URTEIL DES GERICHTSHOFES
22. Oktober 1998 (1)
„Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge Folgen der Unvereinbarkeit
einer nationalen Abgabe mit dem Gemeinschaftsrecht“
In den verbundenen Rechtssachen C-10/97 bis C-22/97
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag von der Pretura
Circondariale Rom (Italien) in den bei dieser anhängigen Rechtsstreitigkeiten
Ministero delle Finanze
gegen
IN.CO.GE.'90 Srl (C-10/97),
Idelgard Srl (C-11/97),
Iris'90 Srl (C-12/97),
Camed Srl (C-13/97),
Pomezia Progetti Appalti Srl (PPA) (C-14/97),
Edilcam Srl (C-15/97),
A. Cecchini & C. Srl (C-16/97),
EMO Srl (C-17/97),
Emoda Srl (C-18/97),
Sappesi Srl (C-19/97),
Ing. Luigi Martini Srl (C-20/97),
Giacomo Srl (C-21/97),
Mafar Srl (C-22/97)
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Folgen der Unvereinbarkeit
einer nationalen Abgabe mit dem Gemeinschaftsrecht im innerstaatlichen Recht
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten P. J. G. Kapteyn, J.-P. Puissochet (Berichterstatter), G. Hirsch
und P. Jann sowie der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida,
C. Gulmann, J. L. Murray, D. A. O. Edward, H. Ragnemalm, L. Sevón,
M. Wathelet, R. Schintgen und K. M. Ioannou,
Generalanwalt: D. Ruiz-Jarabo Colomer
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der italienischen Regierung, vertreten durch Professor Umberto Leanza,
Leiter des Servizio del contenzioso diplomatico des Ministeriums für
Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten, Beistand: Avvocato dello
Stato Francesca Quadri,
der französischen Regierung, vertreten durch Kareen Rispal-Bellanger,
Abteilungsleiterin in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für
Auswärtige Angelegenheiten, und Gautier Mignot, Sekretär für Auswärtige
Angelegenheiten in derselben Direktion, als Bevollmächtigte,
der Regierung des Vereinigten Königreichs, zunächst vertreten durch
Lindsey Nicoll, Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte,
Beistand: Barrister Rhodri Thompson, sodann durch Stephanie Ridley,
Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigte, Beistand: Barrister
Rhodri Thompson,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Enrico
Traversa, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigten,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von IN.CO.GE.'90 Srl, Idelgard Srl,
Iris'90 Srl und Sappesi Srl, vertreten durch Rechtsanwalt Gianni Manca, Rom, der
italienischen Regierung, vertreten durch Avvocato dello Stato Ivo M. Braguglia, der
französischen Regierung, vertreten durch Gautier Mignot, der Regierung des
Vereinigten Königreichs, vertreten durch Barrister Rhodri Thompson, und der
Kommission, vertreten durch Enrico Traversa, in der Sitzung vom 19. März 1998,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Mai
1998,
folgendes
Urteil
- 1.
- Die Pretura circondariale Rom hat mit 13 Beschlüssen vom 17. Dezember 1996,
beim Gerichtshof eingegangen am 16. Januar 1997, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag
eine Frage nach den Folgen der Unvereinbarkeit einer nationalen Abgabe mit dem
Gemeinschaftsrecht im innerstaatlichen Recht zur Vorabentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Frage stellt sich in Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Ministero delle Finanze
(Finanzministerium) und der IN.CO.GE.'90 und zwölf anderen Gesellschaften mit
beschränkter Haftung (im folgenden: IN.CO.GE.'90 u. a.) wegen der Modalitäten
der Erstattung der staatlichen Konzessionsabgaben für die Eintragung von
Gesellschaften im Unternehmensregister (im folgenden: Konzessionsabgabe).
- 3.
- Die Konzessionsabgabe wurde durch das Dekret Nr. 641 des Präsidenten der
Republik vom 26. Oktober 1972 (GURI Nr. 292 vom 11. November 1972,
Supplemento Nr. 3; im folgenden: Dekret Nr. 641/72) eingeführt. Sie wurde, soweit
sie die Eintragung der Gesellschaftsgründung im Register betrifft, hinsichtlich ihrer
Höhe und ihres Fälligkeitszeitraums wiederholt geändert.
- 4.
