Language of document : ECLI:EU:C:2009:527

Rechtssache C-269/07

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Bundesrepublik Deutschland

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Freizügigkeit der Arbeitnehmer – Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 – Altersvorsorgezulage – Unbeschränkte Steuerpflicht“

Leitsätze des Urteils

1.        Freizügigkeit – Arbeitnehmer – Gleichbehandlung – Soziale Vergünstigungen – Begriff

(Verordnung Nr. 1612/68 des Rates, Art. 7 Abs. 2)

2.        Freizügigkeit – Arbeitnehmer – Gleichbehandlung – Soziale Vergünstigungen – Altersvorsorgezulage, die die künftige Absenkung des Niveaus der gesetzlichen Rente kompensieren soll – Gewährung der Zulage nur für unbeschränkt Steuerpflichtige

(Art. 39 EG; Verordnung Nr. 1612/68 des Rates, Art. 7 Abs. 2)

3.        Freizügigkeit – Arbeitnehmer – Gleichbehandlung – Soziale Vergünstigungen – Altersvorsorgezulage, die die künftige Absenkung des Niveaus der gesetzlichen Rente kompensieren soll – Beschränkung der Verwendung des in einem Altersvorsorgevertrag gebildeten Kapitals für die Anschaffung oder Herstellung einer zu eigenen Wohnzwecken dienenden Wohnung auf im Inland belegene Immobilien

(Art. 39 EG; Verordnung Nr. 1612/68 des Rates, Art. 7 Abs. 2)

4.        Freizügigkeit – Arbeitnehmer – Gleichbehandlung – Soziale Vergünstigungen – Altersvorsorgezulage, die die künftige Absenkung des Niveaus der gesetzlichen Rente kompensieren soll – Nationale Regelung, nach der die Zulage bei Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht im betreffenden Mitgliedstaat zurückzuzahlen ist

(Art. 18 EG und 39 EG; Verordnung Nr. 1612/68 des Rates, Art. 7 Abs. 2)

1.        Der Begriff „soziale Vergünstigung“ in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft deckt alle Vergünstigungen ab, die – ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht – den inländischen Arbeitnehmern hauptsächlich wegen ihrer objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres gewöhnlichen Wohnsitzes im Inland gewährt werden und deren Erstreckung auf Arbeitnehmer aus anderen Mitgliedstaaten deshalb geeignet erscheint, ihre Mobilität innerhalb der Gemeinschaft zu erleichtern.

Unter diesen Begriff fällt eine Altersvorsorgezulage, die geschaffen wurde, um die künftige Absenkung des Niveaus der gesetzlichen Rente zu kompensieren, und zu diesem Zweck als finanzielle Hilfe ausgestaltet ist, mit der den Betroffenen ein Anreiz für den Aufbau einer ergänzenden Rente während ihrer gesamten Berufstätigkeit gegeben werden soll, die in erster Linie den in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversicherten Arbeitnehmern gewährt wird und deren Gewährung vom Einkommen des Begünstigten unabhängig ist, wobei ihre Höhe sowohl von den aufgrund des Altersvorsorgevertrags gezahlten Beiträgen als auch von der Zahl der Kinder abhängt, für die dem Begünstigten Kindergeld ausgezahlt wird.

(vgl. Randnrn. 39, 41-43)

2.        Ein Mitgliedstaat, der Vorschriften zur ergänzenden Altersvorsorge einführt und beibehält, verstößt gegen seine Verpflichtungen aus Art. 39 EG und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, soweit die Vorschriften Grenzarbeitnehmern und deren Ehegatten die Inanspruchnahme der Altersvorsorgezulage verweigern, falls sie in diesem Mitgliedstaat nicht unbeschränkt steuerpflichtig sind.

Eine Vorschrift des nationalen Rechts ist nämlich, sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt ist und in angemessenem Verhältnis zum verfolgten Zweck steht, als mittelbar diskriminierend anzusehen, wenn sie sich ihrem Wesen nach stärker auf Wanderarbeitnehmer als auf inländische Arbeitnehmer auswirken kann und folglich die Gefahr besteht, dass sie Wanderarbeitnehmer besonders benachteiligt. Grenzarbeitnehmer, deren Einkommen nach bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen ausschließlich in ihrem Wohnsitzstaat besteuert wird, haben nicht die Möglichkeit, im Mitgliedstaat der Beschäftigung den unbeschränkt Steuerpflichtigen gleichgestellt zu werden. Unter diesen Umständen kommt die Voraussetzung der unbeschränkten Steuerpflicht im Mitgliedstaat der Beschäftigung einem Wohnsitzerfordernis gleich. Infolgedessen sind die fraglichen Grenzarbeitnehmer, die definitionsgemäß in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, von der Inanspruchnahme der Altersvorsorgezulage ausgeschlossen. Dass die Gewährung der Zulage von einer Voraussetzung abhängig gemacht wird, die einem Wohnsitzerfordernis gleichkommt, verstößt somit gegen Art. 39 EG und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68. Das Gleiche gilt, wenn die fragliche nationale Regelung die Gewährung der Altersvorsorgezulage für Ehegatten von deren unbeschränkter Steuerpflicht im Mitgliedstaat der Beschäftigung abhängig macht

Eine solche nationale Maßnahme kann nicht mit der Kohärenz des Steuersystems des betreffenden Mitgliedstaats gerechtfertigt werden, da diese auf der Grundlage bilateraler Doppelbesteuerungsabkommen zwischen dem genannten Mitgliedstaat und anderen Mitgliedstaaten gewahrt wird.

