Language of document : ECLI:EU:C:2020:458

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

11. Juni 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen – Richtlinie 92/43/EWG – Art. 12 Abs. 1 – Strenges Schutzsystem für Tierarten – Anhang IV – Canis lupus (Wolf) – Art. 16 Abs. 1 – Natürliches Verbreitungsgebiet – Fang und Transport eines wildlebenden Exemplars der Art canis lupus – Öffentliche Sicherheit“

In der Rechtssache C‑88/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Judecătoria Zărnești (Gericht erster Instanz Zărnești, Rumänien) mit Entscheidung vom 15. November 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Februar 2019, in dem Verfahren

Alianța pentru combaterea abuzurilor

gegen

TM,

UN,

Direcția pentru Monitorizarea și Protecția Animalelor

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter) sowie der Richter P. G. Xuereb und T. von Danwitz,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Alianța pentru combaterea abuzurilor, vertreten durch C. Dumitriu und C. Feher,

–        der rumänischen Regierung, zunächst vertreten durch E. Gane, L. Liţu und C.‑R. Canţăr, dann durch E. Gane und L. Liţu als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G.‑D. Balan und C. Hermes als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. Februar 2020

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen (ABl. 1992, L 206, S. 7) in der durch die Richtlinie 2013/17/EU vom 13. Mai 2013 (ABl. 2013, L 158, S. 193) geänderten Fassung (im Folgenden: Habitatrichtlinie).

2        Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens zwischen der Alianța pentru combaterea abuzurilor, einem Verein, auf der einen Seite und TM, Mitglied der Direcția pentru Monitorizarea și Protecția Animalelor (im Folgenden: DMPA), einer Tierschutzvereinigung, UN, einer Tierärztin, und der DMPA auf der anderen Seite über den Fang und den Transport eines wildlebenden Exemplars der Art canis lupus (Wolf) unter unangemessenen Bedingungen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 1 („Begriffsbestimmungen“) der Habitatrichtlinie sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:

b)      ‚Natürlicher Lebensraum‘: durch geographische, abiotische und biotische Merkmale gekennzeichnete völlig natürliche oder naturnahe terrestrische oder aquatische Gebiete.

f)      ‚Habitat einer Art‘: durch spezifische abiotische und biotische Faktoren bestimmter Lebensraum, in dem diese Art in einem der Stadien ihres Lebenskreislaufs vorkommt.

k)      ‚Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung [bzw. von gemeinschaftlichem Interesse]‘: …

Bei Tierarten, die große Lebensräume beanspruchen, entsprechen die Gebiete von gemeinschaftlichem Interesse den Orten im natürlichen Verbreitungsgebiet dieser Arten, welche die für ihr Leben und ihre Fortpflanzung ausschlaggebenden physischen und biologischen Elemente aufweisen.

…“

4        Art. 2 der Habitatrichtlinie lautet:

„(1)      Diese Richtlinie hat zum Ziel, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, für das der Vertrag Geltung hat, beizutragen.

(2)      Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen zielen darauf ab, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von gemeinschaftlichem Interesse zu bewahren oder wiederherzustellen.

(3)      Die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen tragen den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung.“

5        Art. 4 Abs. 1 der Habitatrichtlinie lautet:

„Anhand der in Anhang III (Phase 1) festgelegten Kriterien und einschlägiger wissenschaftlicher Informationen legt jeder Mitgliedstaat eine Liste von Gebieten vor, in der die in diesen Gebieten vorkommenden natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und einheimischen Arten des Anhangs II aufgeführt sind. Bei Tierarten, die große Lebensräume beanspruchen, entsprechen diese Gebiete den Orten im natürlichen Verbreitungsgebiet dieser Arten, welche die für ihr Leben und ihre Fortpflanzung ausschlaggebenden physischen und biologischen Elemente aufweisen. …“

6        Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchstabe a) genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen; dieses verbietet:

a)      alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten;

b)      jede absichtliche Störung dieser Arten, insbesondere während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten;

c)      jede absichtliche Zerstörung oder Entnahme von Eiern aus der Natur;

d)      jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten.“

7        Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie sieht vor:

