Language of document : ECLI:EU:C:2020:577

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

16. Juli 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Einwanderungspolitik – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 4 Abs. 1 – Begriff ‚minderjähriges Kind‘ – Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Kindeswohl – Art. 47 der Charta der Grundrechte – Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf – Kinder des Zusammenführenden, die während des Entscheidungsprozesses oder im Lauf des gerichtlichen Verfahrens gegen die Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung volljährig geworden sind“

In den verbundenen Rechtssachen C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19

betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidungen vom 31. Januar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Februar 2019 (C‑133/19) sowie am 20. Februar 2019 (C‑136/19 und C‑137/19), in den Verfahren

B. M. M. (C‑133/19 und C‑136/19),

B. S. (C‑133/19),

B. M. (C‑136/19),

B. M. O. (C‑137/19)

gegen

État belge

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin) sowie der Richter J. Malenovský, F. Biltgen und N. Wahl,

Generalanwalt: G. Hogan,

Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Januar 2020,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von B. M. M., B. S., B. M. und B. M. O., vertreten durch A. Van Vyve, avocate,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, C. Pochet und C. Van Lul als Bevollmächtigte im Beistand von E. Derriks, G. van Witzenburg und M. de Sousa Marques E Silva, avocats,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch R. Kanitz und J. Möller als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und M. Condou-Durande als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. März 2020

folgendes

Urteil

1        Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12) und von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen den guineischen Staatsangehörigen B. M. M. (C‑133/19 und C‑136/19), B. S. (C‑133/19), B. M. (C‑136/19) und B. M. O. (C‑137/19) auf der einen und dem État belge (Belgischer Staat) auf der anderen Seite wegen der Ablehnung von Anträgen auf Erteilung eines Visums für eine Familienzusammenführung.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Erwägungsgründe 2, 4, 6, 9 und 13 der Richtlinie 2003/86 bestimmen:

„(2)      Maßnahmen zur Familienzusammenführung sollten in Übereinstimmung mit der Verpflichtung zum Schutz der Familie und zur Achtung des Familienlebens getroffen werden, die in zahlreichen Instrumenten des Völkerrechts verankert ist. Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] und der [Charta] anerkannt wurden.

(4)      Die Familienzusammenführung ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dass ein Familienleben möglich ist. Sie trägt zur Schaffung soziokultureller Stabilität bei, die die Integration Drittstaatsangehöriger in dem Mitgliedstaat erleichtert; dadurch wird auch der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt gefördert, der als grundlegendes Ziel der Gemeinschaft im Vertrag aufgeführt wird.

(6)      Zum Schutz der Familie und zur Wahrung oder Herstellung des Familienlebens sollten die materiellen Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Rechts auf Familienzusammenführung nach gemeinsamen Kriterien bestimmt werden.

(9)      Die Familienzusammenführung sollte auf jeden Fall für die Mitglieder der Kernfamilie, d. h. den Ehegatten und die minderjährigen Kinder gelten.

(13)      Es sollten Verfahrensregeln für die Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung sowie für die Einreise und den Aufenthalt von Familienangehörigen festgelegt werden. Diese Verfahren sollten effizient und angemessen sein, wobei die normale Arbeitsbelastung der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen ist, sowie transparent sein und den Betroffenen eine angemessene Rechtssicherheit bieten.“

4        Art. 1 der Richtlinie 2003/86 lautet:

„Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung der Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.“

5        In Art. 4 dieser Richtlinie heißt es:

„(1)      Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Artikel 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt:

a)      dem Ehegatten des Zusammenführenden;

b)      den minderjährigen Kindern des Zusammenführenden und seines Ehegatten, einschließlich der Kinder, die gemäß einem Beschluss der zuständigen Behörde des betreffenden Mitgliedstaats oder einem aufgrund der internationalen Verpflichtungen dieses Mitgliedstaats automatisch vollstreckbaren oder anzuerkennenden Beschluss adoptiert wurden;

c)      den minderjährigen Kindern, einschließlich der adoptierten Kinder des Zusammenführenden, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt. Die Mitgliedstaaten können die Zusammenführung in Bezug auf Kinder gestatten, für die ein geteiltes Sorgerecht besteht, sofern der andere Elternteil seine Zustimmung erteilt;

d)      den minderjährigen Kindern, einschließlich der adoptierten Kinder des Ehegatten, wenn der Ehegatte das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt. Die Mitgliedstaaten können die Zusammenführung in Bezug auf Kinder gestatten, für die ein geteiltes Sorgerecht besteht, sofern der andere Elternteil seine Zustimmung erteilt.