(vgl. Randnrn. 54, 56-57, 59, 63, 65-69 und Tenor)

3.        Ein Mitgliedstaat, der Vorschriften zur ergänzenden Altersvorsorge einführt und beibehält, verstößt gegen seine Verpflichtungen aus Art. 39 EG und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft, soweit die Vorschriften Grenzarbeitnehmern nicht gestatten, das geförderte Kapital für die Anschaffung oder Herstellung einer zu eigenen Wohnzwecken dienenden Wohnung zu verwenden, falls diese nicht im Mitgliedstaat der Beschäftigung belegen ist.

Da durch eine solche Regelung Grenzarbeitnehmer ungünstiger behandelt werden als Arbeitnehmer, die im Mitgliedstaat der Beschäftigung wohnen, stellt sie eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar, die nicht mit dem Ziel der Sicherung eines hinreichenden Wohnungsangebots und der Erhaltung des nationalen Sozialversicherungssystems gerechtfertigt werden kann. Was erstens das Ziel anbelangt, ein hinreichendes Wohnungsangebot zu sichern, so geht – sofern man unterstellt, dass ein solches Ziel einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses bildet – die Voraussetzung, wonach die anzuschaffende oder herzustellende Wohnung im Mitgliedstaat der Beschäftigung belegen sein muss, jedenfalls über das hinaus, was zur Erreichung des genannten Ziels erforderlich ist, da es ebenso erreicht werden könnte, wenn die Grenzarbeitnehmer ihren Wohnsitz weiterhin im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats und nicht im Gebiet des Mitgliedstaats der Beschäftigung hätten. Was zweitens den Schutz des nationalen Sozialversicherungssystems angeht, so lässt sich dieses Ziel in gleicher Weise erreichen, wenn das Altersvorsorgekapital für die Anschaffung einer Wohnung außerhalb des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaats der Beschäftigung verwendet werden kann.

(vgl. Randnrn. 80-82, 84-85 und Tenor)

4.        Ein Mitgliedstaat, der Vorschriften zur ergänzenden Altersvorsorge einführt und beibehält, verstößt gegen seine Verpflichtungen aus Art. 39 EG und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft sowie aus Art. 18 EG, soweit die Vorschriften vorsehen, dass die Altersvorsorgezulage bei Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht in diesem Mitgliedstaat zurückzuzahlen ist.

Der Zulageberechtigte, dessen unbeschränkte Steuerpflicht durch Aufgabe des inländischen Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts endet, muss nämlich nach diesen Vorschriften die Altersvorsorgezulage zurückzahlen; bei Wanderarbeitnehmern, die im Allgemeinen ausländische Staatsangehörige sind, besteht aber eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sie das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats der Beschäftigung verlassen, um in einem anderen Mitgliedstaat zu arbeiten und zu wohnen, und damit eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Beendigung ihrer unbeschränkten Steuerpflicht im Mitgliedstaat der Beschäftigung. Bei ausländischen Arbeitnehmern ist daher eine ungünstige Behandlung wahrscheinlicher als bei inländischen Arbeitnehmern. Folglich stellen die fraglichen Vorschriften eine mittelbare Diskriminierung der Wanderarbeitnehmer dar.

Eine solche Rückzahlungspflicht hat im Übrigen abschreckenden Charakter für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.

Da die fraglichen Vorschriften die Zulageberechtigten nämlich verpflichten, bei Beendigung der unbeschränkten Steuerpflicht in diesem Staat die Altersvorsorgezulage zurückzuzahlen, befindet sich jeder Arbeitnehmer, der Angehöriger dieses Mitgliedstaats ist und von seinem Recht auf Freizügigkeit nach Art. 39 EG und insbesondere von dem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, Gebrauch machen will, in einer ungünstigeren Situation als ein Arbeitnehmer, der seinen Wohnsitz im Inland beibehält und dort weiterhin unbeschränkt steuerpflichtig ist. Diese unterschiedliche Behandlung ist geeignet, Arbeitnehmer mit der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats davon abzuhalten, eine Berufstätigkeit im Ausland auszuüben, und kann daher die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beeinträchtigen. Das Gleiche gilt hinsichtlich nicht wirtschaftlich tätiger Personen aus denselben Gründen hinsichtlich eines Verstoßes gegen Art. 18 EG.

Eine solche Beeinträchtigung kann nicht mit der Kohärenz des Steuersystems des betreffenden Mitgliedstaats gerechtfertigt werden, da diese auf der Grundlage bilateraler Doppelbesteuerungsabkommen zwischen dem genannten Mitgliedstaat und anderen Mitgliedstaaten gewahrt wird.

(vgl. Randnrn. 101-102, 104, 109, 112-113, 115-116 und Tenor)