„Sofern es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt und unter der Bedingung, dass die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen, können die Mitgliedstaaten von den Bestimmungen der Artikel 12, 13 und 14 sowie des Artikels 15 Buchstaben a) und b) im folgenden Sinne abweichen:

a)      zum Schutz der wildlebenden Tiere und Pflanzen und zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume;

b)      zur Verhütung ernster Schäden insbesondere an Kulturen und in der Tierhaltung sowie an Wäldern, Fischgründen und Gewässern sowie an sonstigen Formen von Eigentum;

c)      im Interesse der Volksgesundheit und der öffentlichen Sicherheit oder aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art oder positiver Folgen für die Umwelt;

d)      zu Zwecken der Forschung und des Unterrichts, der Bestandsauffüllung und Wiederansiedlung und der für diese Zwecke erforderlichen Aufzucht, einschließlich der künstlichen Vermehrung von Pflanzen;

e)      um unter strenger Kontrolle, selektiv und in beschränktem Ausmaß die Entnahme oder Haltung einer begrenzten und von den zuständigen einzelstaatlichen Behörden spezifizierten Anzahl von Exemplaren bestimmter Tier- und Pflanzenarten des Anhangs IV zu erlauben.“

8        Zu den „streng zu schützenden“ Tierarten „von gemeinschaftlichem Interesse“, die in Anhang IV Buchst. a der Richtlinie aufgelistet sind, (im Folgenden: geschützte Tierarten) zählt u. a. der canis lupus (Wolf).

 Rumänisches Recht

9        Art. 33 der ordonanța de urgență a Guvernului nr. 57/2007 privind regimul ariilor naturale protejate, conservarea habitatelor naturale, a florei și faunei sălbatice (Dringlichkeitsverordnung Nr. 57/2007 der Regierung zur Regelung der Naturschutzgebiete sowie zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume und der wildlebenden Tiere und Pflanzen) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: OUG Nr. 57/2007) sieht vor:

„(1)      In Bezug auf die in den Anhängen Nrn. 4 A und 4 B genannten wildlebenden Pflanzen- und Tierarten auf dem Land, zu Wasser und unter der Erde mit Ausnahme der Vogelarten, die innerhalb oder außerhalb der Naturschutzgebiete leben, sind verboten:

a)      alle Formen des Einsammelns, des Fangs, der Tötung, des Zerstörens oder der Verletzung von in ihrem natürlichen Lebensraum befindlichen Exemplaren in jedem Stadium ihres Lebenskreislaufs;

b)      die absichtliche Störung während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten;

f)      der Besitz, Transport, Verkauf oder Tausch zu jedwedem Zweck sowie das Anbieten zum Tausch oder Verkauf von aus der Natur entnommenen Exemplaren in jedem Stadium ihres Lebenskreislaufs.

…“

10      Art. 38 der OUG Nr. 57/2007 bestimmt:

„(1)      Die zentrale Umweltschutzbehörde legt jährlich und bei Bedarf Ausnahmen von den Bestimmungen von Art. 33 Abs. 1 bis 4 und Art. 37 Abs. 1 ausschließlich für die nachfolgend angeführten Fälle fest, sofern keine annehmbare Alternative besteht und die Ausnahmemaßnahmen den Erhalt der Populationen der betroffenen Arten in ihrem natürlichen Lebensraum in zufriedenstellendem Zustand nicht gefährden:

c)      im Interesse der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit und für andere Tierarten als Vögel auch aus anderen Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Natur sowie zugunsten daraus resultierender dringender Vorteile für die Umwelt;

(2)      Die Ausnahmen werden mit Verfügung des Leiters der zentralen Umwelt- und Forstschutzbehörde nach Stellungnahme der Rumänischen Akademie festgelegt.

(22)      Das Verfahren zur Festlegung der Ausnahmen wird durch Verfügung der zentralen Umwelt- und Forstschutzbehörde gebilligt.

(23)      In den Ausnahmebestimmungen nach Abs. 21 ist Folgendes anzuführen:

a)      für welche Arten die Ausnahmen gelten;

b)      die zugelassenen Fang- oder Tötungsmittel, ‑einrichtungen und ‑methoden;

c)      die Risikobedingungen sowie die zeitlichen und örtlichen Umstände, unter denen diese Ausnahmen gewährt werden können;

d)      die Stelle, die befugt ist, zu erklären, dass die erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind, und zu beschließen, welche Mittel, Einrichtungen und Methoden in welchem Rahmen von wem angewandt werden können;

e)      welche Kontrollen vorzunehmen sind.

