Language of document : ECLI:EU:C:2021:91

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

3. Februar 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 97/7/EG – Art. 9 – Richtlinie 2011/83/EU – Art. 27 – Richtlinie 2005/29/EG – Art. 5 Abs. 5 – Anhang I Nr. 29 – Unlautere Geschäftspraktiken – Begriff ‚Lieferung einer unbestellten Ware oder Dienstleistung‘ – Trinkwasserversorgung“

In der Rechtssache C‑922/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) mit Entscheidung vom 13. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Dezember 2019, in dem Verfahren

Stichting Waternet

gegen

MG

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters M. Safjan,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Stichting Waternet, vertreten durch F. E. Vermeulen und F. H. Oosterloo, advocaten,

–        des MG, vertreten durch R. K. van der Brugge, advocaat,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und S. Šindelková als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Ruiz García, M. van Beek und C. Valero als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz (ABl. 1997, L 144, S. 19), Art. 27 der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (ABl. 2011, L 304, S. 64) sowie von Art. 5 Abs. 5 und Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (ABl. 2005, L 149, S. 22).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Stichting Waternet, einem Wasserversorgungsunternehmen, und MG, einem Verbraucher, über eine Klage auf Zahlung der Rechnungen für den Verbrauch des von diesem Unternehmen gelieferten Trinkwassers.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 97/7

3        Im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie 97/7 heißt es:

„Die Absatztechnik, die darin besteht, dem Verbraucher ohne vorherige Bestellung oder ohne ausdrückliches Einverständnis gegen Entgelt Waren zu liefern oder Dienstleistungen zu erbringen, ist als nicht zulässig anzusehen, es sei denn, es handele sich um eine Ersatzlieferung.“

4        Art. 9 („Unbestellte Waren oder Dienstleistungen“) dieser Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um

–        zu untersagen, dass einem Verbraucher ohne vorherige Bestellung Waren geliefert oder Dienstleistungen erbracht werden, wenn mit der Warenlieferung oder Dienstleistungserbringung eine Zahlungsaufforderung verbunden ist;

–        den Verbraucher von jedweder Gegenleistung für den Fall zu befreien, dass unbestellte Waren geliefert oder unbestellte Dienstleistungen erbracht wurden, wobei das Ausbleiben einer Reaktion nicht als Zustimmung gilt.“

 Richtlinie 2011/83

5        In den Erwägungsgründen 14 und 60 der Richtlinie 2011/83 heißt es:

„(14)      Diese Richtlinie sollte das innerstaatliche Vertragsrecht unberührt lassen, soweit vertragsrechtliche Aspekte durch diese Richtlinie nicht geregelt werden. Deshalb sollte diese Richtlinie keine Wirkung auf nationale Rechtsvorschriften haben, die beispielsweise den Abschluss oder die Gültigkeit von Verträgen (zum Beispiel im Fall einer fehlenden Einigung) betreffen. …

(60)      Da die Richtlinie [2005/29] die Lieferung von Waren oder die Erbringung von Dienstleistungen, die der Verbraucher nicht bestellt hat, verbietet, jedoch für diesen Fall keinen vertraglichen Rechtsbehelf vorsieht, ist es erforderlich, nunmehr in dieser Richtlinie als vertraglichen Rechtsbehelf vorzusehen, dass der Verbraucher von der Verpflichtung zur Erbringung der Gegenleistung für derartige unbestellte Lieferungen oder Erbringungen befreit ist.“

6        Art. 3 („Geltungsbereich“) dieser Richtlinie sieht in Abs. 5 vor:

„Diese Richtlinie lässt das allgemeine innerstaatliche Vertragsrecht wie die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrags, soweit Aspekte des allgemeinen Vertragsrechts in dieser Richtlinie nicht geregelt werden, unberührt.“

7        Art. 27 („Unbestellte Waren und Dienstleistungen“) der Richtlinie bestimmt:

„Werden unter Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 5 und Anhang I Nummer 29 der Richtlinie [2005/29] unbestellte Waren, Wasser, Gas, Strom, Fernwärme oder digitaler Inhalt geliefert oder unbestellte Dienstleistungen erbracht, so ist der Verbraucher von der Pflicht zur Erbringung der Gegenleistung befreit. In diesen Fällen gilt das Ausbleiben einer Antwort des Verbrauchers auf eine solche unbestellte Lieferung oder Erbringung nicht als Zustimmung.“

8        Art. 31 („Aufhebung von Rechtsakten“) der Richtlinie sieht in Abs. 1 vor:

„Die … [Richtlinie 97/7 wird] mit Wirkung vom 13. Juni 2014 aufgehoben.“

 Richtlinie 2005/29

9        In den Erwägungsgründen 6, 16 bis 18 und 23 der Richtlinie 2005/29 heißt es:

„(6)      Die vorliegende Richtlinie gleicht deshalb die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken einschließlich der unlauteren Werbung an, die die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher unmittelbar und dadurch die wirtschaftlichen Interessen rechtmäßig handelnder Mitbewerber mittelbar schädigen. …

(16)      Die Bestimmungen über aggressive Handelspraktiken sollten solche Praktiken einschließen, die die Wahlfreiheit des Verbrauchers wesentlich beeinträchtigen. Dabei handelt es sich um Praktiken, die sich der Belästigung, der Nötigung, einschließlich der Anwendung von Gewalt, und der unzulässigen Beeinflussung bedienen.

