Language of document : ECLI:EU:C:2020:937

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

18. November 2020(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr – Richtlinie 2000/35/EG – Begriff ‚Geschäftsverkehr‘ – Begriffe ‚Lieferung von Gütern‘ und ‚Erbringung von Dienstleistungen‘ – Art. 1 und Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 – Öffentlicher Bauauftrag“

In der Rechtssache C‑299/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale ordinario di Torino (Ordentliches Gericht Turin, Italien) mit Entscheidung vom 9. März 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 11. April 2019, in dem Verfahren

Techbau SpA

gegen

Azienda Sanitaria Locale AL

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra (Berichterstatter), des Richters S. Rodin und der Richterin K. Jürimäe,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Azienda Sanitaria Locale AL, vertreten durch C. Castellotti, avvocato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Tricot, G. Gattinara und K. Mifsud-Bonnici als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (ABl. 2000, L 200, S. 35).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Techbau SpA und der Azienda Sanitaria Locale AL (Örtliches Gesundheitsamt Alessandria, Italien) (im Folgenden: ASL) über die Zahlung von Verzugszinsen auf den Betrag, der für die Ausführung eines Auftrags zur Errichtung eines Operationsblocks für ein Krankenhaus geschuldet wird.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2000/35

3        Die Richtlinie 2000/35 wurde durch die Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (ABl. 2011, L 48, S. 1) mit Wirkung vom 16. März 2013 aufgehoben und ersetzt.

4        In den Erwägungsgründen 7, 9, 10, 13, 16, 19, 20 und 22 der Richtlinie 2000/35 hieß es:

„(7)      Den Unternehmen, insbesondere kleinen und mittleren, verursachen übermäßig lange Zahlungsfristen und Zahlungsverzug große Verwaltungs- und Finanzlasten. Überdies zählen diese Probleme zu den Hauptgründen für Insolvenzen, die den Bestand der Unternehmen gefährden, und führen zum Verlust zahlreicher Arbeitsplätze.

(9)      Die Unterschiede zwischen den Zahlungsbestimmungen und ‑praktiken in den Mitgliedstaaten beeinträchtigen das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes.

(10)      Dies hat eine beträchtliche Einschränkung des Geschäftsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten zur Folge. Es widerspricht Artikel 14 [EG (jetzt Art. 26 AEUV)], da Unternehmer in der Lage sein sollten, im gesamten Binnenmarkt unter Bedingungen Handel zu treiben, die gewährleisten, dass grenzüberschreitende Geschäfte nicht größere Risiken mit sich bringen als Inlandsverkäufe. Es käme zu Wettbewerbsverzerrungen, wenn es für den Binnen- und den grenzüberschreitenden Handel Regeln gäbe, die sich wesentlich voneinander unterscheiden.

(13)      Diese Richtlinie ist auf die als Entgelt für Handelsgeschäfte geleisteten Zahlungen beschränkt und umfasst weder Geschäfte mit Verbrauchern noch die Zahlung von Zinsen im Zusammenhang mit anderen Zahlungen, z. B. unter das Scheck- und Wechselrecht fallenden Zahlungen oder Schadensersatzzahlungen einschließlich Zahlungen von Versicherungsgesellschaften.

(16)      Zahlungsverzug stellt einen Vertragsbruch dar, der für die Schuldner in den meisten Mitgliedstaaten durch niedrige Verzugszinsen und/oder langsame Beitreibungsverfahren finanzielle Vorteile bringt. Ein durchgreifender Wandel, der auch eine Entschädigung der Gläubiger für die ihnen entstandenen Kosten vorsieht, ist erforderlich, um diese Entwicklung umzukehren und um sicherzustellen, dass die Folgen des Zahlungsverzugs von der Überschreitung der Zahlungsfristen abschrecken.

(19)      Der Missbrauch der Vertragsfreiheit zum Nachteil des Gläubigers sollte nach dieser Richtlinie verboten sein....

(20)      Die Folgen des Zahlungsverzugs können jedoch nur abschreckend wirken, wenn sie mit Beitreibungsverfahren gekoppelt sind, die für den Gläubiger schnell und wirksam sind. Nach dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung in Art. 12 [EG] sollten diese Verfahren allen in der [Europäischen Union] niedergelassenen Gläubigern zur Verfügung stehen.

