Language of document : ECLI:EU:C:2023:770

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

12. Oktober 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer – Arbeitszeitgestaltung – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 Abs. 1 – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Rechtswidrig entlassener und durch eine Gerichtsentscheidung wieder in seine Funktionen eingesetzter Arbeitnehmer – Ausschluss des Anspruchs auf den nicht genommenen bezahlten Jahresurlaub für den Zeitraum zwischen der Entlassung und der Wiederaufnahme der Beschäftigung – Zeitraum zwischen dem Tag der Entlassung und dem Tag der Wiederaufnahme der Beschäftigung“

In der Rechtssache C‑57/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Nejvyšší soud (Oberstes Gericht, Tschechische Republik) mit Entscheidung vom 6. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 2022, in dem Verfahren

YQ

gegen

Ředitelství silnic a dálnic ČR

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Richters P. G. Xuereb in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten sowie des Richters A. Kumin und der Richterin I. Ziemele (Berichterstatterin),

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der YQ, vertreten durch Z. Odehnal, Advokát,

–        des Ředitelství silnic a dálnic ČR, vertreten durch L. Smejkal, Advokát,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Němečková und D. Recchia als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen YQ und dem Ředitelství silnic a dálnic ČR (Direktion für Straßen und Autobahnen der Tschechischen Republik, im Folgenden: ŘSD) wegen dessen Weigerung, YQ eine finanzielle Vergütung für nicht genommene Tage des bezahlten Jahresurlaubs zu gewähren.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 7 („Jahresurlaub“) der Richtlinie 2003/88 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2)      Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.“

 Tschechisches Recht

4        § 69 des Zákon č. 262/2006 Sb., zákoník práce (Gesetz Nr. 262/2006 über das Arbeitsgesetzbuch) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Arbeitsgesetzbuch) lautet:

„(1)      Wenn ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer unwirksam gekündigt oder das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer mit sofortiger Wirkung oder während der Probezeit unwirksam beendet hat und der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber unverzüglich schriftlich mitteilt, dass er auf seiner Weiterbeschäftigung bestehe, besteht dessen Arbeitsverhältnis fort und der Arbeitgeber ist verpflichtet, ihm einen Lohn- oder Gehaltsausgleich zu zahlen. Der Ausgleich in Höhe des Durchschnittsverdiensts ist dem Arbeitnehmer nach Satz 1 von dem Zeitpunkt an zu zahlen, an dem er dem Arbeitgeber mitteilt, dass er auf der Weiterbeschäftigung bestehe, bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Arbeitgeber ihm die Fortsetzung der Arbeit gestattet oder das Arbeitsverhältnis wirksam beendet wird.

(2)      Das Gericht kann auf Verlangen des Arbeitgebers den Lohn- oder Gehaltsausgleich für den weiteren Zeitraum angemessen herabsetzen, wenn die Gesamtdauer, für die der Arbeitnehmer einen Lohn- oder Gehaltsausgleich zu erhalten hat, sechs Monate übersteigt; das Gericht berücksichtigt in seiner Entscheidung insbesondere die Frage, ob der Arbeitnehmer in der Zwischenzeit anderweitig beschäftigt war, welche Arbeit er dort verrichtet und welches Entgelt er erhalten hat oder aus welchem Grund er keine Arbeit aufgenommen hat.“

 Das Ausgangsverfahren und die Vorabentscheidungsfrage

5        YQ, die im Rahmen eines am 23. Juni 2009 geschlossenen Arbeitsvertrags beim ŘSD beschäftigt war, erhielt am 23. Oktober 2013 ein Kündigungsschreiben.

6        Nachdem diese Kündigung durch am 10. Januar 2017 rechtskräftig gewordenes Urteil des Krajský soud v Brně (Regionalgericht Brno [Brünn], Tschechische Republik) vom 20. Dezember 2016 für nichtig erklärt worden war, nahm YQ ihre Arbeit beim ŘSD gemäß ihrem Arbeitsvertrag wieder auf.

7        Das vorlegende Gericht stellt fest, dass YQ, die ihren Arbeitgeber schriftlich über ihren Arbeitswillen informiert hatte, im Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 10. Januar 2017 von diesem keine Arbeit zugewiesen bekam.

8        Nach der Wiederaufnahme ihrer Beschäftigung beantragte YQ beim ŘSD, in den Monaten von Juli bis September 2017 ihren nicht genommenen Jahresurlaub aus dem Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 10. Januar 2017 zu nehmen. Der ŘSD lehnte dies ab, weil YQ während dieses Zeitraums nicht gearbeitet habe. Trotz der Ablehnung erschien YQ im Juli 2017 an den Tagen, für die sie Urlaub beantragt hatte, nicht an ihrem Arbeitsplatz. Daraufhin entließ ihr Arbeitgeber sie am 9. August 2017 wegen unerlaubten Fernbleibens.

9        YQ verklagte den ŘSD am Městský soud v Brně (Stadtgericht Brno, Tschechische Republik) auf Zahlung von 55 552 tschechischen Kronen (CZK) zuzüglich Verzugszinsen als Lohnausgleich für die Urlaubstage aus dem Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 10. Januar 2017. Die Klage wurde mit Urteil vom 4. Oktober 2019 abgewiesen. Auf die von YQ eingelegte Berufung bestätigte der Krajský soud v Brně (Regionalgericht Brno) diese Entscheidung mit Urteil vom 6. Oktober 2020.

10      Das vorlegende Gericht ist mit einem Rechtsmittel gegen dieses Urteil befasst.

11      Es führt aus, dass der Zeitraum, in dem die Kündigung des Arbeitnehmers Gegenstand einer gerichtlichen Auseinandersetzung sei, nach dem anwendbaren nationalen Recht durch Sondervorschriften in den §§ 69 bis 72 des Arbeitsgesetzbuchs geregelt werde, aus denen hervorgehe, dass der Arbeitnehmer im betreffenden Zeitraum weder einen Anspruch auf Lohnausgleich bei Arbeitsverhinderung noch auf Lohnausgleich für nicht genommenen Urlaub habe.

12      Für den Fall, dass die Kündigung des Arbeitsverhältnisses für unwirksam befunden worden sei, ergebe sich aus der nationalen Rechtsprechung, dass der Arbeitnehmer während der gesamten Dauer des Gerichtsverfahrens betreffend die Wirksamkeit dieser Kündigung Anspruch auf Lohnausgleich in Höhe seines Durchschnittsverdiensts habe, wenn er den Arbeitgeber schriftlich über seine Absicht informiert habe, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, und ihm keine Arbeit zugewiesen worden sei. Nach Ablauf eines Zeitraums von sechs Monaten könne das nationale Gericht eine Kürzung des Lohnausgleichs nach dem anwendbaren Recht nur dann vornehmen, wenn nach Würdigung aller Umstände des Falles festgestellt werde, dass der Arbeitnehmer eine Arbeit für einen anderen Arbeitgeber zu Bedingungen aufgenommen habe oder hätte aufnehmen können, die grundsätzlich gleichwertig oder sogar günstiger seien als diejenigen, die er bei Ausübung seiner Arbeit im Rahmen des Arbeitsvertrags gehabt hätte, wenn der Arbeitgeber seiner Verpflichtung nachgekommen wäre, ihm die vereinbarte Arbeit zuzuweisen.

13      Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass der Arbeitnehmer nach ständiger nationaler Rechtsprechung auch einen Anspruch auf Ersatz des Schadens habe, den er aufgrund der für nichtig erklärten Kündigung erlitten habe, so dass er, jedenfalls hinsichtlich der Entschädigung in Geld, so zu stellen sei, wie wenn sein Arbeitsverhältnis nicht unterbrochen worden wäre. Da der Arbeitnehmer jedoch während des Zeitraums ab dem Tag, an dem er seinen Arbeitswillen erklärt habe, bis zu dem Tag, an dem seine Kündigung für nichtig erklärt worden sei, nicht tatsächlich gearbeitet habe, werde ihm während dieses Zeitraums kein Erwerb von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub zuerkannt.

14      Diese nationale Rechtsprechung scheine auf den ersten Blick im Widerspruch zum Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca (C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504), zu stehen, in dem der Gerichtshof entschieden habe, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 einer nationalen Rechtsprechung entgegenstehe, wonach ein Arbeitnehmer, der rechtswidrig entlassen worden sei, keinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für den Zeitraum zwischen dem Tag der Entlassung und dem Tag der Wiederaufnahme seiner Beschäftigung habe.

15      Das vorlegende Gericht stellt jedoch fest, dass sich die in jenem Urteil in Rede stehende nationale Rechtsprechung von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden tschechischen Rechtsprechung unterscheide, so dass die in jenem Urteil gewählte Lösung nicht auf das Ausgangsverfahren übertragbar sei. Während die im Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca (C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504), in Rede stehende bulgarische Regelung zum einen die Zahlung des Bruttoarbeitsentgelts nur während eines Zeitraums von sechs Monaten und zum anderen lediglich die Zahlung der Differenz zwischen dem Arbeitsentgelt, das der Arbeitnehmer während des betrachteten Zeitraums im Rahmen eines anderen Arbeitsverhältnisses erhalten habe, und dem im Rahmen des rechtswidrig gekündigten Arbeitsverhältnisses geschuldeten Arbeitsentgelt vorgesehen habe, gewähre die tschechische Regelung vorbehaltlich der in Rn. 12 des vorliegenden Urteils genannten Einschränkungen die Zahlung des Arbeitsentgelts grundsätzlich in voller Höhe und während des gesamten Zeitraums. Daher hätte nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Anwendung der in jenem Urteil gewählten Lösung auf das Ausgangsverfahren ein Ungleichgewicht zulasten der Interessen des Arbeitgebers zur Folge.

16      Unter diesen Umständen hat der Nejvyšší soud (Oberstes Gericht, Tschechische Republik) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass er einer nationalen Rechtsprechung, wonach ein Arbeitnehmer, der rechtswidrig entlassen wurde und sodann nach nationalem Recht infolge der Nichtigerklärung seiner Entlassung durch eine Gerichtsentscheidung seine Beschäftigung wieder aufgenommen hat, deshalb keinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für den Zeitraum zwischen dem Tag der Entlassung und dem Tag der Wiederaufnahme seiner Beschäftigung hat, weil er während dieses Zeitraums keine tatsächliche Arbeitsleistung für den Arbeitgeber erbracht hat, auch dann entgegensteht, wenn der rechtswidrig entlassene Arbeitnehmer, der dem Arbeitgeber unverzüglich schriftlich mitgeteilt hat, dass er auf seiner Weiterbeschäftigung bestehe, nach den nationalen Rechtsvorschriften von dem Zeitpunkt, an dem er dem Arbeitgeber mitgeteilt hat, dass er auf seiner Weiterbeschäftigung bestehe, bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Arbeitgeber ihm die Fortsetzung der Arbeit gestattet oder das Arbeitsverhältnis wirksam beendet wird, Anspruch auf einen Lohn- oder Gehaltsausgleich in Höhe seines Durchschnittsverdiensts hat?

 Zur Vorlagefrage

 Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2003/88

17      Die Kommission hat Zweifel an der sachlichen Anwendbarkeit der Richtlinie 2003/88 auf das Ausgangsverfahren, da aus der Wiedergabe des nationalen Rechts hervorgehe, dass der Zeitraum zwischen dem Tag der Kündigung und dem Tag der Wiederaufnahme der Beschäftigung durch den Betroffenen auch dann nicht rückwirkend als Teil der Beschäftigungszeit dieser Person bei dem betreffenden Arbeitgeber angesehen werde, wenn eine Gerichtsentscheidung die Rechtswidrigkeit der Kündigung feststelle.

18      Nach einer gefestigten Rechtsprechung sollen durch die Richtlinie 2003/88 Mindestvorschriften festgelegt werden, die dazu bestimmt sind, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer durch eine Angleichung namentlich der innerstaatlichen Arbeitszeitvorschriften zu verbessern (Urteil vom 20. November 2018, Sindicatul Familia Constanţa u. a., C‑147/17, EU:C:2018:926, Rn. 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

19      Da die Richtlinie 2003/88 somit nur auf Arbeitnehmer anwendbar ist, ist zu prüfen, ob eine natürliche Person wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens als „Arbeitnehmer“ im Sinne dieser Richtlinie angesehen werden kann.

