Language of document : ECLI:EU:C:2021:197

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

11. März 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2008/115/EG – Art. 5 – Rückkehrentscheidung – Vater eines minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist – Berücksichtigung des Wohls des Kindes bei Erlass der Rückkehrentscheidung“

In der Rechtssache C‑112/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 6. Februar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Februar 2020, in dem Verfahren

M. A.

gegen

Belgischer Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič sowie der Richter C. Lycourgos (Berichterstatter) und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von M. A., vertreten durch D. Andrien, avocat,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, M. Van Regemorter und C. Pochet als Bevollmächtigte im Beistand von D. Matray und S. Matray, avocats,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und E. Montaguti als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98) in Verbindung mit Art. 13 dieser Richtlinie und den Art. 24 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2        Es ergeht im Rahmen einer von M. A. eingelegten Kassationsbeschwerde gegen das Urteil des Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen, Belgien), mit dem seine Klage auf Aufhebung der Bescheide abgewiesen wurde, mit denen ihm eine Anweisung, das belgische Hoheitsgebiet zu verlassen, und ein Einreiseverbot erteilt worden waren.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        Art. 3 Abs. 1 des am 20. November 1989 unterzeichneten Übereinkommens über die Rechte des Kindes lautet:

„Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.“

 Unionsrecht

4        Die Erwägungsgründe 22 und 24 der Richtlinie 2008/115 lauten:

„(22)      In Übereinstimmung mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 1989 sollten die Mitgliedstaaten bei der Durchführung dieser Richtlinie insbesondere das ‚Wohl des Kindes‘ im Auge behalten. In Übereinstimmung mit der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und der Grundfreiheiten sollte bei der Umsetzung dieser Richtlinie der Schutz des Familienlebens besonders beachtet werden.

(24) Die Richtlinie wahrt die Grundrechte und Grundsätze, die vor allem in der [Charta] verankert sind.“

5        Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.“

6        Art. 5 der Richtlinie bestimmt:

„Bei der Umsetzung dieser Richtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in gebührender Weise:

a)      das Wohl des Kindes,

b)      die familiären Bindungen,

c)      den Gesundheitszustand der betreffenden Drittstaatsangehörigen …

und halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

7        Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.“

8        Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 lautet:

„Die Mitgliedstaaten verlängern – soweit erforderlich – die Frist für die freiwillige Ausreise unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls – wie etwa Aufenthaltsdauer, Vorhandensein schulpflichtiger Kinder und das Bestehen anderer familiärer und sozialer Bindungen – um einen angemessenen Zeitraum.“

9        Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Die betreffenden Drittstaatsangehörigen haben das Recht, bei einer zuständigen Justiz- oder Verwaltungsbehörde oder einem zuständigen Gremium, dessen Mitglieder unparteiisch sind und deren Unabhängigkeit garantiert wird, einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Entscheidungen in Bezug auf die Rückkehr nach Artikel 12 Absatz 1 einzulegen oder die Überprüfung solcher Entscheidungen zu beantragen.“

10      Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen außer in Fällen nach Artikel 16 und 17 sicher, dass innerhalb der nach Artikel 7 für die freiwillige Ausreise gewährten Frist und der Fristen, während derer die Vollstreckung einer Abschiebung nach Artikel 9 aufgeschoben ist, die folgenden Grundsätze in Bezug auf Drittstaatsangehörige so weit wie möglich beachtet werden:

a)      Aufrechterhaltung der Familieneinheit mit den in demselben Hoheitsgebiet aufhältigen Familienangehörigen;

b)      Gewährung medizinischer Notfallversorgung und unbedingt erforderlicher Behandlung von Krankheiten;

c)      Gewährleistung des Zugangs zum Grundbildungssystem für Minderjährige je nach Länge ihres Aufenthalts;

d)      Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen.“

 Belgisches Recht

11      Art. 74/13 der Loi du 15 décembre 1980 sur l’accès au territoire, le séjour, l’établissement et l’éloignement des étrangers (Gesetz vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern, Belgisches Staatsblatt vom 31. Dezember 1980, S. 14584) lautet:

„Fasst der Minister oder sein Beauftragter einen Entfernungsbeschluss, berücksichtigt er das Wohl des Kindes, die familiären Bindungen und den Gesundheitszustand des betreffenden Drittstaatsangehörigen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

12      Am 24. Mai 2018 wurden M. A. eine Anweisung, das belgische Staatsgebiet zu verlassen, sowie ein Einreiseverbot erteilt und ihm am Folgetag zugestellt. Aus diesen Entscheidungen geht hervor, dass der Kassationsbeschwerdeführer erklärt hatte, eine belgische Lebensgefährtin und eine in Belgien geborene Tochter zu haben; als Begründung waren darin die von ihm in Belgien begangenen Rechtsverstöße angeführt und die Tatsache, dass der Kassationsbeschwerdeführer daher als Gefahr für die öffentliche Ordnung anzusehen sei.