…“

11      Art. 52 der OUG Nr. 57/2007 lautet:

„Die Verwirklichung der folgenden Tatbestände stellt eine Straftat dar, die mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft wird:

d)      der Verstoß gegen die Bestimmungen von Art. 33 Abs. 1 und 2“.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

12      Șimon (Rumänien), ein zur Gemeinde Bran gehörendes Dorf im Kreis Brașov, liegt etwa einen Kilometer östlich von der Grenze des Gebiets Bucegi, das die Europäische Kommission auf Vorschlag Rumäniens unter dem Code ROSCI0013 auf die Liste der Gebiete von gemeinschaftlicher Bedeutung gesetzt hat. Ein weiteres solches Gebiet, das Gebiet Munţii Făgăraş (Code ROSCI0122), befindet sich etwa acht Kilometer westlich von diesem Dorf. Für beide Gebiete ist in den Standarddatenbögen das Vorkommen von Wölfen verzeichnet.

13      Am 6. November 2016 gegen 19 Uhr begaben sich Mitarbeiter der DMPA und UN in ihrer Eigenschaft als Tierärztin unter der Leitung von TM nach Șimon, um einen Wolf einzufangen und umzusiedeln, der sich seit einigen Tagen auf dem Grundstück eines dortigen Bewohners aufgehalten hatte, wo er mit dessen Hunden gespielt und gefressen hatte. Nachdem ihm mittels eines Projektils unter die Haut ein veterinärmedizinisches Betäubungsmittel verabreicht worden war, wurde der Wolf verfolgt, gefangen und am Schwanz und am Nacken vom Boden aufgehoben, bis zu einem Fahrzeug, das sich in gewisser Entfernung befand, geschleppt und dann in einen Hundetransportkäfig gelegt.

14      Die Mitarbeiter der DMPA veranlassten den Transport des so gefangenen Wolfs in das Bärenreservat Libearty der Stadt Zărnești (Rumänien), das auch über ein Gehege für Wölfe verfügt, die aus nicht artgerechten Tiergärten stammen. Allerdings konnte der Wolf während des Transports seinen Käfig durchbrechen und in den umliegenden Wald entkommen.

15      Am 9. Mai 2017 erstattete die Alianța pentru combaterea abuzurilor Strafanzeige gegen TM, UN und die DMPA sowie gegen andere für Letztere tätige Personen wegen Delikten im Zusammenhang mit dem Fang und dem Transport eines Wolfs unter unangemessenen Bedingungen. Aus der Strafanzeige geht hervor, dass keine Genehmigung für den Fang und den Transport des Wolfs eingeholt worden war.

16      Die Judecătoria Zărnești (Gericht erster Instanz Zărnești, Rumänien) fragt sich, inwieweit der absichtliche Fang bzw. die absichtliche Tötung von Exemplaren wildlebender Tiere der Art canis lupus auch ohne eine auf Art. 16 der Habitatrichtlinie gestützte Ausnahme erfolgen kann, wenn die Tiere am Rand von Ortschaften angetroffen werden oder das Territorium einer Gebietskörperschaft betreten, oder ob eine Ausnahme für jegliches wildlebende Exemplar erforderlich ist, das sich nicht in Gefangenschaft befindet, unabhängig davon, ob es in den Bereich einer Gebietskörperschaft gelangt ist.

17      Das Gericht weist darauf hin, dass das Hauptziel der Habitatrichtlinie, nämlich „die Erhaltung der biologischen Vielfalt zu fördern, wobei... die wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und regionalen Anforderungen berücksichtigt werden sollen [und ein] Beitrag zu dem allgemeinen Ziel einer nachhaltigen Entwicklung [geleistet wird]“, vollkommen gerechtfertigt ist, wenn geschützte Tiere ihren natürlichen Lebensraum verlassen. Allerdings könnte eine enge Auslegung der Bestimmungen dieser Richtlinie zu dem Schluss führen, dass für den Staat keine Verpflichtung bestehe, sobald diese Tiere ihren natürlichen Lebensraum verlassen hätten, was dem mit diesem Rechtsakt verfolgten Ziel zuwiderliefe.

18      Das vorlegende Gericht bezieht sich insbesondere auf die in Art. 16 Abs. 1 Buchst. c der Habitatrichtlinie vorgesehene Ausnahme von den Vorschriften über den Schutz der bedrohten Arten, wonach der Begriff „öffentliche Sicherheit“ eng mit jenen Konstellationen verbunden sei, in denen sich zu den bedrohten Arten gehörende Tiere außerhalb ihres natürlichen Lebensraums befänden.