(22)      Die Richtlinie sollte den gesamten Geschäftsverkehr unabhängig davon regeln, ob er zwischen privaten oder öffentlichen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen erfolgt, wobei zu berücksichtigen ist, dass Letztere in großem Umfang Zahlungen an Unternehmen leisten. Sie sollte deshalb auch den gesamten Geschäftsverkehr zwischen Generalunternehmern und ihren Lieferanten und Subunternehmern regeln.“

5        Art. 1 dieser Richtlinie sah vor:

„Diese Richtlinie ist auf alle Zahlungen, die als Entgelt im Geschäftsverkehr zu leisten sind, anzuwenden.“

6        Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie bestimmte:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Geschäftsverkehr‘ Geschäftsvorgänge zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen, die zu einer Lieferung von Gütern oder Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt führen;

‚öffentliche Stelle‘ jeden öffentlichen Auftraggeber oder Auftraggeber im Sinne der Richtlinien über das öffentliche Auftragswesen...;

‚Unternehmen‘ jede im Rahmen ihrer unabhängigen wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit handelnde Organisation, auch wenn die Tätigkeit von einer einzelnen Person ausgeübt wird;

…“

7        Art. 6 („Umsetzung“) Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2000/35 bestimmte:

„(1)      Die Mitgliedstaaten erlassen die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um dieser Richtlinie vor dem 8. August 2002 nachzukommen. Sie setzen die Kommission unverzüglich davon in Kenntnis.

(3)      Bei der Umsetzung dieser Richtlinie können die Mitgliedstaaten Folgendes ausnehmen:

a)      Schulden, die Gegenstand eines gegen den Schuldner eingeleiteten Insolvenzverfahrens sind,

b)      Verträge, die vor dem 8. August 2002 geschlossen worden sind, und

c)      Ansprüche auf Zinszahlungen von weniger als 5 EUR.“

 Richtlinie 2004/18/EG

8        Die Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114), die mit Wirkung vom 31. Januar 2006 die Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge (ABl. 1992, L 209, S. 1) – mit Ausnahme ihres Art. 41 – sowie die Richtlinien 93/36/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge (ABl. 1993, L 199, S. 1) und 93/37/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge (ABl. 1993, L 199, S. 54) aufgehoben und ersetzt hatte, wurde selbst mit Wirkung vom 18. April 2016 durch die Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65) aufgehoben und ersetzt.

9        Art. 1 („Definitionen“) Abs. 2, 8 und 9 der Richtlinie 2004/18 sah vor:

„(2)      a)      ‚Öffentliche Aufträge‘ sind zwischen einem oder mehreren Wirtschaftsteilnehmern und einem oder mehreren öffentlichen Auftraggebern geschlossene schriftliche entgeltliche Verträge über die Ausführung von Bauleistungen, die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen im Sinne dieser Richtlinie.

b)      ‚Öffentliche Bauaufträge‘ sind öffentliche Aufträge über entweder die Ausführung oder gleichzeitig die Planung und die Ausführung von Bauvorhaben im Zusammenhang mit einer der in Anhang I genannten Tätigkeiten oder eines Bauwerks oder die Erbringung einer Bauleistung durch Dritte, gleichgültig mit welchen Mitteln, gemäß den vom öffentlichen Auftraggeber genannten Erfordernissen. Ein ‚Bauwerk‘ ist das Ergebnis einer Gesamtheit von Tief- oder Hochbauarbeiten, das seinem Wesen nach eine wirtschaftliche oder technische Funktion erfüllen soll.

c)      ‚Öffentliche Lieferaufträge‘ sind andere öffentliche Aufträge als die unter Buchstabe b genannten; sie betreffen den Kauf, das Leasing, die Miete, die Pacht oder den Ratenkauf, mit oder ohne Kaufoption, von Waren.

d)      ‚Öffentliche Dienstleistungsaufträge‘ sind öffentliche Aufträge über die Erbringung von Dienstleistungen im Sinne von Anhang II, die keine öffentlichen Bau- oder Lieferaufträge sind.

(8)      ...

Der Begriff ‚Wirtschaftsteilnehmer‘ umfasst sowohl Unternehmer als auch Lieferanten und Dienstleistungserbringer. Er dient ausschließlich der Vereinfachung des Textes.

(9)      ‚Öffentliche Auftraggeber‘ sind der Staat, die Gebietskörperschaften, die Einrichtungen des öffentlichen Rechts und die Verbände, die aus einer oder mehreren dieser Körperschaften oder Einrichtungen des öffentlichen Rechts bestehen.

