Language of document : ECLI:EU:C:2020:42

BESCHLUSS DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

29. Januar 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Erledigung“

In der Rechtssache C‑522/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) mit Entscheidung vom 2. August 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 9. August 2018, in dem Verfahren

gegen

Zakład Ubezpieczeń Społecznych Oddział w Jaśle,

Beteiligte:

Prokuratura Krajowa,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer),

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richterin L. S. Rossi sowie der Richter J. Malenovský, F. Biltgen und N. Wahl,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, L. Van den Broeck und C. Pochet als Bevollmächtigte,

–        der dänischen Regierung, vertreten durch J. Nymann-Lindegren und M. Wolff als Bevollmächtigte,

–        der lettischen Regierung, vertreten durch I. Kucina und V. Soņeca als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

–        der Europäische Kommission, vertreten durch A. Stobiecka-Kuik, D. Martin und H. Krämer als Bevollmächtigte,

–        der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch C. Zatschler, J. S. Watson, I. O. Vilhjálmsdóttir und C. Howdle als Bevollmächtigte,

nach Anhörung des Generalanwalts

folgenden

Beschluss

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2, Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 3 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, Art. 267 AEUV, der Art. 21 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. 2000, L 303, S. 16).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen DŚ und dem Zakład Ubezpieczeń Społecznych Oddział w Jaśle (Sozialversicherungsanstalt, Dienststelle Jasło, Polen) (im Folgenden: Sozialversicherungsanstalt) wegen der Erfassung von DŚ durch die polnischen Sozialversicherungsvorschriften.

 Rechtsrahmen

3        Gemäß Art. 30 der Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 23. November 2002 (im Folgenden: Gesetz über das Oberste Gericht von 2002) war das Ruhestandsalter für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) auf 70 Jahre festgesetzt.

4        Am 20. Dezember 2017 unterzeichnete der Präsident der Republik Polen (im Folgenden: Präsident der Republik) die Ustawa o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. 2018, Pos. 5, im Folgenden: neues Gesetz über das Oberste Gericht), die am 3. April 2018 in Kraft getreten ist. Dieses Gesetz ist wiederholt geändert worden.

5        Art. 37 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht lautet:

„§ 1.      Ein Richter des Sąd Najwyższy [(Oberstes Gericht)] tritt mit Vollendung des 65. Lebensjahrs in den Ruhestand, es sei denn, er gibt frühestens zwölf und spätestens sechs Monate vor Erreichen dieses Alters [von 65 Jahren] eine Erklärung ab, im Amt verbleiben zu wollen, er legt eine Bescheinigung über seine gesundheitliche Befähigung zur Ausübung des Richteramts vor, die nach den für Bewerber um eine Richterstelle geltenden Grundsätzen erteilt wird, und der [Präsident der Republik] erteilt seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)].

§ 1a.      Der [Präsident der Republik] holt vor Erteilung der Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht] eine Stellungnahme des Landesjustizrats ein. Der Landesjustizrat übermittelt dem [Präsidenten der Republik] die Stellungnahme innerhalb von 30 Tagen ab dem Tag ihrer Anforderung durch den [Präsidenten der Republik]. Wenn innerhalb der in Satz 2 genannten Frist keine Stellungnahme übermittelt worden ist, gilt eine befürwortende Stellungnahme des Landesjustizrats als erteilt.

§ 3.      Der [Präsident der Republik] kann innerhalb von drei Monaten nach dem Erhalt der in § 1a genannten Stellungnahme des Landesjustizrats oder dem Ablauf der Frist für deren Übermittlung seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] erteilen. Bei Nichterteilung der Zustimmung innerhalb der in Satz 1 genannten Frist gilt der Richter als mit dem Tag der Vollendung des 65. Lebensjahrs in den Ruhestand getreten. …

§ 4.      Die Zustimmung nach § 1 wird für die Dauer von drei Jahren – höchstens zweimal – erteilt. …“

6        Art. 111 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht sieht vor:

„§ 1.      Die Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], die das 65. Lebensjahr bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes vollendet haben oder innerhalb von drei Monaten nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes vollenden, treten drei Monate nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes in den Ruhestand, es sei denn, sie legen innerhalb eines Monats nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes die Erklärung und die Bescheinigung nach Art. 37 § 1 vor und der [Präsident der Republik] erteilt seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter am [Sąd Najwyższy [Oberstes Gericht)]. Art. 37 §§ 2 bis 4 findet entsprechend Anwendung.