Die minderjährigen Kinder im Sinne dieses Artikels dürfen das nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats geltende Volljährigkeitsalter noch nicht erreicht haben und dürfen nicht verheiratet sein.

…“

6        Art. 5 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten legen fest, ob zur Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung ein Antrag auf Einreise und Aufenthalt entweder vom Zusammenführenden oder von dem oder den Familienangehörigen bei den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats gestellt werden muss.

(2)      Dem Antrag sind Unterlagen beizufügen, anhand dere[n] die familiären Bindungen nachgewiesen werden und aus denen ersichtlich ist, dass die in den Artikeln 4 und 6 und gegebenenfalls in den Artikeln 7 und 8 vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind, sowie beglaubigte Abschriften der Reisedokumente des oder der Familienangehörigen.

Zum Nachweis des Bestehens familiärer Bindungen können die Mitgliedstaaten gegebenenfalls eine Befragung des Zusammenführenden und seiner Familienangehörigen vornehmen und andere als zweckmäßig erachtete Nachforschungen anstellen.

(4)      Die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats teilen dem Antragsteller ihre Entscheidung unverzüglich, spätestens aber neun Monate nach Einreichung des Antrags schriftlich mit.

In Ausnahmefällen kann aufgrund der Schwierigkeit der Antragsprüfung die in Unterabsatz 1 genannte Frist verlängert werden.

Eine Ablehnung des Antrags ist zu begründen. Ist bei Ablauf der Frist nach Unterabsatz 1 noch keine Entscheidung ergangen, so richten sich etwaige Folgen nach dem nationalen Recht des betreffenden Mitgliedstaats.

(5)      Bei der Prüfung des Antrags tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass das Wohl minderjähriger Kinder gebührend berücksichtigt wird.“

7        Art. 16 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2003/86 sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung ablehnen oder gegebenenfalls den Aufenthaltstitel eines Familienangehörigen entziehen oder seine Verlängerung verweigern, wenn einer der folgenden Fälle vorliegt:

a)      Die in dieser Richtlinie festgelegten Bedingungen sind nicht oder nicht mehr erfüllt.

(2)      Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung auch ablehnen und den Aufenthaltstitel des Familienangehörigen entziehen oder seine Verlängerung verweigern, wenn feststeht,

a)      dass falsche oder irreführende Angaben gemacht wurden, ge‑ oder verfälschte Dokumente verwendet wurden, auf andere Weise eine Täuschung verübt wurde oder andere ungesetzliche Mittel angewandt wurden;

…“

8        Art. 18 der Richtlinie 2003/86 lautet:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass der Zusammenführende und/oder seine Familienangehörigen im Fall der Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung, der Nichtverlängerung oder des Entzugs des Aufenthaltstitels sowie der Rückführung Rechtsbehelfe einlegen können.

Die Verfahren und die Zuständigkeiten, nach denen das in Absatz 1 genannte Recht ausgeübt wird, werden von den betreffenden Mitgliedstaaten festgelegt.“

 Belgisches Recht

9        Art. 10 § 1 Abs. 1 der Loi du 15 décembre 1980 sur l’accès au territoire, le séjour, l’établissement et l’éloignement des étrangers (Moniteur belge vom 31. Dezember 1980, S. 14584) (Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern) in ihrer auf die Sachverhalte der Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz vom 15. Dezember 1980) sieht vor:

„Unter Vorbehalt der Bestimmungen der Artikel 9 und 12 ist es folgenden Personen von Rechts wegen gestattet, sich länger als drei Monate im Königreich aufzuhalten:

4.      folgenden Mitgliedern der Familie eines Ausländers, dem der Aufenthalt im Königreich seit mindestens zwölf Monaten für unbegrenzte Dauer gestattet oder erlaubt ist oder dem es seit mindestens zwölf Monaten erlaubt ist, sich dort niederzulassen. Diese Frist von zwölf Monaten fällt weg, wenn das eheliche Verhältnis beziehungsweise die registrierte Partnerschaft bereits vor Ankunft im Königreich des Ausländers, dem nachgekommen wird, bestand, die Partner ein gemeinsames minderjähriges Kind haben oder Familienmitglieder eines Ausländers betroffen sind, der als Flüchtling anerkannt ist oder dem der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt ist:

–        seinem ausländischen Ehepartner oder dem Ausländer, mit dem er eine registrierte Partnerschaft führt, die in Belgien einer Ehe gleichgesetzt ist, und der mit ihm zusammenleben wird, sofern die beiden betroffenen Personen älter als einundzwanzig Jahre sind. Dieses Mindestalter wird jedoch auf achtzehn Jahre herabgesetzt, wenn das eheliche Verhältnis beziehungsweise diese registrierte Partnerschaft bereits vor Ankunft im Königreich des Ausländers, dem nachgekommen wird, bestand,