19      Unter diesen Umständen hat die Judecătoria Zărnești (Gericht erster Instanz Zărnești) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 16 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten zur Schaffung von Ausnahmen von den Art. 12, 13, 14 und 15 Buchst. a und b auch in Fällen verpflichtet, in denen die zu den bedrohten Arten gehörenden Tiere ihren natürlichen Lebensraum verlassen und sich entweder in dessen unmittelbarer Nähe oder völlig außerhalb davon aufhalten?

 Zur Vorlagefrage

20      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und Art. 16 der Habitatrichtlinie dahin auszulegen sind, dass der Fang und der Transport eines Exemplars einer geschützten Tierart wie des Wolfs am Rande eines menschlichen Siedlungsgebiets oder in einem solchen Gebiet unter das in Art. 12 vorgesehene Verbot fallen können, wenn die zuständige nationale Behörde keine Ausnahme auf der Grundlage von Art. 16 gewährt hat.

21      Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass die Habitatrichtlinie nach ihrem Art. 2 Abs. 1 zum Ziel hat, zur Sicherung der Artenvielfalt durch die Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten beizutragen. Außerdem heißt es in Art. 2 Abs. 2 und 3 der Habitatrichtlinie, dass die aufgrund dieser Richtlinie getroffenen Maßnahmen darauf abzielen, einen günstigen Erhaltungszustand der natürlichen Lebensräume und wildlebenden Tier- und Pflanzenarten von Interesse für die Europäische Union zu bewahren oder wiederherzustellen, und den Anforderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur sowie den regionalen und örtlichen Besonderheiten Rechnung tragen.

22      Nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie haben die Mitgliedstaaten die notwendigen Maßnahmen zu treffen, um ein strenges Schutzsystem für die geschützten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen, das alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten verbietet.

23      Um dieser Verpflichtung nachzukommen, müssen die Mitgliedstaaten nicht nur einen vollständigen gesetzlichen Rahmen schaffen, sondern auch konkrete besondere Schutzmaßnahmen durchführen. Desgleichen setzt dieses strenge Schutzsystem den Erlass kohärenter und koordinierter vorbeugender Maßnahmen voraus. Ein solches strenges Schutzsystem muss es also erlauben, absichtliche Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren geschützter Tierarten tatsächlich zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. April 2018, Kommission/Polen [Wald von Białowieża], C‑441/17, EU:C:2018:255, Rn. 231 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 27).

24      Zwar erlaubt Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie es den Mitgliedstaaten, von den Bestimmungen der Art. 12 bis 14 sowie von Art. 15 Buchst. a und b dieser Richtlinie abzuweichen, doch unterliegt eine auf dieser Grundlage erlassene Ausnahmeregelung, da sie es den Mitgliedstaaten erlaubt, den mit dem System des strengen Schutzes natürlich vorkommender Arten einhergehenden Verpflichtungen zu entgehen, der Bedingung, dass es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt und die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen. Diese Bedingungen gelten für sämtliche in Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie genannten Fälle (Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 28 und 29).

25      Zudem stellt Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie, der die Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten von den Art. 12 bis 14 sowie von Art. 15 Buchst. a und b dieser Richtlinie abweichen dürfen, genau und abschließend festlegt, eine Ausnahme von dem in dieser Richtlinie vorgesehenen Schutzsystem dar, die restriktiv auszulegen ist und bei der die Beweislast für das Vorliegen der erforderlichen Voraussetzungen für jede Abweichung die Stelle treffen muss, die über sie entscheidet (Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 30).

26      Im Übrigen gehört die Art canis lupus, die gemeinhin als „Wolf“ bezeichnet wird, zu den mit der Habitatrichtlinie geschützten Tierarten.

27      Die Frage des vorlegenden Gerichts ist im Hinblick auf diese einleitenden Erwägungen zu prüfen.

28      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob die in Art. 12 der Habitatrichtlinie vorgesehene Regelung zum Schutz bedrohter Arten nur die natürliche Umwelt dieser Arten erfasst und damit nicht mehr gilt, wenn sich ein Exemplar, das zu einer solchen Tierart gehört, in ein menschliches Siedlungsgebiet oder an den Rand eines solchen Gebiets begibt. Das Ersuchen dieses Gerichts betrifft somit die Auslegung der Ausdrücke „natürliches Verbreitungsgebiet“ und „aus der Natur“ in Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie sowie den Umfang des sich daraus ergebenden Schutzes.

29      Bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts ist nach ständiger Rechtsprechung nicht nur ihr Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 21. November 2019, Procureur-Generaal bij de Hoge Raad der Nederlanden, C‑678/18, EU:C:2019:998, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Erstens ist zum Wortlaut von Art. 12 der Habitatrichtlinie festzustellen, dass er keine sachdienlichen Anhaltspunkte für die Definition der Ausdrücke „natürliches Verbreitungsgebiet“ und „aus der Natur“ liefert.