§ 1a.      Die Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)], die das 65. Lebensjahr mehr als drei und weniger als zwölf Monate nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes vollenden, treten zwölf Monate nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes in den Ruhestand, es sei denn, sie legen innerhalb eines Monats nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes die Erklärung und die Bescheinigung nach Art. 37 § 1 vor und der [Präsident der Republik] erteilt seine Zustimmung zum Verbleib im Amt als Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)]. Art. 37 §§ 1a bis 4 findet entsprechend Anwendung.“

7        Dieser § 1a wurde in Art. 111 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht eingefügt, um die Situation eines Richters des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zu berücksichtigen, der aufgrund der ursprünglich vorgesehenen Übergangsbestimmungen nicht die Möglichkeit hatte, innerhalb der gesetzlichen Frist eine Erklärung abzugeben, dass er auch nach Erreichen des neuen Ruhestandsalters im Amt verbleiben wolle.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

8        Am 14. Oktober 2015 erließ die Sozialversicherungsanstalt einen Bescheid, wonach DŚ den polnischen Sozialversicherungsvorschriften unterworfen wurde. Diese Entscheidung wurde durch Urteil des Sąd Apelacyjny, Wydział Pracy i Ubezpieczeń Społecznych w Rzeszowie (Berufungsgericht Rzeszów, Kammer für Arbeits- und Sozialversicherungssachen, Polen) vom 23. März 2018 für nichtig erklärt. Nach Auffassung dieses Gerichts hatte die Sozialversicherungsanstalt bei ihrer Entscheidung nicht berücksichtigt, dass der Bescheid der Rentenbehörde eines anderen Mitgliedstaats als der Republik Polen, mit dem das Nichtbestehen einer Sozialversicherungspflicht des Betroffenen nach dem Recht dieses anderen Mitgliedstaats festgestellt worden sei und der insbesondere als Grundlage für eine Einigung zwischen Behörden im Sinne von Art. 16 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2009, L 284, S. 1) gedient habe, inzwischen durch ein Gericht dieses anderen Mitgliedstaats für nichtig erklärt worden sei.

9        Auf ein von der Sozialversicherungsanstalt dagegen eingelegtes Rechtsmittel beschloss der ordentliche Spruchkörper des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), einer erweiterten Kammer desselben Gerichts die Rechtsfrage zu unterbreiten, ob die Nichtberücksichtigung der durch ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats ausgesprochenen Nichtigerklärung eine „nicht erfolgte Prüfung in der Sache“ im Sinne von Art. 386 § 4 in Verbindung mit Art. 47714a des Kodeks postępowania cywilnego (Zivilprozessordnung) sei.

10      Bei der Prüfung dieser Frage wurde diese erweiterte Kammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) dessen gewahr, dass die Dauer der Amtsausübung zweier Mitglieder dieser Kammer von den Bestimmungen des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht erfasst werde.

11      Das vorlegende Gericht stellt insoweit fest, dass einer der beiden Richter, der vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht das 65. Lebensjahr erreicht habe, im Mai 2018 eine Erklärung vorgelegt habe, dass er wünsche, bis zum Alter von 70 Jahren, d. h. bis zu dem Ruhestandsalter, das nach dem Gesetz über das Oberste Gericht von 2002 für den Eintritt in den Ruhestand gegolten habe, im Amt zu verbleiben. Obwohl es sich dabei nicht um eine Erklärung im Sinne der Art. 37 und 111 § 1 des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht gehandelt habe, habe der Präsident der Republik das nach diesen Bestimmungen vorgesehene Verfahren zur Erteilung einer Zustimmung zum Verbleib dieses Richters in seinem Amt eingeleitet. Dieses Verfahren sei zum Zeitpunkt des Erlasses der Vorlageentscheidung noch nicht beendet gewesen.