–        ihren Kindern, die mit ihnen zusammenleben werden, bevor sie das Alter von achtzehn Jahren erreicht haben, und ledig sind,

–        den Kindern des Ausländers, dem nachgekommen wird, und seines Ehepartners oder des im ersten Gedankenstrich erwähnten registrierten Partners, die mit ihnen zusammenleben werden, bevor sie das Alter von achtzehn Jahren erreicht haben, und ledig sind, sofern der Ausländer, dem nachgekommen wird, sein Ehepartner oder der erwähnte registrierte Partner das Sorgerecht hat und die Kinder zu seinen Lasten oder zu Lasten des Ehepartners beziehungsweise des registrierten Partners sind und, bei geteiltem Sorgerecht, sofern der andere Inhaber des Sorgerechts sein Einverständnis gegeben hat,

…“

10      In Art. 10 ter § 3 dieses Gesetzes heißt es:

„Der Minister oder sein Beauftragter kann beschließen, den Antrag auf Aufenthaltserlaubnis von mehr als drei Monaten abzulehnen, … wenn der Ausländer … falsche oder irreführende Informationen oder falsche oder gefälschte Dokumente verwendet, einen Betrug begangen oder andere illegale Mittel in Anspruch genommen hat, um diese Erlaubnis zu erhalten …“

11      Art. 12 bis dieses Gesetzes sieht vor:

„§ 1      Ein Ausländer, der erklärt, sich in einem der in Artikel 10 vorgesehenen Fälle zu befinden, muss einen Antrag beim belgischen diplomatischen oder konsularischen Vertreter, der für seinen Wohnort oder seinen Aufenthaltsort im Ausland zuständig ist, einreichen.

§ 2      …

Das Datum der Einreichung des Antrags ist das Datum, an dem gemäß Artikel 30 des Gesetzes vom 16. Juli 2004 zur Einführung des Gesetzbuches über das internationale Privatrecht oder internationalen Abkommen in derselben Angelegenheit die erwähnten Nachweise übermittelt werden.

Der Beschluss über den Antrag auf Aufenthaltszulassung wird möglichst schnell und spätestens sechs Monate ab dem Datum der Einreichung des in Absatz 2 erwähnten Antrags gefasst und notifiziert. …

In Ausnahmefällen kann der Minister oder sein Beauftragter aufgrund der Komplexität der Antragsprüfung … durch einen mit Gründen versehenen Beschluss, der dem Antragsteller zur Kenntnis gebracht wird, diese Frist zwei Mal um drei Monate verlängern.

Nach Ablauf der Frist von neun Monaten ab dem Datum der Einreichung des Antrags – Frist, die gegebenenfalls gemäß Absatz 5 verlängert wurde – muss die Aufenthaltszulassung erteilt werden, wenn kein Beschluss gefasst worden ist.

§ 7      Im Rahmen der Antragsprüfung wird das Wohl des Kindes gebührend berücksichtigt.“

12      Art. 39/56 Abs. 1 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 bestimmt:

„In Artikel 39/2 erwähnte Beschwerden können von einem Ausländer, der eine Benachteiligung oder ein Interesse nachweist, vor den [Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen), Belgien] gebracht werden.“

 Sachverhalt der Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13      Aus den Vorlageentscheidungen geht hervor, dass B. M. M., ein in Belgien als Flüchtling anerkannter Drittstaatsangehöriger, am 20. März 2012 im Namen und zugunsten seiner minderjährigen Kinder B. S., B. M. und B. M. O. bei der belgischen Botschaft in Conakry (Guinea) Aufenthaltserlaubnisse zum Zweck der Familienzusammenführung nach Art. 10 § 1 Abs. 1 Nr. 4 dritter Gedankenstrich des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 beantragt hat. Diese Anträge wurden am 2. Juli 2012 abgelehnt.

14      Am 9. Dezember 2013 beantragte B. M. M. bei der belgischen Botschaft in Dakar (Senegal) im Namen und zugunsten seiner minderjährigen Kinder B. S., B. M. und B. M. O. erneut Aufenthaltserlaubnisse zur Familienzusammenführung, die auf dieselben Bestimmungen des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 gestützt waren.

