URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)
14. Januar 2021(*)
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Richtlinie 2014/24/EU – Art. 57 Abs. 6 – Fakultative Ausschlussgründe – Vom Wirtschaftsteilnehmer zum Nachweis seiner Zuverlässigkeit trotz des Vorliegens eines fakultativen Ausschlussgrundes ergriffene Maßnahmen – Verpflichtung des Wirtschaftsteilnehmers, die Maßnahmen aus eigenem Antrieb nachzuweisen – Unmittelbare Wirkung“
In der Rechtssache C‑387/19
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 7. Mai 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Mai 2019, in dem Verfahren
RTS infra BVBA,
Aannemingsbedrijf Norré-Behaegel BVBA
gegen
Vlaams Gewest
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter N. Piçarra, D. Šváby (Berichterstatter) und S. Rodin sowie der Richterin K. Jürimäe,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der RTS infra BVBA und der Aannemingsbedrijf Norré-Behaegel BVBA, vertreten durch J. Goethals, advocaat,
– der belgischen Regierung, vertreten durch J.‑C. Halleux, L. Van den Broeck und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von F. Judo und N. Goethals, advocaten,
– der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,
– der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten,
– der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und M. Fruhmann als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Haasbeek und M. P. Ondrůšek als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. September 2020
folgendes
Urteil
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 57 Abs. 4, 6 und 7 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65) in der durch die Delegierte Verordnung (EU) 2015/2170 der Kommission vom 24. November 2015 (ABl. 2015, L 307, S. 5) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2014/24).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der RTS infra BVBA und der Aannemingsbedrijf Norré-Behaegel BVBA auf der einen und dem Vlaams Gewest (Flämische Region, Belgien) auf der anderen Seite über dessen Entscheidung, diese beiden Unternehmen von einem öffentlichen Vergabeverfahren auszuschließen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2014/24
3 Im 102. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24 heißt es:
„Es sollte … berücksichtigt werden, dass Wirtschaftsteilnehmer Compliance-Maßnahmen treffen können, um die Folgen etwaiger strafrechtlicher Verstöße oder eines Fehlverhaltens zu beheben und weiteres Fehlverhalten wirksam zu verhindern. Bei diesen Maßnahmen kann es sich insbesondere um Personal- und Organisationsmaßnahmen handeln, wie den Abbruch aller Verbindungen zu an dem Fehlverhalten beteiligten Personen oder Organisationen, geeignete Personalreorganisationsmaßnahmen, die Einführung von Berichts- und Kontrollsystemen, die Schaffung einer internen Audit-Struktur zur Überwachung der Compliance oder die Einführung interner Haftungs- und Entschädigungsregelungen. Soweit derartige Maßnahmen ausreichende Garantien bieten, sollte der jeweilige Wirtschaftsteilnehmer nicht länger alleine aus diesen Gründen ausgeschlossen werden. Wirtschaftsteilnehmer sollten beantragen können, dass die im Hinblick auf ihre etwaige Zulassung zum Vergabeverfahren getroffenen Compliance-Maßnahmen geprüft werden. Es sollte jedoch den Mitgliedstaaten überlassen werden, die genauen verfahrenstechnischen und inhaltlichen Bedingungen zu bestimmen, die in diesem Fall gelten. Es sollte ihnen insbesondere freistehen zu entscheiden, es den jeweiligen öffentlichen Auftraggebern zu überlassen, die einschlägigen Bewertungen vorzunehmen, oder sie anderen Behörden auf zentraler oder dezentraler Ebene zu übertragen.“
4 Art. 18 („Grundsätze der Auftragsvergabe“) der Richtlinie 2014/24 bestimmt in Abs. 1:
„Die öffentlichen Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer in gleicher und nichtdiskriminierender Weise und handeln transparent und verhältnismäßig.
…“
5 In Art. 57 („Ausschlussgründe“) der Richtlinie 2014/24 heißt es in den Abs. 4 bis 7:
„(4) Öffentliche Auftraggeber können in einer der folgenden Situationen einen Wirtschaftsteilnehmer von der Teilnahme an einem Vergabeverfahren ausschließen oder dazu von den Mitgliedstaaten verpflichtet werden:
…
c) der öffentliche Auftraggeber kann auf geeignete Weise nachweisen, dass der Wirtschaftsteilnehmer im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen hat, die seine Integrität in Frage stellt;
…
g) der Wirtschaftsteilnehmer hat bei der Erfüllung einer wesentlichen Anforderung im Rahmen eines früheren öffentlichen Auftrags, eines früheren Auftrags mit einem Auftraggeber oder eines früheren Konzessionsvertrags erhebliche oder dauerhafte Mängel erkennen lassen, die die vorzeitige Beendigung dieses früheren Auftrags, Schadenersatz oder andere vergleichbare Sanktionen nach sich gezogen haben;
h) der Wirtschaftsteilnehmer hat sich bei seinen Auskünften zur Überprüfung des Fehlens von Ausschlussgründen und der Einhaltung der Eignungskriterien einer schwerwiegenden Täuschung schuldig gemacht, derartige Auskünfte zurückgehalten oder ist nicht in der Lage, die gemäß Artikel 59 erforderlichen zusätzlichen Unterlagen einzureichen …
…
(5) …
Zu jedem Zeitpunkt des Verfahrens können die öffentlichen Auftraggeber einen Wirtschaftsteilnehmer ausschließen oder von den Mitgliedstaaten zum Ausschluss eines Wirtschaftsteilnehmers verpflichtet werden, wenn sich herausstellt, dass sich der Wirtschaftsteilnehmer in Bezug auf Handlungen oder Unterlassungen vor oder während des Verfahrens in einer der in Absatz 4 genannten Situationen befindet.