(17)      Es ist wünschenswert, dass diejenigen Geschäftspraktiken, die unter allen Umständen unlauter sind, identifiziert werden, um größere Rechtssicherheit zu schaffen. Anhang I enthält daher eine umfassende Liste solcher Praktiken. Hierbei handelt es sich um die einzigen Geschäftspraktiken, die ohne eine Beurteilung des Einzelfalls anhand der Bestimmungen der Artikel 5 bis 9 als unlauter gelten können. Die Liste kann nur durch eine Änderung dieser Richtlinie abgeändert werden.

(18)      … Dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechend und um die wirksame Anwendung der vorgesehenen Schutzmaßnahmen zu ermöglichen, nimmt diese Richtlinie den Durchschnittsverbraucher, der angemessen gut unterrichtet und angemessen aufmerksam und kritisch ist, unter Berücksichtigung sozialer, kultureller und sprachlicher Faktoren in der Auslegung des Gerichtshofs als Maßstab, enthält aber auch Bestimmungen zur Vermeidung der Ausnutzung von Verbrauchern, deren Eigenschaften sie für unlautere Geschäftspraktiken besonders anfällig machen. …

(23)      Da die Ziele dieser Richtlinie, nämlich durch Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken die durch derartige Vorschriften verursachten Handelshemmnisse zu beseitigen und ein hohes gemeinsames Verbraucherschutzniveau zu gewährleisten, auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher besser auf [Unions]ebene zu erreichen sind, kann die [Union] im Einklang mit dem in Artikel 5 des Vertrags niedergelegten Subsidiaritätsprinzip tätig werden. Entsprechend dem in demselben Artikel genannten Verhältnismäßigkeitsprinzip geht diese Richtlinie nicht über das für die Beseitigung der Handelshemmnisse und die Gewährleistung eines hohen gemeinsamen Verbraucherschutzniveaus erforderliche Maß hinaus.“

10      Art. 3 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für unlautere Geschäftspraktiken im Sinne des Artikels 5 zwischen Unternehmen und Verbrauchern vor, während und nach Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts.

(2)      Diese Richtlinie lässt das Vertragsrecht und insbesondere die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrags unberührt.

…“

11      Art. 5 Abs. 1 und 5 der Richtlinie bestimmt:

„(1)      Unlautere Geschäftspraktiken sind verboten.

(5)      Anhang I enthält eine Liste jener Geschäftspraktiken, die unter allen Umständen als unlauter anzusehen sind. Diese Liste gilt einheitlich in allen Mitgliedstaaten und kann nur durch eine Änderung dieser Richtlinie abgeändert werden.“

12      Art. 8 („Aggressive Geschäftspraktiken“) der Richtlinie 2005/29 lautet:

„Eine Geschäftspraxis gilt als aggressiv, wenn sie im konkreten Fall unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände die Entscheidungs- oder Verhaltensfreiheit des Durchschnittsverbrauchers in Bezug auf das Produkt durch Belästigung, Nötigung, einschließlich der Anwendung körperlicher Gewalt, oder durch unzulässige Beeinflussung tatsächlich oder voraussichtlich erheblich beeinträchtigt und dieser dadurch tatsächlich oder voraussichtlich dazu veranlasst wird, eine geschäftliche Entscheidung zu treffen, die er andernfalls nicht getroffen hätte.“

13      Art. 9 der Richtlinie sieht vor:

„Bei der Feststellung, ob im Rahmen einer Geschäftspraxis die Mittel der Belästigung, der Nötigung, einschließlich der Anwendung körperlicher Gewalt, oder der unzulässigen Beeinflussung eingesetzt werden, ist abzustellen auf:

a)      Zeitpunkt, Ort, Art oder Dauer des Einsatzes;

b)      die Verwendung drohender oder beleidigender Formulierungen oder Verhaltensweisen;

c)      die Ausnutzung durch den Gewerbetreibenden von konkreten Unglückssituationen oder Umständen von solcher Schwere, dass sie das Urteilsvermögen des Verbrauchers beeinträchtigen, worüber sich der Gewerbetreibende bewusst ist, um die Entscheidung des Verbrauchers in Bezug auf das Produkt zu beeinflussen;

d)      belastende oder unverhältnismäßige Hindernisse nichtvertraglicher Art, mit denen der Gewerbetreibende den Verbraucher an der Ausübung seiner vertraglichen Rechte zu hindern versucht, wozu auch das Recht gehört, den Vertrag zu kündigen oder zu einem anderen Produkt oder einem anderen Gewerbetreibenden zu wechseln;

e)      Drohungen mit rechtlich unzulässigen Handlungen.“

14      In Anhang I („Geschäftspraktiken, die unter allen Umständen als unlauter gelten“) der Richtlinie heißt es unter der Überschrift „Aggressive Geschäftspraktiken“ in Nr. 29:

„Aufforderung des Verbrauchers zur sofortigen oder späteren Bezahlung oder zur Rücksendung oder Verwahrung von Produkten, die der Gewe[r]betreibende geliefert, der Verbraucher aber nicht bestellt hat (unbestellte Waren oder Dienstleistungen); ausgenommen hiervon sind Produkte, bei denen es sich um Ersatzlieferungen gemäß Artikel 7 Absatz 3 der Richtlinie [97/7] handelt.“

 Niederländisches Recht

 BW

15      Das Burgerlijk Wetboek (Bürgerliches Gesetzbuch, im Folgenden: BW) in seiner bis zum 12. Juni 2014 geltenden Fassung sieht in Art. 7:7 Abs. 2 vor, dass die Lieferung einer unbestellten Ware an eine natürliche Person, die nicht in Ausübung einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit handelt, unter Forderung der Zahlung eines Preises, der Rücksendung der Ware oder ihrer Aufbewahrung verboten ist. Wenn eine solche Ware dennoch geliefert wird, findet Art. 7:7 Abs. 1 BW zum Recht, die Ware unentgeltlich behalten zu dürfen, in seiner bis zum 12. Juni 2014 geltenden Fassung entsprechend Anwendung.

