Language of document : ECLI:EU:C:2020:678

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

HENRIK SAUGMANDSGAARD ØE

vom 9. September 2020(1)

Rechtssachen C152/19 P und C165/19 P

Deutsche Telekom AG (C152/19 P),

Slovak Telekom a.s. (C165/19 P)

gegen

Europäische Kommission

„Rechtsmittel – Wettbewerb – Missbrauch einer beherrschenden Stellung – Slowakischer Markt der Breitband‑Internetzugänge – Vom etablierten Anbieter festgelegte Bedingungen für den entbündelten Zugang anderer Wirtschaftsteilnehmer zu den Teilnehmeranschlüssen – Beschluss, mit dem eine Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV und Art. 54 des EWR-Abkommens festgestellt wird – Zugangsverpflichtung aufgrund des Regelungsrahmens – Bronner-Rechtsprechung – Unanwendbarkeit – Zurechnung des Verhaltens der Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft – Begriff ‚wirtschaftliche Einheit‘ – Bestimmender Einfluss – Tatsächliche Ausübung – Bündel übereinstimmender Umstände“






I.      Einleitung

1.        In den vorliegenden Rechtssachen wird der Gerichtshof ersucht, erneut die Tragweite des Urteils Bronner(2) im normativen Umfeld von Art. 102 AEUV zu präzisieren. Bei jener Rechtssache ging es um die Weigerung eines beherrschenden Unternehmens, eine Infrastruktur, deren Inhaber es ist, Wettbewerbern zur Verfügung zu stellen.

2.        Die Klägerinnen, die Deutsche Telekom AG (im Folgenden: DT) in der Rechtssache C‑152/19 P und die Slovak Telekom, a.s. (im Folgenden: ST) in der Rechtssache C‑165/19 P, schlagen im Wesentlichen vor, die in Rn. 41 dieses Urteils festgelegten Voraussetzungen, vor allem die der Unentbehrlichkeit, auf die konstruktive Zugangsverweigerung anzuwenden, die sich nicht mehr aus einer ausdrücklichen Verweigerung seitens des beherrschenden Unternehmens, sondern aus unfairen Vertragsbedingungen ergebe.

3.        Aus den im Folgenden dargelegten Gründen werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, diesen Begriff „konstruktive Zugangsverweigerung“ zu verwerfen und die begrenzte Tragweite des Urteils Bronner hervorzuheben. Meines Erachtens ist das Urteil Bronner ein Sonderfall im normativen Umfeld von Art. 102 AEUV und soll dies auch bleiben.

4.        Ich werde dem Gerichtshof auch vorschlagen, den zweiten und den dritten Rechtsmittelgrund von DT in der Rechtssache C‑152/19 P zurückzuweisen. Bei der Prüfung dieser Rechtsmittelgründe wird der Gerichtshof die Möglichkeit haben, die Grundsätze für die Zurechenbarkeit des Verhaltens einer Tochtergesellschaft (ST) an die Muttergesellschaft (DT) in Erinnerung zu rufen, wobei die Beteiligung dieser Muttergesellschaft am Kapital der Tochtergesellschaft zu gering ist, um unter die in den Urteilen Akzo Nobel aufgestellte Vermutung zu fallen(3).

II.    Tatsächlicher und rechtlicher Kontext der Rechtsstreitigkeiten

5.        Der Sachverhalt der Rechtsstreitigkeiten ist in den Rn. 1 bis 11 des Urteils des Gerichts Deutsche Telekom/Kommission (im Folgenden: Urteil DT)(4) sowie in den Rn. 1 bis 11 des Urteils des Gerichts Slovak Telekom/Kommission (im Folgenden: Urteil ST)(5) dargelegt worden. Er kann wie folgt zusammengefasst werden.

6.        ST und DT sind etablierte Telekommunikationsanbieter in Deutschland bzw. in der Slowakei. Seit dem 4. August 2000 und während des gesamten im streitigen Beschluss relevanten Zeitraums, nämlich vom 12. August 2005 bis zum 31. Dezember 2010, war DT zu 51 % an ST beteiligt.

7.        Im Zusammenhang mit der Bereitstellung von Internetzugängen wird als Teilnehmeranschluss der physische Anschluss mit Doppelader-Metallleitung (auch „Leitung“ genannt) bezeichnet, über den der Netzabschlusspunkt in den Räumlichkeiten des jeweiligen Teilnehmers mit dem Hauptverteiler oder einer entsprechenden Einrichtung im öffentlichen Telefonfestnetz verbunden ist.

8.        Der entbündelte Zugang zum Teilnehmeranschluss ermöglicht es den üblicherweise als „alternative Anbieter“ bezeichneten Neueintretenden, die bereits bestehende, den etablierten Anbietern gehörende Telekommunikationsinfrastruktur zu nutzen, um den Endnutzern verschiedene Dienstleistungen anzubieten, wobei sie in Wettbewerb mit den etablierten Anbietern treten.

9.        Die Entbündelung des Teilnehmeranschlusses wurde auf der Ebene der Europäischen Union insbesondere durch die Verordnung (EG) Nr. 2887/2000(6) und die Richtlinie 2002/21/EG(7) geregelt.

10.      Dieser Regelungsrahmen verpflichtete die Betreiber, denen von der nationalen Regulierungsbehörde „eine beträchtliche Marktmacht“ zugeschrieben wurde, im Wesentlichen zur Gewährung eines entbündelten Zugangs zu ihren Teilnehmeranschlüssen sowie zu den damit verbundenen Dienstleistungen an alternative Anbieter zu transparenten, fairen und diskriminierungsfreien Bedingungen sowie zur Aufrechterhaltung eines Standardangebots für einen solchen entbündelten Zugang.

11.      Nach Durchführung einer Analyse ihres nationalen Marktes erließ die slowakische Regulierungsbehörde für den Telekommunikationssektor am 8. März 2005 eine Entscheidung, mit der sie ST als Betreiber mit beträchtlicher Marktmacht auf dem Vorleistungsmarkt für den Zugang zum entbündelten Teilnehmeranschluss im Sinne der Verordnung Nr. 2887/2000 bezeichnete. Diese Entscheidung wurde von ST angefochten und am 14. Juni 2005 vom Vorsitzenden dieser Behörde bestätigt.

12.      In Durchführung dieser Entscheidung veröffentlichte ST am 12. August 2005 ihr Standardangebot für entbündelte Teilnehmeranschlüsse. Dieses Dokument, das bis Ende 2010 neunmal geändert wurde, enthielt die vertraglichen und technischen Bedingungen für einen Zugang zu den Teilnehmeranschlüssen von ST.

13.      Das Angebot von ST deckte 75,7 % der slowakischen Haushalte sowie alle Teilnehmeranschlüsse, die zur Übertragung eines Breitbandsignals geeignet waren, ab. Im Zeitraum von 2005 bis 2010 wurden allerdings ab dem 18. Dezember 2009 nur wenige Teilnehmeranschlüsse von ST entbündelt. Letztere wurden von einem alternativen Anbieter im Hinblick auf die Bereitstellung von Breitbanddiensten für Geschäftskunden genutzt.

III. Streitiger Beschluss

14.      Am 15. Oktober 2014 erließ die Europäische Kommission einen Beschluss, mit dem sie die Zuwiderhandlung von ST und DT gegen Art. 102 AEUV und Art. 54 des EWR-Abkommens auf dem slowakischen Markt für Breitbandinternetdienste ahndete (im Folgenden: streitiger Beschluss)(8).

15.      Im streitigen Beschluss stellte die Kommission fest, dass das Unternehmen, das ST und DT bildeten, vom 12. August 2005 bis zum 31. Dezember 2010 in Bezug auf die Bedingungen, zu denen ST einen entbündelten Zugang zu ihren Teilnehmeranschlüssen gewährt habe, eine einzige und ununterbrochene Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV und Art. 54 des EWR-Abkommens begangen habe.

16.      Genauer gesagt bestand die von der Kommission festgestellte Zuwiderhandlung in den folgenden Verhaltensweisen:

–        Zurückhaltung netzrelevanter Informationen, die für die Entbündelung der Teilnehmeranschlüsse erforderlich sind, gegenüber alternativen Anbietern;

–        Verringerung des Umfangs der Verpflichtungen von ST in Bezug auf die entbündelten Teilnehmeranschlüsse;

–        Festsetzung unfairer Bedingungen im Standardangebot von ST für entbündelte Teilnehmeranschlüsse in Bezug auf Kollokation, Eignungsprüfung, Vorlage von Prognosen, Reparaturen und Bankbürgschaften, und

–        Anwendung unfairer Tarife, die es einem ebenso effizienten Wettbewerber, der auf der Vorleistungsebene auf den entbündelten Zugang zu den Teilnehmeranschlüssen von ST angewiesen ist, unmöglich machen, ebenso umfassende Breitbanddienste für Endkunden wie ST aufzubauen, ohne Verluste zu verzeichnen.

17.      Die Kommission verhängte gegen DT und ST gesamtschuldnerisch eine Geldbuße von 38 838 000 Euro und gegen DT eine Geldbuße von 31 070 000 Euro.

IV.    Verfahren vor dem Gericht und angefochtene Urteile

A.      Urteil DT

18.      Zur Stützung ihrer Klage vor dem Gericht machte DT die folgenden fünf Klagegründe geltend:

–        Rechts- und Tatsachenfehler bei der Anwendung von Art. 102 AEUV auf das missbräuchliche Verhalten von ST und Verletzung der Verteidigungsrechte,

–        Rechts- und Tatsachenfehler hinsichtlich der Dauer des missbräuchlichen Verhaltens von ST,

–        Rechts- und Tatsachenfehler bei der Zurechnung des missbräuchlichen Verhaltens von ST an DT, weil die Kommission nicht den Nachweis der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf ST geführt habe,

–        Verstoß gegen den unionsrechtlichen Unternehmensbegriff und gegen den Grundsatz der individuellen Straffestsetzung sowie Begründungsmangel und

–        Fehler bei der Berechnung der gegen ST und DT verhängten Geldbuße.

19.      Mit dem Urteil DT erklärte das Gericht den streitigen Beschluss teilweise für nichtig. Sodann setzte es die Geldbuße, für die DT gesamtschuldnerisch haftete, auf 38 061 963 Euro, und die Geldbuße, für die DT allein haftete, auf 19 030 981 Euro fest. Im Übrigen wurde die Klage von DT abgewiesen.

B.      Urteil ST

20.      Zur Stützung ihrer Klage vor dem Gericht machte ST die folgenden fünf Klagegründe geltend:

–        offensichtliche Beurteilungs- und Rechtsfehler bei der Anwendung von Art. 102 AEUV,

–        Verletzung ihrer Verteidigungsrechte bei der Beurteilung der Margenbeschneidung,

–        Fehler bei der Feststellung der Margenbeschneidung,

–        offensichtliche Beurteilungs- und Rechtsfehler bei der Feststellung der Kommission, dass sie und DT zu einem einheitlichen Unternehmen gehörten und beide für die in Rede stehende Zuwiderhandlung verantwortlich seien,

–        hilfsweise, Fehler bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße.

