Language of document : ECLI:EU:C:2023:689

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

21. September 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Verordnung (EU) 2016/399 – Art. 32 – Vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen durch einen Mitgliedstaat – Art. 14 – Entscheidung über die Einreiseverweigerung – Gleichstellung von Binnen- und Außengrenzen – Richtlinie 2008/115/EG – Anwendungsbereich – Art. 2 Abs. 2 Buchst. a“

In der Rechtssache C‑143/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 24. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 1. März 2022, in dem Verfahren

Association Avocats pour la défense des droits des étrangers (ADDE),

Association nationale d’assistance aux frontières pour les étrangers (ANAFE),

Association de recherche, de communication et d’action pour l’accès aux traitements (ARCAT),

Comité inter-mouvements auprès des évacués (Cimade),

Fédération des associations de solidarité avec tou.te.s les immigré.e.s (FASTI),

Groupe d’information et de soutien des immigré.e.s (GISTI),

Ligue des droits de l’homme (LDH),

Le paria,

Syndicat des avocats de France (SAF),

SOS Hépatites Fédération

gegen

Ministre de l’Intérieur,

Beteiligter:

Défenseur des droits,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), der Richterin L. S. Rossi, der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. Januar 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Association Avocats pour la défense des droits des étrangers (ADDE), der Association nationale d’assistance aux frontières pour les étrangers (ANAFE), der Association de recherche, de communication et d’action pour l’accès aux traitements (ARCAT), des Comité inter-mouvements auprès des évacués (Cimade), der Fédération des associations de solidarité avec tou.te.s les immigré.e.s (FASTI), der Groupe d’information et de soutien des immigré.e.s (GISTI), der Ligue des droits de l’homme (LDH), von Le paria, des Syndicat des Avocats de France (SAF) und von SOS – Hépatites Fédération, vertreten durch P. Spinosi, Avocat,

–        des Défenseur des droits, vertreten durch C. Hédon, Défenseure des droits, M. Cauvin und A. Guitton, Conseillères, im Beistand von I. Zribi, Avocate,

–        der französischen Regierung, vertreten durch A.‑L. Desjonquères und J. Illouz als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, E. Borawska-Kędzierska und A. Siwek-Ślusarek als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma, A. Katsimerou, T. Lilamand und J. Tomkin als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. März 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1, berichtigt in ABl. 2018, L 272, S. 69, im Folgenden: Schengener Grenzkodex) und die Auslegung der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Association Avocats pour la défense des droits des étrangers (ADDE), der Association nationale d’assistance aux frontières pour les étrangers (ANAFE), der Association de recherche, de communication et d’action pour l’accès aux traitements (ARCAT), dem Comité inter-mouvements auprès des évacués (Cimade), der Fédération des associations de solidarité avec tou.te.s les immigré.e.s (FASTI), der Groupe d’information et de soutien des immigré.e.s (GISTI), der Ligue des droits de l’homme (LDH), Le paria, dem Syndicat des Avocats de France (SAF) und SOS – Hépatites Fédération einerseits und dem Ministre de l’Intérieur (Innenminister, Frankreich) andererseits über die Rechtmäßigkeit der Ordonnance no 2020-1733 du 16 décembre 2020 portant partie législative du code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile (Gesetzesvertretende Verordnung Nr. 2020-1733 vom 16. Dezember 2020 über den legislativen Teil des Gesetzbuchs über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht) (JORF vom 30. Dezember 2020, Text Nr. 41).

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Schengener Grenzkodex

3        In Art. 2 des Schengener Grenzkodex heißt es:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Binnengrenzen‘

a)      die gemeinsamen Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen,

b)      die Flughäfen der Mitgliedstaaten für Binnenflüge,

c)      die See‑, Flussschifffahrts- und Binnenseehäfen der Mitgliedstaaten für regelmäßige interne Fährverbindungen;

2.      ‚Außengrenzen‘ die Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen, der Seegrenzen und der Flughäfen sowie der Flussschifffahrts‑, See- und Binnenseehäfen, soweit sie nicht Binnengrenzen sind;

…“

4        Titel II („Außengrenzen“) dieses Kodex umfasst dessen Art. 5 bis 21.

5        Art. 14 („Einreiseverweigerung“) des Kodex sieht vor:

„(1)      Einem Drittstaatsangehörigen, der nicht alle Einreisevoraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 erfüllt und der nicht zu dem in Artikel 6 Absatz 5 genannten Personenkreis gehört, wird die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verweigert. Davon unberührt bleibt die Anwendung besonderer Bestimmungen zum Asylrecht und zum internationalen Schutz oder zur Ausstellung von Visa für längerfristige Aufenthalte.