15      Mit drei Entscheidungen vom 25. März 2014 lehnten die zuständigen belgischen Behörden diese Anträge auf Aufenthaltserlaubnis gemäß Art. 10 ter § 3 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 mit der Begründung ab, dass B. S., B. M. und B. M. O. falsche oder irreführende Informationen oder falsche oder gefälschte Dokumente verwendet, einen Betrug begangen oder andere illegale Mittel eingesetzt hätten, um die jeweils beantragte Erlaubnis zu erhalten. Die Behörden wiesen nämlich darauf hin, dass B. S. und B. M. O. in ihrem Antrag auf Aufenthaltserlaubnis angegeben hätten, am 16. März 1999 bzw. am 20. Januar 1996 geboren zu sein, während B. M. M. in seinem Asylantrag angegeben habe, dass sie am 16. März 1997 bzw. am 20. Januar 1994 geboren seien. Hinsichtlich B. M. O. heben die Behörden hervor, dass B. M. M. in seinem Asylantrag nicht angegeben habe, dass dieses Kind existiere.

16      Zum Zeitpunkt des Erlasses der ablehnenden Entscheidungen vom 25. März 2014 waren nach den Angaben der Kassationsbeschwerdeführer der Ausgangsverfahren B. S. und B. M. noch minderjährig, während B. M. O. volljährig geworden sei.

17      Am 25. April 2014 erhoben B. M. M. und B. S. (Rechtssache C‑133/19), B. M. M. und B. M. (Rechtssache C‑136/19) sowie B. M. O. (Rechtssache C‑137/19) beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) Klagen auf Aussetzung und Nichtigerklärung dieser ablehnenden Entscheidungen. Mit Schreiben vom 10. September 2015, 7. Januar 2016 und 24. Oktober 2017 beantragten die Betroffenen bei diesem Gericht, dass über ihre Klagen entschieden werde.

18      Mit Entscheidungen vom 31. Januar 2018 wies der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) die Klagen wegen fehlenden Rechtsschutzinteresses als unzulässig ab. Nach einem Hinweis darauf, dass nach ständiger nationaler Rechtsprechung das Rechtsschutzinteresse eines Klägers zum Zeitpunkt der Klageerhebung vorhanden sein und bis zur Urteilsverkündung fortbestehen müsse, führte der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) aus, dass vorliegend, falls die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ablehnenden Entscheidungen für nichtig erklärt würden und die zuständigen belgischen Behörden die Anträge auf Aufenthaltserlaubnis nochmals prüfen müssten, diesen Anträgen jedenfalls deswegen nicht stattgegeben werden könne, weil B. S., B. M. und B. M. O. – selbst unter Berücksichtigung der in diesen Anträgen genannten Geburtsdaten – in der Zwischenzeit volljährig geworden seien und somit die in den Bestimmungen zur Regelung der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder vorgesehenen Voraussetzungen nicht mehr erfüllten.

19      Die Kassationsbeschwerdeführer der Ausgangsverfahren legten beim Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) Kassationsbeschwerden ein. Sie machen im Wesentlichen geltend, die vom Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) zugrunde gelegte Auslegung verstoße zum einen gegen den Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts, da sie B. S., B. M. und B. M. O. das in Art. 4 der Richtlinie 2003/86 garantierte Recht auf Familienzusammenführung verwehre, und verletze zum anderen das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, indem diese Auslegung ihnen die Möglichkeit nehme, gegen die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden ablehnenden Entscheidungen gerichtlich vorzugehen, obwohl diese – hinsichtlich der Rechtssachen C‑133/19 und C‑136/19 – nicht nur erlassen, sondern auch angefochten worden seien, als die Kassationsbeschwerdeführer noch minderjährig gewesen seien.

20      In diesem Zusammenhang weist der Conseil d’État (Staatsrat) darauf hin, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 12. April 2018, A und S (C‑550/16, EU:C:2018:248), entschieden habe, dass Art. 2 Buchst. f in Verbindung mit Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen sei, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, der zum Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der Stellung seines Asylantrags in diesem Staat unter 18 Jahre alt gewesen sei, aber während des Asylverfahrens volljährig werde und dem später die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werde, als „Minderjähriger“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sei.

21      Das vorlegende Gericht hebt jedoch hervor, dass sich der Rechtsstreit, der zu diesem Urteil geführt habe, von den Ausgangsverfahren unterscheide, da diese nicht einen Minderjährigen beträfen, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. Da außerdem die Richtlinie 2003/86 eine Frist für den Erlass einer Entscheidung über einen Antrag auf Familienzusammenführung vorsehe, sei das Recht auf Familienzusammenführung nicht von der mehr oder weniger großen Zügigkeit abhängig, mit der ein solcher Antrag bearbeitet werde. Jedenfalls seien die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden ablehnenden Entscheidungen im vorliegenden Fall innerhalb der in Art. 12bis § 2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 festgelegten Frist erlassen worden.