13      Mit Urteil vom 21. Februar 2019 wurde die von M. A. gegen diese Entscheidungen erhobene Klage vom Conseil du contentieux des étrangers (Rat für Ausländerstreitsachen) abgewiesen.

14      Gegen dieses Urteil legte M. A. am 15. März 2019 beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde ein.

15      Diese ist insbesondere darauf gestützt, dass der Rat für Ausländerstreitsachen zu Unrecht die Ansicht vertreten habe, die klägerische Rüge eines Verstoßes gegen Art. 24 der Charta sei von keinem Rechtsschutzinteresse getragen, weil daraus nicht hervorgehe, dass M. A. im Namen seiner minderjährigen Tochter handele. Hierzu führt M. A. aus, seine Tochter habe die belgische Staatsangehörigkeit; sie sei nicht Adressatin der vor dem Rat für Ausländerstreitsachen angefochtenen Entscheidungen und sei daher nicht klagebefugt. Zur Wahrung des Kindeswohls sei nicht erforderlich, dass er im Namen des Kindes handele. Um ihr Familienleben mit ihm fortzusetzen, müsse seine Tochter das Gebiet der Europäischen Union verlassen und auf den tatsächlichen Genuss des Kernbestands der ihr durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte verzichten.

16      Dem vorlegenden Gericht zufolge vertritt der Rat für Ausländerstreitsachen zwar nicht ausdrücklich, aber eindeutig die Auffassung, das Wohl des Kindes sei nur dann zu berücksichtigen, wenn die in Rede stehende Verwaltungsentscheidung ausdrücklich an das Kind gerichtet sei. Die von M. A. an dieser Auffassung geäußerte Kritik betreffe die Auslegung von Art. 74/13 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern, mit dem Art. 5 der Richtlinie 2008/115 umgesetzt werde.

17      Dagegen sei die etwaige Pflicht des Kassationsbeschwerdeführers, die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung im Namen seiner Tochter anzufechten, damit das Kindeswohl berücksichtigt werden könne, eine Frage der Klagebefugnis, die die Auslegung des Unionsrechts nicht tangiere.

18      Unter diesen Voraussetzungen hat der Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 5 der Richtlinie 2008/115, wonach die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung dieser Richtlinie das Wohl des Kindes zu berücksichtigen haben, in Verbindung mit Art. 13 dieser Richtlinie und den Art. 24 und 47 der Charta dahin auszulegen, dass das Wohl des Kindes, das Unionsbürger ist, auch dann zu berücksichtigen ist, wenn die Rückkehrentscheidung ausschließlich gegenüber dem Elternteil des Kindes ergeht?

 Zur Vorlagefrage

19      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 in Verbindung mit Art. 13 der Richtlinie 2008/115 und mit den Art. 24 und 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten vor Erlass einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen haben, selbst wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Vater handelt.

20      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass M. A. der Ansicht ist, infolge der Vorlagefrage des Staatsrats zur Auslegung von Art. 47 der Charta und Art. 13 der Richtlinie 2008/115 sei zu prüfen, ob diese Vorschriften dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach ein Drittstaatsangehöriger, der Adressat einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung ist, vor dem für die Frage der Rechtmäßigkeit dieser Entscheidungen zuständigen Gericht im Namen seines minderjähriges Kindes handeln muss, damit das Wohl des Kindes berücksichtigt wird.

21      Nach Art. 267 AEUV können nur die staatlichen Gerichte und nicht die Parteien des Ausgangsrechtsstreits den Gerichtshof anrufen. Damit haben auch nur die nationalen Gerichte zu bestimmen, welche Fragen dem Gerichtshof vorzulegen sind; die Parteien können die Fragen inhaltlich nicht ändern. Würde den von den Parteien des Ausgangsverfahrens formulierten Ersuchen um Änderung der Fragen entsprochen, wäre dies im Übrigen mit der dem Gerichtshof durch Art. 267 AEUV übertragenen Rolle und mit seiner Verpflichtung unvereinbar, sicherzustellen, dass die Regierungen der Mitgliedstaaten und die Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit haben, gemäß Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union Erklärungen abzugeben, wobei zu berücksichtigen ist, dass den Verfahrensbeteiligten nach dieser Vorschrift nur die Vorlageentscheidungen zugestellt werden (Urteil vom 6. Oktober 2015, T‑Mobile Czech Republic und Vodafone Czech Republic, C‑508/14, EU:C:2015:657, Rn. 28 und 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Vorliegend geht aus der Begründung der Vorlageentscheidung ausdrücklich hervor, dass die Klagebefugnis im Sinne des nationalen Verfahrensrechts nicht Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens ist.