(2)      Die Einreiseverweigerung kann nur mittels einer begründeten Entscheidung unter genauer Angabe der Gründe für die Einreiseverweigerung erfolgen. Die Entscheidung wird von einer nach nationalem Recht zuständigen Behörde erlassen. Die Entscheidung tritt unmittelbar in Kraft.

Die begründete Entscheidung mit genauer Angabe der Gründe für die Einreiseverweigerung wird mit dem Standardformular nach Anhang V Teil B erteilt, das von der nach nationalem Recht zur Einreiseverweigerung berechtigten Behörde ausgefüllt wird. Das ausgefüllte Standardformular wird dem betreffenden Drittstaatsangehörigen ausgehändigt, der den Empfang der Entscheidung über die Einreiseverweigerung auf diesem Standardformular bestätigt.

Die Daten von Drittstaatsangehörigen, denen die Einreise für einen Kurzaufenthalt verweigert wurde, werden gemäß Artikel 6a Absatz 2 der vorliegenden Verordnung sowie Artikel 18 der Verordnung (EU) 2017/2226 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2017 über ein Einreise-/Ausreisesystem (EES) zur Erfassung der Ein- und Ausreisedaten sowie der Einreiseverweigerungsdaten von Drittstaatsangehörigen an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten und zur Festlegung der Bedingungen für den Zugang zum EES zu Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungszwecken und zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen sowie der Verordnungen (EG) Nr. 767/2008 und (EU) Nr. 1077/2011 (ABl. 2017, L 327, S. 20)] im EES erfasst.

(3)      Personen, denen die Einreise verweigert wird, steht ein Rechtsmittel zu. Die Verfahren für die Einlegung des Rechtsmittels bestimmen sich nach nationalem Recht. Dem Drittstaatsangehörigen werden auch schriftliche Angaben zu Kontaktstellen gemacht, die ihn über eine rechtliche Vertretung unterrichten können, die entsprechend dem nationalen Recht in seinem Namen vorgehen kann.

Die Einlegung eines solchen Rechtsmittels hat keine aufschiebende Wirkung im Hinblick auf die Entscheidung über die Einreiseverweigerung.

Wird im Rechtsmittelverfahren festgestellt, dass die Entscheidung über die Einreiseverweigerung unbegründet war, so hat der betreffende Drittstaatsangehörige unbeschadet einer nach nationalem Recht gewährten Entschädigung einen Anspruch auf Berichtigung der in das EES eingegebenen Daten oder des ungültig gemachten Einreisestempels bzw. beider, sowie anderer Streichungen oder Vermerke durch den Mitgliedstaat, der ihm die Einreise verweigert hat.

(4)      Die Grenzschutzbeamten stellen sicher, dass ein Drittstaatsangehöriger, dem die Einreise verweigert wurde, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nicht betritt.

(5)      Die Mitgliedstaaten erheben statistische Daten über die Anzahl der Personen, denen sie die Einreise verweigern, die Gründe für die Einreiseverweigerung, die Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen und die Art der Grenze (Land‑, Luft- oder Seegrenze), an der ihnen die Einreise verweigert wurde, und legen sie gemäß der Verordnung (EG) Nr. 862/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 11. Juli 2007 zu Gemeinschaftsstatistiken über Wanderung und internationalen Schutz und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 311/76 des Rates über die Erstellung von Statistiken über ausländische Arbeitnehmer (ABl. 2007, L 199, S. 23)] jährlich der Kommission (Eurostat) vor.