22      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

In den Rechtssachen C‑133/19 und C‑136/19:

1.      Ist Art. 4 der Richtlinie 2003/86, um die Wirksamkeit des Rechts der Europäischen Union zu gewährleisten und die Inanspruchnahme des der Kassationsbeschwerdeführerin nach ihrer Auffassung durch diese Vorschrift verliehenen Rechts nicht unmöglich zu machen, dahin auszulegen, dass ein Kind des Zusammenführenden das Recht auf Familienzusammenführung in Anspruch nehmen kann, wenn es während des Gerichtsverfahrens gegen die Entscheidung über die Versagung dieses Rechts, die noch während seiner Minderjährigkeit getroffen worden ist, volljährig wird?

2.      Sind Art. 47 der Charta und Art. 18 der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen, dass eine Nichtigkeitsklage gegen die Entscheidung, mit der einem minderjährigen Kind das Recht auf Familienzusammenführung versagt wird, nicht deswegen als unzulässig abgewiesen werden darf, weil das Kind während des Gerichtsverfahrens volljährig geworden ist, da dem Kind damit die Möglichkeit, eine Entscheidung über seine Klage gegen diese Entscheidung zu erwirken, genommen und sein Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf beeinträchtigt würde?

In der Rechtssache C‑137/19:

Ist Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86, gegebenenfalls in Verbindung mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie, dahin auszulegen, dass Drittstaatsangehörige, um als „minderjährige Kinder“ im Sinne dieser Vorschrift anerkannt werden zu können, nicht nur zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Aufenthaltszulassung, sondern auch zu dem Zeitpunkt „minderjährig“ sein müssen, zu dem die Verwaltung letztlich über diesen Antrag entscheidet?

23      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 12. März 2019 sind die Rechtssachen C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19 zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage in den Rechtssachen C133/19 und C136/19 sowie zur Frage in der Rechtssache C137/19

24      Mit seiner ersten Frage in den Rechtssachen C‑133/19 und C‑136/19 sowie mit seiner Frage in der Rechtssache C‑137/19 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen ist, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein „minderjähriges Kind“ im Sinne dieser Bestimmung ist, derjenige Zeitpunkt ist, zu dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder gestellt wird, oder derjenige Zeitpunkt, zu dem durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, gegebenenfalls nachdem ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags eingelegt wurde, über den Antrag entschieden wird.

25      Insoweit ist daran zu erinnern, dass das Ziel der Richtlinie 2003/86 darin besteht, die Familienzusammenführung zu begünstigen, und dass diese Richtlinie außerdem Drittstaatsangehörigen, insbesondere Minderjährigen, Schutz gewähren soll (Urteil vom 13. März 2019, E., C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      In diesem Zusammenhang erlegt Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen. Er schreibt ihnen in den in dieser Richtlinie festgelegten Fallkonstellationen vor, den Nachzug bestimmter Familienangehöriger des Zusammenführenden zu gestatten, ohne dass sie dabei von ihrem Ermessensspielraum Gebrauch machen könnten (Urteil vom 13. März 2019, E., C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Zu den Familienangehörigen des Zusammenführenden, deren Einreise und Aufenthalt der betroffene Mitgliedstaat zu gestatten hat, gehören nach Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 die „minderjährigen Kinde[r], einschließlich der adoptierten Kinder des Zusammenführenden, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt“.

28      Insoweit gibt Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/86, während er bestimmt, dass die minderjährigen Kinder das nach den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats geltende Volljährigkeitsalter noch nicht erreicht haben dürfen, weder an, auf welchen Zeitpunkt abzustellen ist, um zu beurteilen, ob diese Voraussetzung erfüllt ist, noch verweist er diesbezüglich auf das Recht der Mitgliedstaaten.

29      Zwar ist es nach dieser Bestimmung dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen, das gesetzliche Volljährigkeitsalter festzulegen, doch kann ihnen hinsichtlich der Festlegung des Zeitpunkts, auf den für die Beurteilung des Alters des Antragstellers zum Zweck von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 abzustellen ist, kein Spielraum eingeräumt werden.

30      Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folgt, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss, die unter Berücksichtigung des Kontextes der Vorschrift und des mit der betreffenden Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss (Urteil vom 26. Juli 2017, Ouhrami, C‑225/16, EU:C:2017:590, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Wie in Rn. 25 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, besteht das Ziel der Richtlinie 2003/86 in der Begünstigung der Familienzusammenführung. Zu diesem Zweck legt diese Richtlinie ausweislich ihres Art. 1 die Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung durch Drittstaatsangehörige fest, die sich rechtmäßig im Gebiet der Mitgliedstaaten aufhalten.

32      Zudem steht die Richtlinie 2003/86, wie sich aus ihrem zweiten Erwägungsgrund ergibt, im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die in der Charta niedergelegten Grundsätze.