- Die Konzessionsabgabe wurde zunächst wesentlich erhöht durch das Decreto-legge
Nr. 853 vom 19. Dezember 1984 (GURI Nr. 347 vom 19. Dezember 1984), in ein
Gesetz umgewandelt durch Gesetz Nr. 17 vom 17. Februar 1985 (GURI Nr. 41 a
vom 17. Februar 1985), nach dem die Abgabe künftig nicht nur bei der Eintragung
der Gründung der Gesellschaft in das Register zu entrichten war, sondern auch am
30. Juni jedes folgenden Jahres. Die Abgabensätze wurden dann erneut 1988 und
1989 anders festgesetzt. 1989 belief sie sich auf 12 Millionen LIT für
Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien, auf 3,5 Millionen
LIT für Gesellschaften mit beschränkter Haftung und auf 500 000 LIT für die
übrigen Gesellschaften.
- 5.
- Der Gerichtshof hat im Urteil vom 20. April 1993 in den Rechtssachen C-71/91 und
C-178/91 (Ponente Carni und Cispadana Costruzioni, Slg. 1993, I-1915), in dem es
um die Konzessionsabgabe ging, entschieden, daß Artikel 10 der Richtlinie
69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die
Ansammlung von Kapital (ABl. L 249, S. 25) so auszulegen ist, daß er es
vorbehaltlich der in Artikel 12 vorgesehenen Ausnahmen verbietet, eine jährliche
Abgabe wegen der Eintragung von Kapitalgesellschaften zu erheben, und zwar auch
dann, wenn der Ertrag dieser Abgabe zur Finanzierung des Dienstes beiträgt, der
mit der Führung des für die Eintragung von Gesellschaften bestimmten Registers
betraut ist. Der Gerichtshof hat außerdem für Recht erkannt, daß Artikel 12 der
Richtlinie 69/335 so auszulegen ist, daß die in Absatz 1 Buchstabe e genannten
Abgaben mit Gebührencharakter Abgaben sein können, die als Gegenleistung für
im Allgemeininteresse gesetzlich vorgeschriebene Vorgänge, wie etwa die
Eintragung von Kapitalgesellschaften, erhoben werden. Die Höhe dieser Abgaben,
die je nach der Gesellschaftsform verschieden sein kann, muß nach den Kosten des
Vorgangs, die pauschal ermittelt werden können, berechnet sein.
- 6.
- Infolge dieses Urteils wurde die Konzessionsabgabe durch das Decreto-legge Nr.
331 vom 30. August 1993 (GURI Nr. 203 vom 30. August 1993), das durch das
Gesetz Nr. 427 vom 29. Oktober 1993 (GURI Nr. 255 vom 29. Oktober 1993) in
ein Gesetz umgewandelt wurde, für alle Gesellschaften auf 500 000 LIT gesenkt
und ihre jährliche Erhebung abgeschafft.
- 7.
- IN.CO.GE.'90 u. a. erwirkten gemäß den Artikeln 633 ff. der italienischen
Zivilprozeßordnung bei der Pretura Rom Mahnbescheide, mit denen dem
Finanzministerium aufgegeben wurde, ihnen die Beträge zu erstatten, die sie in den
vorangegangenen Jahren als Konzessionsabgabe gezahlt hatten.
- 8.
- Das Finanzministerium erhob Einspruch gegen die Mahnbescheide der Pretura
Rom, mit denen es zwei Einreden geltend machte: Die Pretura sei für
Streitigkeiten über Abgabenangelegenheiten nicht zuständig, und der
Erstattungsanspruch der Klägerinnen sei, soweit es sich um mehr als drei Jahre vor
Stellung des Erstattungsantrags entrichtete Beträge handele, gemäß Artikel 13 des
Dekrets Nr. 641/72 erloschen.
- 9.
- Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich, daß diesen Einreden zusammen stattzugeben
ist oder daß sie zusammen zurückzuweisen sind, da sie beide damit
zusammenhängen, ob der Rechtsstreit eine Abgaben- oder aber eine
Zivilrechtsangelegenheit betrifft. Betrifft er nämlich eine Abgabenangelegenheit, so
ist die Pretura dafür unzuständig und hat folglich die Einrede der Erlöschung des
Anspruchs nicht zu prüfen. Betrifft der Rechtsstreit dagegen keine
Abgabenangelegenheit, sondern fällt unter die zivilrechtliche Regelung der
Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge, so ist es nicht nur Sache des
vorlegenden Gerichts, ihn zu entscheiden, sondern ist auch die dreijährige Frist des
Artikels 13 des Dekrets Nr. 641/72 für das Erlöschen eines Anspruchs nicht
anwendbar.
