Language of document : ECLI:EU:C:2019:1140

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

19. Dezember 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Verordnung (EU) Nr. 528/2012 – Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und c – Begriff ‚Biozidprodukt‘ – Begriff ‚Wirkstoff‘ – Bakterielles Produkt, das die Art Bacillus Ferment enthält – Andere Wirkungsweise als durch eine bloße physikalische oder mechanische Einwirkung – Mittelbare Wirkungsweise – Zeitraum der Einwirkung des Produkts“

In der Rechtssache C‑592/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom College van Beroep voor het bedrijfsleven (Obergericht für Wirtschaftsverwaltungssachen, Niederlande) mit Entscheidung vom 18. September 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 21. September 2018, in dem Verfahren

Darie BV

gegen

Staatssecretaris van Infrastructuur en Milieu

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten S. Rodin, der Richterin K. Jürimäe und des Richters N. Piçarra (Berichterstatter),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Darie BV, vertreten durch H. Lamon und J. A. M. Jonkhout, advocaten,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, zunächst vertreten durch G. Hesse, dann durch J. Schmoll als Bevollmächtigte,

–        der norwegischen Regierung, vertreten durch J. T. Kaasin und T. Skjeie als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Haasbeek und R. Lindenthal als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 17. Oktober 2019

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 528/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung von Biozidprodukten (ABl. 2012, L 167, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Darie BV, einer auf dem Markt für den Großhandel mit Pflege‑, Reinigungs- und Waschmitteln tätigen Handelsgesellschaft, und dem Staatssecretaris van Infrastructuur en Milieu (Staatssekretär für Infrastruktur und Umwelt, Niederlande) (im Folgenden: Staatssecretaris) über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung des Staatssecretaris, mit der ihr aufgegeben wurde, die Bereitstellung eines Produkts auf dem Markt zu beenden, das der Staatssecretaris als „Biozidprodukt“ eingestuft hat und das nicht zugelassen wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Verordnung Nr. 528/2012

3        Der fünfte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 528/2012 lautet:

„Regeln für die Bereitstellung auf dem Markt von Biozidprodukten in der Gemeinschaft wurden mit der Richtlinie 98/8/EG des Europäischen Parlaments und des Rates [vom 16. Februar 1998 über das Inverkehrbringen von Biozid-Produkten (ABl. 1998, L 123, S. 1)] eingeführt. Es ist erforderlich, dass diese Regeln angesichts der gesammelten Erfahrungen und insbesondere des Berichts über die ersten sieben Jahre der Anwendung der Richtlinie, den die Kommission dem Europäischen Parlament und dem Rat unterbreitet hat und in dem sie die Probleme und Schwächen der Richtlinie untersucht, angepasst werden.“

4        Art. 1 („Ziel und Gegenstand“) der Verordnung bestimmt:

„(1)      Ziel dieser Verordnung ist es, das Funktionieren des Binnenmarkts durch die Harmonisierung der Vorschriften für die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung von Biozidprodukten bei gleichzeitiger Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt zu verbessern. Die Bestimmungen dieser Verordnung beruhen auf dem Vorsorgeprinzip, mit dem der Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier sowie der Umwelt sichergestellt werden soll. …

(2)      Diese Verordnung regelt

a)      die Erstellung einer auf Unionsebene gültigen Liste von Wirkstoffen, die in Biozidprodukten verwendet werden dürfen;

b)      die Zulassung von Biozidprodukten;

…“

5        Art. 2 („Geltungsbereich“) Abs. 1 der Verordnung sieht vor:

„Diese Verordnung gilt für Biozidprodukte und behandelte Waren. Anhang V enthält eine Liste der unter diese Verordnung fallenden Arten von Biozidprodukten mit ihrer Beschreibung.“

6        Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

a)      ,Biozidprodukt‘

–        jeglichen Stoff oder jegliches Gemisch in der Form, in der er/es zum Verwender gelangt, und der/das aus einem oder mehreren Wirkstoffen besteht, diese enthält oder erzeugt, der/das dazu bestimmt ist, auf andere Art als durch bloße physikalische oder mechanische Einwirkung Schadorganismen zu zerstören, abzuschrecken, unschädlich zu machen, ihre Wirkung zu verhindern oder sie in anderer Weise zu bekämpfen;

–        jeglichen Stoff oder jegliches Gemisch, der/das aus Stoffen oder Gemischen erzeugt wird, die selbst nicht unter den ersten Gedankenstrich fallen und der/das dazu bestimmt ist, auf andere Art als durch bloße physikalische oder mechanische Einwirkung Schadorganismen zu zerstören, abzuschrecken, unschädlich zu machen, ihre Wirkung zu verhindern oder sie in anderer Weise zu bekämpfen.