(6)      Die Modalitäten der Einreiseverweigerung sind in Anhang V Teil A festgelegt.“

6        Titel III („Binnengrenzen“) des Schengener Grenzkodex umfasst dessen Art. 22 bis 35.

7        Art. 25 („Allgemeiner Rahmen für die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen“) Abs. 1 des Schengener Grenzkodex sieht vor:

„Ist im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht, so ist diesem Mitgliedstaat unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen oder für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung, wenn ihre Dauer den Zeitraum von 30 Tagen überschreitet, gestattet. Die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen darf in Umfang und Dauer nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung unbedingt erforderlich ist.“

8        Art. 32 („Anwendbare Bestimmungen bei Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen“) des Schengener Grenzkodex lautet:

„Bei Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen finden die einschlägigen Bestimmungen des Titels II entsprechend Anwendung.“

9        Anhang V Teil A dieses Kodex sieht vor:

„1.      Im Falle einer Einreiseverweigerung

a)      füllt der zuständige Grenzschutzbeamte das in Teil B dargestellte Standardformular für die Einreiseverweigerung aus. Der betreffende Drittstaatsangehörige unterschreibt das Formular und erhält eine Kopie des unterschriebenen Formulars. Verweigert der Drittstaatsangehörige die Unterschrift, so vermerkt der Grenzschutzbeamte dies im Feld ‚Bemerkungen‘ des Formulars;

b)      gibt der zuständige Grenzschutzbeamte für Drittstaatsangehörige, denen die Einreise für einen Kurzaufenthalt verweigert wurde, die Daten über die Verweigerung der Einreise gemäß Artikel 6a Absatz 2 der vorliegenden Verordnung und Artikel 18 der Verordnung (EU) 2017/2226 in das EES ein;

c)      annulliert oder hebt der zuständige Grenzschutzbeamte das Visum gemäß dem Verfahren des Artikels 34 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. 2009, L 243, S. 1)] auf;

d)      bringt der zuständige Grenzschutzbeamte für Drittstaatsangehörige, deren Einreiseverweigerung nicht im EES erfasst wird, im Pass einen Einreisestempel an, den er in Form eines Kreuzes mit schwarzer, dokumentenechter Tinte durchstreicht; zudem trägt er rechts neben diesem Stempel ebenfalls mit dokumentenechter Tinte den oder die Kennbuchstaben ein, die dem Grund oder den Gründen für die Einreiseverweigerung entsprechen und die in dem Standardformular für die Einreiseverweigerung in Teil B dieses Anhangs aufgeführt sind. Darüber hinaus erfasst der zuständige Grenzschutzbeamte bei diesem Personenkreis die Einreiseverweigerung akten- oder listenmäßig mit Angabe der Personalien und der Staatsangehörigkeit des betroffenen Drittstaatsangehörigen, des Grenzübertrittspapiers sowie des Einreiseverweigerungsgrundes und ‑datums.

Die Abstempelungsmodalitäten sind in Anhang IV festgelegt.

2.      Ist der Drittstaatsangehörige, dem die Einreise verweigert wurde, von einem Beförderungsunternehmer an die Außengrenze verbracht worden, so geht die örtlich zuständige Behörde wie folgt vor:

a)      Sie ordnet gegenüber diesem Unternehmer an, den Drittstaatsangehörigen gemäß Artikel 26 des Schengener Durchführungsübereinkommens und gemäß der Richtlinie 2001/51/EG des Rates [vom 28. Juni 2001 zur Ergänzung der Regelungen nach Artikel 26 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 (ABl. 2001, L 187, S. 45)] zurückzunehmen und ihn umgehend in den Drittstaat, aus dem er befördert wurde, in den Drittstaat, der das Grenzübertrittspapier ausgestellt hat, oder in jeden anderen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet ist, zu befördern oder Mittel für seinen Rücktransport zu finden;

b)      sie trifft bis zur Durchführung des Rücktransports unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten nach Maßgabe des nationalen Rechts geeignete Maßnahmen, um die unerlaubte Einreise von Drittstaatsangehörigen, denen die Einreise verweigert wurde, zu verhindern.

…“

10      Art. 44 („Aufhebungen“) des Schengener Grenzkodex lautet:

„Die Verordnung (EG) Nr. 562/2006 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1)] wird aufgehoben.

Bezugnahmen auf die gestrichenen Artikel und die aufgehobenen Rechtsakte gelten als Bezugnahmen auf diese Verordnung und sind nach Maßgabe der Entsprechungstabelle in Anhang X zu lesen.“

11      Gemäß dieser Entsprechungstabelle entspricht Art. 14 des Schengener Grenzkodex Art. 13 der Verordnung Nr. 562/2006.

 Richtlinie 2008/115

12      Art. 2 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.

(2)      Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:

a)      die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 [der Verordnung Nr. 562/2006] unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land‑, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten;

b)      die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.“

13      In Art. 3 dieser Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

2.      ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 [der Verordnung Nr. 562/2006] oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

3.      ‚Rückkehr‘: die Rückreise von Drittstaatsangehörigen – in freiwilliger Erfüllung einer Rückkehrverpflichtung oder erzwungener Rückführung – in

–        deren Herkunftsland oder

–        ein Transitland gemäß gemeinschaftlichen oder bilateralen Rückübernahmeabkommen oder anderen Vereinbarungen oder

–        ein anderes Drittland, in das der betreffende Drittstaatsangehörige freiwillig zurückkehren will und in dem er aufgenommen wird;

…“

14      Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie sieht vor:

„In Bezug auf die nach Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommenen Drittstaatsangehörigen verfahren die Mitgliedstaaten wie folgt; sie:

a)      stellen sicher, dass diese nicht eine weniger günstige Behandlung erfahren oder ihnen nicht ein geringeres Maß an Schutz gewährt wird, als dies in Artikel 8 Absätze 4 und 5 (Beschränkung der Anwendung von Zwangsmaßnahmen), Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe a (Aufschub der Abschiebung), Artikel 14 Absatz 1 Buchstaben b und d (medizinische Notversorgung und Berücksichtigung der Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen) und Artikel 16 und 17 (Haftbedingungen) vorgesehen ist, und

b)      halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

15      Art. 5 der Richtlinie 2008/115 lautet:

„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:

a)      das Wohl des Kindes,

b)      die familiären Bindungen,

c)      den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen,

und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

16      Art. 6 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

(2)      Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, sind zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet Absatz 1 Anwendung.

(3)      Die Mitgliedstaaten können davon absehen, eine Rückkehrentscheidung gegen illegal in ihrem Gebiet aufhältige Drittstaatsangehörige zu erlassen, wenn diese Personen von einem anderen Mitgliedstaat aufgrund von zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie geltenden bilateralen Abkommen oder Vereinbarungen wieder aufgenommen wird. In einem solchen Fall wendet der Mitgliedstaat, der die betreffenden Drittstaatsangehörigen wieder aufgenommen hat, Absatz 1 an.

…“

17      Art. 7 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/115 sieht vor:

„Eine Rückkehrentscheidung sieht unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 und 4 eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor. Die Mitgliedstaaten können in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorsehen, dass diese Frist nur auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen eingeräumt wird. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen davon, dass die Möglichkeit besteht, einen solchen Antrag zu stellen.“

18      In Art. 15 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:

„Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)      Fluchtgefahr besteht oder

b)      die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.“

 Französisches Recht

19      Art. L. 213-3-1 des Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile (Gesetzbuch über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht) in der Fassung der Loi n° 2018-778 du 10 septembre 2018 pour une immigration maîtrisée, un droit d’asile effectif et une intégration réussie (Gesetz Nr. 2018-778 vom 10. September 2018 für eine geregelte Zuwanderung, ein effektives Asylrecht und eine gelungene Integration) (JORF vom 11. September 2018, Text Nr. 1) (im Folgenden: CESEDA [alte Fassung]) bestimmte:

„Im Fall der vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen nach Titel III Kapitel II des [Schengener Grenzkodex] können gegenüber einem Ausländer, der ohne entsprechende Berechtigung durch Überschreiten einer Landbinnengrenze unmittelbar aus dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens in das europäische Hoheitsgebiet von Frankreich eingereist ist und in einem Umkreis von zehn Kilometern um diese Grenze kontrolliert wurde, die in Art. L. 213-2 genannten Entscheidungen getroffen werden. Die Modalitäten der Kontrollen werden durch Dekret nach Anhörung des Conseil d’État [(Staatsrat)] festgelegt.“