16      Art. 7:7 Abs. 2 BW in seiner ab dem 13. Juni 2014 geltenden Fassung sieht vor, dass gegenüber einer natürlichen Person, die außerhalb ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit handelt, bei einer unbestellten Lieferung von Waren, Finanzprodukten, Wasser, Gas, Elektrizität, Fernwärme oder nicht auf einem Speichermedium gelieferter digitaler Inhalte unabhängig von dem Umstand, dass der digitale Inhalt individualisierbar ist und eine tatsächliche Überprüfung dieses Inhalts vorgenommen werden kann, oder bei der Erbringung unbestellter Dienstleistungen im Sinne von Art. 193i Buchst. f des sechsten Buches des BW in seiner ab dem 13. Juni 2014 geltenden Fassung keine Zahlungspflicht entsteht. Das Ausbleiben der Antwort einer natürlichen Person, die außerhalb ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit handelt, gilt im Fall einer solchen unbestellten Lieferung oder Erbringung von Dienstleistungen nicht als Genehmigung. Wird eine solche Ware dennoch geliefert, findet Art. 7:7 Abs. 1 BW zum Recht, die Ware unentgeltlich behalten zu dürfen, in seiner ab dem 13. Juni 2014 geltenden Fassung entsprechend Anwendung. Diese Bestimmung findet unabhängig davon Anwendung, ob der Liefernde vertreten ist.

 Wassergesetz

17      Art. 3 des Wet houdende nieuwe bepalingen met betrekking tot de productie en distributie van drinkwater en de organisatie van de openbare drinkwatervoorziening (Drinkwaterwet) (Gesetz mit neuen Vorschriften über die Erzeugung und den Vertrieb von Trinkwasser sowie die Organisation der öffentlichen Trinkwasserversorgung [Trinkwassergesetz]) vom 18. Juli 2009 (Stb. 2009, S. 370, im Folgenden: Wassergesetz) bestimmt, dass die angemessene und dauerhafte Durchführung der öffentlichen Wasserversorgung in einem Versorgungsgebiet dem Eigentümer des Wasserversorgers obliegt, der zuständig und gemäß Art. 8 des Gesetzes verpflichtet ist, in diesem Gebiet Wasser zu liefern.

18      Gemäß Art. 5 des Gesetzes legt der zuständige Minister für jeden Wasserversorger ein Versorgungsgebiet fest, in dem der Eigentümer des Wasserversorgers zuständig und gemäß Art. 8 des Gesetzes zur Versorgung mit Wasser verpflichtet ist.

19      In Art. 8 des Wassergesetzes heißt es:

„(1)      Der Eigentümer eines Wasserversorgers ist verpflichtet, innerhalb des ihm zugeteilten Versorgungsgebiets jeder Person, die einen entsprechenden Antrag stellt, den Anschluss an das von ihm verwaltete Versorgungsnetz anzubieten.

(2)      Der Eigentümer eines Wasserversorgers ist ebenfalls verpflichtet, innerhalb des ihm zugeteilten Versorgungsgebiets jeder Person, die einen entsprechenden Antrag stellt, die Versorgung mit Wasser über das von ihm verwaltete Versorgungsnetz anzubieten.

(3)      Der Eigentümer eines Wasserversorgers wendet angemessene, transparente und nichtdiskriminierende Bedingungen an.

…“

20      Art. 9 Abs. 1 des Gesetzes sieht vor, dass der Eigentümer eines Wasserversorgers eine Politik verfolgt, die darauf ausgerichtet ist, eine Unterbrechung der Wasserversorgung von Kleinverbrauchern zu vermeiden. Gemäß Art. 9 Abs. 2 des Gesetzes legt der zuständige Minister die Modalitäten für die Einstellung der Wasserversorgung von Kleinverbrauchern sowie Vorsorgemaßnahmen fest, die die Einstellung der Wasserversorgung von Kleinverbrauchern weitestmöglich vermeiden sollen.

21      Gemäß Art. 11 des Wassergesetzes verwendet der Eigentümer eines Wasserversorgers kostendeckende, transparente und nichtdiskriminierende Tarife.

22      In Art. 12 des Gesetzes heißt es:

„(1)      Im Haushalt des Wasserversorgers wird festgelegt, wie die verschiedenen Kosten, insbesondere die maximalen Kapitalkosten, die in Rechnung gestellt werden können, auf den Tarif umgelegt werden.

(2)      Der Eigentümer eines Wasserversorgers erstattet dem [zuständigen] Minister vor dem 1. Oktober eines jeden Jahres einen Bericht über die Kosten – insbesondere die Kapitalkosten –, die während des vorangegangenen Kalenderjahrs auf die Tarife umgelegt wurden, und über das Betriebsergebnis des betreffenden Jahres. Dem Bericht ist ein vorbehaltloser Prüfvermerk eines Wirtschaftsprüfers beizufügen. Der Minister übermittelt den Bericht vor dem Ende des Kalenderjahrs den beiden Kammern der [Staten-Generaal (niederländisches Parlament)].