Als ‚Einrichtung des öffentlichen Rechts‘ gilt jede Einrichtung, die

a)      zu dem besonderen Zweck gegründet wurde, im Allgemeininteresse liegende Aufgaben nicht gewerblicher Art zu erfüllen,

b)      Rechtspersönlichkeit besitzt und

c)      überwiegend vom Staat, von Gebietskörperschaften oder von anderen Einrichtungen des öffentlichen Rechts finanziert wird, hinsichtlich ihrer Leitung der Aufsicht durch Letztere unterliegt oder deren Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgan mehrheitlich aus Mitgliedern besteht, die vom Staat, von den Gebietskörperschaften oder von anderen Einrichtungen des öffentlichen Rechts ernannt worden sind.

…“

10      Im Verzeichnis der Tätigkeiten nach Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 in deren Anhang I war u. a. Hoch- und Tiefbau aufgeführt.

 Richtlinie 2011/7

11      Nach Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2011/7 mussten die Mitgliedstaaten diese Richtlinie bis zum 16. März 2013 umsetzen und hatten dabei nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie die Möglichkeit, vor diesem Zeitpunkt geschlossene Verträge auszunehmen.

12      In Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„Die Richtlinie [2000/35] wird mit Wirkung vom 16. März 2013 unbeschadet der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Fristen für die Umsetzung in innerstaatliches Recht und die Anwendung aufgehoben. Sie bleibt jedoch auf Verträge anwendbar, die vor diesem Zeitpunkt geschlossen wurden und für die die vorliegende Richtlinie gemäß Artikel 12 Absatz 4 nicht gilt.“

 Italienisches Recht

 Decreto legislativo Nr. 231

13      Mit dem Decreto legislativo n. 231 – Attuazione della direttiva 2000/35/CE relativa alla lotta contro i ritardi di pagamento nelle transazioni commerciali (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 231 zur Umsetzung der Richtlinie 2000/35/EG zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr) vom 9. Oktober 2002 (GURI Nr. 249 vom 23. Oktober 2002, im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 231) wurde die Richtlinie 2000/35 in das italienische Recht umgesetzt.

14      Art. 1 dieses Decreto legislativo sieht vor:

„Diese Richtlinie ist auf alle Zahlungen, die als Entgelt im Geschäftsverkehr zu leisten sind, anzuwenden.“

15      Art. 2 („Definitionen“) Abs. 1 des Decreto legislativo lautet:

„Im Sinne dieses Dekrets bezeichnet

a)      ‚Geschäftsverkehr‘ Geschäftsvorgänge, ungeachtet ihrer Bezeichnung, zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen, die ausschließlich oder hauptsächlich zu einer Lieferung von Gütern oder Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt führen;

b)      ‚öffentliche Stelle‘: die staatlichen Behörden, die Regionen, die Autonomen Provinzen Trient und Bozen, die Gebietskörperschaften und ihre Zusammenschlüsse, öffentliche Einrichtungen ohne Erwerbszweck und jede andere Einrichtung mit Rechtspersönlichkeit, die zu dem Zweck gegründet wurde, besondere im Allgemeininteresse liegende Aufgaben, die nicht gewerblicher Art sind, zu erfüllen und deren Tätigkeit überwiegend durch den Staat, die Regionen, die Gebietskörperschaften, andere öffentliche Einrichtungen oder Einrichtungen des öffentlichen Rechts finanziert wird oder deren Leitung der Aufsicht der genannten Stellen unterliegt oder deren Verwaltungs‑, Leitungs‑ oder Aufsichtsorgane sich mindestens zur Hälfte aus durch die genannten Stellen ernannten Personen zusammensetzen.“

16      Nach seinem Art. 11 Abs. 1 findet das Decreto legislativo keine Anwendung auf vor dem 8. August 2002 geschlossene Verträge.

 Decreto legislativo Nr. 163

17      Das Decreto legislativo n. 163 – Codice dei contratti pubblici relativi a lavori, servizi e forniture in attuazione delle direttive 2004/17/CE e 2004/18/CE (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 163 zur Einführung des Gesetzbuchs über öffentliche Bau-, Dienstleistungs- und Lieferaufträge zur Umsetzung der Richtlinien 2004/17/EG und 2004/18/EG) vom 12. April 2006 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 100 vom 2. Mai 2006, im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 163) definiert in Art. 3 Abs. 3 die Begriffe „Verträge“ bzw. „öffentliche Verträge“ als „die von den Vergabestellen, den Auftrag gebenden Körperschaften und den Auftrag gebenden Rechtssubjekten ausgehenden Verträge über Aufträge oder Konzessionen, deren Gegenstand die Beschaffung von Dienstleistungen oder Lieferungen bzw. die Ausführung von Bauwerken oder Bauleistungen ist“.