(6) Jeder Wirtschaftsteilnehmer, der sich in einer der in den Absätzen 1 und 4 genannten Situationen befindet, kann Nachweise dafür erbringen, dass die Maßnahmen des Wirtschaftsteilnehmers ausreichen, um trotz des Vorliegens eines einschlägigen Ausschlussgrundes seine Zuverlässigkeit nachzuweisen. Werden solche Nachweise für ausreichend befunden, so wird der betreffende Wirtschaftsteilnehmer nicht von dem Vergabeverfahren ausgeschlossen.
Zu diesem Zweck weist der Wirtschaftsteilnehmer nach, dass er einen Ausgleich für jeglichen durch eine Straftat oder Fehlverhalten verursachten Schaden gezahlt oder sich zur Zahlung eines Ausgleichs verpflichtet hat, die Tatsachen und Umstände umfassend durch eine aktive Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden geklärt und konkrete technische, organisatorische und personelle Maßnahmen ergriffen hat, die geeignet sind, weitere Straftaten oder Verfehlungen zu vermeiden.
Die von den Wirtschaftsteilnehmern ergriffenen Maßnahmen werden unter Berücksichtigung der Schwere und besonderen Umstände der Straftat oder des Fehlverhaltens bewertet. Werden die Maßnahmen als unzureichend befunden, so erhält der Wirtschaftsteilnehmer eine Begründung dieser Entscheidung.
Ein Wirtschaftsteilnehmer, der durch eine rechtskräftig[e] gerichtlich[e] Entscheidung von der Teilnahme an Verfahren zur Auftrags- oder Konzessionsvergabe ausgeschlossen wurde, ist während des Ausschlusszeitraumes, der in dieser Entscheidung festgelegt wurde, nicht berechtigt, in den Mitgliedstaaten, in denen die Entscheidung wirksam ist, von der in diesem Absatz gewährten Möglichkeit Gebrauch zu machen.
(7) Die Mitgliedstaaten legen durch Gesetz, Verordnung oder Verwaltungsvorschrift und unter Beachtung des Unionsrechts die Bedingungen für die Anwendung dieses Artikels fest. Sie bestimmen insbesondere den höchstzulässigen Zeitraum des Ausschlusses für den Fall, dass der Wirtschaftsteilnehmer keine Maßnahmen gemäß Absatz 6 zum Nachweis seiner Zuverlässigkeit ergreift. Wurde [ein] Ausschlusszeitraum nicht durch rechtskräftige gerichtliche Entscheidung festgelegt, so darf dieser Zeitraum in den in Absatz 1 genannten Fällen fünf Jahre ab dem Tag der rechtskräftigen Verurteilung und in den in Absatz 4 genannten Fällen drei Jahre ab dem betreffenden Ereignis nicht überschreiten.“
6 Art. 59 („Einheitliche Europäische Eigenerklärung“) der Richtlinie 2014/24 bestimmt in den Abs. 1 und 2:
„(1) Zum Zeitpunkt der Übermittlung von Teilnahmeanträgen und Angeboten akzeptieren die öffentlichen Auftraggeber die Einheitliche Europäische Eigenerklärung in Form einer aktualisierten Eigenerklärung anstelle von Bescheinigungen von Behörden oder Dritten als vorläufigen Nachweis dafür, dass der jeweilige Wirtschaftsteilnehmer alle nachfolgend genannten Bedingungen erfüllt:
a) Er befindet sich in keiner der in Artikel 57 genannten Situationen, in der Wirtschaftsteilnehmer ausgeschlossen werden oder ausgeschlossen werden können;
…
Die Einheitliche Europäische Eigenerklärung besteht aus einer förmlichen Erklärung des Wirtschaftsteilnehmers, dass der jeweilige Ausschlussgrund nicht vorliegt und/oder dass das jeweilige Auswahlkriterium erfüllt ist, und enthält die einschlägigen vom öffentlichen Auftraggeber verlangten Informationen. Ferner sind darin der öffentliche Auftraggeber oder der für die Ausstellung der zusätzlichen Unterlagen zuständige Dritte genannt und es ist darin eine förmliche Erklärung enthalten, dass der Wirtschaftsteilnehmer in der Lage sein wird, auf Anfrage und unverzüglich diese zusätzlichen Unterlagen beizubringen.
…
(2) Die Einheitliche Europäische Eigenerklärung wird auf der Grundlage eines Standardformulars erstellt. Die [Europäische] Kommission legt das Standardformular im Wege von Durchführungsrechtsakten fest. …“
7 Art. 69 („Ungewöhnlich niedrige Angebote“) der Richtlinie 2014/24 bestimmt in Abs. 1:
„Die öffentlichen Auftraggeber schreiben den Wirtschaftsteilnehmern vor, die im Angebot vorgeschlagenen Preise oder Kosten zu erläutern, wenn diese im Verhältnis zu den angebotenen Bauleistungen, Lieferungen oder Dienstleistungen ungewöhnlich niedrig erscheinen.“
8 In Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24 ist vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten die Rechts- und Verwaltungsvorschriften in Kraft setzen, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie bis zum 18. April 2016 nachzukommen, während ihr Art. 91 Abs. 1 bestimmt, dass die Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge (ABl. 2004, L 134, S. 114) mit Wirkung zum 18. April 2016 aufgehoben wird.