- 10.
- Die Pretura Rom weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß die Corte
suprema di cassazione (Vereinigte Kammern) in ihrem Urteil Nr. 3458 vom 23.
Februar 1996 entschieden habe, daß die Erstattung der Konzessionsabgabe unter
die letztgenannte Vorschrift falle, da diese auf alle ohne Rechtsgrund entrichteten
Abgaben unabhängig davon anwendbar sei, weshalb die rechtsgrundlose Zahlung
erfolgt sei.
- 11.
- Das vorlegende Gericht stimmt dieser Auffassung jedoch nicht zu und weist darauf
hin, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes das nationale Gericht gehalten
sei, jede auch spätere dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufende Bestimmung
des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, ohne daß es die vorherige
Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein
anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müßte (Urteil
vom 4. Juni 1992 in den Rechtssachen C-13/91 und C-113/91, Debus, Slg. 1992,
I-3617). Im vorliegenden Fall hätte die völlige Nichtanwendung des italienischen
Gesetzes, durch das die Konzessionsabgabe eingeführt worden sei,
notwendigerweise zur Folge, daß es sich bei den Rechtsbeziehungen, die durch die
Zahlung der streitigen Beträge zwischen dem Finanzministerium und den klagenden
Firmen entstünden, nicht um eine Abgabenangelegenheit handeln würde. Da diese
Beträge für eine nicht existierende Abgabe erhoben worden seien, d. h. ohne daß
ein abgabenrechtlicher Anspruch des Staates bestanden habe, falle ihre
Rückzahlung unter die allgemeine Regelung der Erstattung rechtsgrundlos
gezahlter Beträge, für die die zehnjährige Verjährungsfrist der Zivilprozeßordnung
gelte.
- 12.
- Aus diesen Gründen hat die Pretura Rom das Verfahren ausgesetzt und dem
Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Führt die Unvereinbarkeit des Artikels 3 Absätze 18 und 19 des Decreto-legge
Nr. 853 vom 19. Dezember 1984, in ein Gesetz umgewandelt durch das Gesetz
Nr. 17 vom 17. Februar 1985, mit Artikel 10 der Richtlinie 335/69/EWG des Rates
vom 17. Juli 1969 in der Auslegung des Gerichtshofes im Urteil vom 20. April 1993
in den verbundenen Rechtssachen C-71/91 und C-178/91 aufgrund der vom
Gerichtshof selbst aufgestellten Kriterien der Integration der nationalen
Vorschriften und der Gemeinschaftsvorschriften zur vollständigen Unanwendbarkeit
des Artikels 3 Absätze 18 und 19? Bedeutet diese insbesondere, daß das nationale
Gericht diese innerstaatlichen Vorschriften auch bei der Qualifizierung des
Rechtsverhältnisses unberücksichtigt lassen muß, in dessen Rahmen der Bürger
eines Mitgliedstaats von der Finanzverwaltung die Erstattung der entgegen Artikel
10 der Richtlinie 335/69 gezahlten Beträge verlangt?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofes
- 13.
- Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht geltend, daß der Gerichtshof für
die Beantwortung der von der Pretura Rom gestellten Frage nicht zuständig sei, da
sich diese auf die Auslegung des italienischen und nicht des Gemeinschaftsrechts
beziehe. Denn die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung
von gerichtlichen Verfahren, die den Schutz der dem Bürger aus dem
Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollten, sei Sache der
einzelnen Mitgliedstaaten (Urteile vom 16. Dezember 1976 in der Rechtssache
33/76, Rewe, Slg. 1976, 1989, und in der Rechtssache 45/76, Comet, Slg. 1989,
2043).
- 14.
- Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes ist es nämlich Sache jedes
Mitgliedstaats, zu bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung von
Rechtsstreitigkeiten zuständig ist, in denen es um individuelle, auf dem
Gemeinschaftsrecht beruhende Rechte geht, wobei die Mitgliedstaaten jedoch für
den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind. Unter
diesem Vorbehalt ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofes, bei der Lösung von
Zuständigkeitsfragen mitzuwirken, die die Qualifizierung bestimmter, auf dem
Gemeinschaftsrecht beruhender Rechtslagen im Bereich der nationalen
Gerichtsbarkeit aufwerfen kann (Urteile vom 9. Juli 1985 in der Rechtssache
179/84, Bozzetti, Slg. 1985, 2301, Randnr. 17; vom 18. Januar 1996 in der
Rechtssache C-446/93, SEIM, Slg. 1996, I-73, Randnr. 32, und vom 17. September
1997 in der Rechtssache C-54/96, Dorsch Consult, Slg. 1997, I-4961, Randnr. 40).
- 15.
- Der Gerichtshof ist jedoch befugt, dem nationalen Gericht die Kriterien des
Gemeinschaftsrechts aufzuzeigen, die zur Lösung der Zuständigkeitsfrage, die sich
diesem Gericht stellt, beitragen können (Urteile Bozzetti, Randnr. 18, und SEIM,
Randnr. 33). Zu diesem Zweck kann er gegebenenfalls der Vorlagefrage und den
Darlegungen des einzelstaatlichen Gerichts die fraglichen Gesichtspunkte
entnehmen (vgl. insbesondere Urteil vom 4. Dezember 1980 in der Rechtssache
54/80, Wilner, Slg. 1980, 3673, Randnr. 4).
- 16.
- Insoweit geht aus dem Vorlagebeschluß hervor, daß die Pretura Rom sich fragt,
welche Konsequenzen sich aus der Unvereinbarkeit einer nationalen Abgabe mit
dem Gemeinschaftsrecht im innerstaatlichen Recht ergeben. Dabei stützt sie ihre
Überzeugung, daß die bei ihr anhängigen Rechtsstreitigkeiten keine
Abgabenangelegenheit beträfen, sondern im italienischen Recht unter die
allgemeine Regelung der Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge fielen, aufden Umstand, daß eine derartige Unvereinbarkeit dadurch, daß sie zur völligen
Nichtanwendung der betreffenden nationalen Bestimmungen führe und der
fraglichen Abgabe jede rechtliche Existenz nehme, notwendigerweise darauf
hinauslaufe, daß diese „Abgabe“ keine Abgabenangelegenheit mehr sei.
- 17.
- Daraus folgt, daß der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefrage zuständig
ist.
Zur Vorlagefrage
- 18.
- Die Kommission erinnert daran, daß der Gerichtshof im Urteil vom 9. März 1978
in der Rechtssache 106/77 (Simmenthal, Slg. 1978, 629) insbesondere entschieden
habe, daß die Vertragsbestimmungen und die unmittelbar geltenden Rechtsakte der
Gemeinschaftsorgane in ihrem Verhältnis zum internen Recht der Mitgliedstaaten
nicht nur zur Folge hätten, daß jede zuwiderlaufende Bestimmung des geltenden
staatlichen Rechts ohne weiteres unanwendbar werde, sondern auch, daß ein
wirksames Zustandekommen neuer staatlicher Gesetzgebungsakte insoweit
verhindert werde, als diese mit Gemeinschaftsnormen unvereinbar wären. Die
Kommission leitet daraus her, daß ein Mitgliedstaat völlig unzuständig dafür sei,
eine abgabenrechliche Bestimmung zu erlassen, die mit dem Gemeinschaftsrecht
unvereinbar sei, und daß demzufolge eine solche Bestimmung und die
entsprechende abgabenrechtliche Verpflichtung als inexistent anzusehen seien.
- 19.
- Dieser Auslegung kann nicht gefolgt werden.
- 20.