12      Der zweite Richter hat nach Angaben des vorlegenden Gerichts das 65. Lebensjahr nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht vollendet. Bei ihm handele es sich um den Richter, für den speziell Art. 111 §1a dieses Gesetzes erlassen worden sei. Nach dieser Bestimmung werde er am 3. April 2019 in den Ruhestand versetzt, sofern er nicht zuvor eine Erklärung vorlege, dass er weiter im Amt zu verbleiben wünsche, und der Präsident der Republik ebenfalls vor diesem Zeitpunkt seine Zustimmung zum Verbleiben des Betroffenen im Amt erteile.

13      In diesem Zusammenhang hegt das vorlegende Gericht Zweifel an der Vereinbarkeit von Art. 37 und Art. 111 §§1 und 1a des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht (im Folgenden: streitige nationale Bestimmungen) mit den verschiedenen in Rn. 1 des vorliegenden Beschlusses aufgeführten unionsrechtlichen Bestimmungen. Die Herabsetzung des Ruhestandsalters der im Amt befindlichen Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) verstößt seiner Ansicht nach insbesondere gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter und gegen das Verbot der Diskriminierung wegen des Alters im Bereich der Beschäftigung. Dass jeglicher Verbleib der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über das neu festgelegte Regelruhestandsalter hinaus im Amt von einer vom Präsidenten der Republik nach freiem Ermessen getroffenen Entscheidung abhänge, sei zudem in Anbetracht des Drucks, der sich für diese Richter daraus von außen ergeben könne, nicht zu vereinbaren mit dem Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit.

14      Darüber hinaus möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass die in der vorstehenden Randnummer genannten Verstöße gegen das Unionsrecht tatsächlich vorliegen sollten, wissen, ob es berechtigt ist, die streitigen nationalen Bestimmungen unangewendet zu lassen.

15      Damit das vorlegende Gericht über die sich ihm stellenden Vorfragen bezüglich der Eignung seiner Richter zur Fortsetzung der Ausübung ihres Richteramts befinden und im Ausgangsverfahren oder allen weiteren Rechtssachen, mit denen sie befasst seien, unter Beachtung der sich aus den in Rn. 1 des vorliegenden Beschlusses angeführten unionsrechtlichen Bestimmungen ergebenden Erfordernisse eine Entscheidung fällen könne, seien Klarstellungen seitens des Gerichtshofs erforderlich.

16      Unter diesen Umständen hat der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichthof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 Satz 3 und Art. 2 EUV, Art. 267 Abs. 3 AEUV sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass in jedem Fall eine Verletzung des Grundsatzes der Unabsetzbarkeit der Richter als Bestandteil des Grundsatzes des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes und des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit vorliegt, wenn der nationale Gesetzgeber das Alter für den Eintritt in den Ruhestand (Ruhestandsalter) von Richtern eines letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats (z. B. von 70 auf 65 Jahre) herabsetzt und das neue, niedrigere Ruhestandsalter gegenüber Richtern im aktiven Dienst anwendet, ohne die Entscheidung über die Inanspruchnahme des niedrigeren Ruhestandsalters ausschließlich dem betroffenen Richter zu überlassen?

2.      Ist Art. 19 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 Satz 3 und Art. 2 EUV, Art. 267 Abs. 3 AEUV sowie Art. 47 der Charta dahin auszulegen, dass der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit sowie der für die Gewährleistung wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes in unionsrechtlichen Angelegenheiten erforderliche Standard der Unabhängigkeit verletzt werden, wenn der nationale Gesetzgeber unter Verstoß gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter die Regelaltersgrenze, bis zu der ein Richter eines letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats im Amt verbleiben kann, von 70 auf 65 Jahre herabsetzt und die Möglichkeit zum Verbleib im Amt von der im Ermessen stehenden Zustimmung eines Organs der Exekutive abhängig macht?

3.      Ist Art. 2 in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass eine Diskriminierung wegen des Alters vorliegt, wenn das Alter für den Eintritt in den Ruhestand (Ruhestandsalter) von Richtern eines letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats herabgesetzt und der Verbleib im Amt des bisherigen Richters dieses Gerichts, der das neue, niedrigere Alter für den Eintritt in den Ruhestand erreicht hat, von der Zustimmung eines Organs der Exekutive abhängig gemacht wird?