31      Es kann jedoch darauf hingewiesen werden, dass dieser Artikel den mit ihm vorgeschriebenen Schutz nicht auf den Ausdruck „natürlicher Lebensraum“ stützt und keine Regelung zum Schutz von Exemplaren geschützter Tierarten nach Maßgabe des Ortes, des Raums oder des Lebensraums, wo sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt befinden, aufstellt.

32      Was zweitens den Zusammenhang betrifft, in dem Art. 12 der Habitatrichtlinie steht, ist festzustellen, dass weder Art. 1 noch irgendeine andere Bestimmung dieser Richtlinie diese Ausdrücke definiert. Daher sind die Ausdrücke „natürliches Verbreitungsgebiet“ und „aus der Natur“ in Abs. 1 dieses Artikels anhand der in dieser Richtlinie definierten und/oder verwendeten verwandten Begriffe zu prüfen.

33      Hierzu ist festzustellen, dass die Habitatrichtlinie aus zwei Teilen besteht, die zum einen der Erhaltung der natürlichen Lebensräume u. a. durch die Ausweisung von Schutzgebieten und zum anderen der Erhaltung der wildlebenden Tiere und Pflanzen durch die Bezeichnung geschützter Arten gewidmet sind.

34      Diese Richtlinie verlangt aber nicht, dass der nach dem zweiten Teil gewährte Schutz im Zusammenhang mit dem ersten Teil und insbesondere nach Maßgabe des von den Schutzgebieten oder den natürlichen Lebensräumen erfassten geografischen Gebiets festgelegt wird.

35      Wie die Generalanwältin in Nr. 29 ihrer Schlussanträge hervorgehoben hat, sind zudem die natürlichen Lebensräume nach den Art. 3 bis 6 der Habitatrichtlinie im Rahmen der Schutzgebiete des Netzwerks Natura 2000 als solche zu schützen. Dieses Netz umfasst jedoch auch die in Art. 1 Buchst. f dieser Richtlinie gesondert definierten „Habitate einer Art“, in denen die in Anhang II der Richtlinie aufgeführten Arten leben. Da der Wolf in diesem Anhang aufgelistet ist, sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die besonderen Schutzgebiete für diese Art auszuweisen.

36      Es ist festzustellen, dass der Ausdruck „Habitat einer Art“ in Art. 1 Buchst. f der Habitatrichtlinie, definiert als „durch spezifische abiotische und biotische Faktoren bestimmter Lebensraum, in dem diese Art in einem der Stadien ihres Lebenskreislaufs vorkommt“, nicht einem starr und unveränderlich abgegrenzten Gebiet entspricht.

37      Wie die Generalanwältin in Nr. 42 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich zudem aus den Bestimmungen der Habitatrichtlinie zum Gebietsschutz, dass der Artenschutz nicht auf die Schutzgebiete beschränkt werden kann. Diese sind nicht mit dem Ziel abgegrenzt worden, den gesamten Lebensraum der geschützten Arten, die große Lebensräume beanspruchen können, abzudecken. Für solche Arten bestimmt Art. 4 Abs. 1 der Habitatrichtlinie, dass die Mitgliedstaaten eine Liste von Gebieten vorzulegen haben, in der die in diesen Gebieten vorkommenden natürlichen Lebensraumtypen des Anhangs I und einheimischen Arten des Anhangs II aufgeführt sind. Diese Bestimmung stellt klar, dass diese Gebiete natürlicher Lebensräume bei Tierarten, die große Lebensräume beanspruchen, den Orten im natürlichen Verbreitungsgebiet dieser Arten entsprechen, welche die für ihr Leben und ihre Fortpflanzung ausschlaggebenden physischen und biologischen Elemente aufweisen.

38      Folglich umfasst der Ausdruck „natürliches Verbreitungsgebiet“ in Bezug auf geschützte Tierarten, die – wie der Wolf – große Lebensräume beanspruchen, mehr als den geografischen Raum, der die für ihr Leben und ihre Fortpflanzung ausschlaggebenden physischen und biologischen Elemente aufweist. Dieses Gebiet entspricht, wie die Generalanwältin in Nr. 37 ihrer Schlussanträge dargelegt hat, dem geografischen Raum, in dem sich die betreffende Tierart im Rahmen ihres natürlichen Verhaltens aufhält bzw. ausbreitet.