 Decreto legislativo Nr. 192

18      Mit dem Decreto legislativo n. 192 – Modifiche al decreto legislativo 9 ottobre 2002, n. 231, per l’integrale recepimento della direttiva 2011/7/UE relativa alla lotta contro i ritardi di pagamento nelle transazioni commerciali, a norma dell’articolo 10, comma 1, della legge 11 novembre 2011, n. 180 (Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 192 zur Änderung des Gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 231 vom 9. Oktober 2002 zwecks vollständiger Umsetzung der Richtlinie 2011/7/EU zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr nach Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 180 vom 11. November 2011) vom 9. November 2012 (GURI Nr. 267 vom 15. November 2012, im Folgenden: Decreto legislativo Nr. 192) wurde die Richtlinie 2011/7 in das italienische Recht umgesetzt.

19      Das Decreto legislativo Nr. 192 ließ die Definition des Begriffs „Geschäftsverkehr“, wie sie in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Decreto legislativo Nr. 231 in seiner ursprünglichen Fassung enthalten war, im Wesentlichen unverändert.

20      Dagegen definiert Art. 2 Abs. 1 Buchst. b des Decreto legislativo Nr. 231 in der Fassung des Decreto legislativo Nr. 192 (im Folgenden: geändertes Decreto legislativo Nr. 231) „öffentliche Stelle“ nunmehr als „die in Art. 3 Abs. 25 des Decreto legislativo [Nr. 163] genannten Behörden und jede andere Einrichtung, wenn sie eine Tätigkeit ausübt, bei der sie die im Decreto legislativo [Nr. 163] vorgesehenen Regelungen zu beachten hat“.

21      Nach seinem Art. 3 ist das Decreto legislativo Nr. 192 auf ab dem 1. Januar 2013 geschlossene Geschäfte anwendbar.

 Gesetz Nr. 161

22      Nachdem die Europäische Kommission ein EU-Pilotverfahren (5216/13/ENTR. 1) gegen die Italienische Republik eingeleitet hatte, verabschiedete der italienische Gesetzgeber die Legge n. 161 – Disposizioni per l’adempimento degli obblighi derivanti dall’appartenenza dell’Italia all’Unione europea – Legge europea 2013‑bis (Gesetz Nr. 161 mit Vorschriften zur Umsetzung der Verpflichtungen aus der Zugehörigkeit Italiens zur Europäischen Union – Europagesetz 2013a) vom 30. Oktober 2014 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 261 vom 10. November 2014, im Folgenden: Gesetz Nr. 161).

23      Art. 24 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:

„Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Decreto legislativo [Nr. 231] in der durch Art. 1 Abs. 1 Buchst. b des Decreto legislativo [Nr. 192] ersetzten Fassung ist dahin auszulegen, dass die betreffenden Geschäftsvorgänge auch die Verträge im Sinne von Art. 3 Abs. 3 des Decreto legislativo [Nr. 163] umfassen.“

 Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefrage

24      Am 29. April 2010 schlossen die ASL und Techbau einen Vertrag über einen öffentlichen Auftrag im Wert von 7 487 719,49 Euro über die „schlüsselfertige“ Lieferung und Einrichtung eines vorgefertigten modularen Operationsblocks für die Krankenanstalt Ospedale Santo Spirito di Casale Monferrato (Spital Heiliger Geist von Casale Monferrato, Italien). Der Auftrag umfasste sechs Operationssäle mit Nebenräumen und Verbindungsgängen sowie die Ausführung sämtlicher erforderlicher Bau- und Anlagenarbeiten.

25      Obwohl die dem Vertrag beigefügten Ausschreibungsbedingungen eine Zahlungsfrist von 90 Tagen nach Erhalt der Rechnung vorsahen, zahlte die ASL die im Vertrag festgelegte Vergütung der Vorlageentscheidung zufolge erst mit erheblicher Verspätung, so dass Techbau beim vorlegenden Gericht Klage auf Verurteilung der ASL zur Zahlung von Verzugszinsen in Höhe von 197 008,65 Euro zu dem im Decreto legislativo Nr. 231 vorgesehenen Satz erhoben hat.

26      Die ASL bestreitet das Bestehen dieser Schuld und macht geltend, dass der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Auftrag einen Werkvertrag, der die Errichtung eines öffentlichen Bauwerks zum Gegenstand habe, darstelle. Daher falle er nicht unter den Begriff „Geschäftsverkehr“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Decreto legislativo Nr. 231 und damit nicht in dessen Anwendungsbereich.