4.      Sind die Art. 2, 9 und 11 der Richtlinie 2000/78 in Verbindung mit den Art. 21 und 47 der Charta dahin auszulegen, dass im Fall einer Diskriminierung von Richtern eines letztinstanzlichen Gerichts eines Mitgliedstaats wegen des Alters, die darin besteht, dass das Alter für den Eintritt in den Ruhestand (Ruhestandsalter) von bisher 70 auf 65 Jahre herabgesetzt wird, dieses Gericht – das in einer beliebigen Rechtssache in einer Besetzung mit Beteiligung eines von den Folgen dieser diskriminierenden nationalen Vorschriften betroffenen Richters tagt, der nicht den Willen zum Ausdruck gebracht hat, das neue Ruhestandsalter in Anspruch zu nehmen – bei der Entscheidung der Vorfrage betreffend den Spruchkörper verpflichtet ist, nationale Vorschriften, die mit der Richtlinie 2000/78 und Art. 21 der Charta nicht vereinbar sind, unangewendet zu lassen und weiterhin unter Mitwirkung dieses Richters zu entscheiden, wenn dies die einzig effektive Möglichkeit ist, einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz der sich aus dem Unionsrecht ergebenden Rechte dieses Richters zu garantieren?

5.      Ist Art. 19 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 Satz 3 und Art. 2 EUV, Art. 267 AEUV und Art. 47 der Charta dergestalt auszulegen, dass der Rechtsstaat als solch grundlegender Wert der Europäischen Union anzusehen ist, dass im Fall von Zweifeln an der Vereinbarkeit nationaler Vorschriften, die das Alter für den Eintritt in den Ruhestand (Ruhestandsalter) von Richtern in der in den Fragen 1 und 2 beschriebenen Art und Weise herabsetzen, mit diesem Wert sowie dem sich aus ihm ergebenden Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes – im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Gerichte und seiner Richter – das nationale Gericht berechtigt sein muss, die Anwendung nationaler Vorschriften, die gegen den Grundsatz der Unabsetzbarkeit der Richter verstoßen, von Amts wegen in Bezug auf alle Richter, die vom Anwendungsbereich dieser Vorschriften umfasst sind, auszusetzen?

17      Am 17. Oktober 2018 hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof einen Beschluss vom 16. Oktober 2018 übermittelt, mit dem dieses nationale Gericht die zwischenzeitlich von der Sozialversicherungsanstalt erklärte Rücknahme des Hauptrechtsmittels für unzulässig erklärt hat. Aus den Angaben dieses Beschlusses ergibt sich, dass diese Entscheidung auf der Grundlage nationaler verfahrensrechtlicher Bestimmungen erfolgt sei, wonach die Rücknahme eines Rechtsmittels durch eine Einrichtung wie die Sozialversicherungsanstalt in einer Rechtssache mit arbeitsrechtlichen oder sozialversicherungsrechtlichen Bezügen für unzulässig zu erklären sei, wenn sie, wie im vorliegenden Fall, zum einen die berechtigten Interessen des Arbeitnehmers oder des Versicherten beeinträchtigen könne und zum anderen unter Verstoß gegen die guten Sitten und das Allgemeininteresse zustande gekommen sei und einen Machtmissbrauch darstelle. Da die Rücknahme erklärt worden sei, nachdem der Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht worden sei, sei mit ihr außerdem gegen die Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV verstoßen worden. Dementsprechend hat das vorlegende Gericht den Gerichtshof davon in Kenntnis gesetzt, dass es sein Ersuchen um Vorabentscheidung in der vorliegenden Rechtssache aufrechterhalte.

 Erlass des Gesetzes vom 21. November 2018

18      Am 1. Januar 2019 ist die Ustawa o zmianie ustawy o Sądzie Nawyższym (Gesetz über die Änderung des Gesetzes über das Oberste Gericht) vom 21. November 2018 (Dz. U. 2018, Pos. 2507, im Folgenden: Gesetz vom 21. November 2018) in Kraft getreten.