Durchführungsverordnung (EU) 2016/7
9 Anhang 2 Teil III Abschnitt C der Durchführungsverordnung (EU) 2016/7 der Kommission vom 5. Januar 2016 zur Einführung eines Standardformulars für die Einheitliche Europäische Eigenerklärung (ABl. 2016, L 3, S. 16) enthält u. a. folgende zwei Rubriken:
„… | … |
Hat der Wirtschaftsteilnehmer im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung … begangen? Falls ja, bitte näher ausführen: | [] Ja [] Nein [………………] |
| Falls ja: Hat der Wirtschaftsteilnehmer ‚selbstreinigende‘ Maßnahmen getroffen? [] Ja [] Nein Falls ja, beschreiben Sie bitte die Maßnahmen: [………………] |
… | … |
Wurde in der Vergangenheit ein zwischen dem Wirtschaftsteilnehmer und einem öffentlichen Auftraggeber oder Sektorenauftraggeber geschlossener Vertrag über die Vergabe eines öffentlichen Auftrags oder einer Konzession vorzeitig beendet oder hat ein entsprechender früherer Auftrag Schadenersatz oder andere vergleichbare Sanktionen nach sich gezogen? Falls ja, bitte näher ausführen: | [] Ja [] Nein [………………] |
| Falls ja: Hat der Wirtschaftsteilnehmer ‚selbstreinigende‘ Maßnahmen getroffen? [] Ja [] Nein Falls ja, beschreiben Sie bitte die Maßnahmen: [………………] |
… | …“ |
Belgisches Recht
10 Art. 61 § 2 Nr. 4 des Koninklijk besluit van 15 juli 2011 plaatsing overheidsopdrachten klassieke sectoren (Königlicher Erlass vom 15. Juli 2011 über die Vergabe öffentlicher Aufträge in den klassischen Bereichen (Belgisch Staatsblad, 9. August 2011, S. 44862, deutsche Übersetzung: Belgisches Staatsblatt, 28. Juni 2013, S. 41039) bestimmt in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung:
„Gemäß Artikel 20 des Gesetzes [vom 15. Juni 2006 über öffentliche Aufträge und bestimmte Bau‑, Liefer- und Dienstleistungsaufträge/Wet overheidsopdrachten en bepaalde opdrachten voor werken, leveringen en diensten (Belgisch Staatsblad vom 15. Februar 2007, S. 7355, deutsche Übersetzung: Belgisches Staatsblatt, 5. Februar 2008, S. 6523)] können vom Auftragszugang in gleich welchem Stadium des Verfahrens Bewerber oder Bieter ausgeschlossen werden:
…
4. die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit eine schwere Verfehlung begangen haben,
…“
11 Art. 70 der am 30. Juni 2017 in Kraft getretenen Wet van 17 juni 2016 inzake overheidsopdrachten (Gesetz vom 17. Juni 2016 über die öffentlichen Aufträge, Belgisch Staatsblad, 14. Juli 2016, S. 44219, deutsche Übersetzung: Belgisches Staatsblatt, 22. Januar 2018, S. 4083, im Folgenden: Gesetz vom 17. Juni 2016) sieht vor:
„Bewerber und Bieter, die sich in einer der in den Artikeln 67 oder 69 genannten Situationen befinden, können Nachweise dafür erbringen, dass die von ihnen getroffenen Maßnahmen ausreichen, um trotz des Vorliegens eines einschlägigen Ausschlussgrundes ihre Zuverlässigkeit nachzuweisen. Befindet der öffentliche Auftraggeber die Nachweise für ausreichend, so wird der betreffende Bewerber oder Bieter nicht von dem Vergabeverfahren ausgeschlossen.
Zu diesem Zweck weist der Bewerber oder Bieter aus eigenem Antrieb nach, dass er einen Ausgleich für jeglichen durch eine Straftat oder ein Fehlverhalten verursachten Schaden gezahlt oder sich zur Zahlung eines Ausgleichs verpflichtet hat, die Tatsachen und Umstände umfassend durch eine aktive Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden geklärt und konkrete technische, organisatorische und personelle Maßnahmen ergriffen hat, die geeignet sind, weitere Straftaten oder Verfehlungen zu vermeiden.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
12 Mit einer Bekanntmachung, die am 11. Mai 2016 im Bulletin der Aanbestedingen (Anzeiger der Ausschreibungen) und am 13. Mai 2016 im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht wurde, leitete die Afdeling Wegen en Verkeer Oost-Vlaanderen (Abteilung Straßen- und Verkehrswesen Ost-Flandern) der Agentschap Wegen en Verkeer van het Vlaamse gewest (Agentur für Straßen- und Verkehrswesen der Flämischen Region, Belgien) ein Vergabeverfahren für den Ausbau des Knotenpunkts Nieuwe Steenweg (N60) und der Auf- und Abfahrten zur E17 in De Pinte ein. In der Ausschreibung wurde u. a. auf die Ausschlussgründe hingewiesen, die in Art. 61 §§ 1 und 2 des Königlichen Erlasses vom 15. Juli 2011 über die Vergabe öffentlicher Aufträge in den klassischen Bereichen in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung vorgesehen waren, darunter „schwere berufliche Verfehlungen“.
13 Nachdem sechs Angebote, darunter das der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, eingegangen waren, schloss die Flämische Region die Klägerinnen mit Entscheidung vom 13. Oktober 2016 von der Teilnahme an der Ausschreibung aus und vergab den Auftrag an das Unternehmen, das das niedrigste ordnungsgemäße Angebot abgegeben hatte.
14 Die Flämische Region begründete den Ausschluss der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens mit dem Umstand, dass sie im Rahmen der Ausführung früherer, von demselben öffentlichen Auftraggeber wie im Ausgangsverfahren vergebener Aufträge „schwere berufliche Verfehlungen“ begangen hätten, die zum größten Teil mit Strafmaßnahmen geahndet worden seien und Aspekte betroffen hätten, die für die Ausführung des Auftrags, für den sie jetzt ein Angebot eingereicht hätten, von Bedeutung seien. In diesem Zusammenhang ging die Flämische Region davon aus, dass die schwerwiegenden und wiederholten Vertragsverletzungen der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens es zweifelhaft und unsicher erscheinen ließen, ob sie in der Lage wären, eine ordnungsgemäße Ausführung des neuen Auftrags zu gewährleisten.