20      Mit der Gesetzesvertretenden Verordnung Nr. 2020-1733 wurde der legislative Teil des Gesetzbuchs über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht neu gefasst. Art. L. 332-2 dieses auf diese Weise geänderten Gesetzbuchs (im Folgenden: CESEDA [geänderte Fassung]) lautet:

„Die schriftliche und mit Gründen versehene Entscheidung über die Einreiseverweigerung wird von einem Bediensteten getroffen, der zu einem durch Verordnung festgelegten Personenkreis gehört.

Mit der Bekanntgabe der Entscheidung über die Einreiseverweigerung wird auf das Recht des Ausländers hingewiesen, die Person, die nach seiner Angabe seine Anlaufstelle sein sollte, sein Konsulat oder einen Rechtsbeistand seiner Wahl zu benachrichtigen oder benachrichtigen zu lassen. Der Ausländer wird über sein Recht belehrt, eine Rückkehr vor Ablauf einer Frist von 24 Stunden unter den in Art. L. 333-2 vorgesehenen Voraussetzungen abzulehnen.

Die Entscheidung und die dazugehörige Rechtsbelehrung werden ihm in einer ihm verständlichen Sprache übermittelt.

Schutzbedürftigen Personen, insbesondere Minderjährigen in oder ohne Begleitung eines Erwachsenen, wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet.“

21      Art. L. 332-3 CESEDA (geänderte Fassung) sieht vor:

„Das Verfahren nach Art. L. 332-2 findet auf eine Entscheidung über die Einreiseverweigerung gegenüber einem Ausländer nach Art. 6 des [Schengener Grenzkodex] Anwendung. Bei Kontrollen an einer Binnengrenze im Fall der vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen unter den in Titel III Kapitel II des [Schengener Grenzkodex] genannten Voraussetzungen findet es ebenfalls Anwendung.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

22      Die in Rn. 2 des vorliegenden Urteils genannten Vereinigungen machen vor dem Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) im Rahmen einer Klage gegen die Gesetzesvertretende Verordnung Nr. 2020-1733 deren Ungültigkeit geltend, da insbesondere der daraus hervorgegangene Art. L. 332-3 CESEDA (geänderte Fassung) gegen die Richtlinie 2008/115 verstoße, insofern er an Binnengrenzen, an denen Kontrollen wiedereingeführt worden seien, den Erlass von Entscheidungen über die Einreiseverweigerung ermögliche.

23      Das vorlegende Gericht führt aus, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 19. März 2019, Arib u. a. (C‑444/17, EU:C:2019:220), entschieden habe, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 32 des Schengener Grenzkodex nicht für den Fall eines Drittstaatsangehörigen gelte, der in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze aufgegriffen werde und im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältig sei, auch wenn dieser Mitgliedstaat gemäß Art. 25 dieses Kodex wegen einer ernsthaften Bedrohung für seine öffentliche Ordnung oder innere Sicherheit Kontrollen an dieser Grenze wiedereingeführt habe.

24      Der Conseil d’État (Staatsrat) betont, er habe in seiner Entscheidung Nr. 428175 vom 27. November 2020 festgestellt, dass Art. L. 213-3-1 CESEDA (alte Fassung) mit der Richtlinie 2008/115 in der Auslegung durch den Gerichtshof unvereinbar sei. Dieser Artikel habe vorgesehen, dass im Fall der vorübergehenden Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen gegenüber einem Ausländer, der ohne entsprechende Berechtigung durch Überschreiten einer Landbinnengrenze unmittelbar aus dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: Schengener Durchführungsübereinkommen) in das europäische Hoheitsgebiet von Frankreich eingereist und in einem Umkreis von zehn Kilometern um diese Grenze kontrolliert worden sei, unter den Voraussetzungen von Art. L. 213-2 CESEDA (alte Fassung) eine Entscheidung über die Einreiseverweigerung habe ergehen können.