(3)      Ergibt sich aus dem in Abs. 2 genannten Bericht, dass das Betriebsergebnis die für das betreffende Jahr auf der Grundlage von Art. 11 Abs. 2 festgesetzten Kapitalkosten übersteigt, trägt der Eigentümer des Wasserversorgers dafür Sorge, dass die Überschreitung in der Tarifierung für das folgende Kalenderjahr ausgeglichen wird.“

23      Art. 13 des Gesetzes bestimmt:

„(1)      Im Interesse der öffentlichen Wasserversorgung werden durch eine oder gemäß einer allgemeinen Verwaltungsentscheidung weitere Regelungen getroffen in Bezug auf:

a)      die Kosten, die dem in Art. 11 genannten Tarif zugrunde liegen;

b)      die Bestandteile und die Berechnungsmethode der in Art. 12 genannten Tarife.

(2)      Falls die Bestimmungen von Art. 11 oder Art. 12 bzw. die in Abs. 1 genannten Regelungen nicht eingehalten werden, kann der [zuständige] Minister dem Eigentümer des Wasserversorgers eine Weisung erteilen. Die Weisung gibt an, inwiefern gegen Art. 11 oder Art. 12 bzw. gegen die genannten Regelungen verstoßen wurde und welche tariflichen Änderungen zu ihrer Einhaltung erforderlich sind. In der Weisung ist die Frist angegeben, innerhalb deren ihr zu entsprechen ist.“

 Verordnung über die Einstellung der Wasserversorgung von Kleinverbrauchern

24      In Art. 2 der Regeling van de Staatssecretaris van Infrastructuur en Milieu, nr. IENM/BSK-2012/14677, houdende regels met betrekking tot het afsluiten van kleinverbruikers van drinkwater (Regeling afsluitbeleid voor kleinverbruikers van drinkwater) (Verordnung Nr. IENM/BSK-2012/14677 des Staatssekretärs für Infrastruktur und Umwelt mit Vorschriften über die Einstellung der Versorgung von Kleinverbrauchern mit Trinkwasser [Verordnung über die Regeln für die Sperrung von Trinkwasser bei Kleinverbrauchern]) vom 17. April 2012 (Stcrt. 2012, Nr. 7964) heißt es:

„Der Eigentümer eines Wasserversorgers darf die Versorgung eines Kleinverbrauchers mit Trinkwasser wegen Nichtzahlung nicht einstellen, bevor das in den Art. 3 und 4 beschriebene Verfahren durchgeführt wurde.“

25      Art. 3 („Schriftliche Mahnung“) der Verordnung sieht vor:

„(1)      Kommt ein Kleinverbraucher einer ersten Zahlungsaufforderung durch den Eigentümer eines Wasserversorgers nicht binnen der festgesetzten Frist nach, so ist der Eigentümer verpflichtet, hierüber mindestens eine schriftliche Mahnung an den Kleinverbraucher zu richten.

(2)      Der Eigentümer des Wasserversorgers

a)      weist den Kleinverbraucher in der Mahnung auf die Möglichkeit einer Schuldnerberatung hin,

b)      bietet in der schriftlichen Mahnung an, mit schriftlicher Zustimmung des Kleinverbrauchers dessen Kontaktdaten, seine Kundennummer und Informationen über die Höhe seiner Verbindlichkeiten an eine für Schuldnerberatung zuständige Stelle weiterzugeben, es sei denn, bei dem Kleinverbraucher handelt es sich nicht um eine natürliche Person, und

c)      weist in der schriftlichen Mahnung darauf hin, dass die Wasserversorgung des Kleinverbrauchers unbeschadet der in den Buchst. a bis c genannten Umstände nicht eingestellt wird, wenn er eine ärztliche Bescheinigung gemäß Art. 6 Buchst. d vorlegt.“

26      Art. 4 der Verordnung bestimmt:

„Der Eigentümer eines Wasserversorgers bemüht sich um Kontaktaufnahme mit dem Kleinverbraucher, um ihn auf die Möglichkeiten zur Vermeidung und Beendigung von Zahlungsverzug aufmerksam zu machen und zu erfahren, ob eine Zustimmung im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. b erteilt wird oder nicht.“

 Trinkwasserbeschluss und Trinkwasserverordnung

27      Der in Anwendung des Wassergesetzes erlassene Besluit houdende bepalingen inzake de productie en distributie van drinkwater en de organisatie van de openbare drinkwatervoorziening (Drinkwaterbesluit) (Beschluss mit Vorschriften über die Gewinnung und Verteilung von Trinkwasser sowie die Organisation der öffentlichen Trinkwasserversorgung [Trinkwasserbeschluss]) vom 23. Mai 2011 (Stb. 2011, S. 293) und die Regeling van de Staatssecretaris van Infrastructuur en Milieu, nr. BJZ2011046947, houdende nadere regels met betrekking tot enige onderwerpen inzake de voorziening van drinkwater, warm tapwater en huishoudwater (Drinkwaterregeling) (Verordnung Nr. BJZ2011046947 des Staatssekretärs für Infrastruktur und Umwelt mit Durchführungsbestimmungen für einige Angelegenheiten der Trinkwasser‑, Warmwasser- und Haushaltswasserversorgung [Trinkwasserverordnung]) vom 14. Juni 2011 (Stcrt. 2011, S. 10842) enthalten detaillierte Regelungen zur Methode für die Berechnung der Kosten und bestimmen, welche Kosten in welcher Art und Weise auf den Preis umgelegt werden dürfen. Der zuständige Minister überwacht die Einhaltung dieser Vorschriften. Der Wasserversorger veröffentlicht jedes Jahr eine Tabelle der Preise, die im folgenden Kalenderjahr für die Wasserversorgung gelten, und gibt gleichzeitig an, wie diese Preise anhand der Kosten berechnet werden.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

28      Bei Stichting Waternet handelt es sich um ein Wasserversorgungsunternehmen, das für die Trinkwasserversorgung in der Gemeinde Amsterdam (Niederlande) ausschließlich zuständig ist. Dort befindet sich seit September 2012 die Wohnung von MG.