15 Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens erhoben beim vorlegenden Gericht Klage auf Aufhebung der Entscheidung vom 13. Oktober 2016. Sie berufen sich insoweit darauf, dass ihnen vor ihrem Ausschluss aufgrund der behaupteten schweren beruflichen Verfehlungen die Gelegenheit hätte eingeräumt werden müssen, dem entgegenzutreten und den Nachweis zu erbringen, dass sie diesen Verfehlungen durch geeignete Abhilfemaßnahmen abgeholfen hätten. Dies sei so in Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 bestimmt, der unmittelbare Wirkung habe.
16 Der öffentliche Auftraggeber stellt eine unmittelbare Wirkung dieser Bestimmung in Abrede. Außerdem sei in Art. 70 des Gesetzes vom 17. Juni 2016, auch wenn es erst am 30. Juni 2017 und mithin nach dem Erlass der Entscheidung vom 13. Oktober 2016 in Kraft getreten sei, genau bestimmt, dass der betreffende Wirtschaftsteilnehmer die getroffenen Abhilfemaßnahmen aus eigenem Antrieb nachzuweisen habe. Da die Richtlinie 2014/24 keinerlei Bestimmung darüber enthalte, wann und wie der Nachweis für die getroffenen Abhilfemaßnahmen zu erbringen sei, orientiere sich der öffentliche Auftraggeber unter derartigen Umständen an Art. 70 des Gesetzes vom 17. Juni 2016.
17 Um die Begründetheit der bei ihm erhobenen Klage beurteilen zu können, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 57 Abs. 4, 6 und 7 der Richtlinie 2014/24 der Möglichkeit entgegensteht, einen Wirtschaftsteilnehmer wegen einer schweren beruflichen Verfehlung von einem Vergabeverfahren auszuschließen, ohne dass er vorher vom öffentlichen Auftraggeber oder in den Auftragsunterlagen dazu aufgefordert worden wäre, den Nachweis zu erbringen, dass er trotz dieser Verfehlung weiterhin zuverlässig ist.
18 Das vorlegende Gericht führt aus, dass die Annahme einer schweren beruflichen Verfehlung bei dem betreffenden Bieter im freien Ermessen des öffentlichen Auftraggebers liege und sich die entsprechende Einstufung daher als für den Bieter schwer vorhersehbar erweisen könne. Die Wirtschaftsteilnehmer neigten zudem nicht dazu, sich in gewisser Weise selbst zu beschuldigen, indem sie eine Aufzählung von Verfehlungen lieferten, die vom öffentlichen Auftraggeber möglicherweise als „schwere Verfehlungen“ eingestuft werden könnten. Die Gewährleistung eines kontradiktorischen Verfahrens könnte daher den Wettbewerb im Vergabeverfahren fördern. Den Nachweis über getroffene Abhilfemaßnahmen der Eigeninitiative des Wirtschaftsteilnehmers zu überlassen, ermögliche demgegenüber eine größere Transparenz. Dies gelte umso mehr, als der Wirtschaftsteilnehmer aufgrund der maximalen Ausschlussdauer wisse, für wie lange er von sich aus Abhilfemaßnahmen nachweisen müsse.
19 Falls die erste Frage bejaht werden sollte, möchte das vorlegende Gericht auch wissen, ob die angeführten Bestimmungen der Richtlinie 2014/24 unmittelbare Wirkung haben. Es wirft insbesondere die Frage auf, ob davon ausgegangen werden könne, dass bestimmte Teile dieser Bestimmungen im Bereich der „Selbstreinigung“ Mindestgarantien darstellten und damit als „hinreichend genau und unbedingt“ angesehen werden könnten, um ihnen unmittelbare Wirkung zu verleihen.
20 Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat, Belgien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist Art. 57 Abs. 4 Buchst. c und g in Verbindung mit den Abs. 6 und 7 der Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen, dass er einer Anwendung entgegensteht, bei der ein Wirtschaftsteilnehmer verpflichtet wird, von sich aus den Nachweis über die Maßnahmen zu liefern, die er ergriffen hat, um seine Zuverlässigkeit unter Beweis zu stellen?
2. Falls ja: Hat der so ausgelegte Art. 57 Abs. 4 Buchst. c und g in Verbindung mit den Abs. 6 und 7 der Richtlinie 2014/24 unmittelbare Wirkung?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
21 Da es in den auf öffentliche Aufträge anwendbaren Unionsvorschriften bis zum Erlass und zum Inkrafttreten der Richtlinie 2014/24 keine Art. 57 Abs. 6 dieser Richtlinie, um dessen Auslegung ersucht wird, entsprechende Bestimmung gab, ist einleitend darauf hinzuweisen, dass die Vorlagefragen nur dann relevant sein können, wenn die Richtlinie 2014/24 auf die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Fallgestaltung Anwendung finden sollte. Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass dies der Fall sei, da die Veröffentlichung der Bekanntmachung am 11. und am 13. Mai 2016 nach dem 18. April 2016 erfolgt sei, mithin nach dem Zeitpunkt, zu dem gemäß den Art. 90 und 91 der Richtlinie 2014/24 zum einen diese Richtlinie von den Mitgliedstaaten umzusetzen gewesen und zum anderen die Richtlinie 2004/18 aufgehoben worden sei.
22 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich allerdings, dass der Bekanntmachung eine Vorabinformation vorausging, die am 17. Oktober 2015 veröffentlicht wurde, als die Richtlinie 2004/18 noch anwendbar war.