33      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten, insbesondere ihre Gerichte, nicht nur ihr nationales Recht unionsrechtskonform auszulegen haben, sondern auch darauf achten müssen, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten kollidiert (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, EU:C:2009:810, Rn. 34, und vom 6. Dezember 2012, O u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 78).

34      Insbesondere wird in Art. 7 der Charta, der Rechte enthält, die den in Art. 8 Abs. 1 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens anerkannt. Diese Vorschrift der Charta ist zudem in Verbindung mit der Verpflichtung zur Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art. 24 Abs. 2 der Charta und unter Beachtung des in deren Art. 24 Abs. 3 niedergelegten Erfordernisses zu lesen, dass ein Kind regelmäßig persönliche Beziehungen zu seinen beiden Elternteilen unterhält (Urteil vom 6. Dezember 2012, O u. a., C‑356/11 und C‑357/11, EU:C:2012:776, Rn. 76).

35      Daraus folgt, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2003/86 im Licht des Art. 7 und des Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta ausgelegt und angewandt werden müssen, wie sich im Übrigen aus dem Wortlaut des zweiten Erwägungsgrundes und des Art. 5 Abs. 5 dieser Richtlinie ergibt, wonach die Mitgliedstaaten die Anträge auf Familienzusammenführung unter Berücksichtigung des Wohles der betroffenen Kinder und in dem Bestreben, das Familienleben zu fördern, prüfen müssen (Urteil vom 13. März 2019, E., C‑635/17, EU:C:2019:192, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36      Erstens ist festzustellen, dass, wenn als Zeitpunkt, auf den für die Beurteilung des Alters des Antragstellers für die Anwendung von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 abzustellen ist, derjenige zugrunde gelegt würde, zu dem die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates zum Zweck der Familienzusammenführung entscheidet, dies weder mit den Zielen dieser Richtlinie noch mit den sich aus Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 der Charta ergebenden Anforderungen vereinbar wäre; die letztgenannte Bestimmung verlangt nämlich, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen, insbesondere bei den Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Richtlinie 2003/86 treffen, das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss.

37      Wie der Generalanwalt in Nr. 43 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, hätten die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte dann nämlich keine Veranlassung, die Anträge Minderjähriger mit der erforderlichen Dringlichkeit vorrangig zu bearbeiten, um ihrer Schutzbedürftigkeit Rechnung zu tragen, und könnten somit in einer die Rechte dieser Minderjährigen auf Familienzusammenführung gefährdenden Weise handeln (vgl. entsprechend Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 58).

38      Im vorliegenden Fall geht aus den Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass B. M. M. am 9. Dezember 2013 im Namen und zugunsten seiner minderjährigen Kinder B. S., B. M. und B. M. O. bei der belgischen Botschaft in Dakar Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Zweck der Familienzusammenführung gestellt hatte und dass diese Anträge am 25. März 2014 unter Einhaltung der im belgischen Recht vorgesehenen Fristen abgelehnt wurden.

39      Obwohl B. M. M. sowie B. S., B. M. und B. M. O. am 25. April 2014 beim Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) Klagen auf Aussetzung und Nichtigerklärung dieser ablehnenden Entscheidungen erhoben und im Lauf der Jahre 2015 bis 2017 mehrfach bei diesem Gericht darum ersucht hatten, dass über ihre Klagen entschieden werde, steht fest, dass das fragliche Gericht erst am 31. Januar 2018, also drei Jahre und neun Monate nach Klageerhebung, diese Klagen wegen Fehlens eines Rechtsschutzinteresses als unzulässig abgewiesen hat; dabei stützte es sich auf den Umstand, dass B. S., B. M. und B. M. O. zum Zeitpunkt seiner Entscheidung volljährig geworden waren und somit die in den Bestimmungen zur Regelung der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder vorgesehenen Voraussetzungen nicht mehr erfüllten.

40      Solche Bearbeitungsfristen scheinen in Belgien nicht außergewöhnlich zu sein, da, wie von der belgischen Regierung in der mündlichen Verhandlung ausgeführt worden ist, die durchschnittliche Zeitspanne, innerhalb deren der Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) über Rechtsstreitigkeiten im Bereich der Familienzusammenführung entscheidet, drei Jahre beträgt. Außerdem wurde von diesem Gericht den Angaben der belgischen Regierung zufolge der Fall der Kassationsbeschwerdeführer der Ausgangsverfahren nicht als vorrangig angesehen.