29      MG teilte Stichting Waternet seinen Einzug als neuer Bewohner dieser Wohnung nicht mit. Der vorherige Bewohner teilte auch seinen Auszug nicht mit und bezahlte bis zum 1. Januar 2014 weiterhin die Rechnungen für die Wasserversorgung der Wohnung. Am 12. November 2014 sandte Stichting Waternet ein Willkommensschreiben an MG und richtete ab dem 18. November 2014 die Rechnungen über die Wasserversorgung seit dem 1. Januar 2014 an ihn. MG bezahlte die Rechnungen für den Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 18. November 2016 nicht.

30      Stichting Waternet erhob daher beim Kantonrechter (Kantonsrichter, Niederlande) Klage auf Verurteilung von MG zur Zahlung von 283,79 Euro zuzüglich gesetzlicher Zinsen und Kosten, hilfsweise auf Erlaubnis zur Einstellung der Wasserversorgung der Wohnung. Der Richter wies den Zahlungsantrag von Stichting Waternet mit der Begründung zurück, dass die Lieferung von Trinkwasser eine „unbestellte Lieferung“ im Sinne von 7:7 Abs. 2 BW in der ab dem 13. Juni 2014 anwendbaren Fassung darstelle. Er gab dagegen dem Hilfsantrag unter der Bedingung statt, dass MG nicht binnen 14 Tagen ab Zustellung des Urteils seine Absicht kundtue, mit Wasser versorgt werden zu wollen. MG schloss am 18. November 2016 mit Stichting Waternet einen Vertrag über die Versorgung mit Wasser.

31      Stichting Waternet legte gegen das Urteil des Kantonrechter (Kantonsrichter) beim Gerechtshof Amsterdam (Berufungsgericht Amsterdam, Niederlande) Berufung ein. Diese wurde zurückgewiesen mit der Begründung, dass für den Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2014 und dem 18. November 2016 zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens kein Vertrag über die Wasserversorgung bestanden habe, die Versorgung mit Wasser in diesem Zeitraum eine „unbestellte Lieferung“ im Sinne von Art. 7:7 Abs. 2 BW in seiner ab dem 13. Juni 2014 anwendbaren Fassung dargestellt habe und der Umstand, dass MG das Wasser verbraucht habe, nicht zu einer anderen Bewertung führen könne.

32      Stichting Waternet legte daher beim Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) Kassationsbeschwerde ein. Dieses Gericht fragt sich, ob es unter Berücksichtigung der in den Niederlanden gängigen Praxis und der niederländischen Rechtsvorschriften über die öffentliche Wasserversorgung möglich ist, die Geschäftspraxis von Stichting Waternet nicht als eine durch Art. 5 Abs. 5 und Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29 sowie Art. 9 der Richtlinie 97/7 und Art. 29 der Richtlinie 2011/83 verbotene Lieferung „unbestellter Waren oder Dienstleistungen“ einzustufen.

33      Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass es, da die öffentliche Wasserversorgung in den Niederlanden als eine grundlegende Aufgabe der öffentlichen Hand angesehen werde, in diesem Bereich keinen dem Wettbewerb unterliegenden Markt gebe, so dass jedes Wasserversorgungsunternehmen zum einen in dem ihm zugewiesenen Gebiet ausschließlich für die Wasserversorgung zuständig und zum anderen verpflichtet sei, allen Personen, die dies beantragten, ein Anschlussangebot zu unterbreiten und die Versorgung der Wohnung eines Verbrauchers nicht einstellen dürfe, wenn dieser keine Zahlungen leiste. Weiterhin hätten solche Unternehmen unter Aufsicht der öffentlichen Hand kostendeckende, transparente und nichtdiskriminierende Tarife zu verwenden.

34      Dem vorlegenden Gericht zufolge müsse dem niederländischen Durchschnittsverbraucher bewusst sein, dass die Wohnung, die er beziehe, an das öffentliche Trinkwasserversorgungsnetz angeschlossen sei und dass die Belieferung mit Trinkwasser nicht kostenlos sei.

35      Schließlich ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass sich die Rechtssache insoweit von denjenigen unterscheide, in denen das Urteil vom 13. September 2018, Wind Tre und Vodafone Italia (C‑54/17 und C‑55/17, EU:C:2018:710), ergangen ist, als der Verbraucher im Ausgangsverfahren das Unternehmen, das ihn mit Trinkwasser beliefere, nicht auswählen könne, die Kosten in Rechnung gestellt würden, nachdem der Verbraucher tatsächlich Wasser verbraucht habe, sie kostendeckend, transparent und nichtdiskriminierend seien und unter Aufsicht der öffentlichen Hand festgelegt würden.

36      Unter diesen Umständen hat der Hoge Raad der Nederlanden (Oberster Gerichtshof der Niederlande) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 9 der Richtlinie 97/7 und Art. 27 der Richtlinie 2011/83 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 5 und Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen, dass eine unbestellte Lieferung von Trinkwasser im Sinne dieser Vorschriften vorliegt, wenn die Geschäftspraxis des Trinkwasserversorgers in Folgendem besteht:

i)      Der Trinkwasserversorger ist nach dem Gesetz a) innerhalb des ihm zugewiesenen Versorgungsgebiets für die Lieferung von Trinkwasser mittels Leitungen ausschließlich zuständig und hierzu verpflichtet sowie b) verpflichtet, Personen, die dies beantragen, ein Angebot über den Anschluss an die öffentliche Trinkwasserversorgung und die Lieferung von Trinkwasser zu machen;