23 Insoweit lässt sich der ständigen Rechtsprechung entnehmen, dass grundsätzlich diejenige Richtlinie anwendbar ist, die zu dem Datum gilt, zu dem der öffentliche Auftraggeber die Art des Verfahrens auswählt und endgültig entscheidet, ob die Verpflichtung zu einem vorherigen Aufruf zum Wettbewerb für die Vergabe eines öffentlichen Auftrags besteht. Unanwendbar sind hingegen die Bestimmungen einer Richtlinie, deren Umsetzungsfrist nach diesem Datum abgelaufen ist (Urteil vom 27. November 2019, Tedeschi und Consorzio Stabile Istant Service, C‑402/18, EU:C:2019:1023, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
24 Unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Vorabinformation vor dem Ende der Umsetzungsfrist für die Richtlinie 2014/24 veröffentlicht wurde, während die Bekanntmachung zu einem danach liegenden Zeitpunkt veröffentlicht wurde, hat das vorlegende Gericht im vorliegenden Fall zu prüfen, zu welchem Zeitpunkt der öffentliche Auftraggeber die Art des Verfahrens, dem er folgen wollte, festgelegt und endgültig über die Frage entschieden hat, ob eine Verpflichtung zu einem vorherigen Aufruf zum Wettbewerb für die Vergabe des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Auftrags bestand.
Zur ersten Frage
25 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen ist, dass er der Praxis eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der der betreffende Wirtschaftsteilnehmer verpflichtet ist, bei der Einreichung seines Teilnahmeantrags oder Angebots im Rahmen des Verfahrens zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags unaufgefordert den Nachweis über ergriffene Abhilfemaßnahmen zu erbringen, um seine Zuverlässigkeit trotz des Umstands darzulegen, dass bei ihm ein in Art. 57 Abs. 4 dieser Richtlinie genannter fakultativer Ausschlussgrund vorliegt, sofern sich eine solche Verpflichtung weder aus den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften noch aus den Auftragsunterlagen ergibt.
26 Hierzu ist erstens darauf hinzuweisen, dass gemäß Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 jeder Wirtschaftsteilnehmer, bei dem u. a. einer der in Art. 57 Abs. 4 dieser Richtlinie genannten fakultativen Ausschlussgründe vorliegt, Nachweise dafür erbringen kann, dass die von ihm ergriffenen Maßnahmen ausreichen, um seine Zuverlässigkeit nachzuweisen, wobei klargestellt wird, dass der betreffende Wirtschaftsteilnehmer wegen eines solchen Grundes nicht von dem Vergabeverfahren ausgeschlossen wird, wenn diese Nachweise für ausreichend befunden werden. Mit dieser Bestimmung wird somit ein Mechanismus von Abhilfemaßnahmen („self-cleaning“) eingeführt, mit dem den Wirtschaftsteilnehmern insoweit ein Recht verliehen wird, das die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie unter Beachtung der darin festgelegten Voraussetzungen zu gewährleisten haben (vgl. entsprechend zu Art. 38 Abs. 9 der Richtlinie 2014/23/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die Konzessionsvergabe [ABl. 2014, L 94, S. 1], der Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 entspricht, Urteil vom 11. Juni 2020, Vert Marine, C‑472/19, EU:C:2020:468, Rn. 16 und 17).
27 Eine Klarstellung, in welcher Weise oder in welchem Stadium des Vergabeverfahrens der Nachweis für Abhilfemaßnahmen zu erbringen ist, lässt sich weder dem Wortlaut von Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 noch ihrem 102. Erwägungsgrund entnehmen.
28 Unter diesen Umständen ist hervorzuheben, dass die den Wirtschaftsteilnehmern eingeräumte Möglichkeit, den Nachweis für ergriffene Abhilfemaßnahmen zu erbringen, in Anbetracht des bloßen Wortlauts von Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 ebenso aus eigenem Antrieb wie auch auf Betreiben des öffentlichen Auftraggebers erfolgen kann. In gleicher Weise kann der Nachweise ebenso gut bei der Einreichung des Teilnahmeantrags oder des Angebots wie auch in einem späteren Verfahrensstadium erfolgen.
29 Diese Auslegung wird durch das mit Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 verfolgte Ziel gestützt. Diese Vorschrift soll nämlich, indem sie vorsieht, dass jeder Wirtschaftsteilnehmer den Nachweis für Abhilfemaßnahmen erbringen können muss, die Bedeutung unterstreichen, die der Zuverlässigkeit des Wirtschaftsteilnehmers beigemessen wird, und damit eine objektive Bewertung der Wirtschaftsteilnehmer und einen wirksamen Wettbewerb sicherstellen (vgl. entsprechend Urteil vom 11. Juni 2020, Vert Marine, C‑472/19, EU:C:2020:468, Rn. 22). Dieses Ziel lässt sich indessen erreichen, wenn der Nachweis von Abhilfemaßnahmen in einem beliebigen Verfahrensstadium vor dem Ergehen der Vergabeentscheidung erbracht wird; das Wesentliche ist, dass dem Wirtschaftsteilnehmer die Möglichkeit gegeben wird, sich auf Maßnahmen, die es seiner Ansicht nach erlauben, einem bei ihm vorliegenden Ausschlussgrund abzuhelfen, zu berufen und diese prüfen zu lassen.