Eine behandelte Ware mit einer primären Biozidfunktion gilt als Biozidprodukt.

c)      ,Wirkstoff‘ einen Stoff oder einen Mikroorganismus, der eine Wirkung auf oder gegen Schadorganismen entfaltet;

g)      ,Schadorganismus‘ einen Organismus, einschließlich Krankheitserreger, der für Menschen, für Tätigkeiten des Menschen oder für Produkte, die von Menschen verwendet oder hergestellt werden, oder für Tiere oder die Umwelt unerwünscht oder schädlich ist;

…“

7        Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 528/2012 bestimmt:

„Biozidprodukte dürfen nur auf dem Markt bereitgestellt oder verwendet werden, wenn sie gemäß der vorliegenden Verordnung zugelassen wurden.“

8        Anhang V („Biozidproduktarten und deren Beschreibung gemäß Artikel 2 Absatz 1“) dieser Verordnung unterteilt die Biozidprodukte in vier Hauptgruppen, nämlich Desinfektionsmittel, Schutzmittel, Schädlingsbekämpfungsmittel und sonstige Biozidprodukte. In diesem Anhang wird zum einen klargestellt, dass die Hauptgruppe Desinfektionsmittel keine Reinigungsmittel umfasst, bei denen eine biozide Wirkung nicht beabsichtigt ist, und zum anderen, dass die Hauptgruppe Schutzmittel, sofern nicht anders angegeben, nur Produkte zur Verhütung der Entstehung von Mikroben und Algen umfasst.

 Richtlinie 98/8

9        Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) Abs. 1 der Richtlinie 98/8, die durch die Verordnung Nr. 528/2012 aufgehoben und ersetzt wurde, bestimmte:

„Im Sinne dieser Richtlinie gelten die folgenden Begriffsbestimmungen:

a)      Biozid-Produkte

Wirkstoffe und Zubereitungen, die einen oder mehrere Wirkstoffe enthalten, in der Form, in welcher sie zum Verwender gelangen, und die dazu bestimmt sind, auf chemischem oder biologischem Wege Schadorganismen zu zerstören, abzuschrecken, unschädlich zu machen, Schädigungen durch sie zu verhindern oder sie in anderer Weise zu bekämpfen.

…“

 Verordnung (EG) Nr. 648/2004

10      Im 21. Erwägungsgrund der Verordnung (EG) Nr. 648/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über Detergenzien (ABl. 2004, L 104, S. 1) heißt es, „[e]s ist angezeigt, auf andere horizontale Rechtsvorschriften hinzuweisen, die für in Detergenzien verwendete Tenside gelten“; zu diesen Rechtsvorschriften gehört die Richtlinie 98/8.

11      Art. 2 Nr. 1 dieser Verordnung enthält die Definition des Begriffs „Detergens“ im Sinne der Verordnung.

 Niederländisches Recht

12      Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) der Wet gewasbeschermingsmiddelen en bioziden (Gesetz über Pflanzenschutzmittel und Biozidprodukte, im Folgenden: Wgb) bestimmt:

„(1)      Im Sinne dieses Gesetzes und der darauf beruhenden Bestimmungen bezeichnet der Ausdruck:

Biozidprodukt: Biozidprodukt gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung [Nr. 528/2012];

…“

13      Art. 43 („Verstöße gegen die Verordnung“) Wgb sieht vor:

„(1)      Gegen Art. 17 Abs. 1, 5 und 6 … der Verordnung [Nr. 528/2012] oder die Verordnungen zu ihrer Durchführung darf nicht verstoßen werden.