25      Art. L. 332-3 CESEDA (geänderte Fassung) übernehme zwar nicht Art. L-213-3-1 CESEDA (alte Fassung), doch sehe er wiederum vor, dass bei der Durchführung von Kontrollen an den Binnengrenzen die Einreise verweigert werden könne, falls Kontrollen an diesen Grenzen unter den in Titel III Kapitel II des Schengener Grenzkodex genannten Voraussetzungen vorübergehend wiedereingeführt würden.

26      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts bedarf es daher der Klärung, ob in einem solchen Fall einem Drittstaatsangehörigen, der unmittelbar aus dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats des Schengener Durchführungsübereinkommens komme und an einer zugelassenen Grenzübergangstelle einreisen wolle, ohne im Besitz von Dokumenten zu sein, mit denen eine Berechtigung zur Einreise nach oder zum Aufenthalt in Frankreich nachgewiesen werden könne, auf der Grundlage von Art. 14 des Schengener Grenzkodex die Einreise verweigert werden könne, ohne dass die Richtlinie 2008/115 Anwendung finde.

27      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Kann im Fall der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen gemäß Titel III Kapitel II des Schengener Grenzkodex einem Ausländer, der unmittelbar aus dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats des Schengener Durchführungsübereinkommens kommt, bei den an der betreffenden Grenze durchgeführten Kontrollen die Einreise nach Art. 14 dieses Kodex verweigert werden, ohne dass die Richtlinie 2008/115 Anwendung findet?

 Zur Vorlagefrage

28      Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Schengener Grenzkodex und die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat, der Kontrollen an seinen Binnengrenzen wiedereingeführt hat, gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, der an einer zugelassenen Grenzübergangsstelle, an der solche Kontrollen durchgeführt werden, einreisen will, eine Entscheidung über die Einreiseverweigerung im Sinne von Art. 14 dieses Kodex erlassen kann, ohne diese Richtlinie einhalten zu müssen.

29      Art. 25 des Schengener Grenzkodex gestattet einem Mitgliedstaat bei einer ernsthaften Bedrohung seiner öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit unter außergewöhnlichen Umständen und unter bestimmten Bedingungen die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen. Nach Art. 32 dieses Kodex finden bei Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen die einschlägigen Bestimmungen des Titels II dieses Kodex über die Außengrenzen entsprechend Anwendung.

30      Dies trifft auf Art. 14 des Schengener Grenzkodex zu, der bestimmt, dass einem Drittstaatsangehörigen, der nicht alle Einreisevoraussetzungen von Art. 6 Abs. 1 dieses Kodex erfüllt und der nicht zu dem in Art. 6 Abs. 5 des Kodex genannten Personenkreis gehört, die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verweigert wird.

31      Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass ein Drittstaatsangehöriger, der sich im Anschluss an seine illegale Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats in diesem befindet, ohne die Voraussetzungen für die Einreise oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, deswegen dort im Sinne der Richtlinie 2008/115 illegal aufhältig ist. Dieser Drittstaatsangehörige fällt daher gemäß Art. 2 Abs. 1 dieser Richtlinie und vorbehaltlich ihres Art. 2 Abs. 2 in deren Anwendungsbereich, ohne dass hinsichtlich dieser Anwesenheit im Hoheitsgebiet des betroffenen Mitgliedstaats eine Mindestdauer oder eine Absicht zum dortigen Verbleib vorausgesetzt würde. Solange sein Aufenthalt nicht etwa legalisiert wurde, ist er daher grundsätzlich den in der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Abschiebung zu unterwerfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Arib u. a., C‑444/17, EU:C:2019:220, Rn. 37 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Das gilt auch dann, wenn dieser Drittstaatsangehörige an einer Grenzübergangsstelle aufgegriffen worden ist, sofern sich diese im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet. Insoweit ist nämlich darauf hinzuweisen, dass die Einreise einer Person in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats bereits vor dem Überschreiten einer Grenzübergangsstelle erfolgen kann (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Februar 2020, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Anmustern von Seeleuten im Hafen von Rotterdam], C‑341/18, EU:C:2020:76, Rn. 45).