19      Aus Art. 1 des Gesetzes vom 21. November 2018 ergibt sich, dass Art. 37 §§1a bis 4 und Art. 111 §§ 1 und 1a des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht aufgehoben werden und dessen Art. 37 § 1 dahin geändert wird, dass „[d]ie Richter des [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] … im Alter von 65 Jahren in den Ruhestand versetzt [werden]“. Wie in diesem Gesetz jedoch klargestellt, gilt diese Bestimmung nur für diejenigen Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die dieses Amt nach dem 1. Januar 2019 übernommen haben. Die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die ihr Amt vor diesem Zeitpunkt übernommen haben, fallen wieder unter die Bestimmung, die vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht gegolten hat, also unter Art. 30 des Gesetzes über das Oberste Gericht von 2002, mit dem das Ruhestandsalter der Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf 70 Jahre festgelegt wurde.

20      Außerdem bestimmt Art. 2 § 1 des Gesetzes vom 21. November 2018, dass „[a]b Inkrafttreten dieses Gesetzes … jeder Richter am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] …, der nach Art. 37 §§ 1 bis 4 oder Art. 111 §§ 1 oder 1a des [neuen Gesetzes über das Oberste Gericht] in den Ruhestand versetzt worden ist, wieder in das Richteramt zurückversetzt [wird], das er zum Zeitpunkt des Inkrafttretens [des letztgenannten Gesetzes] ausgeübt hat. Seine richterliche Amtstätigkeit am [Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)] … gilt als ununterbrochen ausgeübt“.

 Zur Erledigung der Hauptsache

21      Auf die Frage des Gerichtshofs an das vorlegende Gericht, ob es in Anbetracht des Inkrafttretens des Gesetzes vom 21. November 2018 davon ausgehe, dass eine Beantwortung der Vorlagefragen für den Erlass seines Urteils im Ausgangsverfahren weiterhin erforderlich sei, hat das vorlegende Gericht die weitere Erforderlichkeit bejaht.

22      Dabei hat es insbesondere auf die grundlegende Bedeutung hingewiesen, die diese Fragen für den Bestand der Union als Rechtsgemeinschaft hätten, sowie darauf, dass diese Fragen vorgelegt worden seien, als die streitigen nationalen Bestimmungen noch in Kraft gewesen seien, dass das Gesetz vom 21. November 2018, das zur Umsetzung des Beschlusses vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen (C‑619/18 R, EU:C:2018:1021), erlassen worden sei, mit dem der Gerichtshof die vorläufige Aussetzung dieser nationalen Bestimmungen angeordnet habe, keinen endgültigen Charakter habe und dass diese nationalen Bestimmungen nicht mit Wirkung ex tunc aufgehoben worden seien. Unter diesen Umständen sei eine Antwort auf die Vorlagefragen weiter erforderlich, um die Rechtsstellung der von den streitigen nationalen Bestimmungen betroffenen Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) klarzustellen. Denn während nach dem Gesetz vom 21. November 2018 einzelne Richter, die nach den streitigen nationalen Bestimmungen in den Ruhestand versetzt worden seien, jetzt wieder in ihr Richteramt am Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eingesetzt würden, gingen die Vorlagefragen davon aus, dass die betroffenen Richter zu keinem Zeitpunkt in den Ruhestand versetzt worden seien, da die streitigen nationalen Bestimmungen unangewendet hätten bleiben müssen, womit das vorlegende Gericht in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung und – ganz allgemein – alle Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die ihren Wunsch, ihr Amt über das vollendete 65. Lebensjahr hinaus auszuüben, zum Ausdruck gebracht hätten, weiterhin Entscheidungen erlassen könnten.

23      Das vorlegende Gericht stellt allerdings klar, dass, da bei dem in Rn. 12 des vorliegenden Beschlusses genannten Richter nicht mehr die Gefahr bestehe, dass er die mit der richterlichen Unabhängigkeit verbundenen Voraussetzungen nicht mehr erfülle, eine Beantwortung der Vorlagefragen in Wirklichkeit in Bezug auf diejenigen Richter erforderlich sei, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 21. November 2018 das 65. Lebensjahr vollendet hätten, und damit insbesondere in Bezug auf den in Rn. 11 des vorliegenden Beschlusses genannten Richter.