…“

14      Art. 86 („Verwaltungszwang“) Wgb bestimmt:

„Der Minister ist befugt, zur Einhaltung der durch oder aufgrund dieses Gesetzes festgelegten Vorschriften und des Art. 5:20 der Algemene wet bestuursrecht [Allgemeines Verwaltungsrechtsgesetz], soweit es um die Pflicht zur Zusammenarbeit mit den nach Art. 82 bestimmten Bediensteten geht, eine mit Verwaltungszwang bewehrte Anordnung zu erlassen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15      Mit Bescheid vom 13. Januar 2017 gab der Staatssecretaris Darie unter Androhung eines Zwangsgelds in Höhe von 1 000 Euro pro Woche und mit einer Obergrenze von 25 000 Euro gemäß den Art. 43 und 86 Wgb in Verbindung mit Art. 17 Abs. 1 der Verordnung Nr. 528/2012 auf, die Bereitstellung auf dem Markt von Pure Air, einem von ihm als „Biozidprodukt“ eingestuften und von der zuständigen Behörde, nämlich dem College voor de toelating van gewasbeschermingsmiddelen en bioziden (Ausschuss für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln und Biozidprodukten, Niederlande) nicht zugelassenen Erzeugnis zu beenden.

16      Darie legte gegen den Bescheid des Staatssecretaris Widerspruch ein und machte geltend, dieser habe Pure Air zu Unrecht als „Biozidprodukt“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 eingestuft.

17      Mit Bescheid vom 26. Mai 2017 wies der Staatssecretaris diesen Widerspruch zurück.

18      Darie erhob gegen diese Entscheidung Klage beim College van Beroep voor het bedrijfsleven (Obergericht für Wirtschaftsverwaltungssachen, Niederlande), mit der sie die Einstufung von Pure Air als „Biozidprodukt“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 anficht. Pure Air habe eine probiotische und keine biozide Wirkung, da die enthaltene Bakterienart Bacillus Ferment Enzyme produziere, die sämtliche vorhandenen organischen Rückstände, die Mikroorganismen als Nahrung dienten, aufnähmen und verdauten, wodurch auf der mit dem Mittel behandelten Oberfläche kein Biotop entstehen könne, in dem sich Mikroorganismen wie Schimmelpilze entwickeln könnten.

19      Das vorlegende Gericht führt aus, dass auf dem Etikett von Pure Air angegeben werde, dass dieses Produkt eine konzentrierte, biologisch abbaubare, mit Probiotika angereicherte Sprühflüssigkeit sei, die u. a. die Bakterienart Bacillus Ferment enthalte, und das verwendet werde, „[u]m sicherzustellen, dass eine Schimmelbildung verhindert wird“, sowie zur „Eliminierung und Vorbeugung unangenehmer Gerüche“ und dabei eine gesunde und sichere Mikroflora auf den besprühten Oberflächen verbreite. In der Gebrauchsanleitung von Pure Air steht zum einen, dass, bevor dieses Produkt auf die zu behandelnden Oberflächen gesprüht werde, der Schimmel entfernt werden müsse, „um von Grund auf zu beginnen“, und zum anderen, dass, „[u]m sicherzustellen, dass Schimmelbildung verhindert wird, … das Einsprühen [mit Pure Air] beibehalten werden [müsse], abhängig von der Feuchtigkeit in der Wohnung alle drei bis vier Wochen ein Mal“.

20      Ferner sei am 22. März 2017 auf der Website von Darie Folgendes angegeben worden: „Probiotische Reinigungsmittel funktionieren wie herkömmliche Reinigungstechniken. Sie entfernen sichtbaren Schmutz. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied. Potenzielle Krankheitserreger wie Schimmelpilze und schädliche Bakterien verschwinden ebenfalls. Indem der Nährboden hierfür entzogen wird, wird die Anzahl schlechter Bakterien und Schimmelpilze stark reduziert. Darüber hinaus ist das Produkt sicher und nachhaltig. Die Basis besteht aus guten Bakterien und Wasser, und damit ist dies das umweltfreundlichste Produkt, das für den professionellen Markt erhältlich ist.“

21      Das vorlegende Gericht fragt sich, ob die von Darie behauptete Wirkung von Pure Air, die darin bestehe, dass nicht die Schadorganismen selbst bekämpft würden, sondern vielmehr die Entstehung bzw. die Aufrechterhaltung des Lebensumfelds dieser Organismen, unter den Begriff „Biozidprodukt“ nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 528/2012 falle.