23      Bei der Antwort auf die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage ist auf den Antrag von M. A. somit nicht einzugehen. Unter diesen Umständen ist für eine sachdienliche Antwort an das vorlegende Gericht auch keine Auslegung von Art. 47 der Charta und von Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 erforderlich.

24      Des Weiteren ist festzustellen, dass die Vorlagefrage auf der Prämisse beruht, dass sich M. A. illegal im belgischen Hoheitsgebiet aufhält. Nach Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dürfen Rückkehrentscheidungen gegen einen Drittstaatsangehörigen nämlich nur dann erlassen werden, wenn dieser sich nicht oder nicht mehr legal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhält (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 37 und 38).

25      Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich jedoch, dass die Tochter von M. A. ein minderjähriges Kind mit belgischer Staatsangehörigkeit ist.

26      Diese Tatsache kann eine Pflicht auslösen, M. A. aufgrund von Art. 20 AEUV einen Aufenthaltstitel für das belgische Hoheitsgebiet zu gewähren. Grundsätzlich wäre dies der Fall, wenn M. A. und seine Tochter ohne diesen Aufenthaltstitel gezwungen wären, das Gebiet der Union zu verlassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Februar 2020, Subdelegación del Gobierno en Ciudad Real [Ehegatte eines Unionsbürgers], C‑836/18, EU:C:2020:119, Rn. 41 bis 44 und die dort angeführte Rechtsprechung). Bei dieser Beurteilung haben die zuständigen Behörden dem Recht auf Schutz des Familienlebens (Art. 7 der Charta) und dem Wohl des Kindes (Art. 24 Abs. 2 der Charta) gebührend Rechnung zu tragen.

27      Hierzu hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass für diese Beurteilung der Umstand, dass der andere Elternteil wirklich in der Lage und bereit ist, die tägliche und tatsächliche Sorge für das Kind allein wahrzunehmen, zwar relevant ist, aber allein nicht für die Feststellung genügt, dass zwischen dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit und dem Kind kein Abhängigkeitsverhältnis in der Weise besteht, dass sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert würde. Denn einer solchen Feststellung muss im Interesse des Kindeswohls die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen, insbesondere des Alters des Kindes, seiner körperlichen und emotionalen Entwicklung, des Grades seiner affektiven Bindung an beide Elternteile und des Risikos, das mit der Trennung von Letzterem für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 70 und 71).

28      Nach ständiger Rechtsprechung wird jedoch durch Art. 267 AEUV ein Verfahren des unmittelbaren Zusammenwirkens des Gerichtshofs und der Gerichte der Mitgliedstaaten eingeführt. Im Rahmen dieses Verfahrens, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, fällt jede Beurteilung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts, das im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen hat, während der Gerichtshof nur befugt ist, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Unionsvorschrift zu äußern (Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud – Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Somit sind die Vorlagefragen auf der Grundlage der – allerdings vom vorlegenden Gericht auf ihre Richtigkeit zu prüfenden – Prämisse zu beantworten, dass sich M. A. illegal im belgischen Hoheitsgebiet aufhält.

30      Fällt ein Drittstaatsangehöriger in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115, ist er grundsätzlich den darin vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Abschiebung zu unterwerfen, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Juni 2016, Affum, C‑47/15, EU:C:2016:408, Rn. 61, sowie vom 19. März 2019, Arib u. a., C‑444/17, EU:C:2019:220, Rn. 39).

31      Bei deren Umsetzung haben die Mitgliedstaaten gemäß Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen.

32      Nach dem Wortlaut dieser Vorschrift handelt es sich dabei um eine allgemeine Regel, die die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie unmittelbar zu beachten haben, also etwa dann, wenn wie im vorliegenden Fall die zuständige nationale Behörde gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich illegal auf dem Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhält und außerdem Vater eines minderjährigen Kindes ist, das sich legal dort aufhält, eine mit einem Einreiseverbot verbundene Rückkehrentscheidung erlässt.