21.      Mit dem Urteil ST erklärte das Gericht den streitigen Beschluss teilweise für nichtig. Sodann setzte es die Geldbuße, für die ST gesamtschuldnerisch haftete, auf 38 061 963 Euro fest und wies die Klage von ST im Übrigen ab.

V.      Zu den beim Gerichtshof eingelegten Rechtsmitteln

A.      Von DT gegen das Urteil DT eingelegtes Rechtsmittel

22.      Zur Stützung ihres Rechtsmittels in der Rechtssache C‑152/19 P gegen das Urteil DT macht DT die folgenden vier Rechtsmittelgründe geltend:

–        unrichtige Auslegung und Anwendung des Rechtssatzes, wonach die Verweigerung des Zugangs nur dann eine Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV darstellt, wenn der begehrte Zugang unentbehrlich für die Tätigkeit auf einem nachgelagerten Markt ist,

–        unrichtige Auslegung und Anwendung des Rechtssatzes, wonach der bestimmende Einfluss einer Muttergesellschaft auf ihre Tochtergesellschaft tatsächlich ausgeübt worden sein muss, damit der Muttergesellschaft eine von ihrer Tochtergesellschaft begangene Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV zugerechnet werden kann,

–        unrichtige Anwendung des Rechtssatzes, dass die Tochtergesellschaft im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt haben muss, damit der Muttergesellschaft eine von ihrer Tochtergesellschaft begangene Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV zugerechnet werden kann, und

–        Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren.

23.      Zudem begehrt DT, dass ihr der mögliche Erfolg eines von ST in der Rechtssache C‑165/19 P vorgebrachten Rechtsmittelgrundes zugutekommt, dessen Gegenstand mit dem dritten Teil des ersten, von DT vor dem Gericht geltend gemachten Klagegrundes identisch sei, und zwar im Rahmen der Berechnung der langfristigen durchschnittlichen Grenzkosten als wesentliche Grundlage der Feststellung einer missbräuchlichen Kosten-Preis-Schere.

24.      Mit ihrem Rechtsmittel beantragt DT,

–        das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit es ihre Klage abweist;

–        den streitigen Beschluss für ganz oder teilweise nichtig zu erklären, soweit er sie betrifft, hilfsweise, die gegen sie verhängten Geldbußen aufzuheben oder weiter herabzusetzen;

–        hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das Gericht zurückzuverweisen, und

–        der Kommission sämtliche Kosten aufzuerlegen, die sich aus dem vorliegenden Verfahren und dem Verfahren vor dem Gericht ergeben.

25.      Die Kommission beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen und DT die Kosten aufzuerlegen.

B.      Von ST gegen das Urteil ST eingelegtes Rechtsmittel

26.      Zur Stützung ihres Rechtsmittels in der Rechtssache C‑165/19 P gegen das Urteil ST macht ST die folgenden drei Rechtsmittelgründe geltend:

–        Rechtsfehler bei der Feststellung eines Missbrauchs im Sinne von Art. 102 AEUV in Form einer Kontrahierungsverweigerung,

–        Verletzung der Verteidigungsrechte bei der Beurteilung der Margenbeschneidung und

–        Rechtsfehler bei der Beurteilung des Vorliegens einer Margenbeschneidung.

27.      Zudem begehrt ST, dass ihr der mögliche Erfolg eines von DT in der Rechtssache C‑152/19 P vorgebrachten Rechtsmittelgrundes zugutekommt, dessen Gegenstand mit dem vierten, von ST vor dem Gericht vorgebrachten Klagegrund identisch sei, betreffend die Feststellung der Kommission, dass sie und DT zu einem einheitlichen Unternehmen gehörten und beide für die in Rede stehende Zuwiderhandlung verantwortlich seien.

28.      Mit ihrem Rechtsmittel beantragt ST,

–        das angefochtene Urteil ganz oder teilweise aufzuheben;

–        den streitigen Beschluss ganz oder teilweise für nichtig zu erklären;

–        hilfsweise, die gegen sie verhängte Geldbuße für nichtig zu erklären oder herabzusetzen, und

–        der Kommission die Kosten des vorliegenden Verfahrens und des Verfahrens vor dem Gericht aufzuerlegen.

29.      Die Kommission beantragt, das Rechtsmittel zurückzuweisen und ST die Kosten aufzuerlegen.

VI.    Verfahren vor dem Gerichtshof

30.      In der Rechtssache C‑152/19 P hat DT ihr Rechtsmittel gegen das Urteil DT am 21. Februar 2019 eingelegt. Die Kommission hat schriftliche Erklärungen eingereicht.

31.      In der Rechtssache C‑165/19 P hat ST ihr Rechtsmittel gegen das Urteil ST am 22. Februar 2019 eingelegt. Die Kommission hat schriftliche Erklärungen eingereicht.

32.      Die Kommission, DT und ST sind zu der gemeinsamen mündlichen Verhandlung der beiden Rechtssachen am 17. Juni 2020 erschienen, um mündliche Ausführungen zu machen.

VII. Würdigung

33.      Entsprechend dem Ersuchen des Gerichtshofs werden sich die vorliegenden Schlussanträge auf die ersten drei Rechtsmittelgründe, die DT in der Rechtssache C‑152/19 P vorgebracht hat, und auf den ersten von ST in der Rechtssache C‑165/19 P vorgebrachten Rechtsmittelgrund konzentrieren.

A.      Erster Rechtsmittelgrund von DT und erster Rechtsmittelgrund von ST

34.      Mit ihrem jeweils ersten Rechtsmittelgrund rügen DT und ST Rechtsfehler, die das Gericht in Bezug auf die im Urteil Bronner aufgestellte Voraussetzung der Unentbehrlichkeit begangen haben soll, die bei der Beurteilung des Vorliegens eines Missbrauchs im Sinne von Art. 102 AEUV eine Rolle spielt.

35.      Diese beiden Rechtsmittelgründe überschneiden sich weitgehend, ebenso wie die einschlägigen Passagen des Urteils DT (Rn. 86 bis 116) und des Urteils ST (Rn. 92 bis 154), so dass es zweckmäßig ist, sie gemeinsam zu behandeln.

36.      Bevor ich mit der Prüfung des Vorbringens von ST und DT beginne, halte ich es für zweckmäßig, darauf einzugehen, worin die betreffenden Praktiken bestanden.

37.      Aus den Rn. 92 bis 94 des Urteils DT sowie aus den Rn. 113 und 114 des Urteils ST geht hervor, dass DT und ST nicht bestreiten, dass die von der Kommission im siebten Abschnitt des streitigen Beschlusses festgestellten Verhaltensweisen begangen wurden (im Folgenden: in Rede stehende Praktiken). Es sind dies:

–        Zurückhaltung von für das Netz von ST relevanten Informationen, die für die Entbündelung des Teilnehmeranschlusses dieses Anbieters erforderlich sind, gegenüber alternativen Anbietern,

–        Verringerung ihrer gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf die entbündelten Teilnehmeranschlüsse durch ST und

–        Festsetzung mehrerer unfairer Klauseln und Bedingungen in ihrem Standardangebot für entbündelte Teilnehmeranschlüsse durch ST.

38.      Diese tatsächlichen Umstände wurden vor dem Gericht nicht in Abrede gestellt und sind daher im Rahmen des vorliegenden Verfahrens als endgültig festgestellt anzusehen.

1.      Zusammenfassung des Vorbringens von DT und ST

39.      DT und ST machen im Wesentlichen geltend, das Gericht habe zu Unrecht entschieden, dass die Kommission bei der Einstufung der in Rede stehenden Praktiken als eine „einzige und ununterbrochene“ Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV nicht habe nachweisen müssen, dass der Zugang zu den Teilnehmeranschlüssen im Sinne des Urteils Bronner für die Ausübung der Tätigkeit der konkurrierenden Anbieter auf dem Endkundenmassenmarkt unentbehrlich gewesen sei, da eine regulatorische Zugangsverpflichtung bestanden habe.

40.      Der Klarheit halber werde ich die Struktur des ersten von ST geltend gemachten Rechtsmittelgrundes übernehmen, der aus fünf Teilen besteht.

41.      Im Rahmen des ersten Teils ihres ersten Rechtsmittelgrundes trägt ST zum einen vor, das Gericht habe in den Rn. 151 und 152 des Urteils ST zu Unrecht festgestellt, dass die im Urteil Bronner für die Anwendung von Art. 102 AEUV aufgestellten Voraussetzungen nicht anwendbar seien, weil eine regulatorische Ex-ante-Zugangsverpflichtung bestehe. Diese Schlussfolgerung berücksichtige nicht, dass sich die Ex-post-Kontrolle gemäß Art. 102 AEUV grundlegend von den regulatorischen Ex-ante-Kontrollen durch die slowakische Regulierungsbehörde für den Telekommunikationssektor unterscheide(9).

42.      ST macht zum anderen geltend, das Gericht habe in Rn. 121 des Urteils ST zu Unrecht festgestellt, dass die Kommission nicht habe prüfen müssen, ob die Bronner-Voraussetzung der „Unentbehrlichkeit“ erfüllt sei, da in einer Ex-ante-Regelung bereits die „Notwendigkeit“ des Zugangs zum Teilnehmeranschluss der Klägerin festgelegt sei. Die Beurteilung der „Notwendigkeit“ aufgrund des Regelungsrahmens unterscheide sich grundlegend von der Beurteilung der „Unentbehrlichkeit“ im Zusammenhang mit Art. 102 AEUV.

43.      In ähnlicher Weise macht DT geltend, das Gericht habe in Rn. 101 des Urteils DT zu Unrecht entschieden, dass die regulatorische Zugangsverpflichtung die Unerlässlichkeit des Zugangs im Sinne des Urteils Bronner ersetze. Eine ex ante festgesetzte regulatorische Zugangsverpflichtung und das ex post geprüfte Erfordernis der Unerlässlichkeit im Sinne des Urteils Bronner beruhten auf völlig unterschiedlichen Erwägungen.

44.      DT kritisiert auch die Bezugnahme auf das Urteil Deutsche Telekom/Kommission(10) in Rn. 97 des Urteils DT, da es in diesem Urteil nicht um das Verhältnis zwischen regulatorischer Zugangsverpflichtung und der Unerlässlichkeit im Sinne des Urteils Bronner gehe.

45.      Mit dem zweiten Teil macht ST geltend, das Gericht habe in den Rn. 126 und 127 des Urteils ST fälschlicherweise aus dem Urteil TeliaSonera Sverige(11) abgeleitet, dass die Bronner-Voraussetzungen nicht gelten sollten. ST weist darauf hin, dass es bei den Rn. 55 bis 58 des Urteils TeliaSonera Sverige um eine Margenbeschneidung gehe, während dieser Gesellschaft die Weigerung, mit alternativen Marktteilnehmern zu kontrahieren, vorgeworfen werde. Nach Ansicht von ST muss eine solche Weigerung anhand der Rechtsprechung zur Kontrahierungsverweigerung beurteilt werden, zu der das Urteil Bronner gehöre.