22      Vor diesem Hintergrund hat das College van Beroep voor het bedrijfsleven (Obergericht für Wirtschaftsverwaltungssachen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist der Begriff „Biozidprodukt“ in Art. 3 der Verordnung Nr. 528/2012 dahin auszulegen, dass er auch Mittel einbezieht, die sich aus einer oder mehreren Bakterienarten, Enzymen oder anderen Bestandteilen zusammensetzen, wenn sie aufgrund ihrer spezifischen Wirkung nicht unmittelbar auf die Schadorganismen, für die sie bestimmt sind, sondern auf die Entstehung bzw. die Aufrechterhaltung des möglichen Lebensumfelds der Schadorganismen einwirken, und welche Anforderungen sind dann gegebenenfalls an eine solche Einwirkung zu stellen?

2.      Ist es für die Beantwortung von Frage 1 relevant, ob die Gegebenheiten, unter denen ein solches Mittel angewendet wird, frei von den Schadorganismen sind, und wenn ja, anhand welcher Maßstäbe muss beurteilt werden, ob Letzteres der Fall ist?

3.      Ist es für die Beantwortung von Frage 1 relevant, innerhalb welchen Zeitraums die Einwirkung stattfindet?

 Zu den Vorlagefragen

 Zulässigkeit

23      Darie macht geltend, dass das Vorabentscheidungsersuchen mit der Begründung zurückzuweisen sei, dass das vorlegende Gericht über alle Angaben verfüge, die ihm, ohne dass es erforderlich wäre, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen, die Feststellung erlaubten, dass es sich bei dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Produkt nicht um ein Biozidprodukt handele. Zudem habe der Gerichtshof im Urteil vom 1. März 2012, Söll (C‑420/10, im Folgenden: Urteil Söll, EU:C:2012:111), die erste Frage bereits beantwortet.

24      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten es allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (Urteil vom 25. Juli 2018, AY [Haftbefehl – Zeuge], C‑268/17, EU:C:2018:602, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

25      Hieraus folgt, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen eines nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Vorabentscheidungsersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 25. Juli 2018, AY [Haftbefehl – Zeuge], C‑268/17, EU:C:2018:602, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Im vorliegenden Fall ist vor dem vorlegenden Gericht ein Rechtsstreit anhängig, der im Wesentlichen die Einstufung des Produkts Pure Air als „Biozidprodukt“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 betrifft. Da dieses Gericht um Auslegung der Begriffe „Biozidprodukt“ und „Wirkstoff“ im Sinne dieser Verordnung ersucht und dem Gerichtshof tatsächliche und rechtliche Angaben gemacht hat, die für eine zweckdienliche Beantwortung der vorgelegten Fragen erforderlich sind, besteht kein Zweifel, dass diese Fragen für die Entscheidung des Rechtsstreits relevant sind und die in der vorstehenden Randnummer genannten Zulässigkeitsvoraussetzungen des Vorabentscheidungsersuchens erfüllt sind.

27      Folglich ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

 Beantwortung der Fragen

 Zur ersten Frage

28      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Begriff „Biozidprodukt“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 dahin auszulegen ist, dass er Produkte erfasst, die eine oder mehrere Bakterienarten, Enzyme oder andere Bestandteile enthalten, die aufgrund ihrer spezifischen Wirkungsweise nicht unmittelbar auf die betreffenden Schadorganismen einwirken, sondern auf die Entstehung bzw. die Aufrechterhaltung des Lebensumfelds dieser Organismen, und, gegebenenfalls, welche Anforderungen an eine solche Einwirkung zu stellen sind.

29      Hierzu ist festzustellen, dass, da die Verordnung Nr. 528/2012 die Richtlinie 98/8 aufgehoben und ersetzt hat, die Auslegung der Bestimmungen dieser Richtlinie durch den Gerichtshof auch für die Auslegung der Verordnung gilt, soweit die Bestimmungen der beiden Unionsrechtsakte als gleichwertig angesehen werden können (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. November 2016, C‑417/15, Schmidt, EU:C:2016:881, Rn. 26, vom 9. März 2017, Pula Parking, C‑551/15, EU:C:2017:193, Rn. 31, und vom 15. November 2018, Kuhn, C‑308/17, EU:C:2018:911, Rn. 31).

30      In Rn. 31 des Urteils Söll hat der Gerichtshof entschieden, dass der Begriff „Biozidprodukte“ in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/8 dahin auszulegen ist, dass er auch nur mittelbar auf die betreffenden Schadorganismen einwirkende Produkte erfasst, sofern sie einen oder mehrere Wirkstoffe enthalten, die eine chemische oder biologische Wirkung als Teil einer Kausalitätskette herbeiführen, die bei den betreffenden Schadorganismen eine Hemmwirkung hervorrufen soll.

31      Insoweit ist klarzustellen, dass der Gerichtshof in Rn. 24 des Urteils Söll festgestellt hat, dass Art. 2 Abs. 1 Buchst. a Unterabs. 1 der Richtlinie 98/8 Biozidprodukte anhand dreier kumulativer Merkmale definierte. Die Produkte mussten demnach einen „Wirkstoff“ enthalten, bestimmte Zwecke verfolgen und eine entweder chemische oder biologische Wirkungsweise haben. Die Schlussfolgerung, die der Gerichtshof in Rn. 31 dieses Urteils gezogen hat, war insbesondere auf eine Prüfung des zweiten Merkmals dieser Definition im Licht der Ziele dieser Richtlinie gestützt.

32      Die vergleichende Analyse des Wortlauts von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 und von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/8 zeigt jedoch, dass dieses Kriterium in diesen beiden Bestimmungen in gleicher Weise formuliert ist, da die Einstufung als „Biozidprodukt“ insbesondere davon abhängt, dass das Produkt „dazu bestimmt [ist], … Schadorganismen zu zerstören, abzuschrecken, unschädlich zu machen, ihre Wirkung [Schädigungen durch sie] zu verhindern oder sie in anderer Weise zu bekämpfen“.

33      Wie die Generalanwältin in Nr. 29 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, gilt unter diesen Umständen die im Urteil Söll vertretene Auslegung, dass der Begriff „Biozidprodukt“ nicht nur unmittelbare, sondern auch mittelbare Wirkungen eines Produkts umfasst, für den Begriff „Biozidprodukt“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 weiter.

34      Diese Auslegung steht auch im Einklang mit dem Zusammenhang, in den sich diese Bestimmung einfügt. Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 528/2012 definiert den Begriff „Wirkstoff“, den ein Biozidprodukt enthalten kann, nämlich als „einen Stoff oder einen Mikroorganismus, der eine Wirkung auf oder gegen Schadorganismen entfaltet“. Die beiden alternativen Bestandteile dieser Definition, nämlich die Wirkung „auf“ Schadorganismen oder „gegen“ solche Organismen, bestätigen, dass dieser Begriff nicht nur unmittelbare Wirkungen auf Schadorganismen umfasst, sondern auch mittelbare Wirkungen gegen solche Organismen, sofern die Einwirkung des Wirkstoffs Teil einer Kausalitätskette ist, die bei diesen Schadorganismen eine Hemmwirkung hervorrufen soll.

35      Dagegen ist festzustellen, dass, was die Wirkungsweise eines Biozidprodukts betrifft, Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 im Unterschied zu Art. 2 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/8 diese nicht auf „eine chemische oder biologische Wirkung“ beschränkt, sondern sie auf jede Einwirkung „auf andere Art als durch bloße physikalische oder mechanische Einwirkung“ ausweitet.

36      Wie die Generalanwältin in Nr. 27 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, greift diese Verordnung nicht den Vorschlag der Kommission auf, den Begriff „Biozidprodukt“ ausdrücklich auf biologische und chemische Wirkungen zu beschränken, wie noch in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a des Vorschlags der Kommission vom 12. Juni 2009 für eine Verordnung über das Inverkehrbringen und die Verwendung von Biozidprodukten (KOM[2009] 267 endgültig) vorgesehen war.

37      Die durch die Verordnung Nr. 528/2012 vorgenommene Ausweitung der Definition der Wirkungsweise eines Biozidprodukts steht im Einklang mit dem im fünften Erwägungsgrund dieser Verordnung genannten Ziel, die Regeln der Richtlinie 98/8 „angesichts der gesammelten Erfahrungen“ anzupassen und ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt zu gewährleisten.

38      Folglich steht der Umstand, dass ein Produkt eine probiotische und keine chemische Wirkung hat, für sich genommen der Einstufung als „Biozidprodukt“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 nicht entgegen. Vielmehr fällt ein Erzeugnis, sofern seine probiotische Wirkung „auf andere Art als durch bloße physikalische oder mechanische Einwirkung“ im Sinne dieser Bestimmung eintritt und die übrigen darin vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind, unbestreitbar in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung.

39      Unter diesen Umständen ist auf die erste Frage zu antworten, dass der Begriff „Biozidprodukt“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 dahin auszulegen ist, dass er Produkte erfasst, die eine oder mehrere Bakterienarten, Enzyme oder andere Bestandteile enthalten, die aufgrund ihrer spezifischen Wirkungsweise nicht unmittelbar auf die betreffenden Schadorganismen einwirken, sondern auf die Entstehung bzw. die Aufrechterhaltung des Lebensumfelds dieser Organismen, sofern diese Produkte eine Einwirkung auf andere Art als durch bloße physikalische oder mechanische Einwirkung nach sich ziehen, die Teil einer Kausalitätskette ist, die bei den Schadorganismen eine Hemmwirkung hervorrufen soll.

 Zur zweiten Frage

40      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 dahin auszulegen ist, dass es für die Einstufung eines Produkts als „Biozidprodukt“ im Sinne dieser Bestimmung relevant ist, dass dieses Produkt erst nach der Entfernung der betreffenden Schadorganismen von der zu behandelnden Fläche auf dieser Fläche anzuwenden ist, und, falls diese Frage zu bejahen ist, anhand welchen Kriteriums zu beurteilen ist, ob die zu behandelnde Fläche nach dieser Entfernung tatsächlich frei von diesen Organismen ist.

41      Insoweit ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass die Abstufung der Zwecke der Biozidprodukte in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 eine Aufzählung der Zwecke von Biozidprodukten enthält. Diese reichen von der Zerstörung von Schadorganismen bis zur Verhinderung von Schädigungen durch sie (vgl. in diesem Sinne Urteil Söll, Rn. 28). Im Übrigen umfasst die Liste der unter diese Verordnung fallenden Biozidprodukte in deren Anhang V präventiv wirkende Produkte, die im Allgemeinen unter Gegebenheiten verwendet werden, die frei von Schadorganismen sind.

42      Folglich ist der Begriff „Biozidprodukt“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 weit zu verstehen und erstreckt sich u. a. auf Präventivprodukte. Diese weit gefasste Auslegung wird durch das in Art. 1 dieser Verordnung genannte, auf dem Vorsorgeprinzip beruhende Ziel der Gewährleistung, „eines hohen Schutzniveaus für die Gesundheit von Mensch und Tier und für die Umwelt“ untermauert.

43      Dieses Ziel kann aber nicht vollständig erreicht werden, wenn Produkte, die „Wirkstoffe“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 528/2012 enthalten, allein deshalb, weil sie nur präventiv auf die betreffenden Schadorganismen wirken, nicht als „Biozidprodukte“ eingestuft würden und nicht den in dieser Verordnung aufgestellten Regeln über die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung solcher Erzeugnisse unterworfen wären.

44      Wie der Gerichtshof in Rn. 27 des Urteils Söll festgestellt hat, kann nämlich das bloße Vorhandensein des Wirkstoffs als solchem eine Gefahr für die Umwelt darstellen, unabhängig davon, ob der Wirkstoff unmittelbar oder mittelbar auf die Zielorganismen einwirkt.

45      Als Zweites ist nach der Definition des Begriffs „Wirkstoff“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 528/2012 die Zerstörung der Schadorganismen nicht erforderlich. Verhindern nämlich Bakterienarten, Enzyme oder andere Bestandteile eines Produkts die Entstehung bzw. die Aufrechterhaltung des Lebensumfelds der betreffenden Schadorganismen, indem sie ihnen den Nährboden entziehen, wirken sie als Wirkstoff präventiv gegen diese Organismen.