- Der Gerichtshof war in der Rechtssache Simmenthal insbesondere danach gefragt
worden, welche Konsequenzen sich aus der unmittelbaren Anwendbarkeit einer
Bestimmung des Gemeinschaftsrechts ergeben, wenn diese einer später erlassenen
Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht. Ohne zwischen früher oder
später ergangenem Recht zu unterscheiden, hatte er jedoch bereits in seiner
früheren Rechtsprechung (vgl. insbesondere Urteil vom 15. Juli 1964 in der
Rechtssache 6/64, Costa, Slg. 1964, 1253) ausgeführt, daß es einem Mitgliedstaat
verwehrt sei, einer innerstaatlichen Vorschrift Vorrang vor einer entgegenstehenden
Gemeinschaftsnorm einzuräumen. So hat der Gerichtshof im Urteil Simmenthal
entschieden, daß jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche
Richter verpflichtet ist, das Gemeinschaftsrecht uneingeschränkt anzuwenden und
die Rechte, die es den einzelnen verleiht, zu schützen, indem er jede
möglicherweise zuwiderlaufende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig,
ob sie früher oder später als die Gemeinschaftsnorm ergangen ist, unangewendet
läßt (Urteil Simmenthal, Randnrn. 21 und 24). Diese Rechtsprechung ist mehrfach
bestätigt worden (vgl. z. B. Urteil Debus, Randnr. 32; Urteile vom 2. August 1993
in der Rechtssache C-158/91, Levy, Slg. 1993, I-4287, Randnr. 9, und vom 5. März
1998 in der Rechtssache C-347/96, Solred, Slg. 1998, I-937, Randnr. 30).
- 21.
- Entgegen dem Vorbringen der Kommission kann deshalb aus dem Urteil
Simmenthal nicht hergeleitet werden, daß die Unvereinbarkeit einer später
ergangenen Vorschrift des innerstaatlichen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht
dazu führt, daß diese Vorschrift inexistent ist. In dieser Situation ist das nationale
Gericht vielmehr verpflichtet, diese Vorschrift unangewendet zu lassen, wobei diese
Verpflichtung nicht die Befugnis der zuständigen nationalen Gerichte beschränkt,
unter mehreren nach der innerstaatlichen Rechtsordnung in Betracht kommenden
Wegen diejenigen zu wählen, die zum Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht
gewährten individuellen Rechte geeignet erscheinen (vgl. Urteil vom 4. April 1968
in der Rechtssache 34/67, Lück, Slg. 1968, 364).
- 22.
- Offen steht noch die Frage, ob die durch ein Urteil des Gerichtshofes veranlaßte
Nichtanwendung einer innerstaatlichen Regelung, durch die eine
gemeinschaftsrechtswidrige Abgabe eingeführt worden ist, dazu führt, daß diese
nachträglich ihren Abgabencharakter verliert und es sich daher bei den
Rechtsbeziehungen, die durch die Erhebung dieser Abgabe zwischen der nationalen
Finanzverwaltung und den steuerpflichtigen Gesellschaften entstanden sind, nicht
mehr um eine Abgabenangelegenheit handelt.
- 23.
- Nach ständiger Rechtsprechung wird durch die Auslegung einer Vorschrift des
Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus
Artikel 177 des Vertrages vornimmt, erläutert und erforderlichenfalls verdeutlicht,
in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem
Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt,
daß die Gerichte die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse,
die vor Erlaß des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden
sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die
Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschrift
betreffenden Streit vorliegen (Urteile vom 27. März 1980 in der Rechtssache 61/79,
Denkavit italiana, Slg. 1980, 1205, Randnr. 16, und vom 2. Dezember 1997 in der
Rechtssache C-188/95, Fantask u. a., Slg. 1997, I-6783, Randnr. 37).
- 24.
- Nach dieser Rechtsprechung ist das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein
Mitgliedstaat unter Verstoß gegen die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts in
ihrer Auslegung durch den Gerichtshof erhoben hat, Folge und Ergänzung der
Rechte, die den einzelnen aus den gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften zustehen,
die solche Abgaben verbieten. Der Mitgliedstaat ist somit grundsätzlich verpflichtet,
die unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Gebühren zu erstatten
(Urteil Fantask u. a., Randnr. 38).
- 25.
- Diese Erstattung kann jedoch mangels einer einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen
Regelung nur unter Beachtung der in den verschiedenen nationalen
Rechtsordnungen festgelegten materiellen und formellen Voraussetzungen verlangt
werden, wobei diese jedoch nicht ungünstiger gestaltet werden dürfen als bei
entsprechenden Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen, und die Ausübung
der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch
unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (vgl. insbesondere Urteile
vom 14. Dezember 1995 in der Rechtssache C-312/93, Peterbroeck, Slg. 1995,
I-4599, Randnr. 12, und vom 8. Februar 1996 in der Rechtssache C-212/94, FMC
u. a., Slg. 1996, I-389, Randnr. 71).
- 26.