27      Insoweit vertritt das vorlegende Gericht nach Prüfung der dem im Ausgangsverfahren fraglichen Vertrag beigefügten Ausschreibungsbedingungen die Ansicht, dass es sich bei diesem Vertrag um einen Werkvertrag und nicht um einen Liefervertrag handle, da das Interesse des öffentlichen Auftraggebers an der Errichtung des Bauwerks jenes an dessen Einrichtung überwiege.

28      Nach italienischem Recht falle ein Werkvertrag über die Errichtung eines Bauwerks angesichts dessen, dass er von einem Vertrag zu unterscheiden sei, der die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen zum Gegenstand habe, nicht unter den Begriff „Geschäftsverkehr“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Decreto legislativo Nr. 231 in seiner Auslegung durch die nationale Rechtsprechung und somit nicht in den Anwendungsbereich dieses Decreto legislativo. Daher richteten sich die Folgen eines Zahlungsverzugs im Bereich der öffentlichen Bauaufträge nicht nach den Bestimmungen des Decreto legislativo Nr. 231, sondern nach den für die Gläubiger ungünstigeren Bestimmungen des Decreto legislativo Nr. 163 und der zu dessen Durchführung erlassenen Rechtsvorschriften.

29      Das vorlegende Gericht äußert jedoch Zweifel an diesem Ansatz, da er darauf hinauslaufe, die in der Definition des Begriffs „Geschäftsverkehr“ in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Decreto legislativo Nr. 231 enthaltenen Begriffe „Lieferung von Waren“ und „Erbringung von Dienstleistungen“ auszulegen, ohne ihre Bedeutung in der Unionsrechtsordnung zu berücksichtigen.

30      In diesem Zusammenhang weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass der Begriff „Geschäftsverkehr“ in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Decreto legislativo Nr. 231 in geänderter Fassung nach der authentischen Auslegung dieser Bestimmung durch das Gesetz Nr. 161 zwar nunmehr auch Aufträge über die Errichtung von Bauwerken oder die Ausführung von Bauleistungen sowie über die Planung und Ausführung öffentlicher Hoch- und Tiefbauarbeiten umfasse. Da im Gesetz Nr. 161 jedoch keine Übergangsmaßnahmen vorgesehen seien, lasse sich ihm nicht eindeutig entnehmen, dass diese authentische Auslegung dazu geführt hätte, dass ein vor dem Inkrafttreten des Decreto legislativo Nr. 192 am 1. Januar 2013 geschlossener Werkvertrag über die Errichtung eines öffentlichen Bauwerks unter den Begriff „Geschäftsverkehr“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Decreto legislativo Nr. 231 und damit in dessen Anwendungsbereich falle.

31      Unter diesen Umständen vertritt das vorlegende Gericht die Auffassung, dass es für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits darauf ankomme, ob der Begriff „Geschäftsverkehr“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35, der durch Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Decreto legislativo Nr. 231 in das italienische Recht umgesetzt worden sei, einen Vertrag wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden erfasse.

32      Vor diesem Hintergrund hat das Tribunale ordinario di Torino (Ordentliches Gericht Turin, Italien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2000/35 einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift wie Art. 2 Abs. 1 Buchst. a des Decreto legislativo Nr. 231 entgegen, die Werkverträge unabhängig von ihrer öffentlichen oder privaten Natur und im Besonderen öffentliche Bauaufträge im Sinne der Richtlinie 2004/18 vom Begriff des „Geschäftsverkehrs“ – verstanden als Geschäftsvorgänge, die „ausschließlich oder überwiegend zu einer Lieferung von Gütern oder Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt führen“ – und somit vom eigenen Anwendungsbereich ausnimmt?

 Zur Vorlagefrage

33      Die Vorlagefrage ist so zu verstehen, dass mit ihr geklärt werden soll, ob Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35 dahin auszulegen ist, dass ein öffentlicher Bauauftrag einen Geschäftsvorgang im Sinne dieser Bestimmung darstellt und somit in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt.

34      Hierzu ist zunächst festzustellen, dass die Italienische Republik von der den Mitgliedstaaten durch Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2011/7 eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, bei der Umsetzung dieser Richtlinie vor dem 16. März 2013 geschlossene Verträge auszunehmen. Wie aus Rn. 21 des vorliegenden Urteils hervorgeht, wurde das Decreto legislativo Nr. 192, mit dem die Richtlinie 2011/7 in das italienische Recht umgesetzt wurde, gemäß seinem Art. 3 für auf ab dem 1. Januar 2013 geschlossene Geschäfte anwendbar erklärt.