20      Nach ständiger Rechtsprechung kann der Arbeitnehmerbegriff für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2003/88 nicht nach Maßgabe der nationalen Rechtsordnungen unterschiedlich ausgelegt werden, sondern hat eine eigenständige unionsrechtliche Bedeutung. Er ist anhand objektiver Kriterien zu definieren, die das Arbeitsverhältnis unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten der betroffenen Personen kennzeichnen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht darin, dass eine Person während einer bestimmten Zeit für eine andere nach deren Weisung Leistungen erbringt, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhält (Urteil vom 20. November 2018, Sindicatul Familia Constanţa u. a., C‑147/17, EU:C:2018:926, Rn. 41 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

21      Hieraus folgt, dass ein Arbeitsverhältnis das Vorliegen eines Unterordnungsverhältnisses zwischen dem Arbeitnehmer und seinem Arbeitgeber voraussetzt. Ob ein solches gegeben ist, muss in jedem Einzelfall anhand aller Gesichtspunkte und aller Umstände, die die Beziehungen zwischen den Beteiligten kennzeichnen, geprüft werden (Urteil vom 20. November 2018, Sindicatul Familia Constanţa u. a., C‑147/17, EU:C:2018:926, Rn. 42 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Vorliegend ergibt sich zum einen aus der Beschreibung des nationalen Rechts in der Vorlageentscheidung, insbesondere aus § 69 Abs. 1 des Arbeitsgesetzbuchs, dass, wenn ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer unwirksam gekündigt oder das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer mit sofortiger Wirkung oder während der Probezeit unwirksam beendet hat und der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber unverzüglich schriftlich mitteilt, dass er auf seiner Weiterbeschäftigung bestehe, dessen Arbeitsverhältnis fortbesteht.

23      Zum anderen geht aus den Umständen der Rechtssache im Ausgangsverfahren, wie in der Vorlageentscheidung beschrieben, hervor, dass YQ mit dem ŘSD am 23. Juni 2009 einen Vertrag schloss und dass sie, nachdem das ihr am 23. Oktober 2013 zugegangene Kündigungsschreiben am 10. Januar 2017 für nichtig erklärt wurde, ihre Arbeit gemäß dem ursprünglich abgeschlossenen Arbeitsvertrag wieder aufnahm.

24      Daher ist festzustellen, dass eine natürliche Person wie YQ als „Arbeitnehmer“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 angesehen werden muss, so dass diese Richtlinie auf sie anwendbar ist.

 Beantwortung der Vorlagefrage

25      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach ein Arbeitnehmer, der rechtswidrig entlassen wurde und sodann nach nationalem Recht infolge der Nichtigerklärung seiner Entlassung durch eine Gerichtsentscheidung seine Beschäftigung wieder aufgenommen hat, deshalb keinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für den Zeitraum zwischen dem Tag der Entlassung und dem Tag der Wiederaufnahme seiner Beschäftigung hat, weil er während dieses Zeitraums keine tatsächliche Arbeitsleistung für den Arbeitgeber erbracht hat, da ihm dieser keine Arbeit zugewiesen hat und ihm nach dem nationalen Recht während dieses Zeitraums schon ein Lohnausgleich zusteht.