46.      DT trägt ein ähnliches Argument vor, um das Vorliegen eines Rechtsfehlers in Rn. 109 des Urteils DT geltend zu machen.

47.      Mit dem dritten Teil macht ST geltend, das Gericht habe in den Rn. 138 und 139 des Urteils ST dadurch einen Rechtsfehler begangen, dass es entschieden habe, dass das Urteil des Gerichts Clearstream/Kommission(12) für die Beurteilung des Verhaltens von ST deshalb nicht einschlägig sei, weil in jener Rechtssache keine regulatorische Verpflichtung bestanden habe, die in Rede stehende Dienstleistung zu erbringen und dem beherrschenden Unternehmen seine wirtschaftliche Stellung nicht aus einem gesetzlichen Monopol erwachsen sei.

48.      Mit dem vierten Teil macht ST geltend, das Gericht habe in den Rn. 133 und 134 des Urteils ST zu Unrecht bestätigt, dass im Fall einer ausdrücklichen oder kategorischen Kontrahierungsverweigerung die strengen Voraussetzungen des Urteils Bronner erfüllt sein müssten, damit sie im Sinne von Art. 102 AEUV als „missbräuchlich“ eingestuft werden könne, während diese Voraussetzungen auf eine konstruktive Kontrahierungsverweigerung nicht anwendbar seien. Diese Auffassung des Gerichts führe dazu, dass ein schwerwiegenderes Verhalten (die ausdrückliche Kontrahierungsverweigerung) günstiger behandelt werde als ein weniger schwerwiegendes Verhalten (die konstruktive Kontrahierungsverweigerung). Nach Ansicht von ST ist das Urteil des Gerichts insoweit auch mit einem Begründungsmangel behaftet.

49.      DT bringt ein ähnliches Argument in Bezug auf Rn. 111 des Urteils DT vor und rügt die Ungleichbehandlung der ausdrücklichen Zugangsverweigerung, wie sie im Urteil Bronner in Rede stehe, und der konstruktiven Zugangsverweigerung, wie sie in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehe.

50.      Mit dem fünften und letzten Teil trägt ST vor, das Gericht habe in den Rn. 153 und 154 des Urteils ST zu Unrecht festgestellt, dass das ehemalige staatliche Monopol von ST eine Rechtsgrundlage für die Nichtanwendung der Bronner-Voraussetzungen sei. Das einzige Urteil, das das Gericht insoweit anführe, nämlich das Urteil Post Danmark(13), stütze diesen Standpunkt in keiner Weise. Zudem verlange das Urteil Bronner eine Beurteilung der Unentbehrlichkeit zum Zeitpunkt des behaupteten Missbrauchs, so dass das Vorliegen eines gesetzlichen Monopols in der Vergangenheit irrelevant sei.

2.      Erwiderung auf das Vorbringen von DT und ST

51.      Das gesamte Vorbringen von DT und ST beruht auf einer Prämisse, nämlich der, dass die Missbräuchlichkeit der in Rede stehenden Praktiken nicht festgestellt werden könne, ohne dass die Unentbehrlichkeit im Sinne des Urteils Bronner geprüft sei.

52.      Mit anderen Worten ist das gesamte Vorbringen von DT und ST als unbegründet oder ins Leere gehend zurückzuweisen, wenn das Urteil Bronner für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit dieser Praktiken nicht einschlägig ist.

53.      Ich bin jedoch aus den nachstehend dargelegten Gründen tatsächlich der Überzeugung, dass das Urteil Bronner im vorliegenden Fall nicht einschlägig ist.

54.      Ganz allgemein bietet diese Rechtssache dem Gerichtshof eine Gelegenheit, die Tragweite des Urteils Bronner, die Gegenstand zahlreicher Fragen in der mündlichen Verhandlung gewesen ist zu klären.

55.      Im Wesentlichen werde ich im Folgenden zeigen, dass das Urteil Bronner im normativen Umfeld von Art. 102 AEUV ein Sonderfall ist. Die Tragweite dieser Fallkonstellation ist eng auszulegen, um die praktische Wirksamkeit von Art. 102 AEUV zu wahren(14). Mit anderen Worten gilt der Grundsatz, dass die Bronner-Voraussetzungen bei der Beurteilung des Vorliegens einer Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV nicht anzuwenden sind.

a)      Fallkonstellation und im Urteil Bronner aufgestellte Voraussetzungen

56.      Die Fallkonstellation, mit der es der Gerichtshof im Urteil Bronner zu tun hatte, ist in Rn. 37 dieses Urteils eindeutig bestimmt worden: Im Wesentlichen hat der Gerichtshof geprüft, ob es als „Missbrauch“ im Sinne von Art. 102 AEUV eingestuft werden kann, wenn „der Betreiber des einzigen im gesamten Gebiet eines Mitgliedstaats bestehenden Hauszustellungssystems, der dieses System für den Vertrieb seiner eigenen Tageszeitungen benutzt, dem Verleger einer Konkurrenztageszeitung den Zugang zu diesem System verweigert“.

57.      Mit anderen Worten geht es bei der Fallkonstellation, die dem Urteil Bronner zugrunde liegt, um die Weigerung eines beherrschenden Unternehmens, eine Infrastruktur, deren Inhaber es ist – in diesem Fall ein Hauszustellungssystem –, einem oder mehreren Konkurrenzunternehmen zur Verfügung zu stellen. Der Einfachheit halber werde ich in der Folge in den vorliegenden Schlussanträgen für diese Fallkonstellation den Ausdruck „Verweigerung der Zurverfügungstellung“ verwenden.

58.      Diese Grundsatzfrage unterscheidet sich nicht wesentlich von der Frage, welchen Einschränkungen der Inhaber eines Rechts des geistigen Eigentums die Ausübung seines ausschließlichen Rechts gemäß Art. 102 AEUV unterwerfen darf. Darauf sind die zahlreichen Verweise auf das Urteil RTE und ITP/Kommission, genannt „Urteil Magill“(15), im Urteil Bronner zurückzuführen.

59.      In Rn. 41 des Urteils Bronner hat der Gerichtshof mehrere Voraussetzungen aufgestellt, die erfüllt sein müssen, damit eine Verweigerung der Zurverfügungstellung einen Missbrauch im Sinne von Art. 102 AEUV darstellen kann. Um die vom Gerichtshof verwendeten Begriffe zu verwenden, muss zu diesem Zweck „die Verweigerung der in der Hauszustellung liegenden Dienstleistung zum einen geeignet [sein], jeglichen Wettbewerb auf dem Tageszeitungsmarkt durch denjenigen, der die Dienstleistung begehrt, auszuschalten, und nicht objektiv zu rechtfertigen [sein], und zum anderen die Dienstleistung selbst für die Ausübung der Tätigkeit des Wettbewerbers in dem Sinne unentbehrlich [sein], dass kein tatsächlicher oder potenzieller Ersatz für das Hauszustellungssystem bestünde“.

60.      Ich leite aus Rn. 41 des Urteils Bronner drei Voraussetzungen ab, die erfüllt sein müssen, damit eine Verweigerung der Zurverfügungstellung als „missbräuchlich“ eingestuft werden kann (im Folgenden: Bronner-Voraussetzungen):

–        die Verweigerung der Zurverfügungstellung muss geeignet sein, jeglichen Wettbewerb auf dem relevanten Markt durch das konkurrierende Unternehmen auszuschalten;

–        die Weigerung darf nicht objektiv gerechtfertigt sein;

–        die in Rede stehende Infrastruktur muss für die Ausübung der Tätigkeit des Wettbewerbers in dem Sinne unentbehrlich sein, dass kein tatsächlicher oder potenzieller Ersatz vorhanden ist.

b)      Zur Bedeutung der vorliegenden Rechtssache für die Wettbewerbspolitik in der Union

61.      Nach Ansicht von DT und ST können die in Rede stehenden Praktiken nur dann als „missbräuchlich“ im Sinne von Art. 102 AEUV eingestuft werden, wenn die Bronner-Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Die Kommission hingegen macht geltend, die Bronner-Rechtsprechung sei auf solche Verhaltensweisen nicht anwendbar.

62.      Ich möchte in diesem Stadium auf die weit über den bloßen Rechtsstreit zwischen diesen Parteien hinausgehende Bedeutung der vorliegenden Rechtssache hinweisen.

63.      Die Bronner-Voraussetzungen unterwerfen die Feststellung eines Missbrauchs einem besonders hohen rechtlichen Standard. Sie stellen eine Art „Gipfel“ im normativen Umfeld von Art. 102 AEUV dar.

64.      Daher bringt logischerweise jede Ausweitung der Tragweite der Bronner-Rechtsprechung eine Verringerung der praktischen Wirksamkeit von Art. 102 AEUV sowie gleichzeitig eine Schwächung der Befugnis der Kommission mit sich, missbräuchliche Praktiken zu bekämpfen. In der Praxis wird die Kommission bedeutend schwerwiegendere Beweise beibringen müssen, um das Vorliegen eines Missbrauchs festzustellen. Dementsprechend werden die Unternehmen in beherrschender Stellung über einen größeren Handlungsspielraum verfügen, da ihr Verhalten nur mehr geahndet wird, wenn alle Bronner-Voraussetzungen erfüllt sind.

65.      Bildhafter gesprochen führt jede Ausweitung der Bronner-Rechtsprechung zum bloßen Verbot von „Supermissbrauch“ einer beherrschenden Stellung, nämlich von Missbrauch, der die Bronner-Voraussetzungen erfüllt. Umgekehrt werden keinerlei Praktiken eines Unternehmens in beherrschender Stellung mehr geahndet, die unter eine der drei folgenden Fallkonstellationen fallen:

–        die Praxis schaltet nicht jeglichen Wettbewerb auf dem relevanten Markt durch das konkurrierende Unternehmen aus (erste umgekehrte Bronner-Voraussetzung),

–        sie ist objektiv gerechtfertigt (zweite umgekehrte Bronner-Voraussetzung), oder

–        sie betrifft keine Waren oder Dienstleistungen, die für die Ausübung der Tätigkeit des Wettbewerbers unentbehrlich sind (dritte umgekehrte Bronner-Voraussetzung).

c)      Zu Sinn und Zweck der Bronner-Voraussetzungen

66.      Nachdem die Bedeutung der vorliegenden Rechtssache dargelegt worden ist, stellt sich nunmehr die Frage nach Sinn und Zweck der Bronner-Voraussetzungen, die als solche im Wortlaut von Art. 102 AEUV nicht vorgesehen sind.

67.      Warum hat der Gerichtshof bei der Beurteilung des missbräuchlichen Charakters einer Verweigerung der Zurverfügungstellung einen höheren rechtlichen Maßstab festgelegt, während die sonstigen Praktiken beherrschender Unternehmen – wie die Festlegung eines unangemessenen Preises(16), einer Kosten-Preis-Schere(17) oder sonstiger unangemessener Vertragsbedingungen(18) – geprüft werden, ohne dass die Bronner-Voraussetzungen jemals angewendet würden?

68.      Meines Erachtens wird in den Schlussanträgen des Generalanwalts Jacobs in der Rechtssache Bronner(19) eine klare Antwort auf diese Frage gegeben. Im Kern besteht ein grundlegender Unterschied zwischen der Ahndung der Klauseln eines Vertrags, insbesondere des vereinbarten Preises, mit der Begründung, dass sie ein Unternehmen bevorzugen, das aufgrund seiner beherrschenden Stellung nicht der Marktdisziplin unterworfen ist, und der Ahndung einer Verweigerung der Zurverfügungstellung. Die Ahndung einer Verweigerung der Zurverfügungstellung, wodurch ein Unternehmen letztlich zum Abschluss eines Vertrags verpflichtet wird, beeinträchtigt die Freiheit von Unternehmen erheblich stärker.

69.      Diese Unterschiedlichkeit rechtfertigt den im Urteil Bronner aufgestellten höheren rechtlichen Standard. Dies ist auch die Rechtfertigung der von Generalanwalt Jacobs in den Nrn. 45 ff. seiner Schlussanträge in der Rechtssache Bronner detailliert dargelegten „essential facilities“-Doktrin des Wettbewerbsrechts der Vereinigten Staaten. Er hat diese Unterschiedlichkeit auch unter Hinweis auf die Notwendigkeit einer doppelten Abwägung erläutert.

70.      Bei der ersten Abwägung stehen einander Grundrechte und freier Wettbewerb gegenüber.

71.      So hat Generalanwalt Jacobs in Nr. 56 seiner Schlussanträge ausgeführt, dass „das Recht, den Handelspartner auszuwählen und über das Eigentum frei zu verfügen, offenbar allgemein anerkannten Grundsätzen der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten [entspricht], in manchen Fällen mit verfassungsrechtlichem Status. Eingriffe in diese Rechte sind sorgfältig zu begründen“.

72.      Mittlerweile widmen sich die Art. 16 und 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union der unternehmerischen Freiheit, die die Vertragsfreiheit einschließt(20), bzw. dem Eigentumsrecht.

73.      Die einem Unternehmen in beherrschender Stellung möglicherweise nach Art. 102 AEUV auferlegte Verpflichtung, eine Infrastruktur, deren Inhaber es ist, Wettbewerbern zur Verfügung zu stellen, stellt einen schwerwiegenden und spezifischen Eingriff in die Vertragsfreiheit und in das Eigentumsrecht dieses Unternehmens dar.

74.      Aufgrund dieses schwerwiegenden und spezifischen Eingriffs in die oben genannten Grundrechte hat der Gerichtshof für eine solche Fallkonstellation zu Recht zusätzliche Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 102 AEUV aufgestellt. Dabei hat er den – schwerwiegenderen – Eingriff in die Grundrechte des Unternehmens in beherrschender Stellung, der in der Verpflichtung besteht, sein Eigentum zur Verfügung zu stellen, mit den – strengeren – Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 102 AEUV in einer solchen Fallkonstellation, nämlich den Bronner-Voraussetzungen, zum Ausgleich gebracht.

75.      Bei der zweiten Abwägung stehen kurzfristige und langfristige Vorteile für den Wettbewerb sowie letztlich für die Verbraucher einander gegenüber.

76.      In Nr. 57 seiner Schlussanträge führt Generalanwalt Jacobs insoweit aus, dass „es zur wettbewerbspolitischen Rechtfertigung eines Eingriffs in die Kontrahierungsfreiheit eines marktbeherrschenden Unternehmens oft eines bedachtsamen Abwägens widerstreitender Argumente [bedarf]. Im Allgemeinen fördert es langfristig den Wettbewerb und liegt im Interesse der Verbraucher, wenn einem Unternehmen erlaubt wird, Einrichtungen, die es für seine eigene Geschäftstätigkeit entwickelt hat, nur selbst zu verwenden. … Überdies würde für ein marktbeherrschendes Unternehmen der Anreiz, Investitionen in leistungsfähige Einrichtungen zu tätigen, gemindert werden, wenn seine Wettbewerber auf ihr Ersuchen hin in die Lage versetzt würden, an den Gewinnen teilzuhaben“.

77.      In Nr. 62 seiner Schlussanträge stellt Generalanwalt Jacobs ähnliche Erwägungen zu Fällen an, in denen die Erteilung einer Lizenz zur Nutzung von Rechten an geistigem Eigentum abgelehnt wird: „Werden derartige ausschließliche Rechte auf bestimmte Zeit gewährt, so bedarf es schon hier einer Abwägung zwischen dem Interesse an einem freien Wettbewerb und dem Interesse daran, einen Anreiz zur Forschung, Entwicklung und schöpferischen Tätigkeit zu schaffen. Daher hat der Gerichtshof zu Recht die Auffassung vertreten, dass die Weigerung, eine Lizenz zu erteilen, nicht schon als solche – in Ermangelung weiterer Umstände – einen Missbrauch darstelle.“

78.      Somit wird die Festlegung eines höheren rechtlichen Standards für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Verweigerung der Zurverfügungstellung auch durch wirtschaftliche Erwägungen gerechtfertigt, die darauf abzielen, die langfristigen Vorteile für den Wettbewerb in Bezug auf Investitionen und Kreativität zu sichern.

79.      Zusammenfassend lässt sich sagen, dass durch diese doppelte Abwägung, erstens zwischen den Grundrechten und dem freien Wettbewerb, und zweitens zwischen den kurzfristigen und den langfristigen Vorteilen für den Wettbewerb, die unterschiedliche Natur einer Ahndung der Klauseln eines Vertrags und der Ahndung einer Verweigerung der Zurverfügungstellung deutlich wird. Diese unterschiedliche Natur ist der Grund dafür, dass im Urteil Bronner ein höherer rechtlicher Standard für die Beurteilung der Missbräuchlichkeit einer Verweigerung der Zurverfügungstellung festgelegt wurde.

d)      Zum irreführenden Charakter des Begriffs „konstruktive Zugangsverweigerung“

80.      Eines der von DT und ST zugunsten der Anwendung der Bronner-Voraussetzungen auf die in Rede stehenden Praktiken vorgebrachten Argumente orientiert sich am Begriff „konstruktive Zugangsverweigerung“. Nach Ansicht von DT und ST ist die Bronner-Rechtsprechung nicht nur dann anzuwenden, wenn es sich um eine ausdrückliche Zugangsverweigerung wie die vom Gerichtshof in Rn. 37 des Urteils Bronner in Erwägung gezogene handelt, sondern auch bei unfairen Vertragsbedingungen, die von Unternehmen in beherrschender Stellung auferlegt werden und de facto zum gleichen Ergebnis führen, also im Fall einer konstruktiven Zugangsverweigerung.

81.      Ich kann die Attraktivität des Begriffs „konstruktive Zugangsverweigerung“ verstehen, da bestimmte unfaire Vertragsbedingungen in bestimmten Fällen den Abschluss eines Vertrags ausschließen können. Ich weise jedoch sofort darauf hin, dass die künstliche Konzentration auf diese Auswirkung bestimmter vertraglicher Bedingungen dazu führen würde, den größeren Prüfungsrahmen außer Acht zu lassen, auf den das Urteil Bronner gestützt ist, insbesondere die doppelte Abwägung, deren Inhalt ich soeben dargelegt habe.

82.      Es liegt auf der Hand, dass ein Unternehmen in beherrschender Stellung, wie das von DT und ST gebildete, ein strategisches Interesse daran hat, eine solche Argumentation rund um den Begriff „konstruktive Verweigerung“ aufzubauen. Wie ich in den Nrn. 62 bis 65 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, ermöglichte die Ausweitung der Bronner-Voraussetzungen auf neue Praktiken gleichzeitig eine Minderung der praktischen Wirksamkeit von Art. 102 AEUV, eine Einschränkung der Befugnis der Kommission und eine Ausweitung des Handlungsspielraums von Unternehmen in beherrschender Stellung.

83.      Weniger einleuchtend ist es für mich hingegen, warum die Kommission auf dieser Unterscheidung beharrt, sei es in dieser Form oder unter Verwendung einer anderen Terminologie unter Gegenüberstellung einer kategorischen und einer konstruktiven Zugangsverweigerung. Die Kommission, die hierzu in der mündlichen Verhandlung wiederholt befragt worden ist, hatte Schwierigkeiten zu erklären, warum die in Rede stehenden Praktiken nicht als „konstruktive Zugangsverweigerung“ eingestuft werden könnten.

84.      In Wirklichkeit liegt die Ursache für diese Schwierigkeiten im irreführenden Charakter des Begriffs „konstruktive Zugangsverweigerung“ selbst. Dieser Begriff, der weder im Urteil Bronner noch in den Schlussanträgen des Generalanwalts Jacobs in jener Rechtssache eine Stütze findet, hat nämlich eine elastische, potenziell unbegrenzte Tragweite. Zur Veranschaulichung könnte man fragen, ob nicht die Festsetzung eines unangemessenen Preises eine konstruktive Zugangsverweigerung darstellt.

85.      Im Extremfall könnte man die Frage stellen, ob nicht jeder Missbrauch in gewisser Weise eine konstruktive Zugangsverweigerung darstellt, da jeder durch das beherrschende Unternehmen auferlegte Nachteil geeignet ist, potenzielle Kunden davon abzuhalten, die von ihm angebotenen Waren und Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen.

86.      Es ist jedoch festzustellen, dass der Gerichtshof die Bronner-Voraussetzungen oder ein gleichwertiges rechtliches Kriterium nie auf unfaire Vertragsbedingungen angewandt hat. Besonders auffällig ist diese fehlende Relevanz der Bronner-Voraussetzungen im Zusammenhang mit Preispraktiken, die – wenn ein solcher Begriff existierte – wegen der entscheidenden Bedeutung des Preises für den Wettbewerb konstruktive Zugangsverweigerungen par excellence wären. In seiner sehr alten Rechtsprechung zu unangemessenen Preisen hat der Gerichtshof jedoch nicht auf ein den Bronner-Voraussetzungen gleichwertiges rechtliches Kriterium zurückgegriffen(21).

87.      Auch in jüngerer Zeit hat der Gerichtshof in zwei Urteilen betreffend die Preispraktiken einer Verwertungsgesellschaft die Bronner-Voraussetzungen nicht angewandt, obwohl vernünftigerweise angenommen werden kann, dass ihre Dienstleistungen für bestimmte nachgelagerte Tätigkeiten unentbehrlich waren(22). Der Gerichtshof hat in den Urteilen TeliaSonera Sverige(23) sowie Telefónica und Telefónica de España/Kommission(24) die Relevanz des Urteils Bronner auch in Bezug auf die Margenbeschneidung, eine besondere Kategorie der missbräuchlichen Preispraktik, verneint.

88.      Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Gerichtshof die Bronner-Voraussetzungen nie auf missbräuchliche Preispraktiken angewandt hat, obwohl diese Praktiken konstruktive Zugangsverweigerungen par excellence wären.

89.      Würde man daher heute solche Praktiken den konstruktiven Zugangsverweigerungen gleichsetzen, so liefe dies auf eine Umkehrung großer Teile der Rechtsprechung zu missbräuchlichen Praktiken hinaus und darauf, die Bronner-Voraussetzungen in den Kern von Art. 102 AEUV aufzunehmen. Das Urteil Bronner würde zum Grundsatz und wäre nicht bloß ein Sonderfall, was dem Wortlaut von Art. 102 AEUV zuwiderliefe, dessen Tragweite nicht auf Missbrauch beschränkt ist, der Waren und Dienstleistungen betrifft, die im Sinne dieses Urteils „unentbehrlich“ sind.

90.      Um die Tragweite dieses Begriffs „konstruktive Verweigerung“ zu begrenzen, könnte man es für angezeigt halten, ihn auf die schwerwiegendsten missbräuchlichen Praktiken zu beschränken. Zur Veranschaulichung: Nur ein sehr unangemessener Preis würde als „konstruktive Zugangsverweigerung“ eingestuft, die zur Anwendung der Bronner-Voraussetzungen führte, leicht unangemessene Preise blieben „einfacher“ Missbrauch.

91.      Diesen Weg zu wählen, wäre meines Erachtens ein schwerer Fehler. Dieser würde im Kernbereich des Wettbewerbsrechts, in dem die Rechtssicherheit für die Unternehmen von herausragender Bedeutung ist, eine beträchtliche Quelle für Willkür schaffen. Die Trennlinie zwischen konstruktiver Zugangsverweigerung und einfachem Missbrauch kann nur willkürlich sein(25).

92.      Zudem würde eine Neueinstufung der missbräuchlichsten Praktiken als „konstruktive Zugangsverweigerung“ zu einer, gelinde gesagt, paradoxen Situation führen. Sie würde nämlich zu einer Anwendung der Bronner-Kriterien auf die – als „konstruktive Zugangsverweigerung“ eingestuften – missbräuchlichsten Praktiken führen, was wiederum ihre Ahndung erschweren würde. Mit anderen Worten würden die schwerwiegendsten Missbräuche (beispielsweise ein sehr unangemessener Preis) einer weniger strengen rechtlichen Regelung unterworfen als weniger schwerwiegende Missbräuche (beispielsweise ein leicht unangemessener Preis).

93.      Entgegen dem in den Nrn. 48 und 49 der vorliegenden Schlussanträge zusammengefassten Vorbringen der Klägerinnen würde somit gerade der Begriff „konstruktive Zugangsverweigerung“ dazu führen, dass schwerwiegendere Verhaltensweisen günstiger behandelt würden.

94.      Ich weise insoweit darauf hin, dass die Frage, wie schwer das Verhalten des beherrschenden Unternehmens wiegt, kein einschlägiges Kriterium für die Beurteilung des Vorliegens einer Zuwiderhandlung gegen Art. 102 AEUV ist, wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat. Die Frage der Schwere der Zuwiderhandlung stellt sich gemäß Art. 23 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003(26) erst im Stadium der Festsetzung der Höhe der Geldbuße.

95.      Der in den Nrn. 66 bis 79 der vorliegenden Schlussanträge dargelegte Sinn und Zweck der Bronner-Voraussetzungen beruht letztlich auf der unterschiedlichen Natur der Ahndung von Klauseln eines Vertrags und der Ahndung einer Verweigerung der Zurverfügungstellung. Im Licht dieses Sinn und Zwecks besteht meines Erachtens kaum ein Zweifel daran, dass die Bronner-Voraussetzungen nicht für unfaire Vertragsbedingungen gelten sollen.

96.      Nach alledem scheint es mir geboten, den Begriff „konstruktive Zugangsverweigerung“ im Rahmen von Art. 102 AEUV zurückzuweisen, sei es im zu erlassenden Urteil sei es in jeglichem anderen Kontext.

e)      Zur Unanwendbarkeit der Bronner-Voraussetzungen auf die in Rede stehenden Praktiken

97.      Nachdem ich auf die Bedeutung der vorliegenden Rechtssache, Sinn und Zweck der Bronner-Voraussetzungen und den irreführenden Charakter des Begriffs „konstruktive Zugangsverweigerung“ eingegangen bin, bleibt noch zu prüfen, ob die in Rede stehenden Praktiken unter die im Urteil Bronner behandelte und in den Nrn. 56 und 57 der vorliegenden Schlussanträge dargestellte Fallkonstellation fallen.

98.      Bei dieser Fallkonstellation geht es um die Weigerung eines beherrschenden Unternehmens, eine Infrastruktur, deren Inhaber es ist, einem oder mehreren Wettbewerbern zur Verfügung zu stellen.

99.      Die in Rede stehenden, in Nr. 37 der vorliegenden Schlussanträge beschriebenen Praktiken fallen jedoch nicht darunter, wie das Gericht in den Rn. 98 und 99 des Urteils DT sowie in den Rn. 118 und 119 des Urteils ST rechtsfehlerfrei festgestellt hat.

100. ST hat nämlich, wie die Kommission zutreffend ausgeführt hat, nicht den entbündelten Zugang zu einem Teilnehmeranschluss verweigert, dessen Inhaberin sie ist, sondern Unternehmen, die dazu Zugang haben wollten, unangemessene Bedingungen auferlegt.

101. Es ist insoweit irrelevant, dass ST aufgrund regulatorischer Verpflichtungen gezwungen war, den Zugang zum Teilnehmeranschluss zu gewähren. Dieselbe Schlussfolgerung hätte sich ergeben, wenn ST den Zugang zum Teilnehmeranschluss aus freien Stücken gewährt hätte. Der einzige Faktor, der zählt, um die Relevanz des Urteils Bronner auszuschließen, liegt darin, dass ST nicht den Zugang zu einer Infrastruktur verweigert hat, deren Inhaberin sie ist.

102. Entgegen dem Vorbringen von DT und ST wird diese Auslegung durch das Urteil TeliaSonera Sverige(27) untermauert, wie das Gericht in den Rn. 106 bis 110 des Urteils DT sowie in den Rn. 123 bis 127 des Urteils ST zutreffend festgestellt hat.

103. In Rn. 55 des Urteils TeliaSonera Sverige(28) hat der Gerichtshof im Wesentlichen darauf hingewiesen, dass die Bronner-Voraussetzungen, vor allem das Erfordernis der Notwendigkeit, nicht für die Beurteilung der „Missbräuchlichkeit eines Verhaltens gelten, das darin besteht, für die Erbringung von Dienstleistungen oder den Verkauf von Waren Bedingungen aufzustellen, die für den Empfänger nachteilig sind oder nicht von Interesse sein können“.

104. Zudem hat der Gerichtshof in Rn. 58 dieses Urteils festgestellt, dass eine Ausweitung der Tragweite des Urteils Bronner auf jegliches Verhalten eines beherrschenden Unternehmens in Bezug auf seine Geschäftsbedingungen nur dann missbräuchlich wäre, wenn „die für den Nachweis einer Lieferverweigerung notwendigen [Bronner-]Voraussetzungen erfüllt wären, [was] die praktische Wirksamkeit von Art. 102 AEUV ungebührlich einschränken [würde]“.

105. Damit ist der Gerichtshof der Auffassung von Generalanwalt Mazák  in jener Rechtssache nicht gefolgt. Dieser hatte sich entsprechend der von TeliaSonera Sverige vertretenen, vom Gerichtshof letztlich zu Recht zurückgewiesenen Argumentation für die Theorie der impliziten Lieferungsverweigerung und die damit einhergehende Pflicht ausgesprochen, die Unverzichtbarkeit der Vorleistungen zu prüfen(29).

106. Ebenso hat der Gerichtshof in Rn. 96 des Urteils Telefónica de España/Kommission(30) darauf hingewiesen, dass die Kosten-Preis-Schere eine eigenständige Form des Missbrauchs darstellt, die sich von der Lieferverweigerung unterscheidet und auf die die Bronner-Voraussetzungen nicht anwendbar sind.

107. Somit haben diese beiden Urteile die begrenzte Tragweite des Urteils Bronner bestätigt, das einen Sonderfall im normativen Umfeld von Art. 102 AEUV darstellt.

108. Nach dieser Klarstellung sind die Rügen von DT und ST betreffend die Verweise auf die Urteile Telekom/Kommission(31) und Post Danmark(32) sowie auf das Urteil des Gerichts Clearstream/Kommission(33) in den Urteilen DT und ST als unbegründet zurückzuweisen. Mit diesen Argumenten werden nämlich die Erwägungen kritisiert, die das Gericht dazu veranlasst haben, die Relevanz des Urteils Bronner unter den Umständen der vorliegenden Rechtssachen auszuschließen. Wie ich gerade ausgeführt habe, hat das Gericht insoweit keinen Rechtsfehler begangen.

109. Schließlich komme ich zur Prüfung des letzten, in den Nrn. 41 bis 44 der vorliegenden Schlussanträge zusammengefassten Vorbringens von DT und ST. Dieses Vorbringen betrifft insbesondere Rn. 101 des Urteils DT und Rn. 121 des Urteils ST, die denselben Wortlaut haben:

„Nach den einschlägigen Rechtsvorschriften war es also eindeutig erforderlich, dass Zugang zu den Teilnehmeranschlüssen von [ST] besteht, um auf dem slowakischen Markt der Breitband‑Internetzugänge die Entstehung und Entwicklung eines wirksamen Wettbewerbs zu ermöglichen. Die Kommission musste deshalb nicht nachweisen, dass der Zugang zu diesen Anschlüssen im Sinne der letzten Voraussetzung gemäß Rn. 41 des Urteils [Bronner] unentbehrlich gewesen wäre.“

110. Nach Ansicht von DT und ST hat das Gericht die von der nationalen Regulierungsbehörde aufgrund des Regelungsrahmens ex ante vorzunehmende Prüfung der Notwendigkeit und die von der Kommission in Anwendung von Art. 102 AEUV in seiner Auslegung durch das Urteil Bronner ex post vorzunehmende Prüfung der Unentbehrlichkeit zu Unrecht als gleichwertig angesehen.

111. Ich muss im Einklang mit dem Vorbringen von DT und ST zugeben, dass es mir schwerfällt, diese beiden Arten von Prüfungen gleichzusetzen. Ihr Vorbringen geht jedoch ins Leere, weil es von einer falschen Auslegung der angefochtenen Urteile ausgeht.

112. Entgegen den Behauptungen von DT und ST hat das Gericht nicht diese beiden Arten von Prüfungen gleichgesetzt, sondern zu Recht entschieden, dass die Bronner-Voraussetzungen unter den Umständen der vorliegenden Rechtssachen nicht anwendbar seien.

113. Diese Auslegung ergibt sich zum einen aus der Terminologie, die in Rn. 101 des Urteils DT sowie in Rn. 121 des Urteils ST verwendet wird, deren Wortlaut oben wiedergegeben ist und worin keine Gleichwertigkeit dieser beiden Arten von Prüfungen festgestellt wird. Zum anderen fügen sich diese Randnummern in eine umfassendere Argumentation ein, die in den Rn. 97 bis 105 des Urteils DT sowie in den Rn. 117 bis 122 des Urteils ST entwickelt wird und wonach das Gericht zu Recht befunden hat, dass die Bronner-Voraussetzungen unter diesen Umständen ganz einfach nicht anwendbar seien.

114. Damit hat das Gericht keinen Rechtsfehler begangen. Wie ich in Nr. 101 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, ist für den Ausschluss der Relevanz des Urteils Bronner ausschlaggebend, dass ST nicht den Zugang zu einer Infrastruktur, deren Inhaberin sie ist, verweigert hat.

115. Außerdem hat das Gericht in Rn. 97 des Urteils DT und in Rn. 117 des Urteils ST zu Recht darauf hingewiesen, dass die Regelung für den Telekommunikationssektor, wenn sie den für diesen geltenden Rechtsrahmen festlegt und damit die Wettbewerbsbedingungen mitbestimmt, unter denen ein Unternehmen seinen Tätigkeiten auf den betroffenen Märkten nachgeht, einen relevanten Gesichtspunkt für die Anwendung von Art. 102 AEUV auf die Verhaltensweisen dieses Unternehmens darstellt, sei es bei der Definition der betroffenen Märkte, bei der Beurteilung der Missbräuchlichkeit solcher Verhaltensweisen oder bei der Bemessung der Geldbußen(34).

116. Im vorliegenden Fall ist unstreitig, dass der Regelungsrahmen ST eine Verpflichtung zur Bereitstellung eines Zugangs auferlegte, wie das Gericht in den Rn. 99 und 100 des Urteils DT sowie in den Rn. 119 und 120 des Urteils ST ausgeführt hat.

117. Nach alledem sind der erste Rechtsmittelgrund von DT und der erste Rechtsmittelgrund von ST als unbegründet zurückzuweisen.

B.      Zweiter Rechtsmittelgrund von DT

1.      Zusammenfassung des Vorbringens von DT

118. Mit ihrem zweiten Rechtsmittelgrund macht DT geltend, das Urteil DT sei in Bezug auf die Anwendung des Rechtssatzes, wonach der bestimmende Einfluss auf die Tochtergesellschaft von der Muttergesellschaft tatsächlich ausgeübt worden sein müsse, mit Rechtsfehlern behaftet. Das Gericht habe nämlich in Rn. 230 des Urteils DT zutreffend auf diesen Rechtssatz hingewiesen, jedoch bei dessen Anwendung zwei Arten von Fehlern begangen.

119. Mit dem ersten Teil ihres zweiten Rechtsmittelgrundes rügt DT, das Gericht habe fälschlicherweise festgestellt, dass Tatsachen, aus denen sich die Möglichkeit der Ausübung eines bestimmenden Einflusses ergebe, auch als Indizien für die tatsächliche Ausübung bestimmenden Einflusses herangezogen werden könnten.

120. Nach Ansicht von DT können Tatsachen, aus denen sich die Möglichkeit der Ausübung eines bestimmenden Einflusses ergibt, nicht zum Nachweis der tatsächlichen Ausübung eines bestimmenden Einflusses herangezogen werden. Jede andere Auslegung würde die Unterscheidung zwischen der Möglichkeit der Ausübung und der tatsächlichen Ausübung beseitigen und zu einer unzulässigen Ausdehnung der für hundertprozentige Tochtergesellschaften geltenden Vermutung führen(35).

121. Das Gericht habe diesen Fehler an mehreren Stellen des Urteils DT begangen, indem es davon ausgegangen sei, dass Indizien für eine bloße Möglichkeit der Ausübung eines bestimmenden Einflusses einen Nachweis für die tatsächliche Ausübung eines solchen Einflusses darstellten:

–        in Rn. 233 in Bezug auf die Doppelfunktionen bei der Tochtergesellschaft und der Muttergesellschaft,

–        in den Rn. 249 ff. in Bezug auf die Präsenz höherer Führungskräfte der Klägerin im Vorstand von ST,

–        in den Rn. 280 ff. in Bezug auf die Überlassung von Mitarbeitern von DT für bestimmte Tätigkeiten bei ST, und

–        in Rn. 294 in Bezug auf die Übermittlung von Berichten von ST über ihre Geschäftspolitik.

122. Mit dem zweiten Teil ihres zweiten Rechtsmittelgrundes macht DT geltend, das Gericht habe bei der rechtlichen Qualifizierung der Tatsachen, auf die sich die Kommission berufen habe, den Rechtssatz, dass bestimmender Einfluss auch tatsächlich ausgeübt worden sein müsse, unrichtig angewandt.

123. So habe das Gericht in den Rn. 262, 273, 274 und 278 des angefochtenen Urteils von der bloßen Möglichkeit der Ausübung eines bestimmenden Einflusses auf die tatsächliche Ausübung eines solchen Einflusses geschlossen und Letztere nicht gesondert geprüft.

2.      Erwiderung auf das Vorbringen von DT

124. Vorab weise ich darauf hin, dass allein das Gericht für die Feststellung und Würdigung der Tatsachen sowie, grundsätzlich, für die Prüfung der Beweise, auf die es seine Feststellungen stützt, zuständig ist. Diese Würdigung ist somit, sofern die Beweise nicht verfälscht werden, keine Rechtsfrage, die als solche der Kontrolle des Gerichtshofs unterliegt(36).

125. Im vorliegenden Fall hat DT keine Verfälschung der vom Gericht geprüften Beweise geltend gemacht. Daher ist es nicht Sache des Gerichtshofs, die Beweiskraft der von DT im Rahmen ihres zweiten Rechtsmittelgrundes genannten tatsächlichen Anhaltspunkte im Rechtsmittelverfahren erneut zu prüfen.

126. Um die Tragweite des Vorbringens von DT genau zu bestimmen, halte ich es für nützlich, es im Zusammenhang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Zurechenbarkeit des Verhaltens einer Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft zu betrachten, wobei die Beteiligung dieser Muttergesellschaft an der Tochtergesellschaft zu gering ist, um unter die in den Urteilen „Akzo Nobel“ aufgestellte Vermutung zu fallen(37). In dem für die vorliegenden Rechtssachen einschlägigen Zeitraum hielt DT nämlich 51 % des Kapitals von ST(38).

127. Nach ständiger Rechtsprechung bezeichnet der Begriff „Unternehmen“ jede eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einrichtung unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung. Der Gerichtshof hat dabei zum einen klargestellt, dass in diesem Zusammenhang unter dem Begriff „Unternehmen“ eine wirtschaftliche Einheit zu verstehen ist, selbst wenn diese wirtschaftliche Einheit rechtlich aus mehreren natürlichen oder juristischen Personen gebildet wird, und zum anderen, dass eine solche wirtschaftliche Einheit, wenn sie gegen die Wettbewerbsregeln verstößt, nach dem Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit für diese Zuwiderhandlung einzustehen hat(39).

128. So kann einer Muttergesellschaft das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft insbesondere dann zugerechnet werden, wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen, die die beiden Rechtssubjekte verbinden(40).

129. In einem solchen Fall sind die Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft nämlich Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit und bilden damit ein Unternehmen im Sinne der oben angeführten Rechtsprechung. Weil eine Muttergesellschaft und ihre Tochtergesellschaft ein Unternehmen bilden, kann die Kommission daher einen Beschluss, mit dem Geldbußen verhängt werden, an die Muttergesellschaft richten, ohne dass deren persönliche Beteiligung an der Zuwiderhandlung nachgewiesen werden müsste(41).

130. Im Zusammenhang mit dieser Verknüpfung des Wettbewerbsrechts mit dem wirtschaftlichen Begriff des „Unternehmens“ hat der Gerichtshof klargestellt, dass bei der Prüfung, ob die Muttergesellschaft einen bestimmenden Einfluss auf das Marktverhalten ihrer Tochtergesellschaft ausüben kann, sämtliche im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen der Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft relevanten Gesichtspunkte und damit die wirtschaftliche Realität berücksichtigt werden müssen(42).

131. Der Gerichtshof hat hierzu weiter ausgeführt, dass sich die Kommission nicht auf die Feststellung beschränken darf, die Muttergesellschaft sei in der Lage, einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten ihrer Tochtergesellschaft auszuüben, sondern auch prüfen muss, ob sie ihn tatsächlich ausgeübt hat(43).

132. Mit anderen Worten hat die Kommission anhand einer Reihe tatsächlicher Umstände, zu denen insbesondere auch das etwaige Weisungsrecht eines dieser Unternehmen gegenüber dem anderen gehört, zu beweisen, dass die Muttergesellschaft tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf die Tochtergesellschaft ausübt(44).

133. Zur Art der Beweisführung hat der Gerichtshof klargestellt, dass die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses aus einem Bündel übereinstimmender Umstände hergeleitet werden kann, auch wenn keiner dieser Umstände für sich allein genügt, um die Existenz eines solchen Einflusses zu belegen(45).

134. An dieser Stelle fügt sich die Argumentation von DT im Rahmen ihres zweiten Rechtsmittelgrundes ein.

135. Nach Ansicht von DT hat das Gericht fehlerhaft entschieden, dass Tatsachen, aus denen sich eine bloße Möglichkeit der Ausübung eines bestimmenden Einflusses ergebe, auch als Indizien für eine tatsächliche Ausübung dieses bestimmenden Einflusses verwendet werden könnten.

136. Mit anderen Worten versucht DT, eine ganze Kategorie von tatsächlichen Anhaltspunkten, nämlich jene, aus denen sich eine Möglichkeit ergibt, einen bestimmenden Einfluss auszuüben, von den Beweisen auszuschließen, die von der Kommission verwendet werden können, um die tatsächliche Ausübung eines solchen Einflusses nachzuweisen.

137. Diese Argumentation scheint mir aus zumindest drei Gründen jeder Grundlage zu entbehren.

138. Erstens ergibt sich eine solche Beschränkung keineswegs aus der von mir oben zusammengefassten Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Zurechenbarkeit des Verhaltens einer Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft.

139. Im Einzelnen geht aus dieser Rechtsprechung ausdrücklich hervor, dass die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses aus einem Bündel übereinstimmender Umstände hergeleitet werden kann, auch wenn keiner dieser Umstände für sich allein genügt, um die Existenz eines solchen Einflusses zu belegen(46). Der Gerichtshof hat insoweit weder eine Einschränkung noch ein Kriterium hinsichtlich der übereinstimmenden Umstände festgelegt, die von der Kommission verwendet werden können.

140. Zweitens sehe ich keinen logischen Grund, warum es ausgeschlossen sein sollte, dass ein und derselbe faktische Anhaltspunkt gleichzeitig dazu beitragen kann, die Möglichkeit eines bestimmenden Einflusses und die tatsächliche Ausübung dieses Einflusses zu belegen.

141. Selbstverständlich muss ein Bündel von Indizien, mit dem die tatsächliche Ausübung nachgewiesen wird, belastbarer und detaillierter sein als ein Bündel von Indizien, mit dem eine bloße Möglichkeit festgestellt wird. Gleichwohl kann ein und derselbe faktische Anhaltspunkt in beiden Zusammenhängen rechtsgültig verwertet werden.

