzes weder von einem Mitgliedstaat zum anderen (Urteile vom 20. März 2018, Menci, C‑524/15, EU:C:2018:197, Rn. 36, sowie vom 2. September 2021, LG und MH [Selbstgeldwäsche], C‑790/19, EU:C:2021:661, Rn. 80) noch, sofern im Unionsrecht nichts anderes bestimmt ist, von einem Bereich des Unionsrechts zu einem anderen unterschiedlich sein kann (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 35).

60      Es ist Sache des für die Tatsachenfeststellungen allein zuständigen vorlegenden Gerichts zu prüfen, ob der bei ihm anhängige Rechtsstreit einen Sachverhalt betrifft, der mit dem identisch ist, der dem oben in Rn. 52 genannten Erkenntnis vom 13. August 2018 zugrunde liegt.

61      Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass die beiden in Rede stehenden Strafverfahren nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Ermittlung einer im Wesentlichen – insbesondere in Bezug auf ihre zeitlichen und räumlichen Verbindungen – identischen materiellen Tat betrafen. So ergab die am 29. Dezember 2017 im Lokal von NK durchgeführte Kontrolle, dass dort vier funktionsfähige Glücksspielgeräte aufgestellt waren, obwohl keine Konzession für deren Betrieb erteilt worden war. Vor diesem Hintergrund kann auf der Grundlage der oben in Rn. 59 angeführten Rechtsprechung angenommen werden, dass der Umstand, dass NK zunächst im ersten Strafverfahren wegen unternehmerischen Zugänglichmachens verbotener Ausspielungen, dann im zweiten Strafverfahren wegen Veranstaltung solcher Ausspielungen verfolgt wurde, für die Feststellung, ob „dieselbe Straftat“ vorliegt, nicht erheblich ist.

62      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die weitere Betreibung eines auf dieselbe Tat gestützten Strafverfahrens eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundrechts darstellen würde.

63      Gleichwohl kann eine Einschränkung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundrechts auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64      Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Nach Art. 52 Abs. 1 Satz 2 der Charta dürfen Einschränkungen dieser Rechte und Freiheiten unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

65      Im vorliegenden Fall geht erstens aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass jedes der beiden von der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch eingeleiteten Verfahren, die zum Erkenntnis vom 13. August 2018 und zum Straferkenntnis vom 30. November 2018 sowie zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen geführt haben, gesetzlich vorgesehen war.

66      Was zweitens die Achtung des Wesensgehalts des in Art. 50 der Charta verankerten Grundrechts betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit, Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zu kumulieren, den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta wahrt, sofern die nationale Regelung es nicht ermöglicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund unterschiedlicher Regelungen vorsieht (Urteil vom 22. März 2022, bpost, C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 43).

67      Die beiden von der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch eingeleiteten Verfahren, die zu einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen geführt haben, verfolgen jedoch dasselbe Ziel, nämlich die Ahndung rechtswidriger Angebote von Glücksspielen mit Glücksspielautomaten, und beruhen auf derselben Regelung.

68      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 50 der Charta mit dem darin niedergelegten Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen ist, dass er der Verhängung einer Strafe gegen eine Person wegen Verstoßes gegen eine Bestimmung einer nationalen Regelung, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit im Sinne von Art. 56 AEUV zu behindern, entgegensteht, wenn gegen diese Person bereits eine nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme erlassene und rechtskräftig gewordene gerichtliche Entscheidung ergangen ist, mit der sie vom Verstoß gegen eine andere Bestimmung dieser Regelung wegen desselben Sachverhalts freigesprochen wurde.

 Kosten

69      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist mit dem darin niedergelegten Grundsatz ne bis in idem dahin auszulegen, dass er der Verhängung einer Strafe gegen eine Person wegen Verstoßes gegen eine Bestimmung einer nationalen Regelung, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit im Sinne von Art. 56 AEUV zu behindern, entgegensteht, wenn gegen diese Person bereits eine nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme erlassene und rechtskräftig gewordene gerichtliche Entscheidung ergangen ist, mit der sie vom Verstoß gegen eine andere Bestimmung dieser Regelung wegen desselben Sachverhalts freigesprochen wurde.

Xuereb

Kumin

Ziemele

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 14. September 2023.

Der Kanzler

 

Der Kammerpräsident

A. Calot Escobar

 

P. G. Xuereb


*      Verfahrenssprache: Deutsch.