- So muß die Verpflichtung des nationalen Gerichts, die Erstattung einer
gemeinschaftswidrig erhobenen innerstaatlichen Abgabe sicherzustellen,
vorbehaltlich der Beachtung der beiden in der Rechtsprechung des Gerichtshofes
aufgestellten Voraussetzungen gemäß dem innerstaatlichen Recht erfüllt werden.
Demnach bestimmen sich die Festsetzung der Modalitäten der Erstattung und die
zu diesem Zweck vorgenommene Qualifizierung der Rechtsbeziehungen, die durch
die Erhebung dieser Abgabe zwischen der Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats
und den in diesem Staat ansässigen Gesellschaften entstehen, nach nationalem
Recht.
- 27.
- Außerdem steht, wie der Gerichtshof kürzlich entschieden hat, das
Gemeinschaftsrecht grundsätzlich Vorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegen,
die neben einer allgemeinen Verjährungsfrist, die für Klagen gegen Private auf
Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge gilt, bei Steuern und sonstigen
Abgaben besondere Beschwerde- und Klagemodalitäten vorsehen (Urteile vom 15.
September 1998 in der Rechtssache C-231/96, Edis, Randnr. 37, und in der
Rechtssache C-260/96, Spac, Slg. 1998, I-0000, Randnr. 21).
- 28.
- Der so vom Gerichtshof anerkannten Befugnis, diese besonderen Modalitäten auch
auf die Erstattung von für gemeinschaftsrechtswidrig befundenen Steuern und
sonstigen Abgaben anzuwenden, würde jedoch jede Wirkung genommen, wenn, wie
die Kommission geltend macht, die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer nationalen
Abgabe zwangsläufig dazu führen würde, daß diese ihren Abgabencharakter verliert
und es sich bei den Rechtsbeziehungen, die durch die Erhebung der Abgabe
zwischen der nationalen Finanzverwaltung und den Abgabepflichtigen entstehen,
nicht mehr um Abgabenangelegenheiten handelt.
- 29.
- Somit ist auf die Vorlagefrage zu antworten, daß das nationale Gericht aufgrund
seiner Verpflichtung, eine innerstaatliche Regelung, durch die eine
gemeinschaftsrechtswidrige Abgabe eingeführt worden ist, unangewendet zu lassen,
Anträgen auf Erstattung dieser Abgabe grundsätzlich stattgeben muß. Die
Erstattung ist gemäß den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts zu gewährleisten,
wobei diese nicht ungünstiger gestaltet werden dürfen als bei entsprechenden
Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen; auch dürfen sie die Ausübung der
durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch
unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Eine eventuelle Neuqualifizierung
der Rechtsbeziehungen, die durch die Erhebung einer später für
gemeinschaftsrechtswidrig befundenen nationalen Abgabe zwischen der
Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats und den Gesellschaften in diesem Staat
entstanden sind, unterliegt somit dem innerstaatlichen Recht.
Kosten
- 30.
- Die Auslagen der italienischen und der französischen Regierung und der Regierung
des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission, die vor dem Gerichtshof
Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des
Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist
daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm von der Pretura circondariale Rom mit Beschluß vom 17. Dezember
1996 vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Das nationale Gericht muß aufgrund seiner Verpflichtung, eine innerstaatliche
Regelung, durch die eine gemeinschaftsrechtswidrige Abgabe eingeführt worden ist,
unangewendet zu lassen, Anträgen auf Erstattung dieser Abgabe grundsätzlich
stattgeben. Die Erstattung ist gemäß den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts
zu gewährleisten, wobei diese nicht ungünstiger gestaltet werden dürfen als bei
entsprechenden Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen; auch dürfen sie
die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht
praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren. Eine eventuelle
Neuqualifizierung der Rechtsbeziehungen, die durch die Erhebung einer später für
gemeinschaftsrechtswidrig befundenen nationalen Abgabe zwischen der
Finanzverwaltung eines Mitgliedstaats und den Gesellschaften in diesem Staat
entstanden sind, unterliegt somit dem innerstaatlichen Recht.
Rodríguez Iglesias Kapteyn Puissochet
Hirsch Jann Mancini
Moitinho de Almeida Gulmann Murray
Edward Ragnemalm Sevón
Wathelet Schintgen Ioannou
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 22. Oktober 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias