Language of document : ECLI:EU:C:2025:295

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

30. April 2025(*)

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren – Verordnung (EU) Nr. 833/2014 – Art. 5i Abs. 2 Buchst. a – Verbot der Ausfuhr von auf Euro lautenden Banknoten – Ausnahme für den Fall einer für den persönlichen Gebrauch erforderlichen Ausfuhr – Banknoten, die zur Deckung medizinischer Behandlungskosten bestimmt sind “

In der Rechtssache C‑246/24

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Deutschland) mit Beschluss vom 2. April 2024, beim Gerichtshof eingegangen am 5. April 2024, in dem Strafverfahren gegen

ZZ,

Beteiligte:

Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún (Berichterstatterin) sowie der Richter D. Gratsias, E. Regan, J. Passer und B. Smulders,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von ZZ, vertreten durch Rechtsanwalt M. Amiragov,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Carpus-Carcea und M. Kellerbauer als Bevollmächtigte,

aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates vom 31. Juli 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. 2014, L 229, S. 1), in der durch die Durchführungsverordnung (EU) 2022/595 der Kommission vom 11. April 2022 (ABl. 2022, L 114, S. 60) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 833/2014).

2        Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen ZZ wegen versuchter unerlaubter Ausfuhr von Banknoten nach Russland.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Verordnung Nr. 833/2014

3        Im zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 833/2014 heißt es:

„Am 22. Juli 2014 gelangte der Rat [der Europäischen Union] zu dem Schluss, dass er bereit wäre, unverzüglich ein Bündel weiterer bedeutender restriktiver Maßnahmen einzuführen, sollte Russland den Forderungen gemäß den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom 27. Juni 2014 sowie den Schlussfolgerungen des Rates vom 22. Juli nicht nachkommen. Daher wird es als angemessen erachtet, weitere restriktive Maßnahmen zu ergreifen, um die Kosten für die Handlungen Russlands zu erhöhen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben, und um eine friedliche Beilegung der Krise zu unterstützen. Diese Maßnahmen werden fortlaufend überprüft und können im Lichte der Entwicklungen vor Ort ausgesetzt oder widerrufen oder durch andere restriktive Maßnahmen ergänzt werden.“

4        Art. 5i der Verordnung Nr. 833/2014 sieht vor:

„(1)      Es ist verboten, auf eine amtliche Währung eines Mitgliedstaats lautende Banknoten an Russland oder an natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen in Russland – einschließlich der Regierung und der Zentralbank Russlands – oder zur Verwendung in Russland zu verkaufen, zu liefern, zu verbringen oder auszuführen.

(2)      Das Verbot gemäß Absatz 1 gilt nicht für den Verkauf, die Lieferung, das Verbringen oder die Ausfuhr von auf eine amtliche Währung eines Mitgliedstaats lautende Banknoten, sofern dieser Verkauf, diese Lieferung, dieses Verbringen oder diese Ausfuhr erforderlich ist für

a)      den persönlichen Gebrauch natürlicher Personen, die nach Russland reisen[,] oder von deren mitreisenden unmittelbaren Familienangehörigen oder

b)      amtliche Tätigkeiten diplomatischer Missionen, konsularischer Vertretungen oder internationaler Organisationen in Russland, die nach dem Völkerrecht Immunität genießen.“

 Beschluss (GASP) 2022/346

5        Im fünften Erwägungsgrund des Beschlusses (GASP) 2022/346 des Rates vom 1. März 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/512/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. 2022, L 63, S. 5) heißt es:

„Angesichts der ernsten Lage und als Reaktion auf die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine ist es angebracht, weitere restriktive Maßnahmen … einzuführen. Außerdem sollte – vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen – die Lieferung von Euro-Banknoten an Russland verboten [werden].“

 Verordnung (EU) 2022/345

6        In den Erwägungsgründen 2, 3 und 6 der Verordnung (EU) 2022/345 des Rates vom 1. März 2022 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. 2022, L 63, S. 1) heißt es:

„(2)      Mit der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates werden bestimmte Maßnahmen umgesetzt, die im Beschluss 2014/512/GASP des Rates [vom 31. Juli 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. 2014, L 229, S. 13)] vorgesehen sind.

(3)      Am 1. März 2022 hat der Rat den Beschluss [2022/346] zur Änderung des Beschlusses [2014/512] und zur Verhängung weiterer restriktiver Maßnahmen … angenommen. Durch den Beschluss wird ferner – vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen – die Lieferung von Euro-Banknoten an Russland verboten.

(6)      Die Verordnung (EU) Nr. 833/2014 sollte daher entsprechend geändert werden“.

 Beschluss (GASP) 2022/578

7        Im sechsten Erwägungsgrund des Beschlusses (GASP) 2022/578 des Rates vom 8. April 2022 zur Änderung des Beschlusses 2014/512/GASP über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. 2022, L 111, S. 70) heißt es:

„Angesichts der ernsten Lage und als Reaktion auf die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine ist es angebracht, weitere restriktive Maßnahmen zu verhängen. Insbesondere [sollte] das Verbot der Ausfuhr von auf Euro lautenden Banknoten und des Verkaufs von auf Euro lautenden übertragbaren Wertpapieren … auf alle amtlichen Währungen der Mitgliedstaaten ausgeweitet werden.“

 Deutsches Recht

8        Nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a des Außenwirtschaftsgesetzes vom 6. Juni 2013 (BGBl. 2013 I S. 1482) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: AWG) wird derjenige mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, der einem Ausfuhr‑, Einfuhr‑, Durchfuhr‑, Verbringungs‑, Verkaufs‑, Erwerbs‑, Liefer‑, Bereitstellungs‑, Weitergabe- oder Investitionsverbot eines im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften oder im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten unmittelbar geltenden Rechtsakts der Europäischen Gemeinschaften oder der Europäischen Union zuwiderhandelt, der der Durchführung einer vom Rat im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossenen wirtschaftlichen Sanktionsmaßnahme dient.

9        Nach § 18 Abs. 6 AWG ist in diesen Fällen der Versuch strafbar.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

10      Am 31. Mai 2022 begab sich ZZ zum Flughafen Frankfurt am Main (Deutschland), um einen Flug nach Istanbul (Türkei) zu nehmen und dann von dort aus nach Moskau (Russland) weiterzufliegen; sie wollte vom 31. Mai bis 21. Juni 2022 in Russland Urlaub machen.

11      Anlässlich der Zollkontrolle am Flughafen Frankfurt am Main wurde festgestellt, dass ZZ 14 855 Euro und 99 150 russische Rubel in Banknoten mit sich führte, die sie nicht zuvor beim Zoll angemeldet hatte und die zur Deckung ihrer Reisekosten sowie zur Finanzierung medizinischer Behandlungen in Russland, nämlich einer zahnmedizinischen Behandlung, einer Hormonbehandlung in einer Kinderwunschklinik und einer Folgebehandlung wegen einer Brustoperation in einer Klinik für plastische Chirurgie, bestimmt waren.

12      Die auf Euro lautenden Banknoten wurden in Höhe von 13 800 Euro sichergestellt, die restlichen Banknoten wurden ihr als persönlicher Bedarf zur Deckung ihrer Reisekosten belassen. ZZ trat ihre Reise schließlich nicht an.

13      Das Amtsgericht Frankfurt am Main (Deutschland) sprach die Angeklagte der versuchten unerlaubten Ausfuhr von Banknoten nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a und Abs. 6 AWG in Verbindung mit Art. 5i Abs. 1 der Verordnung Nr. 833/2014 schuldig. Im Rahmen seiner rechtlichen Würdigung stellte dieses Gericht unter Berufung auf den zweiten Erwägungsgrund der Verordnung und auf die auf der Website der Europäischen Kommission abrufbaren Hinweise zur Auslegung des Begriffs „persönlicher Gebrauch“ im Sinne von Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung fest, dass die auf Euro lautenden Banknoten, die die Angeklagte des Ausgangsverfahrens bei ihrer Ausreise aus dem deutschen Hoheitsgebiet mitgeführt habe, nicht unter die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme fielen.

14      ZZ legte gegen das erstinstanzliche Urteil Revision beim Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Deutschland), dem vorlegenden Gericht, ein.

15      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Auslegung von Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 833/2014 allein dem Gerichtshof obliege, der diese Frage bislang noch nicht entschieden habe. Diese Auslegung sei auch nicht so offenkundig, dass sie keinem vernünftigen Zweifel unterläge.

16      Unter diesen Umständen hat das Oberlandesgericht Frankfurt am Main beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist die Ausfuhr von Banknoten, die auf eine amtliche Währung eines Mitgliedstaats lauten, im Sinne des Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 833/2014 erforderlich für den persönlichen Gebrauch einer nach Russland reisenden natürlichen Person, wenn derartige Banknoten zur Durchführung ärztlicher Behandlungen dieser Person (hier zahnmedizinische Behandlung, Hormonbehandlung in einer Kinderwunschklinik und Folgebehandlung aufgrund einer Brustoperation in einer Klinik für plastische Chirurgie) in Russland verwendet werden sollen?

 Zur Vorlagefrage

17      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 833/2014 dahin auszulegen ist, dass die Ausfuhr von auf Euro lautenden Banknoten durch eine nach Russland reisende Person zur Finanzierung medizinischer Behandlungen, die diese Person in diesem Drittstaat in Anspruch nehmen möchte, eine für den persönlichen Gebrauch dieser Person erforderliche Ausfuhr im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

18      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen (Urteil vom 9. September 2021, Comité Interprofessionnel du Vin de Champagne, C‑783/19, EU:C:2021:713, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19      Erstens ist es nach Art. 5i Abs. 1 der Verordnung Nr. 833/2014 verboten, auf eine amtliche Währung eines Mitgliedstaats lautende Banknoten an Russland oder an natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen in Russland – einschließlich der Regierung und der Zentralbank Russlands – oder zur Verwendung in Russland zu verkaufen, zu liefern, zu verbringen oder auszuführen.

20      Allerdings gilt gemäß Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 833/2014 dieses Verbot nicht für den Verkauf, die Lieferung, das Verbringen oder die Ausfuhr von auf eine amtliche Währung eines Mitgliedstaats lautende Banknoten, sofern dieser Verkauf, diese Lieferung, dieses Verbringen oder diese Ausfuhr für den persönlichen Gebrauch natürlicher Personen, die nach Russland reisen, oder von deren mitreisenden unmittelbaren Familienangehörigen erforderlich ist.

21      Aus dem Wortlaut von Art. 5i Abs. 1 der Verordnung Nr. 833/2014 geht somit hervor, dass das in dieser Bestimmung vorgesehene Verbot für den Verkauf, die Lieferung, das Verbringen oder die Ausfuhr von u. a. auf Euro lautenden Banknoten an natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen „in Russland“ oder „zur Verwendung in Russland“ gilt.

22      Diese Formulierung legt nahe, dass der Unionsgesetzgeber mit diesem Verbot generell ausschließen will, dass Bargeld, das auf Euro oder eine andere Währung eines Mitgliedstaats lautet, einer in Russland wohnhaften oder niedergelassenen natürlichen oder juristischen Person entweder unentgeltlich oder als Gegenleistung für Waren oder Dienstleistungen zur Verfügung gestellt wird.

23      Was die in Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 833/2014 vorgesehene Ausnahme von diesem Verbot betrifft, sind im Übrigen zunächst die Bedeutung und die Tragweite des in dieser Bestimmung enthaltenen Begriffs „persönlicher Gebrauch“, der weder in dieser Bestimmung noch in einer anderen Bestimmung dieser Verordnung, insbesondere nicht in ihrem Art. 1, definiert ist, entsprechend dem üblichen Sinn dieses Begriffs nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Februar 2020, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Anmustern von Seeleuten im Hafen von Rotterdam], C‑341/18, EU:C:2020:76, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Diese Begriffe bezeichnen in ihrer gängigen Bedeutung eine Verwendung für den Eigenbedarf der betroffenen Person, im Gegensatz zu u. a. beruflichen, geschäftlichen oder Investitionszwecken.