41      Die in der vorstehenden Randnummer dargelegten Umstände veranschaulichen daher, dass eine Auslegung von Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86, wonach der Zeitpunkt, zu dem die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats über den Antrag auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Staates entscheidet, derjenige Zeitpunkt wäre, auf den für die Beurteilung des Alters des Antragstellers für die Zwecke dieser Bestimmung abzustellen wäre, nicht gewährleisten könnte, dass das Wohl des Kindes im Einklang mit Art. 24 Abs. 2 der Charta eine unter allen Umständen für die Mitgliedstaaten im Kontext der Anwendung der Richtlinie 2003/86 vorrangige Erwägung bleibt.

42      Zweitens könnte eine solche Auslegung auch nicht im Einklang mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit eine gleiche und vorhersehbare Behandlung aller Antragsteller, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, gewährleisten, da sie dazu führen würde, dass der Erfolg des Antrags auf Familienzusammenführung hauptsächlich von Umständen abhinge, die in der Sphäre der nationalen Behörden oder Gerichte liegen, insbesondere von der mehr oder weniger zügigen Bearbeitung des Antrags oder von der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen eine einen solchen Antrag ablehnende Entscheidung, und nicht von Umständen, die in der Sphäre des Antragstellers liegen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. April 2018, A und S, C‑550/16, EU:C:2018:248, Rn. 55 und 60).

43      Des Weiteren könnte eine solche Auslegung, da sie dazu führen würde, dass das Recht auf Familienzusammenführung von zufälligen und nicht vorhersehbaren Umständen abhängig gemacht würde, die in vollem Umfang den zuständigen nationalen Behörden und Gerichten des betreffenden Mitgliedstaats zuzurechnen wären, zu großen Unterschieden bei der Bearbeitung von Anträgen auf Familienzusammenführung zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats führen.

44      Unter diesen Umständen steht, wenn es darum geht, zu bestimmen, ob die in Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 vorgesehene Altersvoraussetzung erfüllt ist, nur ein Abstellen auf den Zeitpunkt, zu dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung gestellt wird, im Einklang mit den Zielsetzungen dieser Richtlinie und den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten. Dabei ist es unerheblich, ob über diesen Antrag unmittelbar nach der Antragstellung oder nach der Nichtigerklärung einer ihn ablehnenden Entscheidung entschieden wird.

45      Dieses Ergebnis kann nicht durch das von der belgischen und der polnischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen vorgebrachte Argument in Frage gestellt werden, wonach die Mitgliedstaaten gemäß Art. 16 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2003/86 die Erteilung der Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung zum Zweck der Familienzusammenführung verweigern können, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung „nicht oder nicht mehr erfüllt [sind]“. Im Wesentlichen sind diese Regierungen der Ansicht, dem Antrag auf Familienzusammenführung könne nur stattgegeben werden, wenn die betreffende Person sowohl zum Zeitpunkt der Antragstellung als auch zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung über diesen Antrag minderjährig sei.

46      Hierzu ist festzustellen, dass das Alter des Antragstellers nicht wie diejenigen Voraussetzungen, die insbesondere im Rahmen von Kapitel IV dieser Richtlinie vorgesehen sind, als eine materielle Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung im Sinne des sechsten Erwägungsgrundes und von Art. 1 der Richtlinie 2003/86 angesehen werden kann. Im Gegensatz zu den in Kapitel IV vorgesehenen Voraussetzungen stellt die Voraussetzung des Alters nämlich eine Voraussetzung für die Zulässigkeit des Antrags auf Familienzusammenführung dar, deren Entwicklung sicher und vorhersehbar ist und die daher nur zum Zeitpunkt der Einreichung dieses Antrags beurteilt werden kann.

47      Folglich ist auf die erste Frage in den Rechtssachen C‑133/19 und C‑136/19 sowie auf die Frage in der Rechtssache C‑137/19 zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen ist, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein minderjähriges Kind im Sinne dieser Bestimmung ist, derjenige Zeitpunkt ist, zu dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder gestellt wird, und nicht derjenige Zeitpunkt, zu dem durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, gegebenenfalls nachdem ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags eingelegt wurde, über den Antrag entschieden wird.

 Zur zweiten Frage in den Rechtssachen C133/19 und C136/19

48      Mit der zweiten Frage in den Rechtssachen C‑133/19 und C‑136/19 möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 18 der Richtlinie 2003/86 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Antrags auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung für ein minderjähriges Kind allein deshalb als unzulässig zurückgewiesen wird, weil das Kind im Lauf des gerichtlichen Verfahrens volljährig geworden ist.

49      Insoweit geht zum einen aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass diese Frage auf der Prämisse beruht, dass ein minderjähriges Kind, nachdem es im Lauf des gerichtlichen Verfahrens, das gegen die Ablehnung seines Antrags auf Familienzusammenführung angestrengt wurde, volljährig geworden ist, kein Interesse mehr an der Nichtigerklärung dieser ablehnenden Entscheidung habe, so dass sein Rechtsbehelf vom zuständigen Gericht zwingend zurückzuweisen sei.