39      Daraus folgt, dass der durch Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie gewährte Schutz keine Abgrenzungen oder Grenzen kennt und daher nicht den Schluss zulässt, dass ein wildlebendes Exemplar einer geschützten Tierart, das sich in der Nähe oder innerhalb von menschlichen Siedlungsgebieten befindet, das solche Gebiete durchquert oder sich von Ressourcen ernährt, die der Mensch erzeugt, ein Tier wäre, das sein „natürliches Verbreitungsgebiet“ verlassen hat, oder dass sich dieses Gebiet nicht mit menschlichen Niederlassungen oder vom Menschen geschaffenen Anlagen überlappen könnte.

40      Dieselbe Schlussfolgerung ergibt sich aus dem Leitfaden zum strengen Schutzsystem für Tierarten von gemeinschaftlichem Interesse im Rahmen der [Habitat]-Richtlinie 92/43/EWG (endgültige Fassung, Februar 2007), in dem das „natürliche Verbreitungsgebiet“ als dynamisches Konzept beschrieben wird, das nicht identisch ist mit der „tatsächlich besetzte[n] Fläche... oder [den] Territorien mit permanentem Vorkommen eines Lebensraumtyps oder einer Art bzw. Unterart“.

41      Wie die Generalanwältin in den Nrn. 38 und 40 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, wird diese Auslegung auch durch die Definition in Art. 1 Abs. 1 Buchst. f des Übereinkommens zur Erhaltung der wandernden wildlebenden Tierarten, das am 23. Juni 1979 in Bonn unterzeichnet und mit dem Beschluss 82/461/EWG des Rates vom 24. Juni 1982 (ABl. 1982, L 210, S. 10) im Namen der Gemeinschaft geschlossen wurde, gestützt. Danach umfasst das „Verbreitungsgebiet“ das gesamte Land- oder Wassergebiet, in dem eine wandernde Art zu irgendeiner Zeit auf ihrem normalen Wanderweg lebt, sich vorübergehend aufhält, es durchquert oder überfliegt. So berücksichtigt die Definition des Begriffs „Verbreitungsgebiet“ einer Art sämtliche Gebiete jedweder Natur, die diese Art durchquert.

42      Es wäre jedoch nicht kohärent, die in diesen beiden Rechtsakten enthaltenen Ausdrücke „natürliches Verbreitungsgebiet“ und „Verbreitungsgebiet“ unterschiedlich zu definieren und damit diesen Rechtsakten unterschiedliche Anwendungsbereiche zu geben.

43      Folglich ist davon auszugehen, dass sich aus dem Zusammenhang, in dem Art. 12 der Habitatrichtlinie steht, ergibt, dass der räumliche Anwendungsbereich dieses Artikels in Bezug auf eine geschützte Art wie den Wolf Gebiete außerhalb der Schutzgebiete und insbesondere menschliche Siedlungsgebiete umfassen kann.

44      Die Verwendung des Ausdrucks „aus der Natur“ in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und c der Habitatrichtlinie kann diese Feststellung nicht entkräften. Er ist dahin zu verstehen, dass der strenge Schutz geschützter Tierarten durch die in Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Verbote nicht nur an bestimmten Orten gilt, sondern alle Exemplare der geschützten Tierarten erfasst, die in der Natur bzw. in freier Wildbahn leben und somit eine Funktion in den natürlichen Ökosystemen erfüllen, ohne zwangsläufig für Exemplare zu gelten, die in einer legalen Form der Gefangenschaft gehalten werden.

45      Dieser Ausdruck ist weder in Abs. 1 Buchst. b, wonach die Exemplare geschützter Tierarten „während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten“ nicht gestört werden dürfen, noch in Abs. 1 Buchst. d dieses Art. 12 zu finden. Somit lässt sich nicht bestreiten, dass die in Art. 12 Abs. 1 Buchst. b und d der Habitatrichtlinie aufgestellten Verbote für alle Exemplare der geschützten Tierarten gelten, unabhängig davon, wo sie sich befinden. Es ist aber festzustellen, dass der Fang und erst recht die Tötung eines Exemplars dieser Arten zumindest als Störung anzusehen sind.