ii)      der Trinkwasserversorger erhält den Anschluss der Wohnung des Verbrauchers an die öffentliche Trinkwasserversorgung, so wie er vor dem Bezug der Wohnung durch den Verbraucher bestand, aufrecht, wodurch die Wasserleitungen in der Wohnung des Verbrauchers unter Druck stehen und der Verbraucher nach Vornahme einer aktiven und bewussten Handlung – die im Aufdrehen des Wasserhahns oder in einer damit gleichzustellenden Handlung besteht – gegebenenfalls Trinkwasser entnehmen kann, auch nachdem er mitgeteilt hat, dass er keinen Vertrag über die Lieferung von Trinkwasser schließen wolle, und

iii)      der Trinkwasserversorger stellt Kosten in Rechnung, soweit der Verbraucher durch die Vornahme einer aktiven und bewussten Handlung tatsächlich Trinkwasser entnommen hat, wobei die angewandten Tarife kostendeckend, transparent und nichtdiskriminierend sind, was von der öffentlichen Hand kontrolliert wird?

2.      Stehen Art. 9 der Richtlinie 97/7 und Art. 27 der Richtlinie 2011/83 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 5 und Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29 der Annahme entgegen, dass zwischen dem Trinkwasserversorger und dem Verbraucher ein Vertrag über die Lieferung von Trinkwasser zustande kommt, wenn i) der Verbraucher – ebenso wie der niederländische Durchschnittsverbraucher – weiß, dass mit der Lieferung von Trinkwasser Kosten verbunden sind, ii) der Verbraucher trotzdem über einen langen Zeitraum systematisch Trinkwasser verbraucht, iii) der Verbraucher, auch nachdem er vom Trinkwasserversorger ein Willkommensschreiben, Rechnungen und Mahnungen erhalten hat, seinen Wasserverbrauch fortsetzt und iv) der Verbraucher, nachdem eine richterliche Genehmigung zur Stilllegung des Trinkwasseranschlusses der Wohnung erteilt worden ist, mitteilt, dass er doch einen Vertrag mit dem Trinkwasserversorger wolle?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur zweiten Frage

37      Mit seiner zweiten Frage, die an erster Stelle zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 der Richtlinie 97/7 und Art. 27 der Richtlinie 2011/83 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 5 und Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29 das Zustandekommen von Verträgen regeln, und insbesondere, ob sie dahin auszulegen sind, dass zwischen einem Wasserversorgungsunternehmen und einem Verbraucher ohne dessen ausdrückliche Zustimmung ein Vertragsschluss angenommen werden kann.

38      Einleitend ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 97/7 zwar gemäß Art. 31 der Richtlinie 2011/83 am 13. Juni 2014 aufgehoben wurde. In Anbetracht des Zeitraums, über den sich der in den Rn. 28 und 29 des vorliegenden Urteils genannte Sachverhalt erstreckt, sind für die Beantwortung der zweiten Frage allerdings sowohl die Bestimmungen der Richtlinie 97/7 als auch die der Richtlinie 2011/83 zu berücksichtigen.

39      Zum anderen ist diese Frage nur dann von Bedeutung, wenn das Rechtsverhältnis zwischen Stichting Waternet und MG sowohl in Bezug auf die Lieferung von Wasser durch den Gewerbetreibenden als auch in Bezug auf die vom Verbraucher zu tragenden Kosten, die mit dieser Lieferung verbunden sind, nicht vollständig von den nationalen Rechtsvorschriften geregelt wird. Die Prüfung, ob diese Voraussetzung im Ausgangsverfahren erfüllt ist, obliegt dem vorlegenden Gericht.

40      Erstens ist festzustellen, dass die Richtlinie 97/7 den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz zum Gegenstand hat, und insbesondere den Umfang der Verpflichtungen, die die Gewerbetreibenden hinsichtlich der den Verbrauchern mitzuteilenden Informationen und deren Widerrufsrecht zu erfüllen haben. Dagegen deckt die Richtlinie nicht die Regelungen zum Zustandekommen von Verträgen im Fernabsatz ab.

41      Zweitens ist anzumerken, dass sich aus dem klaren Wortlaut von Art. 3 Abs. 5 der Richtlinie 2011/83 ergibt, dass sie das allgemeine innerstaatliche Vertragsrecht wie die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrags, soweit Aspekte des allgemeinen Vertragsrechts in dieser Richtlinie nicht geregelt werden, unberührt lässt. Aus dem 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/83 geht auch hervor, dass diese keine Wirkung auf nationale Rechtsvorschriften hat, die den Abschluss oder die Gültigkeit von Verträgen, zum Beispiel im Fall einer fehlenden Einigung, betreffen.

42      Drittens sieht Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2005/29 vor, dass diese das Vertragsrecht und insbesondere die Bestimmungen über die Wirksamkeit, das Zustandekommen oder die Wirkungen eines Vertrags unberührt lässt.

43      Im vorliegenden Fall möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 9 der Richtlinie 97/7 und Art. 27 der Richtlinie 2011/83 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 5 und Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29 den Abschluss von Verträgen regeln.

44      Hierzu ist klarzustellen, dass sich diese Bestimmungen mit den Auswirkungen beschäftigen, die eine etwaige Feststellung einer Lieferung „unbestellter Waren oder Dienstleistungen“ hat, indem sie zum einen darauf gerichtet sind, die Geschäftspraxis einer solchen Lieferung gemäß Art. 5 Abs. 5 und Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29 zu verbieten, und zum anderen darauf, eine Befreiung des Verbrauchers von jedweder Gegenleistung für „unbestellte Waren oder Dienstleistungen“ vorzusehen.