46      Daher stellt der Umstand, dass die betreffenden Schadorganismen zuvor durch eine andere als die mit dem fraglichen Wirkstoff erzeugte Wirkung beseitigt worden sind – unterstellt, dass er erwiesen sei –, die Einstufung dieses Stoffes, der auf die Entstehung eines für diese Schadorganismen förderlichen Umfelds einwirkt, als „Wirkstoff“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 528/2012 nicht in Frage.

47      Als Drittes kann die mögliche Reinigungswirkung eines Produkts, das eine oder mehrere Bakterienarten, Enzyme oder andere Bestandteile enthält, die aufgrund ihrer spezifischen Wirkungsweise nicht unmittelbar auf Schadorganismen einwirken, sondern auf die Entstehung bzw. die Aufrechterhaltung des Lebensumfelds dieser Organismen, seine Einstufung als „Biozidprodukt“ nicht ausschließen.

48      Wie die Generalanwältin in den Nrn. 32 und 33 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, sind nämlich Detergenzien nicht vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 528/2012 ausgeschlossen. Im Übrigen kann, wie u. a. aus dem 21. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 648/2004 hervorgeht, ein Produkt sowohl als „Detergens“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 dieser Verordnung als auch als „Biozidprodukt“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 eingestuft werden.

49      Mithin sind nur die in Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und c der Verordnung Nr. 528/2012 genannten Merkmale für die Einstufung eines Produkts als „Biozidprodukt“ relevant.

50      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 dahin auszulegen ist, dass es für die Einstufung eines Produkts als „Biozidprodukt“ im Sinne dieser Bestimmung nicht relevant ist, dass dieses Produkt erst nach der Entfernung der betreffenden Schadorganismen von der zu behandelnden Fläche auf dieser Fläche anzuwenden ist.

 Zur dritten Frage

51      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 dahin auszulegen ist, dass der Zeitraum, innerhalb dessen die Einwirkung eines Produkts stattfindet, für die Einstufung dieses Produkts als „Biozidprodukt“ im Sinne dieser Bestimmung relevant ist.

52      Insoweit ergibt sich aus der im Rahmen der zweiten Frage vorgenommenen Prüfung, dass nur die begriffsbildenden Bestandteile von „Biozidprodukt“ und „Wirkstoff“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a und c der Verordnung Nr. 528/2012 für die Einstufung eines Produkts als „Biozidprodukt“ relevant sind. Der Zeitraum, innerhalb dessen ein Produkt einwirkt, gehört nicht zu diesen Bestandteilen.

53      Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 dahin auszulegen ist, dass der Zeitraum, innerhalb dessen die Einwirkung eines Produkts stattfindet, für die Einstufung dieses Produkts als „Biozidprodukt“ im Sinne dieser Bestimmung nicht relevant ist.

 Kosten

54      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Der Begriff „Biozidprodukt“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EU) Nr. 528/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über die Bereitstellung auf dem Markt und die Verwendung von Biozidprodukten ist dahin auszulegen, dass er Produkte erfasst, die eine oder mehrere Bakterienarten, Enzyme oder andere Bestandteile enthalten, die aufgrund ihrer spezifischen Wirkungsweise nicht unmittelbar auf die betreffenden Schadorganismen einwirken, sondern auf die Entstehung bzw. die Aufrechterhaltung des Lebensumfelds dieser Organismen, sofern diese Produkte eine Einwirkung auf andere Art als durch bloße physikalische oder mechanische Einwirkung nach sich ziehen, die Teil einer Kausalitätskette ist, die bei den Schadorganismen eine Hemmwirkung hervorrufen soll.

2.      Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 ist dahin auszulegen, dass es für die Einstufung eines Produkts als „Biozidprodukt“ im Sinne dieser Bestimmung nicht relevant ist, dass dieses Produkt erst nach der Entfernung der betreffenden Schadorganismen von der zu behandelnden Fläche auf dieser Fläche anzuwenden ist.

3.      Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 528/2012 ist dahin auszulegen, dass der Zeitraum, innerhalb dessen die Einwirkung des Produkts stattfindet, für die Einstufung dieses Produkts als „Biozidprodukt“ im Sinne dieser Bestimmung nicht relevant ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.