50      Wie sich aus der Antwort auf die erste Frage in den Rechtssachen C‑133/19 und C‑136/19 sowie auf die Frage in der Rechtssache C‑137/19 ergibt, ist diese Prämisse jedoch unzutreffend, so dass in einer Situation wie der in der vorstehenden Randnummer dargestellten ein solcher Antrag auf Familienzusammenführung nicht allein deshalb abgelehnt werden kann, weil das betreffende Kind im Lauf des gerichtlichen Verfahrens volljährig geworden ist.

51      Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2003/86 zwar in ihrem Art. 5 Abs. 4 eine grundsätzliche Frist von neun Monaten vorsieht, innerhalb deren die zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats der Person, die den Antrag auf Familienzusammenführung gestellt hat, ihre Entscheidung mitzuteilen haben, dass sie aber dem Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags befasst ist, keine Frist zur Entscheidung setzt.

52      Art. 18 dieser Richtlinie verpflichtet jedoch die Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass der Zusammenführende oder seine Familienangehörigen gegen eine solche Entscheidung Rechtsbehelfe einlegen können, und das Verfahren und die Zuständigkeiten hinsichtlich der Ausübung dieses Rechts festzulegen.

53      Diese Bestimmung räumt den Mitgliedstaaten somit zwar einen gewissen Spielraum ein, insbesondere um zu regeln, wie ein Rechtsbehelf gegen eine Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung zu bearbeiten ist. Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten trotz dieses Spielraums bei der Umsetzung der Richtlinie 2003/86 verpflichtet sind, Art. 47 der Charta zu beachten, wonach jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen (Urteil vom 29. Juli 2019, Torubarov, C‑556/17, EU:C:2019:626, Rn. 55).

54      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 42 und 44 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, impliziert Art. 18 der Richtlinie 2003/86 in Verbindung mit Art. 47 der Charta, dass die nationalen Rechtsbehelfe, die es dem Zusammenführenden und seinen Familienangehörigen ermöglichen, gegen die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung gerichtlich vorzugehen, wirksam und real sein müssen.

55      Folglich kann ein solcher Rechtsbehelf nicht allein deshalb als unzulässig zurückgewiesen werden, weil das betreffende Kind während des gerichtlichen Verfahrens volljährig geworden ist.

56      Darüber hinaus kann entgegen dem Vorbringen einiger Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben haben, die Zurückweisung eines gegen die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung eingelegten Rechtsbehelfs als unzulässig nicht wie im vorliegenden Fall auf die Feststellung gestützt werden, dass für die Betroffenen an einer Entscheidung des angerufenen Gerichts kein Interesse mehr bestehe.

57      Es kann nämlich nicht ausgeschlossen werden, dass ein Drittstaatsangehöriger, dessen Antrag auf Familienzusammenführung abgelehnt wurde, weiterhin, auch nachdem er volljährig geworden ist, ein Interesse daran hat, dass das mit dem Rechtsbehelf gegen diese Ablehnung befasste Gericht eine Sachentscheidung trifft, da in einigen Mitgliedstaaten eine solche gerichtliche Entscheidung erforderlich ist, damit der Antragsteller eine Schadensersatzklage gegen den betreffenden Mitgliedstaat erheben kann.

58      Nach alledem ist auf die zweite Frage in den Rechtssachen C‑133/19 und C‑136/19 zu antworten, dass Art. 18 der Richtlinie 2003/86 in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung eines minderjährigen Kindes allein deshalb als unzulässig zurückgewiesen wird, weil das Kind im Lauf des gerichtlichen Verfahrens volljährig geworden ist.

 Kosten

59      Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreitigkeiten; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass der Zeitpunkt, auf den abzustellen ist, um zu bestimmen, ob ein unverheirateter Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser ein minderjähriges Kind im Sinne dieser Bestimmung ist, derjenige Zeitpunkt ist, zu dem der Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zwecke der Familienzusammenführung für minderjährige Kinder gestellt wird, und nicht derjenige Zeitpunkt, zu dem durch die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, gegebenenfalls nachdem ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines solchen Antrags eingelegt wurde, über den Antrag entschieden wird.

2.      Art. 18 der Richtlinie 2003/86 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung eines Antrags auf Familienzusammenführung eines minderjährigen Kindes allein deshalb als unzulässig zurückgewiesen wird, weil das Kind im Lauf des gerichtlichen Verfahrens volljährig geworden ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.