45      Aus den Erwägungen in den Rn. 40 bis 42 und 44 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass das Zustandekommen, der Abschluss und die Gültigkeit von Verträgen mangels einer Harmonisierung der allgemeinen vertragsrechtlichen Aspekte auf Unionsebene vom nationalen Recht geregelt werden. Das vorlegende Gericht hat daher nach niederländischem Recht darüber zu befinden, ob ein Vertragsschluss zwischen einem Wasserversorgungsunternehmen und einem Verbraucher ohne dessen ausdrückliche Zustimmung angenommen werden kann.

46      Demnach ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 9 der Richtlinie 97/7 und Art. 27 der Richtlinie 2011/83 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 5 und Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29 das Zustandekommen von Verträgen nicht regeln, so dass das vorlegende Gericht nach nationalem Recht darüber zu befinden hat, ob zwischen einem Wasserversorgungsunternehmen und einem Verbraucher ohne dessen ausdrückliche Zustimmung ein Vertragsschluss angenommen werden kann.

 Zur ersten Frage

47      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Begriff „unbestellte Waren oder Dienstleistungen“ im Sinne von Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen ist, dass er eine Geschäftspraxis einschließt, die darin besteht, beim Einzug eines Verbrauchers in eine vorher bewohnte Wohnung ohne entsprechenden Antrag des Verbrauchers den Anschluss an das öffentliche Trinkwasserversorgungsnetz aufrechtzuerhalten.

48      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass eine Beantwortung der ersten Frage, wie schon in Rn. 39 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, nur dann von Bedeutung ist, wenn das Rechtsverhältnis zwischen Stichting Waternet und MG sowohl in Bezug auf die Lieferung von Wasser durch den Gewerbetreibenden als auch in Bezug auf die vom Verbraucher zu tragenden Kosten, die mit dieser Lieferung verbunden sind, nicht ausschließlich von den nationalen Rechtsvorschriften geregelt wird; dies zu prüfen, ist Sache des vorlegenden Gerichts.

49      Gegebenenfalls ist zu prüfen, ob eine Geschäftspraxis wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Praxis der Trinkwasserversorgung in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/29 fällt.

50      Gemäß Art. 1 dieser Richtlinie im Lichte ihres 23. Erwägungsgrundes besteht ihr Zweck darin, durch Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über unlautere Geschäftspraktiken, die die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher beeinträchtigen, zu einem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarkts und zum Erreichen eines hohen Verbraucherschutzniveaus beizutragen.

51      Folglich fallen nationale Rechtsvorschriften nur dann in den Anwendungsbereich der Richtlinie, wenn mit ihnen Ziele des Verbraucherschutzes verfolgt werden (vgl. in diesem Sinne Beschluss vom 4. Oktober 2012, Pelckmans Turnhout, C‑559/11, nicht veröffentlicht, EU:C:2012:615, Rn. 20).

52      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sich die Ziele der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften weder aus der Vorlageentscheidung, noch aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte eindeutig entnehmen lassen. Unter diesen Umständen ist es Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die Geschäftspraxis von Stichting Waternet aus der Anwendung nationaler Bestimmungen folgt, die den Schutz der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher bezwecken, und daher in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/29 fällt, oder ob sie vielmehr ausschließlich dem Schutz anderer öffentlicher Interessen wie der öffentlichen Gesundheit dient. Nur wenn die Geschäftspraxis von Stichting Waternet nach Auffassung des vorlegenden Gerichts unter Beachtung der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2005/29 fällt, hat es zu prüfen, ob diese Praxis eine Lieferung „unbestellter Waren oder Dienstleistungen“ darstellt.

53      Was den Begriff „unbestellte Waren oder Dienstleistungen“ betrifft, so sieht Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29 vor, dass zu den aggressiven Geschäftspraktiken, die unter allen Umständen als unlauter gelten, insbesondere die „Aufforderung des Verbrauchers zur sofortigen oder späteren Bezahlung … von Produkten [zählt], die der Gewe[r]betreibende geliefert, der Verbraucher aber nicht bestellt hat (unbestellte Waren oder Dienstleistungen)“.

54      Eine „unbestellte Ware oder Dienstleistung“ im Sinne von Nr. 29 ist somit insbesondere ein Verhalten, das darin besteht, dass der Gewerbetreibende den Verbraucher zur Bezahlung einer Dienstleistung auffordert, die er dem Verbraucher geliefert hat, die vom Verbraucher aber nicht bestellt worden ist (Urteile vom 13. September 2018, Wind Tre und Vodafone Italia, C‑54/17 und C‑55/17, EU:C:2018:710, Rn. 43, und vom 5. Dezember 2019, EVN Bulgaria Toplofikatsia und Toplofikatsia Sofia, C‑708/17 und C‑725/17, EU:C:2019:1049, Rn. 64).

55      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 8 der Richtlinie 2005/29 eine „aggressive Geschäftspraktik“ insbesondere dadurch definiert, dass sie die Entscheidungs- oder Verhaltensfreiheit des Durchschnittsverbrauchers in Bezug auf ein Produkt tatsächlich oder voraussichtlich erheblich beeinträchtigt. Daraus folgt, dass die Inanspruchnahme eines Dienstes eine freie Entscheidung des Verbrauchers darstellen muss. Dies setzt insbesondere voraus, dass der Gewerbetreibende den Verbraucher klar und angemessen aufklärt (Urteil vom 13. September 2018, Wind Tre und Vodafone Italia, C‑54/17 und C‑55/17, EU:C:2018:710, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56      Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass der Preis, da er für den Verbraucher grundsätzlich ein bestimmender Faktor ist, wenn er geschäftliche Entscheidungen trifft, als eine Information anzusehen ist, die der Verbraucher benötigt, um eine solche Entscheidung in informierter Weise treffen zu können (Urteil vom 13. September 2018, Wind Tre und Vodafone Italia, C‑54/17 und C‑55/17, EU:C:2018:710, Rn. 47).