33      Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, lässt sich daher aus dieser Vorschrift nicht ableiten, dass das Kindeswohl nur dann zu berücksichtigen ist, wenn die Rückkehrentscheidung gegen einen Minderjährigen ergeht und nicht auch dann, wenn sie gegen seine Eltern ergeht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 107).

34      Diese Auslegung steht im Einklang mit dem von Art. 5 der Richtlinie 2008/115 verfolgten Zweck und mit deren Systematik.

35      Was als Erstes den Zweck von Art. 5 der Richtlinie 2008/115 betrifft, so soll damit zum einen – wie in den Erwägungsgründen 22 und 24 der Richtlinie bestätigt wird – im Rahmen des mit der Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens die Einhaltung mehrerer Grundrechte gewährleistet werden, u. a. die in Art. 24 der Charta verankerten Grundrechte des Kindes. Angesichts dieses Zwecks kann Art. 5 nicht eng ausgelegt werden (vgl. entsprechend Urteile vom 14. Februar 2019, Buivids, C‑345/17, EU:C:2019:122, Rn. 51, und vom 26. März 2019, SM [Unter algerische Kafala gestelltes Kind], C‑129/18, EU:C:2019:248, Rn. 53).

36      Zum anderen sieht Art. 24 Abs. 2 der Charta vor, dass bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss. Diese Vorschrift ist also an sich schon weit gefasst und auf Entscheidungen anwendbar, die – wie etwa eine gegen einen Drittstaatsangehörigen, der Vater eines Minderjährigen ist, erlassene Rückkehrentscheidung – nicht an den Minderjährigen gerichtet sind, aber weitreichende Folgen für ihn haben.

37      Dies wird von Art. 3 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechte der Kinder bestätigt, auf den die Erläuterungen zu Art. 24 der Charta ausdrücklich hinweisen.

38      Nach dieser Vorschrift ist bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen. Dem Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte des Kindes zufolge gilt diese Vorschrift allgemein für alle Entscheidungen und Maßnahmen, die sich unmittelbar oder mittelbar auf Kinder auswirken (vgl. hierzu Allgemeine Bemerkung Nr. 14 [2013] des Ausschusses für die Rechte des Kindes zum Recht des Kindes auf Berücksichtigung seines Wohls als ein vorrangiger Gesichtspunkt [Art. 3 Abs. 1], CRC/C/GC/14, Nr. 19).

39      Was als Zweites den Zusammenhang von Art. 5 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 betrifft, ist erstens festzustellen, dass die Fälle, in denen die in Art. 5 aufgezählten Gesichtspunkte nur im Hinblick auf den von der Entscheidung betroffenen Drittstaatsangehörigen berücksichtigt werden sollen, vom Unionsgesetzgeber ausdrücklich genannt wurden.

40      Anders als Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115 spricht Art. 5 Buchst. c ausdrücklich davon, dass die Mitgliedstaaten den Gesundheitszustand des „betreffenden Drittstaatsangehörigen“ – also ausschließlich den Gesundheitszustand des Adressaten der Rückkehrentscheidung – in gebührender Weise zu berücksichtigen haben.

41      Zweitens folgt aus Art. 5 Buchst. b der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie beabsichtigen, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, ebenfalls die familiären Bindungen in gebührender Weise zu berücksichtigen haben. Art. 7 der Charta, in dem u. a. das Recht auf Achtung des Familienlebens – auf das sich ein illegal in einem Mitgliedstaat aufhältiger Drittstaatsangehöriger, der, wie M. A., ein minderjähriges Kind hat, berufen kann – geregelt ist, ist aber in Verbindung mit der in Art. 24 Abs. 2 der Charta verankerten Verpflichtung zu sehen, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. März 2019, SM [Unter algerische Kafala gestelltes Kind], C‑129/18, EU:C:2019:248, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42      Drittens enthält die Richtlinie 2008/115 andere Vorschriften, in denen vorgesehen ist, dass das Kindeswohl zu berücksichtigen ist, auch wenn das Kind nicht Adressat der betreffenden Entscheidung ist, etwa Art. 7 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie.

43      Nach alledem ist Art. 5 der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 24 der Charta dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten vor Erlass einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen haben, selbst wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Vater handelt.

 Kosten

44      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 5 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger in Verbindung mit Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten vor Erlass einer mit einem Einreiseverbot verbundenen Rückkehrentscheidung das Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen haben, selbst wenn es sich beim Adressaten der Entscheidung nicht um einen Minderjährigen, sondern um dessen Vater handelt.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.