33      Ferner gilt beispielsweise, wenn an Bord eines Zuges zwischen dessen Abfahrt aus dem letzten Bahnhof im Hoheitsgebiet eines ersten Mitgliedstaats, der eine Binnengrenze zu einem zweiten Mitgliedstaat hat, von dem Kontrollen an seinen Binnengrenzen wiedereingeführt wurden, und der Ankunft des Zuges im ersten Bahnhof im Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats Kontrollen stattfinden, die Kontrolle an Bord dieses Zuges als Kontrolle an einer Grenzübergangsstelle im Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats, es sei denn, zwischen diesen beiden Mitgliedstaaten wurde etwas anderes vereinbart. Der Drittstaatsangehörige, der an Bord dieses Zuges kontrolliert worden ist, wird sich im Anschluss an diese Kontrolle nämlich zwangsläufig im Sinne von Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 im Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats aufhalten.

34      Allerdings ist weiter festzustellen, dass Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 den Mitgliedstaaten gestattet, Drittstaatsangehörige, die sich illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten, ausnahmsweise und unter bestimmten Voraussetzungen vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie auszunehmen.

35      So gestattet einerseits Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 den Mitgliedstaaten, diese Richtlinie vorbehaltlich ihres Art. 4 Abs. 4 in zwei Sonderfällen nicht anzuwenden, nämlich bei Drittstaatsangehörigen, die nach Art. 14 des Schengener Grenzkodex einem Verbot der Einreise über eine Außengrenze eines Mitgliedstaats unterliegen, sowie bei Drittstaatsangehörigen, die in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten einer solchen Außengrenze aufgegriffen oder abgefangen werden und nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten.

36      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs geht jedoch hervor, dass diese beiden Fälle sich ausschließlich auf das Überschreiten einer Außengrenze eines Mitgliedstaats, wie sie Art. 2 des Schengener Grenzkodex definiert, beziehen und somit nicht das Überschreiten einer gemeinsamen Grenze von Mitgliedstaaten, die zum Schengen-Raum gehören, betreffen, auch wenn gemäß Art. 25 dieses Kodex an dieser Grenze wegen einer ernsthaften Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit dieses Mitgliedstaats Kontrollen wiedereingeführt wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Arib u. a., C‑444/17, EU:C:2019:220, Rn. 45 und 67).

37      Daraus folgt, wie der Generalanwalt in Nr. 35 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 einem Mitgliedstaat, der an seinen Binnengrenzen Kontrollen wiedereingeführt hat, nicht gestattet, von den in dieser Richtlinie vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren abzuweichen, um einen Drittstaatsangehörigen abzuschieben, der ohne gültigen Aufenthaltstitel an einer der Grenzübergangsstellen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats, an denen solche Kontrollen durchgeführt werden, abgefangen wurde.

38      Soweit andererseits Art. 2 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2008/115 den Mitgliedstaaten gestattet, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist, so geht es bei der im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden Bestimmung nicht um einen solchen Fall.

39      Aus alledem ergibt sich zum einen, dass ein Mitgliedstaat, der Kontrollen an seinen Binnengrenzen wiedereingeführt hat, gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, der ohne gültigen Aufenthaltstitel an einer zugelassenen Grenzübergangsstelle, an der solche Kontrollen durchgeführt werden, abgefangen wurde, Art. 14 des Schengener Grenzkodex sowie Anhang V Teil A Nr. 1 dieses Kodex entsprechend anwenden kann.

40      Zum anderen hat der betreffende Mitgliedstaat, sofern diese Grenzübergangsstelle in seinem Hoheitsgebiet liegt, gleichwohl darauf zu achten, dass die Folgen einer solchen entsprechenden Anwendung der in der vorstehenden Randnummer angeführten Bestimmungen nicht zu einem Verstoß gegen die in der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren führen. Der Umstand, dass diese Verpflichtung des betreffenden Mitgliedstaats einer Entscheidung über die Einreiseverweigerung, die gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, der an einer der Binnengrenzen dieses Mitgliedstaats einreisen will, ergehen mag, einen Großteil ihrer Wirksamkeit nehmen kann, vermag an diesem Befund nichts zu ändern.