24      Sodann impliziert der Begriff „erforderlich“ in dieser Bestimmung entsprechend seinem üblichen Sinn, dass der Verkauf, die Lieferung, das Verbringen oder die Ausfuhr von auf Euro lautenden Banknoten, um nicht vom Verbot von Art. 5i Abs. 1 dieser Verordnung erfasst zu werden, für die Deckung dieses Bedarfs unerlässlich sein muss.

25      Schließlich muss der Verkauf, die Lieferung, das Verbringen oder die Ausfuhr von auf Euro lautenden Banknoten, um unter die Ausnahme von diesem Verbot zu fallen, nach Art. 5i Abs. 2 der Verordnung Nr. 833/2014 für den persönlichen Gebrauch „natürlicher Personen, die nach Russland reisen, oder von deren mitreisenden unmittelbaren Familienangehörigen“ erforderlich sein. Diese Formulierung deutet darauf hin, dass auf Euro lautendes Bargeld, dessen Verkauf, Lieferung, Verbringung oder Ausfuhr nach dieser Bestimmung erlaubt ist, dazu bestimmt sein muss, den Eigenbedarf dieser Personen während ihrer Reise und ihres Aufenthalts in Russland zu decken.

26      Aus der wörtlichen Auslegung von Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 833/2014 ergibt sich somit, dass der Verkauf, die Lieferung, das Verbringen oder die Ausfuhr durch eine nach Russland reisende Person von auf Euro lautendem Bargeld, das für den Erwerb von Waren oder Dienstleistungen zur Deckung des Bedarfs erforderlich ist, der durch die Reise und den Aufenthalt dieser Person und gegebenenfalls ihrer mitreisenden unmittelbaren Familienangehörigen in Russland veranlasst wird, von dem in Art. 5i Abs. 1 vorgesehenen Verbot ausgenommen ist.

27      Zweitens ist zum Zusammenhang von Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 833/2014 festzustellen, dass diese Bestimmung eine Ausnahme von dem in Art. 5i Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Verbot darstellt. Nach ständiger Rechtsprechung sind Ausnahmen aber eng auszulegen, damit die allgemeinen Regelungen nicht ausgehöhlt werden (Urteil vom 28. Oktober 2022, Generalstaatsanwaltschaft München [Auslieferung und ne bis in idem], C‑435/22 PPU, EU:C:2022:852, Rn. 120 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Eine Auslegung von Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 833/2014 wie die von der Angeklagten des Ausgangsverfahrens vertretene, wonach der Verkauf, die Lieferung, das Verbringen oder die Ausfuhr von auf eine Währung eines Mitgliedstaats lautenden Banknoten auch dann unter diese Ausnahme fallen könnten, wenn damit keine geschäftlichen, beruflichen oder Investitionszwecke verfolgt würden, würde das in Art. 5i Abs. 1 dieser Verordnung aufgestellte Verbot jedoch aushöhlen. Dann wäre es nämlich möglich, auf eine solche Währung lautende Geldbeträge uneingeschränkt nach Russland zu verbringen, um dort persönliche Einkäufe jeder Art zu tätigen, deren tatsächliche Vornahme überdies schwer nachprüfbar wäre.

29      Folglich kann nur eine Auslegung dieser Bestimmung dahin, dass unter die in ihr vorgesehene Ausnahme ausschließlich der Verkauf, die Lieferung, das Verbringen und die Ausfuhr von auf eine Währung eines Mitgliedstaats lautenden Banknoten fällt, deren Verwendung dazu bestimmt ist, die Kosten zu decken, die durch die Reise und den Aufenthalt der nach Russland reisenden Person und ihrer mitreisenden unmittelbaren Familienangehörigen veranlasst werden, eine enge Auslegung dieser Ausnahme ohne Aushöhlung der in Art. 5i Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen allgemeinen Regel gewährleisten.

30      Drittens geht zu dem mit der Verordnung Nr. 833/2014 verfolgten Ziel zum einen aus dem zweiten Erwägungsgrund dieser Verordnung hervor, dass mit ihr weitere restriktive Maßnahmen eingeführt werden sollen, „um die Kosten für die Handlungen Russlands zu erhöhen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben, und um eine friedliche Beilegung der Krise zu unterstützen“. Darüber hinaus hielt es der Rat nach dem sechsten Erwägungsgrund des Beschlusses 2022/578 „[a]ngesichts der ernsten Lage und als Reaktion auf die militärische Aggression Russlands gegen die Ukraine“ für angebracht, weitere restriktive Maßnahmen zu verhängen, u. a. durch eine Ausweitung des Verbots der Ausfuhr von auf Euro lautenden Banknoten auf alle amtlichen Währungen der Mitgliedstaaten.