142. Drittens scheint mir, dass das Vorbringen von DT in der Praxis darauf hinauslaufen würde, die tatsächlichen Umstände, die von der Kommission verwendet werden können, auf „offenkundige“ Beweise zu beschränken(47), wie beispielsweise eine schriftliche Mitteilung mit einer Anweisung der Muttergesellschaft an die Tochtergesellschaft, ihre Preispolitik zu ändern.

143. Die Kommission hat jedoch nur selten solche offenkundigen Beweise zur Verfügung. Um die Wirksamkeit der Tätigkeit der Kommission im Bereich des Wettbewerbs zu gewährleisten, ist es daher unabdingbar, dass sie sich auf jeden tatsächlichen Anhaltspunkt stützen kann, gleich welcher Art, wobei mit dem Bündel dieser tatsächlichen Anhaltspunkte, die in ihrer Gesamtheit betrachtet werden, die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses nachgewiesen werden muss.

144. Wie die Kommission betont hat, würde die Frage der Verwertbarkeit bestimmter Tatsachen und Indizien von formalen Kriterien abhängen, die nichts mit der wirtschaftlichen Realität der Unternehmen zu tun hätten, wenn man der Argumentation von DT folgte.

145. Nach alledem ist die Prämisse, auf der der zweite Rechtsmittelgrund von DT beruht, falsch, so dass dieser Rechtsmittelgrund in seiner Gesamtheit zurückzuweisen ist.

C.      Dritter Rechtsmittelgrund von DT

1.      Zusammenfassung des Vorbringens von DT

146. Mit ihrem dritten Rechtsmittelgrund macht DT geltend, das Urteil DT sei in Bezug auf die Anwendung des Rechtssatzes, wonach die Tochtergesellschaft im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt haben müsse, mit Rechtsfehlern behaftet.

147. Nach Ansicht von DT ist es seit dem Urteil Imperial Chemical Industries/Kommission(48) ständige Rechtsprechung, dass die Zurechenbarkeit des Verhaltens einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft von vier Voraussetzungen abhängt, die kumulativ erfüllt sein müssen:

–        die Muttergesellschaft sei in der Lage gewesen, einen bestimmenden Einfluss auszuüben;

–        die Muttergesellschaft habe einen solchen bestimmenden Einfluss auch tatsächlich ausgeübt;

–        die Tochtergesellschaft habe ihr Marktverhalten deshalb nicht autonom bestimmt;

–        die Tochtergesellschaft habe im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt.

148. Das vierte Kriterium, das voraussetzt, dass die Tochtergesellschaft im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt habe, diene der Prüfung der Erheblichkeit des von der Muttergesellschaft ausgeübten bestimmenden Einflusses.

149. Das Gericht habe insoweit lediglich zum einen festgestellt, dass eine gewisse Autonomie der Tochtergesellschaft durchaus damit vereinbar sei, dass die Tochtergesellschaft zu derselben wirtschaftlichen Einheit gehöre wie die Muttergesellschaft (Rn. 470 des Urteils DT) und zum anderen, dass die allgemeine Strategie von ST auf dem Markt von DT festgelegt worden sei (Rn. 471 des Urteils DT).

150. In Bezug auf diese zweite Feststellung führt DT weiter aus, dass dies in den Rn. 237 bis 464 des Urteils DT, auf die das Gericht in dessen Rn. 471 verwiesen habe, so nicht festgestellt werde. Das Gericht führe in diesen Randnummern mehrere Indizien für die Ausübung eines bestimmenden Einflusses von DT auf ST an, ohne jedoch festzustellen, dass ST von DT konkrete Weisungen erteilt worden seien.

151. Daher habe das Gericht erst recht nicht feststellen können, dass ST im Wesentlichen Weisungen von DT befolgt habe. DT fügt hinzu, das Urteil DT sei insoweit mit einem Begründungsmangel behaftet.

2.      Erwiderung auf das Vorbringen von DT

152. Der dritte Rechtsmittelgrund von DT ist mit dem gleichen unheilbaren Mangel behaftet wie ihr erster und ihr zweiter Rechtsmittelgrund, nämlich einer falschen Prämisse.

153. Entgegen dem Vorbringen von DT hat der Gerichtshof nämlich niemals entschieden, dass die Zurechenbarkeit des Verhaltens einer Tochtergesellschaft an die Muttergesellschaft davon abhänge, dass die vier in Nr. 147 der vorliegenden Schlussanträge aufgeführten Voraussetzungen erfüllt sind.

154. In Wirklichkeit gibt es insoweit nur ein einziges maßgebliches Kriterium, nämlich das des Vorliegens einer wirtschaftlichen Einheit, anders ausgedrückt, eines Unternehmens, das aus der Muttergesellschaft und der Tochtergesellschaft besteht, wie die Kommission zu Recht vorgetragen hat. Nur wenn dies zutrifft, ist die Kommission berechtigt, das Verhalten der Tochtergesellschaft der Muttergesellschaft zuzurechnen, bzw., mit anderen Worten, den „gesellschaftsrechtlichen Schleier“ zwischen verschiedenen rechtlichen Strukturen „aufzuheben“, um die Wirksamkeit des Wettbewerbsrechts zu vergrößern(49).

155. Im Hinblick auf diese Grundsätze ist der Status der vier von DT erwähnten Voraussetzungen zu verstehen.

156. Mir scheint, dass der Gerichtshof in diesem Stadium der Entwicklung seiner Rechtsprechung zwei Methoden der Beweisführung ermittelt hat, die es der Kommission erlauben, konkret das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit zwischen einer Muttergesellschaft und einer Tochtergesellschaft festzustellen:

–        Die Kommission kann zum einen feststellen, dass die Muttergesellschaft die Fähigkeit hatte, einen bestimmenden Einfluss auf das Verhalten der Tochtergesellschaft auszuüben, und dass sie einen solchen Einfluss auch tatsächlich ausgeübt hat(50);

–        sie kann zum anderen beweisen, dass diese Tochtergesellschaft ihr Marktverhalten nicht autonom bestimmt, sondern im Wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt, und zwar vor allem wegen der wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Beziehungen, die zwischen den beiden Rechtssubjekten bestehen(51).

157. Das Vorbringen von DT läuft im Wesentlichen auf eine Zusammenführung dieser beiden Methoden der Beweisführung hinaus, indem von der Kommission verlangt wird, einen doppelten Beweis zu führen: sie müsste die tatsächliche Ausübung eines bestimmenden Einflusses der Muttergesellschaft und zugleich das Vorliegen von im Wesentlichen von der Tochtergesellschaft befolgten Weisungen nachweisen.

158. Meines Erachtens besteht kein Zweifel daran, dass diese Argumentation sowohl in Bezug auf die Rechtsprechung als auch in logischer Hinsicht jeglicher Grundlage entbehrt.

159. Auf der Ebene der Rechtsprechung geht aus keinem Urteil des Gerichtshofs hervor, dass die Kommission diesen doppelten Beweis erbringen muss.

160. In logischer Hinsicht haben diese beiden Arten der Beweisführung den gleichen Zweck, nämlich das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit (oder eines Unternehmens) bestehend aus Muttergesellschaft und Tochtergesellschaft nachzuweisen. Es wäre daher redundant, von der Kommission zu verlangen, diese beiden Methoden gleichzeitig anzuwenden. Wie die Kommission dargelegt hat, sind diese beiden Methoden der Beweisführung als gleichwertig anzusehen.

161. In Rn. 471 des Urteils DT hat das Gericht darauf hingewiesen, dass die Kommission in Anbetracht der Erwägungen in den Rn. 237 bis 464 dieses Urteils, die den bestimmenden Einfluss belegten, den DT tatsächlich auf ST ausgeübt habe, zu Recht festgestellt habe, dass diese beiden juristischen Personen eine wirtschaftliche Einheit gebildet hätten.

162. Daher hat das Gericht entgegen dem Vorbringen von DT keinen Rechtsfehler begangen, als es entschieden hat, dass die Kommission nicht verpflichtet war, zusätzlich festzustellen, dass ST im Wesentlichen Weisungen von DT befolgt habe.

163. Ich möchte noch klarstellen, dass gemäß den Anforderungen der ständigen Rechtsprechung(52) aus der Begründung eines Urteils die Überlegungen des Gerichts klar und eindeutig hervorgehen müssen, so dass die Betroffenen die Gründe für die getroffene Entscheidung erkennen können und der Gerichtshof seine Kontrollfunktion ausüben kann.

164. Die Rn. 237 bis 473 des Urteils DT lassen in der Tat klar, eindeutig und detailliert die Gründe erkennen, aus denen das Gericht davon ausgegangen ist, dass DT und ST eine wirtschaftliche Einheit bildeten.

165. Demnach ist auch der dritte Rechtsmittelgrund von DT in seiner Gesamtheit zurückzuweisen.

VIII. Ergebnis

166. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen und ohne der Entscheidung über die Begründetheit anderer Rechtsmittelgründe vorzugreifen, schlage ich dem Gerichtshof vor, die ersten drei von der Deutschen Telekom AG in der Rechtssache C‑152/19 P geltend gemachten Rechtsmittelgründe sowie den ersten von Slovak Telekom, a.s. in der Rechtssache C‑165/19 P geltend gemachten Rechtsmittelgrund zurückzuweisen.


1       Originalsprache: Französisch.


2       Urteil vom 26. November 1998 (C‑7/97, im Folgenden: Urteil Bronner, EU:C:1998:569).


3       Vgl. insbesondere Urteile vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 60 und 63), und vom 27. April 2017, Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑516/15 P, EU:C:2017:314, Rn. 54).


4       Urteil vom 13. Dezember 2018 (T‑827/14, EU:T:2018:930).


5       Urteil vom 13. Dezember 2018 (T‑851/14, EU:T:2018:929).


6       Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2000 über den entbündelten Zugang zum Teilnehmeranschluss (ABl. 2000, L 336, S. 4). Diese Verordnung wurde durch Art. 4 der Richtlinie 2009/140/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 zur Änderung der Richtlinie 2002/21/EG über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und ‑dienste, der Richtlinie 2002/19/EG über den Zugang zu elektronischen Kommunikationsnetzen und zugehörigen Einrichtungen sowie deren Zusammenschaltung und der Richtlinie 2002/20/EG über die Genehmigung elektronischer Kommunikationsnetze und ‑dienste aufgehoben.


7       Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. März 2002 über einen gemeinsamen Rechtsrahmen für elektronische Kommunikationsnetze und ‑dienste (ABl. 2002, L 108, S. 33).


8       C(2014) 7465 final, Sache AT.39523 – Slovak Telekom. Dieser Beschluss wurde durch den Beschluss C(2014) 10119 final der Kommission vom 16. Dezember 2014 und den Beschluss C(2015) 2484 final der Kommission vom 17. April 2015 berichtigt.