46      Was drittens das mit der Habitatrichtlinie verfolgte Ziel anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass die Art. 12, 13 und 16 dieser Richtlinie gemeinsam ein in sich stimmiges Regelungssystem zum Schutz der Populationen der betroffenen Arten bilden (Urteil vom 20. Oktober 2005, Kommission/Vereinigtes Königreich, C‑6/04, EU:C:2005:626, Rn. 112). Das gemeinsame Ziel dieser Bestimmungen besteht darin, einen strengen Schutz der geschützten Tierarten durch die in Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Verbote zu gewährleisten, wobei Ausnahmen nur unter den engen Voraussetzungen nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie zulässig sind, der restriktiv auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Mai 2007, Kommission/Österreich, C‑508/04, EU:C:2007:274, Rn. 109 bis 112, und vom 15. März 2012, Kommission/Polen, C‑46/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:146, Rn. 29).

47      Die in Art. 12 der Habitatrichtlinie vorgesehene Schutzregelung muss daher dazu angetan sein, Beeinträchtigungen der geschützten Tierarten tatsächlich zu verhindern.

48      Es wäre aber mit diesem Ziel nicht vereinbar, den Schutz für Exemplare geschützter Tierarten systematisch zu versagen, wenn sich ihr „natürliches Verbreitungsgebiet“ auf menschliche Siedlungsgebiete erstreckt.

49      Dagegen lässt sich durch die Auslegung, wonach das in Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie genannte „natürliche Verbreitungsgebiet“ dieser Arten auch Gebiete umfasst, die außerhalb der Schutzgebiete liegen, und der sich daraus ergebende Schutz somit nicht auf diese Gebiete beschränkt ist, das Ziel erreichen, die Tötung oder den Fang von Exemplaren geschützter Tierarten zu verbieten. Es geht nämlich darum, diese Arten nicht nur an bestimmten Orten zu schützen, die restriktiv definiert werden, sondern auch ihnen angehörende Exemplare zu schützen, die in der Natur bzw. in freier Wildbahn leben und damit eine Funktion in natürlichen Ökosystemen erfüllen.

50      Wie die Kommission ausgeführt hat, leben Wölfe in zahlreichen Regionen der Union in vom Menschen beanspruchten Gebieten in unmittelbarer Nähe menschlicher Niederlassungen. Die Anthropisierung dieser Räume hat auch zu einer teilweisen Anpassung der Wölfe an diese neuen Bedingungen geführt. Wie aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte hervorgeht, haben die Entwicklung der Infrastrukturen, die illegale Waldbewirtschaftung, die landwirtschaftlichen Betriebe und bestimmte industrielle Tätigkeiten dazu beigetragen, auf die Wolfspopulation und ihren Lebensraum Druck auszuüben. Aus der Akte geht ferner hervor, dass sich der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in Șimon ereignet hat, einem Dorf zwischen zwei großen Schutzgebieten, in denen Wolfspopulationen leben, so dass Wolfswanderungen zwischen diesen Gebieten stattfinden können.

51      Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass eine Auslegung der Ausdrücke „natürliches Verbreitungsgebiet“ und „aus der Natur“ in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie dahin, dass die menschlichen Siedlungsgebiete vom Anwendungsbereich der Bestimmungen über den Schutz der geschützten Tierarten ausgenommen wären, nicht nur mit dem Wortlaut und dem Zusammenhang dieser Bestimmung, sondern auch mit dem mit ihr verfolgten Ziel unvereinbar wäre.

52      Daher ist festzustellen, dass die Verpflichtung, die geschützten Tierarten gemäß den Art. 12 ff. der Habitatrichtlinie streng zu schützen, für das gesamte „natürliche Verbreitungsgebiet“ dieser Arten gilt, unabhängig davon, ob sie sich in ihrem gewöhnlichen Lebensraum, in Schutzgebieten oder aber in der Nähe menschlicher Niederlassungen befinden.

53      Im Übrigen ist festzustellen, dass mehrere in Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie vorgesehene Ausnahmegründe ausdrücklich auf Konflikte Bezug nehmen, die auftreten können, wenn ein Exemplar einer geschützten Tierart insbesondere in Fällen wie den in Rn. 50 des vorliegenden Urteils beschriebenen mit Menschen oder ihrem Eigentum in Kontakt tritt oder gar in Konflikt gerät.

54      Das vorlegende Gericht fragt sich insoweit, ob alle Formen des absichtlichen Fangs von Exemplaren geschützter Tierarten verboten sind, wenn die zuständige nationale Behörde keine Ausnahme auf der Grundlage dieser Bestimmung gewährt hat.

55      Wie sich aus der in Rn. 23 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ergibt, obliegt es insoweit dem betreffenden Mitgliedstaat, einen vollständigen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, der gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. b und c der Habitatrichtlinie Maßnahmen zur Verhütung ernster Schäden insbesondere an Kulturen oder in der Tierhaltung oder Maßnahmen im Interesse der Volksgesundheit und der öffentlichen Sicherheit oder aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art, umfassen kann.