31      Mit einem solchen Verbot soll letztlich verhindert werden, dass das russische Wirtschaftssystem Zugang zu Bargeld erhält, das auf irgendeine Währung eines Mitgliedstaats lautet, um die Kosten für die Handlungen Russlands gegenüber der Ukraine weiter zu erhöhen.

32      Was im Übrigen das Ziel betrifft, das mit der in Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 833/2014 vorgesehenen Ausnahme verfolgt wird, ist angesichts der Tatsache, dass die Union keine restriktiven Maßnahmen in Bezug auf den Personenverkehr nach Russland u. a. zu touristischen Zwecken erlassen hat und es für Personen, die in dieses Drittland reisen und sich dort aufhalten, hierbei unerlässlich ist, sich bestimmte Waren und Dienstleistungen zu beschaffen, die Einführung dieser Ausnahme gerade für Personen, die nach Russland reisen, und deren mitreisende unmittelbare Familienangehörigen durch den Unionsgesetzgeber so zu verstehen, dass damit nur die Wirksamkeit des Rechts auf Freizügigkeit gewährleistet werden soll.

33      In diesem Zusammenhang steht zum einen eine enge Auslegung der in Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 833/2014 vorgesehenen Ausnahme dahin, dass nur der Verkauf, die Lieferung, das Verbringen und die Ausfuhr von auf Euro lautenden Banknoten zur Finanzierung der Reise- und Aufenthaltskosten der nach Russland reisenden Person und von deren mitreisenden unmittelbaren Familienangehörigen unter die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme fallen, im Einklang mit den in den Rn. 30 und 31 des vorliegenden Urteils genannten Zielen dieser Verordnung.

34      Zum anderen ermöglicht eine solche enge Auslegung von Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 833/2014, soweit sie gewährleistet, dass eine Person, die nach Russland reist, über das erforderliche Bargeld verfügen kann, um sich die Waren und Dienstleistungen zu beschaffen, die zur Deckung ihres Bedarfs sowie gegebenenfalls des Bedarfs ihrer mitreisenden unmittelbaren Familienangehörigen während ihrer Reise und ihres Aufenthalts in Russland unerlässlich sind, auch das mit dieser Ausnahme verfolgte Ziel, die Wirksamkeit des Rechts, nach Russland zu reisen, sicherzustellen.

35      Daraus folgt, dass die Ausfuhr von auf Euro lautenden Banknoten durch eine Person, die nach Russland reist, um medizinische Behandlungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zu bezahlen, nicht unter die in Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 833/2014 vorgesehene Ausnahme fällt, da solche Behandlungen nicht den Erfordernissen entsprechen, die durch die Reise nach oder den Aufenthalt dieser Person in Russland veranlasst werden.

36      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 833/2014 dahin auszulegen ist, dass die Ausfuhr von auf Euro lautenden Banknoten durch eine nach Russland reisende Person zur Finanzierung medizinischer Behandlungen, die diese Person in diesem Drittstaat in Anspruch nehmen möchte, keine für den persönlichen Gebrauch dieser Person erforderliche Ausfuhr im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

 Kosten

37      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5i Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates vom 31. Juli 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren, in der durch die Durchführungsverordnung (EU) 2022/595 der Kommission vom 11. April 2022 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

die Ausfuhr von auf Euro lautenden Banknoten durch eine nach Russland reisende Person zur Finanzierung medizinischer Behandlungen, die diese Person in diesem Drittstaat in Anspruch nehmen möchte, keine für den persönlichen Gebrauch dieser Person erforderliche Ausfuhr im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

Arastey Sahún

Gratsias

Regan

Passer

 

Smulders

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. April 2025.

Der Kanzler

 

Die Kammerpräsidentin

A. Calot Escobar

 

M. L. Arastey Sahún


*      Verfahrenssprache: Deutsch.