30 Diese Auslegung wird auch durch den Regelungszusammenhang von Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 gestützt. Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Bedingungen für die Anwendung von Art. 57 dieser Richtlinie und folglich auch von dessen Abs. 6 gemäß Art. 57 Abs. 7 von den Mitgliedstaaten unter Beachtung des Unionsrechts festzulegen sind. Im Rahmen des ihnen bei der Bestimmung der Verfahrensmodalitäten von Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie zustehenden Gestaltungsspielraums (vgl. entsprechend Urteil vom 11. Juni 2020, Vert Marine, C‑472/19, EU:C:2020:468, Rn. 23) können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Nachweis der Abhilfemaßnahmen bei der Einreichung eines Teilnahmeantrags oder eines Angebots durch den Wirtschaftsteilnehmer unaufgefordert zu erbringen ist. Sie können aber auch vorsehen, dass ein solcher Nachweis erbracht werden kann, nachdem der Wirtschaftsteilnehmer in einem späteren Verfahrensstadium vom öffentlichen Auftraggeber förmlich dazu aufgefordert wurde.
31 Dieser Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten lässt jedoch die Bestimmungen der Richtlinie 2014/24 unberührt, die für die Wirtschaftsteilnehmer die Möglichkeit vorsehen, den Nachweis von Abhilfemaßnahmen unaufgefordert ab der Einreichung ihres Antrags auf Teilnahme an dem Vergabeverfahren oder ihres Angebots zu erbringen. Wie der Generalanwalt in Nr. 49 seiner Schlussanträge der Sache nach ausgeführt hat, sieht Art. 59 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2014/24 vor, dass die öffentlichen Auftraggeber bei der Einreichung solcher Anträge oder Angebote die Einheitliche Europäische Eigenerklärung zu akzeptieren haben, ein Dokument, mit dem der Wirtschaftsteilnehmer unter dem Vorbehalt späterer Nachprüfung erklärt, dass bei ihm ein Ausschlussgrund vorliege und er „selbstreinigende“ Maßnahmen getroffen habe.
32 Die Bestimmungen zur Einheitlichen Europäischen Eigenerklärung in Art. 59 der Richtlinie 2014/24 stehen indessen einer Entscheidung der Mitgliedstaaten nicht entgegen, im Rahmen ihres in Rn. 30 des vorliegenden Urteils festgestellten Gestaltungsspielraums dem öffentlichen Auftraggeber die Initiative zu überlassen, den Nachweis für Abhilfemaßnahmen nach der Einreichung des Teilnahmeantrags oder des Angebots auch dann zu verlangen, wenn dem Antrag oder dem Angebot eine Einheitliche Europäische Eigenerklärung beigefügt ist.
33 Aus einer wörtlichen, teleologischen und systematischen Auslegung von Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24, wie sie in den Rn. 27 bis 30 des vorliegenden Urteils vorgenommen wurde, ergibt sich, dass diese Bestimmung weder dem entgegensteht, dass der betreffende Wirtschaftsteilnehmer den Nachweis der Abhilfemaßnahmen von sich aus oder auf ausdrückliche Aufforderung des öffentlichen Auftraggebers erbringt, noch dem, dass dieser Nachweis bei der Einreichung des Teilnahmeantrags bzw. Angebots oder in einem späteren Stadium des Vergabeverfahrens erbracht wird.
34 Zweitens ist klarzustellen, dass die Mitgliedstaaten, wie sich aus Art. 57 Abs. 7 der Richtlinie 2014/24 ergibt, bei der Festlegung der Bedingungen für die Anwendung dieses Art. 57 zur Beachtung des Unionsrechts verpflichtet sind. Sie haben insbesondere nicht nur die in Art. 18 der Richtlinie 2014/24 genannten Grundsätze der Auftragsvergabe zu beachten, zu denen u. a. die Grundsätze der Gleichbehandlung, der Transparenz und der Verhältnismäßigkeit zählen, sondern auch den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, der – als tragender Grundsatz des Unionsrechts, mit dem der Anspruch darauf, in jedem Verfahren gehört zu werden, untrennbar verbunden ist – anwendbar ist, wann immer die Verwaltung beabsichtigt, gegenüber einer Person eine sie beschwerende Maßnahme wie eine Ausschlussentscheidung im Rahmen eines Vergabeverfahrens zu erlassen (Urteil vom 20. Dezember 2017, Prequ' Italia, C‑276/16, EU:C:2017:1010, Rn. 45 und 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Unter diesen Umständen ist zunächst darauf zu verweisen, dass zum einen nach dem Grundsatz der Transparenz alle Bedingungen und Modalitäten des Vergabeverfahrens in der Bekanntmachung oder im Lastenheft klar, genau und eindeutig formuliert sein müssen, damit alle durchschnittlich fachkundigen Wirtschaftsteilnehmer bei Anwendung der üblichen Sorgfalt ihre genaue Bedeutung verstehen und sie in gleicher Weise auslegen können (Urteil vom 14. Dezember 2016, Connexxion Taxi Services, C‑171/15, EU:C:2016:948, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zum anderen verlangt der Grundsatz der Gleichbehandlung, dass die an einer öffentlichen Ausschreibung interessierten Wirtschaftsteilnehmer bei der Abfassung ihrer Angebote die gleichen Chancen haben müssen, dass für sie genau erkennbar ist, welche Bedingungen sie in dem Verfahren zu beachten haben, und dass sie die Gewissheit haben, dass für alle Wettbewerber die gleichen Bedingungen gelten (Urteil vom 14. Dezember 2016, Connexxion Taxi Services, C‑171/15, EU:C:2016:948, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).
36 Wenn ein Mitgliedstaat vorsieht, dass der Wirtschaftsteilnehmer den Nachweis von Abhilfemaßnahmen nur unaufgefordert bei der Einreichung des Teilnahmeantrags oder des Angebots erbringen kann, ohne dass für ihn eine Möglichkeit bestünde, einen derartigen Nachweis in einem späteren Verfahrensstadium zu erbringen, verlangen die Grundsätze der Transparenz und der Gleichbehandlung demzufolge, wie der Generalanwalt der Sache nach in den Nrn. 66 und 67 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass die Wirtschaftsteilnehmer im Vorfeld offen und in klarer, genauer und eindeutiger Weise über das Bestehen einer derartigen Verpflichtung informiert werden und dass sich diese Information unmittelbar aus den Auftragsunterlagen oder einem darin enthaltenen Verweis auf die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften ergibt.