57      Für die Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2005/29 ist zudem der Begriff des Verbrauchers von entscheidender Bedeutung. Die Richtlinie nimmt nach ihrem 18. Erwägungsgrund den Durchschnittsverbraucher, der angemessen gut unterrichtet und angemessen aufmerksam und kritisch ist, unter Berücksichtigung sozialer, kultureller und sprachlicher Faktoren als Maßstab (Urteil vom 13. September 2018, Wind Tre und Vodafone Italia, C‑54/17 und C‑55/17, EU:C:2018:710, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach dem 18. Erwägungsgrund ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die typische Reaktion des Durchschnittsverbrauchers in einem gegebenen Fall zu ermitteln.

58      Im vorliegenden Fall lässt sich der Vorlageentscheidung entnehmen, dass das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Wasserversorgungsunternehmen zur Erbringung der Dienstleistung der Wasserversorgung – die bei Nichtzahlung durch den Verbraucher nicht eingestellt werden darf, bevor das Unternehmen eine schriftliche Mahnung an ihn gerichtet und sich bemüht hat, einen persönlichen Kontakt mit ihm herzustellen – verpflichtet ist.

59      Zur Abrechnung des Wassers stellt das vorlegende Gericht klar, dass der Verbraucher mit dem Verbrauch von Wasser willentlich tätig werden muss, damit Kosten entstehen. Weiterhin müssen alle Wasserversorgungsunternehmen unter Aufsicht der öffentlichen Hand kostendeckende, transparente, nichtdiskriminierende und verbrauchsabhängige Tarife verwenden.

60      Das vorlegende Gericht führt ebenfalls aus, dass dem niederländischen Durchschnittsverbraucher, wenn er in eine bereits zuvor bewohnte Wohnung einziehe, bewusst sei, dass diese Wohnung an das öffentliche Trinkwasserversorgungsnetz angeschlossen bleibe und die Wasserversorgung entgeltlich sei.

61      Diese Umstände unterscheiden das Ausgangsverfahren von den Rechtssachen, in denen das Urteil vom 13. September 2018, Wind Tre und Vodafone Italia (C‑54/17 und C‑55/17, EU:C:2018:710, Rn. 49 und 56), ergangen ist. In diesem Urteil hat der Gerichtshof nämlich entschieden, dass es unerheblich ist, dass für die Benutzung der fraglichen Dienste in bestimmten Fällen eine bewusste Handlung des Verbrauchers notwendig war, und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um „unbestellte Waren oder Dienstleistungen“ im Sinne von Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29 handelte, da der Verbraucher in diesen Rechtssachen über bestimmte zur Verfügung gestellte Dienste und deren Kosten nicht angemessen aufgeklärt wurde.

62      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass der Begriff „unbestellte Waren oder Dienstleistungen“ im Sinne von Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen ist, dass er, vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht durchzuführenden Prüfungen, eine Geschäftspraxis nicht einschließt, die darin besteht, beim Einzug eines Verbrauchers in eine vorher bewohnte Wohnung ohne entsprechenden Antrag des Verbrauchers den Anschluss an das öffentliche Trinkwasserversorgungsnetz aufrechtzuerhalten, soweit der Verbraucher keine Möglichkeit zur Auswahl eines Lieferanten hat, dieser Tarife in Rechnung stellt, die kostendeckend, transparent, nichtdiskriminierend und verbrauchsabhängig sind und dem Verbraucher bewusst ist, dass die Wohnung an das öffentliche Wasserversorgungsnetz angeschlossen und die Lieferung von Wasser entgeltlich ist.

 Kosten

63      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 9 der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Mai 1997 über den Verbraucherschutz bei Vertragsabschlüssen im Fernabsatz und Art. 27 der Richtlinie 2011/83/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Rechte der Verbraucher, zur Abänderung der Richtlinie 93/13/EWG des Rates und der Richtlinie 1999/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie zur Aufhebung der Richtlinie 85/577/EWG des Rates und der Richtlinie 97/7/EG des Europäischen Parlaments und des Rates in Verbindung mit Art. 5 Abs. 5 und Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates regeln das Zustandekommen von Verträgen nicht, so dass das nationale Gericht nach nationalem Recht darüber zu befinden hat, ob zwischen einem Wasserversorgungsunternehmen und einem Verbraucher ohne dessen ausdrückliche Zustimmung ein Vertragsschluss angenommen werden kann.

2.      Der Begriff „unbestellte Waren oder Dienstleistungen“ im Sinne von Anhang I Nr. 29 der Richtlinie 2005/29 ist dahin auszulegen, dass er, vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht durchzuführenden Prüfungen, eine Geschäftspraxis nicht einschließt, die darin besteht, beim Einzug eines Verbrauchers in eine vorher bewohnte Wohnung ohne entsprechenden Antrag des Verbrauchers den Anschluss an das öffentliche Trinkwasserversorgungsnetz aufrechtzuerhalten, soweit der Verbraucher keine Möglichkeit zur Auswahl eines Lieferanten hat, dieser Tarife in Rechnung stellt, die kostendeckend, transparent, nichtdiskriminierend und verbrauchsabhängig sind und dem Verbraucher bewusst ist, dass die Wohnung an das öffentliche Wasserversorgungsnetz angeschlossen und die Lieferung von Wasser entgeltlich ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.