9       Vgl. Nr. 11 der vorliegenden Schlussanträge.


10       Urteil vom 14. Oktober 2010 (C‑280/08 P, EU:C:2010:603).


11       Urteil vom 17. Februar 2011 (C‑52/09, EU:C:2011:83).


12       Urteil vom 9. September 2009 (T‑301/04, EU:T:2009:317).


13       Urteil vom 27. März 2012 (C‑209/10, EU:C:2012:172, Rn. 23).


14       Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Februar 2011, TeliaSonera Sverige (C‑52/09, EU:C:2011:83, Rn. 58).


15       Urteil vom 6. April 1995 (C‑241/91 P und C‑242/91 P, EU:C:1995:98).


16       Vgl. insbesondere Urteile vom 13. November 1975, General Motors Continental/Kommission (26/75, EU:C:1975:150, Rn. 11 und 12), vom 11. November 1986, British Leyland/Kommission (226/84, EU:C:1986:421, Rn. 27 bis 30), vom 13. Juli 1989, Tournier (395/87, EU:C:1989:319, Rn. 38), vom 17. Mai 2001, TNT Traco (C‑340/99, EU:C:2001:281, Rn. 46 und 47), vom 11. Dezember 2008, Kanal 5 und TV 4 (C‑52/07, EU:C:2008:703, Rn. 28 und 29), vom 16. Juli 2009, Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission (C‑385/07 P, EU:C:2009:456, Rn. 141 und 142), vom 27. Februar 2014, OSA (C‑351/12, EU:C:2014:110, Rn. 87 und 88), sowie vom 14. September 2017, Autortiesību un komunicēšanās konsultāciju aģentūra – Latvijas Autoru apvienība (C‑177/16, EU:C:2017:689, Rn. 35 bis 51).


17       Urteile vom 17. Februar 2011, TeliaSonera Sverige (C‑52/09, EU:C:2011:83, Rn. 54 und 55), sowie vom 10. Juli 2014, Telefónica und Telefónica de España/Kommission (C‑295/12 P, EU:C:2014:2062, Rn. 75).


18       Vgl. insbesondere Urteil des Gerichts vom 22. November 2001, AAMS/Kommission (T‑139/98, EU:T:2001:272, Rn. 76), und Beschluss vom 28. September 2006, Unilever Bestfoods/Kommission (C‑552/03 P, EU:C:2006:607, Rn. 137).


19       C‑7/97, EU:C:1998:264.


20       Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) stützt sich Art. 16 der Charta u. a. auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Vertragsfreiheit.


21       Vgl. u. a. Urteile vom 13. November 1975, General Motors Continental/Kommission (26/75, EU:C:1975:150, Rn. 11 und 12), vom 11. November 1986, British Leyland/Kommission (226/84, EU:C:1986:421, Rn. 27 bis 30), vom 13. Juli 1989, Tournier (395/87, EU:C:1989:319, Rn. 38), vom 17. Mai 2001, TNT Traco (C‑340/99, EU:C:2001:281, Rn. 46 und 47), vom 11. Dezember 2008, Kanal 5 und TV 4 (C‑52/07, EU:C:2008:703, Rn. 28 und 29), sowie vom 16. Juli 2009, Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland/Kommission (C‑385/07 P, EU:C:2009:456, Rn. 141 und 142).


22       Vgl. Urteile vom 27. Februar 2014, OSA (C‑351/12, EU:C:2014:110, Rn. 87 und 88), sowie vom 14. September 2017, Autortiesību un komunicēšanās konsultāciju aģentūra – Latvijas Autoru apvienība (C‑177/16, EU:C:2017:689, Rn. 35 bis 51).


23       Urteil vom 17. Februar 2011 (C‑52/09, EU:C:2011:83, Rn. 55 bis 58).


24       Urteil vom 10. Juli 2014 (C‑295/12 P, EU:C:2014:2062, Rn. 96).


25       Zur Veranschaulichung: Ab welchem Schwellenwert wäre ein unangemessener Preis eine konstruktive Zugangsverweigerung? Wenn der Preis höher ist als 200 % der dem beherrschenden Unternehmen entstandenen Kosten? Oder 175 % dieser Kosten? Oder wenn er 150 % des Durchschnittspreises auf den als gleichwertig ermittelten Märkten beträgt? Ich weise darauf hin, dass mir diese Abgrenzung als noch schwieriger erscheint, wenn es um nicht entgeltbezogene Bedingungen geht.


26       Verordnung des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1). Nach deren Art. 23 Abs. 3 ist „[b]ei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße … sowohl die Schwere der Zuwiderhandlung als auch deren Dauer zu berücksichtigen“.


27       Urteil vom 17. Februar 2011 (C‑52/09, EU:C:2011:83).


28       Urteil vom 17. Februar 2011 (C‑52/09, EU:C:2011:83).


29       Vgl. Schlussanträge in der Rechtssache TeliaSonera Sverige (C‑52/09, EU:C:2010:483, Nrn. 11 bis 32 und insbesondere Nrn. 11 und 16).


30       Urteil vom 10. Juli 2014 (C‑295/12 P, EU:C:2014:2062).


31       Urteil vom 14. Oktober 2010 (C‑280/08 P, EU:C:2010:603).


32       Urteil vom 27. März 2012 (C‑209/10, EU:C:2012:172, Rn. 23).


33       Urteil vom 9. September 2009 (T‑301/04, EU:T:2009:317).


34       Urteil vom 14. Oktober 2010, Deutsche Telekom/Kommission (C‑280/08 P, EU:C:2010:603, Rn. 224).


35       Vgl. u. a. Urteile vom 16. November 2000, Stora Kopparbergs Bergslags/Kommission (C‑286/98 P, EU:C:2000:630, Rn. 29), vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 60 und 63), sowie vom 27. April 2017, Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑516/15 P, EU:C:2017:314, Rn. 54).


36       Vgl. beispielsweise Urteil vom 10. Juli 2014, Telefónica und Telefónica de España/Kommission (C‑295/12 P, EU:C:2014:2062, Rn. 84 und die dort angeführte Rechtsprechung).


37       Vgl. die in Fn. 3 angeführte Rechtsprechung.


38       Vgl. Nr. 6 der vorliegenden Schlussanträge.


39       Vgl. u. a. Urteile vom 29. März 2011, ArcelorMittal Luxembourg/Kommission und Kommission/ArcelorMittal Luxembourg u. a. (C‑201/09 P und C‑216/09 P, EU:C:2011:190, Rn. 95), vom 29. September 2011, Elf Aquitaine/Kommission (C-521/09 P, EU:C:2011:620, Rn. 53), und vom 26. Oktober 2017, Global Steel Wire u. a./Kommission (C‑457/16 P und C‑459/16 P bis C‑461/16 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:819, Rn. 81 und 82).


40       Vgl. u. a. Urteile vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 58), vom 10. April 2014, Areva u. a./Kommission (C‑247/11 P und C‑253/11 P, EU:C:2014:257, Rn. 30), sowie vom 24. Juni 2015, Fresh Del Monte Produce/Kommission und Kommission/Fresh Del Monte Produce (C‑293/13 P und C‑294/13 P, EU:C:2015:416, Rn. 75).


41       Vgl. u. a. Urteile vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 59), vom 26. September 2013, The Dow Chemical Company/Kommission (C‑179/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:605, Rn. 53), sowie vom 27. April 2017, Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑516/15 P, EU:C:2017:314, Rn. 53).


42       Vgl. u. a. Urteile vom 24. Juni 2015, Fresh Del Monte Produce/Kommission und Kommission/Fresh Del Monte Produce (C‑293/13 P und C‑294/13 P, EU:C:2015:416, Rn. 76), sowie vom 18. Januar 2017, Toshiba/Kommission (C‑623/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:21, Rn. 46).


43       Vgl. u. a. Urteile vom 26. September 2013, The Dow Chemical Company/Kommission (C‑179/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:605, Rn. 55), vom 26. September 2013, EI du Pont de Nemours/Kommission (C‑172/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:601, Rn. 44). Dieses Erfordernis ist auch vom Gericht regelmäßig betont worden; vgl. u. a. Urteile vom 15. Juli 2015, Socitrel und Companhia Previdente/Kommission (T-413/10 und T-414/10, EU:T:2015:500, Rn. 200), vom 9. September 2015, Toshiba/Kommission (T-104/13, EU:T:2015:610, Rn. 95), und vom 12. Juli 2018, The Goldman Sachs Group/Kommission (T‑419/14, EU:T:2018:445, Rn. 84).


44       Vgl. u. a. Urteile vom 26. September 2013, EI du Pont de Nemours/Kommission (C‑172/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:601, Rn. 47), vom 26. September 2013, The Dow Chemical Company/Kommission (C‑179/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:605, Rn. 67), und vom 18. Januar 2017, Toshiba/Kommission (C‑623/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:21, Rn. 48).


45       Vgl. u. a. Urteile vom 24. Juni 2015, Fresh Del Monte Produce/Kommission und Kommission/Fresh Del Monte Produce (C‑293/13 P und C‑294/13 P, EU:C:2015:416, Rn. 77), sowie vom 18. Januar 2017, Toshiba/Kommission (C‑623/15 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:21, Rn. 47).


46       Vgl. Nr. 133 der vorliegenden Schlussanträge und die dort angeführte Rechtsprechung.


47       Das französische Wort „flagrant“ [hier mit „offenkundig“ übersetzt] ist ein Lehnwort aus dem klassischen Lateinischen. Das lateinische Wort „flagrans“ bedeutet brennend, entzündet und wird im übertragenen Sinn (sichtbar und unmittelbar wie Feuer) in der niederlateinischen Rechtssprache in der Wendung flagranti crimine (in flagranti) verwendet. Das Adjektiv bezieht sich auf etwas, das vor den Augen der Person verübt wird, die es im Zusammenhang mit einer Straftat feststellt, woraus sich der französische Ausdruck „flagrant délit“ [„auf frischer Tat“, „in flagranti“] ableitet. Vgl. Rey, A., Dictionnaire historique de la langue française, Le Robert, Paris, 2016.


48       Urteil vom 14. Juli 1972 (48/69, EU:C:1972:70, Rn. 137).


49       Vgl. Nr. 127 der vorliegenden Schlussanträge und die dort angeführte Rechtsprechung.


50       Vgl. Nrn. 130 bis 132 der vorliegenden Schlussanträge und die dort angeführte Rechtsprechung.


51       Vgl. u. a. Urteile vom 10. September 2009, Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑97/08 P, EU:C:2009:536, Rn. 57), vom 27. April 2017, Akzo Nobel u. a./Kommission (C‑516/15 P, EU:C:2017:314, Rn. 52), und vom 26. Oktober 2017, Global Steel Wire u. a./Kommission (C‑457/16 P und C‑459/16 P bis C‑461/16 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:819, Rn. 83).


52       Vgl. u. a. Urteile vom 11. Juli 2013, Ziegler/Kommission (C‑439/11 P, EU:C:2013:513, Rn. 81), vom 25. Oktober 2017, PPG und SNF/ECHA (C‑650/15 P, EU:C:2017:802, Rn. 44), und vom 19. Dezember 2019, HK/Kommission (C‑460/18 P, EU:C:2019:1119, Rn. 38).