37 Weiterhin impliziert der Anspruch auf rechtliches Gehör, wie der Generalanwalt der Sache nach in den Nrn. 90 und 91 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass die Wirtschaftsteilnehmer, um ihren Standpunkt im Antrag oder im Angebot sachdienlich und wirksam vorbringen zu können, anhand der Angaben in den Auftragsunterlagen und der nationalen Rechtsvorschriften in diesem Bereich in der Lage sein müssen, selbständig die Ausschlussgründe zu identifizieren, die der öffentliche Auftraggeber ihnen entgegenhalten könnte.
38 Schließlich stellt die Verpflichtung für die Wirtschaftsteilnehmer, den Nachweis für Abhilfemaßnahmen unaufgefordert in ihrem Teilnahmeantrag oder ihrem Angebot zu erbringen, keine unzumutbare Hürde für die Ausführung der Regelung über Abhilfemaßnahmen dar, und steht deshalb, soweit sie unter den in den Rn. 36 und 37 des vorliegenden Urteils ausgeführten Voraussetzungen durchgeführt wird, im Einklang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Danach dürfen die von den Mitgliedstaaten oder den öffentlichen Auftraggebern im Rahmen der Umsetzung der Bestimmungen der Richtlinie 2014/24 aufgestellten Regeln, wie etwa die Regeln zur Festlegung der Bedingungen der Anwendung von Art. 57 der Richtlinie, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. Januar 2020, Tim, C‑395/18, EU:C:2020:58, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
39 Im vorliegenden Fall hat das Königreich Belgien zwar nach den Angaben des vorlegenden Gerichts Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 mit Art. 70 des Gesetzes vom 17. Juni 2016 mit der Klarstellung in nationales Recht umgesetzt, dass der Nachweis der Abhilfemaßnahmen vom Wirtschaftsteilnehmer aus eigenem Antrieb zu erbringen ist. Dieses Gesetz war allerdings zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Bekanntgabe genauso wenig in Kraft wie zum Zeitpunkt der Abgabe des Angebots der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens. Den dem Gerichtshof vorliegenden Akten lässt sich außerdem entnehmen, dass in den Auftragsunterlagen, obgleich darin die in den seinerzeit geltenden nationalen Rechtsvorschriften vorgesehenen Ausschlussgründe in Erinnerung gerufen wurden, nicht ausdrücklich angegeben war, dass ein solcher Nachweis von dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer unaufgefordert zu erbringen ist.
40 Unter diesen Umständen durften die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens – unbeschadet der ihnen gemäß den Erfordernissen der Transparenz und der Loyalität obliegenden Verpflichtung, den öffentlichen Auftraggeber über schwere berufliche Verfehlungen zu informieren, die sie im Rahmen der Ausführung vorheriger, von demselben öffentlichen Auftraggeber vergebener Aufträge begangen hatten – auf der bloßen Grundlage von Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 berechtigterweise davon ausgehen, dass sie später vom öffentlichen Auftraggeber aufgefordert würden, den Nachweis für die Abhilfemaßnahmen zu erbringen, die sie ergriffen hatten, um jeglichen vom Auftraggeber möglicherweise geltend gemachten fakultativen Ausschlussgrund zu beheben.
41 Aus den Rn. 34 bis 37 des Urteils vom 3. Oktober 2019, Delta Antrepriză de Construcţii şi Montaj 93 (C‑267/18, EU:C:2019:826), das nationale Rechtsvorschriften betrifft, in denen weder klargestellt wurde, ob der Nachweis der Abhilfemaßnahmen vom Wirtschaftsteilnehmer unaufgefordert zu erbringen ist, noch, in welchem Verfahrensstadium dies zu passieren hat, ergibt sich auch, dass es zwar den Wirtschaftsteilnehmern obliegt, den öffentlichen Auftraggeber ab der Einreichung ihres Teilnahmeantrags oder ihres Angebots über die vorzeitige Beendigung eines früheren Auftrags wegen eines schwerwiegenden Mangels zu informieren. Jedoch muss der öffentliche Auftraggeber den betreffenden Wirtschaftsteilnehmern, wenn er zu dem Ergebnis kommt, dass ein Ausschlussgrund vorliegt, der auf einer solchen Beendigung oder dem Verbergen von Informationen über eine solche Beendigung beruht, die Möglichkeit geben, den Nachweis für ergriffene Abhilfemaßnahmen zu erbringen.
42 Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen ist, dass er einer Praxis entgegensteht, nach der ein Wirtschaftsteilnehmer verpflichtet ist, bei der Einreichung seines Teilnahmeantrags oder Angebots unaufgefordert den Nachweis für ergriffene Abhilfemaßnahmen zu erbringen, um seine Zuverlässigkeit trotz des Umstands darzulegen, dass bei ihm ein in Art. 57 Abs. 4 dieser Richtlinie genannter fakultativer Ausschlussgrund vorliegt, sofern sich eine solche Verpflichtung weder aus den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften noch aus den Auftragsunterlagen ergibt. Dagegen steht Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie einer solchen Verpflichtung dann nicht entgegen, wenn sie in den nationalen Rechtsvorschriften klar, genau und eindeutig vorgesehen ist und dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer über die Auftragsunterlagen zur Kenntnis gebracht wird.
Zur zweiten Frage
43 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen ist, dass er unmittelbare Wirkung entfaltet.