26      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur deren Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 8. Juni 2023, Fastweb u. a. [Zeitrahmen für die Abrechnung], C‑468/20, EU:C:2023:447, Rn. 52 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Erstens ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88, dass jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen erhält. Dieser Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ist als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen, den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der Richtlinie 2003/88 selbst ausdrücklich gezogen werden (Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C‑518/20 und C‑727/20, EU:C:2022:707, Rn. 24 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Zweitens ist zum Kontext dieser Vorschrift zunächst festzustellen, dass dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union nicht nur besondere Bedeutung zukommt, sondern dass es auch in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die nach Art. 6 Abs. 1 EUV den gleichen rechtlichen Rang wie die Verträge hat, ausdrücklich verankert ist (Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C‑518/20 und C‑727/20, EU:C:2022:707, Rn. 25 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Somit wird mit Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 das in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub widergespiegelt und konkretisiert. Während die letztgenannte Bestimmung jedem Arbeitnehmer das Recht auf bezahlten Jahresurlaub garantiert, setzt die erstgenannte Vorschrift diesen Grundsatz um, indem sie die Dauer des Jahresurlaubs festlegt (Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C‑518/20 und C‑727/20, EU:C:2022:707, Rn. 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, darf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht restriktiv ausgelegt werden (Urteil vom 25. November 2021, job-medium, C‑233/20, EU:C:2021:960, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung) und es darf von ihm nur unter Beachtung der in der Richtlinie 2003/88 ausdrücklich gezogenen Grenzen abgewichen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. April 2006, Federatie Nederlandse Vakbeweging, C‑124/05, EU:C:2006:244, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Schließlich ergibt sich aus dem Wortlaut der Richtlinie 2003/88 und aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen, sie dabei aber nicht bereits die Entstehung dieses sich unmittelbar aus der Richtlinie ergebenden Anspruchs von irgendeiner Voraussetzung abhängig machen dürfen (Urteil vom 7. April 2022, Ministero della Giustizia u. a. [Status der italienischen Friedensrichter], C‑236/20, EU:C:2022:263, Rn. 50 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Drittens ist in Bezug auf die Ziele der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs mit dem in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 verankerten Anspruch auf Jahresurlaub ein doppelter Zweck verfolgt wird, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen (Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C‑518/20 und C‑727/20, EU:C:2022:707, Rn. 27 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Dieser Zweck, durch den sich der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von anderen Arten des Urlaubs mit anderen Zwecken unterscheidet, beruht jedoch, wie der Gerichtshof festgestellt hat, auf der Prämisse, dass der Arbeitnehmer im Lauf des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet hat. Das Ziel, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zu erholen, setzt nämlich voraus, dass der Arbeitnehmer eine Tätigkeit ausgeübt hat, die es zu dem in der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Schutz seiner Sicherheit und seiner Gesundheit rechtfertigt, dass er über einen Zeitraum der Erholung, der Entspannung und der Freizeit verfügt. Daher sind die Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub grundsätzlich anhand der auf der Grundlage des Arbeitsvertrags tatsächlich geleisteten Arbeitszeiträume zu berechnen (Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca, C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504, Rn. 58 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Gleichwohl kann ein Mitgliedstaat in bestimmten besonderen Fällen, in denen ein Arbeitnehmer nicht in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen, den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht von der Voraussetzung abhängig machen, dass der Arbeitnehmer tatsächlich gearbeitet hat (Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca, C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504, Rn. 59 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

35      Das ist der Fall, wenn es einem rechtswidrig entlassenen Arbeitnehmer, der sodann nach nationalem Recht infolge der Nichtigerklärung seiner Entlassung durch eine Gerichtsentscheidung seine Beschäftigung wieder aufgenommen hat, während des Zeitraums zwischen dem Tag dieser rechtswidrigen Entlassung und jenem der Wiederaufnahme seiner Beschäftigung nicht ermöglicht wurde, eine tatsächliche Arbeitsleistung für seinen Arbeitgeber zu erbringen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca, C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504, Rn. 70).

36      Der Umstand, dass der betroffene Arbeitnehmer während des Zeitraums zwischen dem Tag seiner rechtswidrigen Entlassung und dem Tag der Wiederaufnahme seiner Beschäftigung keine tatsächliche Arbeitsleistung für seinen Arbeitgeber erbracht hat, beruht nämlich auf den Handlungen des Arbeitgebers, die zu der rechtswidrigen Entlassung geführt haben, ohne die der Arbeitnehmer in der Lage gewesen wäre, zu arbeiten und seinen Anspruch auf Jahresurlaub wahrzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca, C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504, Rn. 68).

37      Folglich ist der Zeitraum zwischen dem Tag der rechtswidrigen Entlassung des Arbeitnehmers und dem Tag der Wiederaufnahme seiner Beschäftigung nach nationalem Recht infolge der Nichtigerklärung dieser Entlassung durch eine Gerichtsentscheidung für die Zwecke der Feststellung der Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub einem tatsächlichen Arbeitszeitraum gleichzustellen (Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca, C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504, Rn. 69).

38      Es obliegt dem Arbeitgeber, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf Jahresurlaub auszuüben. Anders als im Fall der Ansammlung von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub durch einen Arbeitnehmer, der aus Krankheitsgründen daran gehindert war, diesen Urlaub zu nehmen, hat nämlich der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, die sich hieraus ergebenden Folgen zu tragen (Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C‑518/20 und C‑727/20, EU:C:2022:707, Rn. 40 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Folglich können die Mitgliedstaaten nicht von dem Recht, das in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 verankert ist, abweichen, wonach ein erworbener Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums nicht erlöschen kann, wenn der Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt wurde, seinen Urlaub zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2022, Fraport und St. Vincenz-Krankenhaus, C‑518/20 und C‑727/20, EU:C:2022:707, Rn. 41 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Das vorlegende Gericht stellt jedoch fest, dass die tschechische Regelung – anders als die in der Rechtssache, in der das Urteil vom 25. Juni 2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca (C‑762/18 und C‑37/19, EU:C:2020:504), ergangen ist, in Rede stehende Regelung – vorbehaltlich der in Rn. 12 des vorliegenden Urteils genannten Einschränkungen die Zahlung des Bruttoarbeitsentgelts grundsätzlich in voller Höhe und während des gesamten Zeitraums gewähre. Daher hätte nach Ansicht des vorlegenden Gerichts die Anwendung der in jenem Urteil gefundenen Lösung ein Ungleichgewicht zulasten der Interessen des Arbeitgebers zur Folge.