35      Da der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Vertrag am 29. April 2010 geschlossen wurde, fällt er in den zeitlichen Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/35, die nach Art. 13 der Richtlinie 2011/7 vorbehaltlich des in Art. 6 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2000/35 geregelten Falles für vor dem 16. März 2013 geschlossene Verträge anwendbar bleibt.

36      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass es im Sachverhalt des Ausgangsverfahrens darum geht, dass ASL ihrer Zahlungspflicht aus dem mit Techbau geschlossenen Werkvertrag, der die Errichtung eines öffentlichen Bauwerks zum Gegenstand hatte, verspätet nachgekommen ist. Ausweislich der Vorlageentscheidung fällt dieser entgeltliche Vertrag, der zwischen der ASL als öffentlicher Auftraggeberin und Techbau als Zuschlagsempfängerin und damit Wirtschaftsteilnehmerin geschlossen wurde, unter den Begriff „öffentliche Aufträge“ und insbesondere unter den Begriff „öffentliche Bauaufträge“ im Sinne der Richtlinie 2004/18. Diese Begriffe werden in Art. 1 Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2004/18 definiert als „zwischen einem oder mehreren Wirtschaftsteilnehmern und einem oder mehreren öffentlichen Auftraggebern geschlossene schriftliche entgeltliche Verträge über die Ausführung von Bauleistungen, die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen im Sinne dieser Richtlinie“ bzw. als „öffentliche Aufträge über entweder die Ausführung oder gleichzeitig die Planung und die Ausführung von Bauvorhaben im Zusammenhang mit einer der in Anhang I genannten Tätigkeiten oder eines Bauwerks oder die Erbringung einer Bauleistung durch Dritte, gleichgültig mit welchen Mitteln, gemäß den vom öffentlichen Auftraggeber genannten Erfordernissen“.

37      Der Begriff „Geschäftsverkehr“ im Sinne der Richtlinie 2000/35 wird in deren Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 als „Geschäftsvorgänge zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen, die zu einer Lieferung von Gütern oder Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt führen“, definiert, ohne dass öffentliche Bauaufträge oder allgemein die Errichtung von Bauwerken oder die Ausführung von Bauleistungen ausdrücklich erwähnt und die darin enthaltenen Begriffe „Lieferung von Gütern“ oder „Erbringung von Dienstleistungen“ definiert würden (vgl. entsprechend zur Auslegung von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2011/7 Urteil vom 9. Juli 2020, RL [Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug], C‑199/19, EU:C:2020:548, Rn. 27).

38      Da Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35 außerdem für die Ermittlung seines Sinnes und seiner Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, muss diese Bestimmung in der Regel in der gesamten Union autonom und einheitlich ausgelegt werden. Dabei sind sowohl ihr Wortlaut als auch der Zusammenhang, in dem sie steht, und die Ziele, die sie verfolgt (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Juli 2020, RL [Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug], C‑199/19, EU:C:2020:548, Rn. 27), sowie gegebenenfalls ihre Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Dezember 2018, Wightman u. a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 47).

39      Was als Erstes den Wortlaut von Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35 betrifft, so stellt diese Bestimmung zwei Voraussetzungen dafür auf, dass ein Geschäftsvorgang unter den darin genannten Begriff „Geschäftsverkehr“ fällt. Erstens muss er entweder zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen erfolgen und zweitens zu einer Lieferung von Gütern oder Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt führen (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Juli 2020, RL [Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug], C‑199/19, EU:C:2020:548, Rn. 24).

40      In Bezug auf die erste Voraussetzung, deren Auslegung für das vorlegende Gericht unproblematisch ist, genügt der Hinweis, dass der Begriff „öffentliche Stelle“ nach Art. 2 Nr. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2000/35 „jeden öffentlichen Auftraggeber oder Auftraggeber im Sinne der Richtlinien über das öffentliche Auftragswesen“ bezeichnet, während der Begriff „Unternehmen“ nach Art. 2 Nr. 1 Abs. 3 dieser Richtlinie „jede im Rahmen ihrer unabhängigen wirtschaftlichen oder beruflichen Tätigkeit handelnde Organisation, auch wenn die Tätigkeit von einer einzelnen Person ausgeübt wird“, bezeichnet.