41      Zu den einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 ist u. a. darauf hinzuweisen, dass nach Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie gegenüber jedem illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältigen Drittstaatsangehörigen unbeschadet der Ausnahmen nach Art. 6 Abs. 2 bis 5 und unter strikter Einhaltung der in Art. 5 der Richtlinie festgelegten Anforderungen eine Rückkehrentscheidung ergehen muss, in der unter den in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie genannten Drittländern dasjenige anzugeben ist, in das dieser Drittstaatsangehörige abzuschieben ist (Urteil vom 22. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Abschiebung – Medizinisches Cannabis], C‑69/21, EU:C:2022:913, Rn. 53).

42      Im Übrigen muss dem Drittstaatsangehörigen, an den sich die Rückkehrentscheidung richtet, gemäß Art. 7 der Richtlinie 2008/115 grundsätzlich noch eine gewisse Frist für die freiwillige Ausreise aus dem betreffenden Mitgliedstaat gesetzt werden. Die zwangsweise Abschiebung darf nach Art. 8 dieser Richtlinie nur als letztes Mittel eingesetzt werden und steht unter dem Vorbehalt von Art. 9 der Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten die Abschiebung in den dort genannten Fällen aufschieben müssen (Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 252).

43      Außerdem ergibt sich aus Art. 15 der Richtlinie 2008/115, dass die Inhaftnahme eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nur in bestimmten festgelegten Fällen angeordnet werden darf. Dieser Artikel steht jedoch, wie der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, nicht dem entgegen, dass dieser Drittstaatsangehörige, wenn er eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit darstellt, bis zu seiner Abschiebung in Haft genommen wird, sofern diese Inhaftnahme die in den Art. 15 bis 18 dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen erfüllt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main, C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 41 bis 48).

44      Zudem nimmt die Richtlinie 2008/115 den Mitgliedstaaten nicht die Befugnis, die Verwirklichung anderer Straftatbestände als solcher, die nur eine illegale Einreise zum Gegenstand haben, mit einer Freiheitsstrafe zu ahnden, und zwar auch in Fällen, in denen das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren noch nicht abgeschlossen worden ist. Daher steht diese Richtlinie auch nicht der Inhaftierung oder polizeilichen Ingewahrsamnahme eines Drittstaatsangehörigen entgegen, der illegal aufhältig ist, wenn solche Maßnahmen aus dem Grund erlassen werden, dass dieser Staatsangehörige verdächtigt wird, einen anderen Straftatbestand als nur die illegale Einreise in das Hoheitsgebiet verwirklicht zu haben, vor allem einen Straftatbestand, der die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit des betreffenden Mitgliedstaats bedrohen kann (Urteil vom 19. März 2019, Arib u. a., C‑444/17, EU:C:2019:220, Rn. 66).

45      Folglich ist entgegen dem Vorbringen der französischen Regierung die Anwendung der in der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren in einem Fall wie demjenigen, um den es in dem Vorabentscheidungsersuchen geht, nicht geeignet, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit im Sinne von Art. 72 AEUV unmöglich zu machen.

46      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass der Schengener Grenzkodex und die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass ein Mitgliedstaat, der Kontrollen an seinen Binnengrenzen wiedereingeführt hat, gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, der an einer zugelassenen Grenzübergangsstelle im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats, an der solche Kontrollen durchgeführt werden, einreisen will, eine Entscheidung über die Einreiseverweigerung in entsprechender Anwendung von Art. 14 dieses Kodex erlassen kann, sofern die in dieser Richtlinie vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren auf den Drittstaatsangehörigen im Hinblick auf dessen Abschiebung Anwendung finden.

 Kosten

47      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Die Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Unionskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) und die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger

sind dahin auszulegen, dass

ein Mitgliedstaat, der Kontrollen an seinen Binnengrenzen wiedereingeführt hat, gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, der an einer zugelassenen Grenzübergangsstelle im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats, an der solche Kontrollen durchgeführt werden, einreisen will, eine Entscheidung über die Einreiseverweigerung in entsprechender Anwendung von Art. 14 dieser Verordnung erlassen kann, sofern die in dieser Richtlinie vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren auf den Drittstaatsangehörigen im Hinblick auf dessen Abschiebung Anwendung finden.


Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.