41      Insofern geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Richtlinie 2003/88 den Anspruch auf Jahresurlaub und den auf Zahlung des Urlaubsentgelts als zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs behandelt. Durch das Erfordernis der Zahlung dieses Urlaubsentgelts soll der Arbeitnehmer während des Jahresurlaubs in eine Lage versetzt werden, die in Bezug auf das Entgelt mit den Zeiten geleisteter Arbeit vergleichbar ist (Urteil vom 29. November 2017, King, C‑214/16, EU:C:2017:914, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Der Anspruch auf Jahresurlaub umfasst somit auch einen Anspruch auf Bezahlung und – als eng mit diesem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub verbundenen Anspruch – den Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub (Urteil vom 6. November 2018, Bauer und Willmeroth, C‑569/16 und C‑570/16, EU:C:2018:871, Rn. 58), wobei der Gerichtshof entschieden hat, dass Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88 für das Entstehen des Anspruchs auf finanzielle Vergütung keine andere Voraussetzung aufstellt als diejenige, dass zum einen das Arbeitsverhältnis beendet ist und dass zum anderen der Arbeitnehmer nicht den gesamten Jahresurlaub genommen hat, auf den er bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hatte (Urteil vom 6. November 2018, Kreuziger, C‑619/16, EU:C:2018:872, Rn. 31).

43      Daher spielt es für den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub keine Rolle, dass der Lohnausgleich für den Zeitraum zwischen dem Tag der Entlassung und dem Tag der Wiederaufnahme der Beschäftigung, der dem rechtswidrig entlassenen Arbeitnehmer nach nationalem Recht zu gewähren ist, grundsätzlich seinem Durchschnittsverdienst entspricht, weil dieser Lohnausgleich ihn für die wegen der rechtswidrigen Entlassung nicht erhaltene Vergütung entschädigen soll.

44      Wie in den Rn. 30 und 31 des vorliegenden Urteils ausgeführt, darf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, der sich unmittelbar aus der Richtlinie 2003/88 ergibt, im Übrigen nicht restriktiv ausgelegt werden, da der Arbeitnehmer als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen ist, so dass verhindert werden muss, dass der Arbeitgeber ihm eine Beschränkung seiner Rechte auferlegen kann (Urteil vom 2. März 2023, MÁV-START, C‑477/21, EU:C:2023:140, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach ein Arbeitnehmer, der rechtswidrig entlassen wurde und sodann nach nationalem Recht infolge der Nichtigerklärung seiner Entlassung durch eine Gerichtsentscheidung seine Beschäftigung wieder aufgenommen hat, deshalb keinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für den Zeitraum zwischen dem Tag der Entlassung und dem Tag der Wiederaufnahme seiner Beschäftigung hat, weil er während dieses Zeitraums keine tatsächliche Arbeitsleistung für den Arbeitgeber erbracht hat, da ihm dieser keine Arbeit zugewiesen hat und ihm nach dem nationalen Recht während dieses Zeitraums schon ein Lohnausgleich zusteht.

 Kosten

46      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Rechtsprechung entgegensteht, wonach ein Arbeitnehmer, der rechtswidrig entlassen wurde und sodann nach nationalem Recht infolge der Nichtigerklärung seiner Entlassung durch eine Gerichtsentscheidung seine Beschäftigung wieder aufgenommen hat, deshalb keinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub für den Zeitraum zwischen dem Tag der Entlassung und dem Tag der Wiederaufnahme seiner Beschäftigung hat, weil er während dieses Zeitraums keine tatsächliche Arbeitsleistung für den Arbeitgeber erbracht hat, da ihm dieser keine Arbeit zugewiesen hat und ihm nach dem nationalen Recht während dieses Zeitraums schon ein Lohnausgleich zusteht.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Tschechisch.