24      Was erstens die Bedeutung der vorgelegten Fragen anbelangt, ist festzustellen, dass sie gewiss nicht in Abrede gestellt werden kann. Auf sie wurde im Übrigen bereits in Rn. 15 des Beschlusses des Präsidenten des Gerichtshofs vom 13. November 2018, Zakład Ubezpieczeń Społecznych (C‑522/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:909), abgehoben, mit dem für die vorliegende Rechtssache das beschleunigte Verfahren angeordnet wurde.

25      Überdies hat der Gerichtshof im Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen (Unabhängigkeit des Obersten Gerichts) (C‑619/18, EU:C:2019:531), das nach der Einreichung des Vorabentscheidungsersuchens in der vorliegenden Rechtssache ergangen ist, für Recht erkannt, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen hat, dass sie zum einen die Anwendung der Maßnahme vorgesehen hat, wonach das Ruhestandsalter der im Amt befindlichen Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), die vor dem 3. April 2018 ins Amt berufen wurden, herabgesetzt wurde, und zum anderen dem Präsidenten der Republik Polen die Befugnis verliehen hat, die aktive Amtszeit der Richter dieses Gerichts nach seinem Ermessen über das neu festgesetzte Ruhestandsalter hinaus zu verlängern.

26      In Anbetracht dessen ist jedoch darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass Vorlagefragen eine besondere Bedeutung zukommt, für sich allein nicht ausreichen kann, um zu rechtfertigen, dass der Gerichtshof diese Fragen beantworten muss.

27      Insoweit ist nämlich zweitens zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das in Art. 267 AEUV geregelte Verfahren ein Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist, mit dem der Gerichtshof diesen Gerichten Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts gibt, die sie zur Entscheidung des bei ihnen anhängigen Rechtsstreits benötigen (Urteil vom 19. Dezember 2013, Fish Legal und Shirley, C‑279/12, EU:C:2013:853, Rn. 29 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Das Vorabentscheidungsverfahren setzt voraus, dass das vorlegende Gericht in dem bei ihm anhängigen Rechtstreit eine Entscheidung erlassen muss, bei der das Vorabentscheidungsurteil berücksichtigt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Juni 2013, Di Donna, C‑492/11, EU:C:2013:428, Rn. 26, vom 24. Oktober 2013, Stoilov i Ko, C‑180/12, EU:C:2013:693, Rn. 44, sowie Beschluss vom 3. März 2016, Euro Bank, C‑537/15, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:143, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens liegt folglich nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 28 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Stellt sich heraus, dass die vorgelegte Frage für die in diesem Rechtsstreit zu treffende Entscheidung offensichtlich nicht mehr erheblich ist, so muss der Gerichtshof feststellen, dass er keine Entscheidung treffen kann (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 70 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Hier ist darauf hinzuweisen, dass, nachdem das Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in der vorliegenden Rechtssache gestellt worden ist, zunächst der Beschluss der Vizepräsidentin des Gerichtshofs vom 19. Oktober 2018, Kommission/Polen (C‑619/18 R, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:852), und sodann der Beschluss vom 17. Dezember 2018, Kommission/Polen (C‑619/18 R, EU:C:2018:1021), erlassen wurde, mit denen der Republik Polen insbesondere aufgegeben wurde, zum einen die Anwendung von Art. 37 §§ 1 bis 4 und Art. 111 §§ 1 und 1a des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht sowie aller aufgrund dieser Bestimmungen getroffenen Maßnahmen auszusetzen und zum anderen alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass die von diesen Bestimmungen betroffenen Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) ihr Amt auf der Stelle, die sie am 3. April 2018, dem Tag des Inkrafttretens des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht, innehatten, in derselben Rechtsstellung mit denselben Rechten und zu denselben Beschäftigungsbedingungen, wie sie ihnen bis zum 3. April 2018 zuteilgeworden sind, weiter ausüben können.