44 Hierzu ergibt sich aus ständiger Rechtsprechung, dass es in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, möglich ist, sich vor den nationalen Gerichten gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat auf diese Bestimmungen zu berufen, wenn dieser Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat (Urteil vom 13. Februar 2019, Human Operator, C‑434/17, EU:C:2019:112, Rn. 38).
45 Im vorliegenden Fall ist darauf hinzuweisen, dass das Gesetz vom 17. Juni 2016 zur Umsetzung der Richtlinie 2014/24 in belgisches Recht, wie sich der Vorlageentscheidung entnehmen lässt, erst am 30. Juni 2017 in Kraft getreten ist, mithin zu einem Zeitpunkt nach dem Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie am 18. April 2016. Daher ist die Frage nach der unmittelbaren Wirkung von Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie von Bedeutung.
46 Der Gerichtshof hat klargestellt, dass eine Unionsvorschrift zum einen unbedingt ist, wenn sie eine Verpflichtung normiert, die an keine Bedingung geknüpft ist und zu ihrer Durchführung oder Wirksamkeit auch keiner weiteren Maßnahmen der Unionsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf, und sie zum anderen hinreichend genau ist, um von einem Einzelnen geltend gemacht und vom Gericht angewandt zu werden, wenn sie in unzweideutigen Worten eine Verpflichtung festlegt (Urteil vom 1. Juli 2010, Gassmayr, C‑194/08, EU:C:2010:386, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass eine Bestimmung einer Richtlinie auch dann, wenn die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen gewissen Gestaltungsspielraum beim Erlass der Durchführungsvorschriften lässt, als unbedingt und genau angesehen werden kann, wenn sie den Mitgliedstaaten unmissverständlich eine Verpflichtung zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses auferlegt, die im Hinblick auf die Anwendung der dort aufgestellten Regel durch keinerlei Bedingungen eingeschränkt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 104 und 105, sowie vom 14. Oktober 2010, Fuß, C‑243/09, EU:C:2010:609, Rn. 57 und 58).
48 Im vorliegenden Fall ist davon auszugehen, dass Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 den Wirtschaftsteilnehmern dadurch, dass er für alle Wirtschaftsteilnehmer die Möglichkeit vorsieht, Nachweise dafür vorzulegen, dass die von ihnen ergriffenen Maßnahmen ausreichen, um ihre Zuverlässigkeit trotz des Vorliegens eines sie betreffenden Ausschlussgrundes nachzuweisen, ein Recht verleiht, das zum einen in unzweideutigen Worten formuliert ist und zum anderen den Mitgliedstaaten eine Verpflichtung zur Erreichung eines Ergebnisses auferlegt, die – obgleich die materiellen und prozessualen Bedingungen für die Anwendung gemäß Art. 57 Abs. 7 der Richtlinie von den Mitgliedstaaten festzulegen sind – keiner Umsetzung in nationales Recht bedarf, um von dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer geltend gemacht und zu seinen Gunsten angewandt zu werden.
49 Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 sieht nämlich – unabhängig von den konkreten Bedingungen für seine Anwendung – im Sinne der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hinreichend genau und unbedingt vor, dass der betreffende Wirtschaftsteilnehmer nicht von dem Vergabeverfahren ausgeschlossen werden darf, wenn er zur Zufriedenheit des öffentlichen Auftraggebers nachweisen kann, dass die ergriffenen Abhilfemaßnahmen seine Zuverlässigkeit trotz des Vorliegens eines ihn betreffenden Ausschlussgrundes wiederherstellen. Folglich sieht Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie zugunsten dieses Wirtschaftsteilnehmers unabhängig von dem den Mitgliedstaaten bei der Festlegung der verfahrensrechtlichen Voraussetzungen der Bestimmung belassenen Gestaltungsspielraum einen Mindestschutz vor (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. Juli 1994, Faccini Dori, C‑91/92, EU:C:1994:292, Rn. 17, und vom 5. Oktober 2004, Pfeiffer u. a., C‑397/01 bis C‑403/01, EU:C:2004:584, Rn. 105). Dies hat umso mehr zu gelten, als – wie der Generalanwalt der Sache nach in Nr. 102 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie die grundlegenden Aspekte der Regelung der Abhilfemaßnahmen und des dem Wirtschaftsteilnehmer zugebilligten Rechts festlegt, indem dort angegeben wird, was mindestens nachgewiesen werden muss und welche Beurteilungskriterien zu beachten sind.
50 Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen ist, dass er unmittelbare Wirkung entfaltet.
Kosten
51 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG in der durch die Delegierte Verordnung (EU) 2015/2170 der Kommission vom 24. November 2015 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer Praxis entgegensteht, nach der ein Wirtschaftsteilnehmer verpflichtet ist, bei der Einreichung seines Teilnahmeantrags oder Angebots unaufgefordert den Nachweis für ergriffene Abhilfemaßnahmen zu erbringen, um seine Zuverlässigkeit trotz des Umstands darzulegen, dass bei ihm ein in Art. 57 Abs. 4 dieser Richtlinie in der durch die Delegierte Verordnung 2015/2170 geänderten Fassung genannter fakultativer Ausschlussgrund vorliegt, sofern sich eine solche Verpflichtung weder aus den anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften noch aus den Auftragsunterlagen ergibt. Dagegen steht Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie in der durch die Delegierte Verordnung 2015/2170 geänderten Fassung einer solchen Verpflichtung dann nicht entgegen, wenn sie in den nationalen Rechtsvorschriften klar, genau und eindeutig vorgesehen ist und dem betreffenden Wirtschaftsteilnehmer über die Auftragsunterlagen zur Kenntnis gebracht wird.
2. Art. 57 Abs. 6 der Richtlinie 2014/24 in der durch die Delegierte Verordnung 2015/2170 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er unmittelbare Wirkung entfaltet.
Unterschriften