41      Zu der zweiten in Rn. 39 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzung, wonach der fragliche Geschäftsvorgang „zu einer Lieferung von Gütern oder Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt führen“ muss, ist festzustellen, dass die Richtlinie 2000/35 nach ihrem Art. 1 im Licht der Erwägungsgründe 13 und 22 auf alle Zahlungen anzuwenden ist, die als Entgelt im Geschäftsverkehr, auch zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen, zu leisten sind, nicht aber auf Geschäfte mit Verbrauchern und andere Arten von Zahlungen nach Art. 6 Abs. 3 dieser Richtlinie. Da Geschäfte, die öffentliche Bauaufträge betreffen, jedoch nicht unter letztere Bestimmung fallen, können sie nicht vom sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommen sein.

42      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass Art. 1 in Verbindung mit Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35 deren Anwendungsbereich sehr weit definiert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. November 2019, KROL, C‑722/18, EU:C:2019:1028, Rn. 31 und 32).

43      Unter diesen Umständen kann ein öffentlicher Bauauftrag im Sinne von Art. 1 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2004/18 nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/35, der in ihrem Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 geregelt ist, ausgenommen sein.

44      Außerdem zeigt die Verwendung der Worte „die zu... führen“ in Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35 zur Beschreibung des Zusammenhangs, der zwischen dem „Geschäftsvorgang“ einerseits und der „Lieferung von Gütern“ oder der „Erbringung von Dienstleistungen“ andererseits bestehen muss, dass ein Geschäftsvorgang, der nicht die Lieferung von Gütern oder die Erbringung von Dienstleistungen zum Gegenstand hat, dennoch unter den Begriff „Geschäftsverkehr“ im Sinne dieser Bestimmung fallen kann, wenn er tatsächlich zu einer solchen Lieferung oder Erbringung führt.

45      Hat ein öffentlicher Bauauftrag die Errichtung eines Bauwerks oder die Ausführung von Bauleistungen zum Gegenstand, können sich die Verpflichtungen, die der Wirtschaftsteilnehmer im Rahmen dieses Vertrags gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber eingegangen ist, durchaus – wie im vorliegenden Fall – in der Erbringung von Dienstleistungen, wie der Ausarbeitung eines durch die Ausschreibung umrissenen Projekts oder der Erfüllung administrativer Formalitäten, oder in der Lieferung von Gütern, wie der Lieferung von Material für die Errichtung des fraglichen Bauwerks, niederschlagen.

46      Somit spricht schon der Wortlaut von Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35 für eine Auslegung dieser Bestimmung dahin, dass ein öffentlicher Bauauftrag unter den Begriff „Geschäftsverkehr“ im Sinne dieser Bestimmung fallen kann.

47      Als Zweites bestätigt der Zusammenhang, in dem die Bestimmung steht, diese Auslegung. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der dort verwendete Begriff „öffentliche Stelle“ nach Art. 2 Nr. 1 Abs. 2 der Richtlinie 2000/35 „jeden öffentlichen Auftraggeber oder Auftraggeber im Sinne der Richtlinien über das öffentliche Auftragswesen“ bezeichnet.

48      Der ausdrückliche Verweis auf den entsprechenden Begriff „öffentliche Auftraggeber“, der sich insbesondere in Art. 1 Abs. 9 der Richtlinie 2004/18 findet, würde jedoch seiner praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn die von diesen Auftraggebern vergebenen öffentlichen Bauaufträge, die den Vorschriften und Verfahren dieser Richtlinien unterliegen, nicht unter den Begriff „Geschäftsverkehr“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35 und damit nicht in deren sachlichen Anwendungsbereich fielen.

49      Außerdem unterscheidet zwar die Richtlinie 2004/18 anhand des Auftragsgegenstands zwischen öffentlichen Bauaufträgen, Lieferaufträgen und Dienstleistungsaufträgen, jedoch ist mangels eines entsprechenden Hinweises nicht ersichtlich, dass der Richtlinie 2000/35 eine solche Unterscheidung zugrunde läge und damit öffentliche Bauaufträge von den Begriffen „Lieferung von Gütern“ und „Erbringung von Dienstleistungen“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie ausgenommen wären.

50      Da im Übrigen die auf der Grundlage von Art. 95 EG (jetzt Art. 114 AEUV) erlassene Richtlinie 2000/35 in den Bereich der Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten fällt, dessen Zweck die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts ist, können bei ihrer Auslegung die Begriffe „Güter“ und „Dienstleistungen“ im Sinne der Bestimmungen des AEU-Vertrags über den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr sowie im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung dieser Grundfreiheiten berücksichtigt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 9. Juli 2020, RL [Richtlinie zur Bekämpfung von Zahlungsverzug], C‑199/19, EU:C:2020:548, Rn. 30).