30      Auf den Erlass dieser Beschlüsse hin unterzeichnete der Präsident der Republik am 17. Dezember 2018 das Gesetz vom 21. November 2018, das nach der Veröffentlichung im Dziennik Ustaw Rzeczypospolitej Polskiej am 1. Januar 2019 in Kraft trat.

31      Wie sich aus den Angaben in den Rn. 19 und 20 des vorliegenden Beschlusses ergibt, wurden die streitigen nationalen Bestimmungen durch das Gesetz vom 21. November 2018 aufgehoben, soweit danach zum einen das für die Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) auf 65 Jahre neu festgesetzte Ruhestandsalter auf die im Amt befindlichen Richter, die vor dem 3. April 2018 in ihr Amt bestellt wurden, anzuwenden war und zum anderen dem Präsidenten der Republik die Befugnis eingeräumt wurde, die aktive Amtszeit der Richter dieses Gerichts über das dergestalt neu festgesetzte Ruhestandsalter hinaus nach seinem Ermessen zu verlängern. Ferner ergibt sich aus diesen Angaben, dass nach dem Gesetz vom 21. November 2018 jeder Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), der nach den somit aufgehobenen Bestimmungen des neuen Gesetzes über das Oberste Gericht in den Ruhestand versetzt wurde, in das Amt, das er zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes ausgeübt hatte, wiedereingesetzt wird und dazu berufen ist, sein Richteramt bei diesem Gericht bis zum Alter von 70 Jahren auszuüben, d. h. bis zu dem Ruhestandsalter, das nach dem Gesetz über das Oberste Gericht von 2002 gegolten hat, bevor das neue Gesetz über das Oberste Gericht in Kraft getreten ist.

32      Unter diesen Umständen dürfte nichts mehr dem entgegenstehen, dass die Richter, die den Spruchkörper, der das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet hat, bilden, künftig ihr Richteramt beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht), dem vorlegenden Gericht, bis zur Vollendung des 70. Lebensjahrs ausüben können, ohne noch von der Maßnahme der Herabsetzung des Ruhestandsalters auf 65 Jahre oder von dem Mechanismus betroffen zu sein, nach dem der Präsident der Republik die Befugnis hatte, nach seinem Ermessen über die Verlängerung ihrer aktiven Amtszeit über das Regelruhestandsalter hinaus zu entscheiden.

33      Das Inkrafttreten des Gesetzes vom 21. November 2018 hatte damit zur Folge, dass die an den Gerichtshof gerichteten Vorlagefragen im Hinblick auf die Entscheidung, die vom vorlegenden Gericht in der bei ihm anhängigen Rechtssache zu treffen ist, gegenstandslos geworden sind (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Juni 2013, Di Donna, C‑492/11, EU:C:2013:428, Rn. 27 bis 31, und Beschluss vom 3. März 2016, Euro Bank, C‑537/15, nicht veröffentlicht, EU:C:2016:143, Rn. 33 bis 35).

34      Diese Fragen waren nämlich bis dahin durch das Erfordernis der Klärung einer verfahrensrechtlichen Vorfrage gerechtfertigt, die sich auf die Besetzung des vorlegenden Gerichts und die für es bestehende Möglichkeit bezog, aufgrund des Unionsrechts und unter dessen Beachtung unter Beteiligung der in den Rn. 11 und 12 des vorliegenden Beschlusses genannten Richter weiter zu tagen, um über den Ausgangsrechtstreit zu entscheiden. Da sich diese Vorfrage im Kontext des Ausgangsverfahrens jetzt aber nicht mehr stellt, wird das vorlegende Gericht bei der von ihm im Ausgangsverfahren zu erlassenden Entscheidung keine Veranlassung mehr haben, die Antwort, die der Gerichtshof auf die Vorlagefragen geben könnte, zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Oktober 2013, Stoilov i Ko, C‑180/12, EU:C:2013:693, Rn. 44).

35      Nach alledem ist festzustellen, dass der Gerichtshof über die Vorlage zur Vorabentscheidung nicht mehr zu entscheiden hat.

 Kosten

36      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Über das vom Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) mit Entscheidung vom 2. August 2018 gestellte Vorabentscheidungsersuchen in der Rechtssache C522/18 ist nicht mehr zu entscheiden.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Polnisch.