56      Folglich können der Fang und der Transport eines Exemplars einer geschützten Tierart, die unter die in Art. 12 Abs. 1 der Habitatrichtlinie vorgesehenen Verbote fallen, nur gerechtfertigt sein, wenn die zuständige nationale Behörde für sie eine Ausnahme auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 Buchst. b und c dieser Richtlinie erlassen hat, die u. a. auf Gründe der öffentlichen Sicherheit gestützt ist.

57      Hierzu obliegt es dem betreffenden Mitgliedstaat, Bestimmungen zu erlassen, die im Bedarfsfall die tatsächliche und rechtzeitige Gewährung solcher Ausnahmen ermöglichen.

58      Im Übrigen setzt Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie neben den genannten Ausnahmegründen ausdrücklich voraus, dass es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt und die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen. Es obliegt den zuständigen nationalen Behörden, nachzuweisen, dass dies insbesondere unter Berücksichtigung der besten einschlägigen wissenschaftlichen und technischen Erkenntnisse sowie der Umstände des jeweiligen konkreten Falls zutrifft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Oktober 2019, Luonnonsuojeluyhdistys Tapiola, C‑674/17, EU:C:2019:851, Rn. 51 und 66).

59      Es ist daher Sache des vorlegenden Gerichts, die Bedingungen zu bestimmen, unter denen das Exemplar der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden geschützten Tierart sediert und in das Naturreservat Libearty der Stadt Zărnești transportiert wurde, und zu klären, inwieweit diese Vorgehensweise einen „absichtlichen Fang“ im Sinne von Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie darstellt, der auf der Grundlage einer Ausnahme erfolgte, die unter Beachtung der in Art. 16 dieser Richtlinie aufgestellten Anforderungen erlassen wurde. Das vorlegende Gericht hat sich auch zu vergewissern, dass die Auswirkungen einer solchen Vorgehensweise auf den Erhaltungszustand der Wolfspopulation berücksichtigt werden.

60      Im Übrigen stellt der von der Generalanwältin in Nr. 69 ihrer Schlussanträge angeführte Umstand, dass es das nationale Recht nicht ermöglicht habe, binnen kurzer Zeit angemessen auf das Verhalten des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Wolfs zu reagieren und die damit verbundenen Risiken frühzeitig zu minimieren, einen relevanten Gesichtspunkt im Rahmen der Bestimmung der im vorliegenden Fall wegen Nichtbeachtung der Verpflichtungen aus Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie zu verhängenden Sanktion dar. Es sei auch nicht ersichtlich, dass der nationale rechtliche Rahmen insoweit eine Regelung oder wissenschaftlich fundierte Leitlinien enthalte.

61      In Anbetracht des Vorstehenden zeigt sich, dass der Fang und der Transport des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Wolfs nicht als im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1 Buchst. a und Art. 16 Abs. 1 der Habitatrichtlinie genehmigt angesehen werden können, was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

62      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage wie folgt zu antworten:

–        Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Habitatrichtlinie ist dahin auszulegen, dass der Fang und der Transport eines Exemplars einer nach Anhang IV dieser Richtlinie geschützten Tierart wie des Wolfs am Rande eines menschlichen Siedlungsgebiets oder in einem solchen Gebiet unter das in dieser Bestimmung vorgesehene Verbot fallen können.

–        Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass alle Formen des absichtlichen Fangs von Exemplaren dieser Tierart unter den oben genannten Umständen verboten sind, wenn die zuständige nationale Behörde keine Ausnahme auf der Grundlage dieser Bestimmung gewährt hat.

 Kosten

63      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen in der durch die Richtlinie 2013/17/EU vom 13. Mai 2013 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der Fang und der Transport eines Exemplars einer nach Anhang IV dieser Richtlinie geschützten Tierart wie des Wolfs am Rande eines menschlichen Siedlungsgebiets oder in einem solchen Gebiet unter das in dieser Bestimmung vorgesehene Verbot fallen können.

Art. 16 Abs. 1 dieser Richtlinie ist dahin auszulegen, dass alle Formen des absichtlichen Fangs von Exemplaren dieser Tierart unter den oben genannten Umständen verboten sind, wenn die zuständige nationale Behörde keine Ausnahme auf der Grundlage dieser Bestimmung gewährt hat.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Rumänisch.