51      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sind unter „Waren“ im Sinne von Art. 28 Abs. 1 AEUV Erzeugnisse zu verstehen, die einen Geldwert haben und deshalb als solche Gegenstand von Handelsgeschäften sein können (Urteil vom 23. Januar 2018, Buhagiar u. a., C‑267/16, EU:C:2018:26, Rn. 67). Der Begriff „Dienstleistungen“ bezeichnet nach Art. 57 Abs. 1 AEUV Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. In Art. 57 Abs. 2 AEUV sind beispielhaft bestimmte Tätigkeiten aufgezählt, die unter diesen Begriff fallen, darunter kaufmännische Tätigkeiten.

52      Im Licht der in der vorstehenden Randnummer erwähnten Definitionen des AEU-Vertrags im Bereich der Grundfreiheiten und der dazu ergangenen Rechtsprechung besteht daher kaum ein Zweifel daran, dass ein Werkvertrag, der die Errichtung eines Bauwerks oder die Ausführung von Bauleistungen zum Gegenstand hat, im Allgemeinen und ein öffentlicher Bauauftrag im Besonderen die Lieferung von „Waren“ oder die Erbringung von „Dienstleistungen“ im Sinne der Art. 28 bzw. 57 AEUV umfassen. Demnach kann ein öffentlicher Bauauftrag zur Lieferung von Gütern oder zur Erbringung von Dienstleistungen im Sinne von Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35 führen.

53      Was als Drittes das Ziel der Richtlinie 2000/35 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie nach ihren Erwägungsgründen 9, 10 und 20 die Folgen des Zahlungsverzugs harmonisieren soll, damit diese abschreckend wirken und so Beeinträchtigungen der Geschäftsvorgänge im gesamten Binnenmarkt vermieden werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. November 2019, KROL, C‑722/18, EU:C:2019:1028, Rn. 35).

54      Der Ausschluss eines nicht unerheblichen Teils des Geschäftsverkehrs, nämlich jenes, der sich auf öffentliche Bauaufträge bezieht, von der Inanspruchnahme der in der Richtlinie 2000/35 vorgesehenen Mechanismen zur Bekämpfung von Zahlungsverzug liefe zum einen dem im 22. Erwägungsgrund der Richtlinie genannten Ziel dieser Richtlinie zuwider, nämlich dass diese den gesamten Geschäftsverkehr unabhängig davon regeln sollte, ob er zwischen privaten oder öffentlichen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und öffentlichen Stellen erfolgt. Zum anderen hätte ein solcher Ausschluss zwangsläufig zur Folge, dass die praktische Wirksamkeit dieser Mechanismen verringert würde, und zwar auch in Bezug auf Geschäfte zwischen Wirtschaftsteilnehmern aus verschiedenen Mitgliedstaaten.

55      Dies gilt umso mehr, als, wie die Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen ausgeführt hat, Zahlungsverzug bei öffentlichen Bauaufträgen aufgrund der wirtschaftlichen Kosten und der Risiken, die diese Aufträge für die Wirtschaftsteilnehmer mit sich bringen, wesentlich größere Probleme aufwerfen kann als bei anderen Aufträgen.

56      Was als Viertes die Entstehungsgeschichte der Richtlinie 2000/35 betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission in der Begründung des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Handelsverkehr vom 25. März 1998 (ABl. 1998, C 168, S. 13), auf den diese Richtlinie zurückgeht, zum einen das vertragliche Ungleichgewicht, das zwischen einer großen Zahl von Unternehmen und den öffentlichen Stellen insbesondere in bestimmten Branchen wie der Baubranche besteht und dazu führen kann, dass die Zahlungsbedingungen den Unternehmen auferlegt werden, ohne dass diese tatsächlich die Möglichkeit hätten, sie auszuhandeln, und zum anderen die Notwendigkeit, die Folgen von Zahlungsverzug im öffentlichen Bausektor zu regeln, hervorgehoben hat.

57      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35 dahin auszulegen ist, dass ein öffentlicher Bauauftrag einen Geschäftsvorgang, der zu einer Lieferung von Gütern oder Erbringung von Dienstleistungen führt, im Sinne dieser Bestimmung darstellt und somit in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt.

 Kosten

58      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr ist dahin auszulegen, dass ein öffentlicher Bauauftrag einen Geschäftsvorgang, der zu einer Lieferung von Gütern oder Erbringung von Dienstleistungen führt, im Sinne dieser Bestimmung darstellt und somit in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.