Language of document : ECLI:EU:C:2021:426

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

3. Juni 2021(*)

„Nichtigkeitsklage – Art. 7 Abs. 1 EUV – Entschließung des Europäischen Parlaments zu einem Vorschlag, mit dem der Rat der Europäischen Union aufgefordert wird, das Bestehen einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, festzustellen – Art. 263 und 269 AEUV – Zuständigkeit des Gerichtshofs – Zulässigkeit der Klage – Anfechtbare Handlung – Art. 354 AEUV – Regeln für die Stimmenauszählung im Parlament – Geschäftsordnung des Parlaments – Art. 178 Abs. 3 – Begriff der ‚abgegebenen Stimmen‘ – Enthaltungen – Grundsätze der Rechtssicherheit, der Gleichbehandlung, der Demokratie und der loyalen Zusammenarbeit“

In der Rechtssache C‑650/18

betreffend eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV, eingereicht am 17. Oktober 2018,

Ungarn, zunächst vertreten durch M. Z. Fehér, G. Tornyai und Zs. Wagner als Bevollmächtigte, dann durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten,

Kläger,

unterstützt durch

Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

Streithelferin,

gegen

Europäisches Parlament, vertreten durch F. Drexler, N. Görlitz und T. Lukácsi als Bevollmächtigte,

Beklagter,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, M. Vilaras, E. Regan, L. Bay Larsen und A. Kumin, des Richters T. von Danwitz, der Richterin C. Toader, der Richter M. Safjan, D. Šváby und S. Rodin, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos (Berichterstatter) und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: R. Șereș, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 29. Juni 2020,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. Dezember 2020

folgendes

Urteil

1        Mit seiner Klage beantragt Ungarn die Nichtigerklärung der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 12. September 2018 zu einem Vorschlag, mit dem der Rat aufgefordert wird, im Einklang mit Art. 7 Abs. 1 [EUV] festzustellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch Ungarn besteht (2017/2131(INL)) (ABl. 2019, C 433, S. 66, im Folgenden: angefochtene Entschließung).

 Rechtlicher Rahmen

 Verfahren nach Art. 7 EUV

2        Art. 7 EUV sieht vor:

„(1)      Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht. Der Rat hört, bevor er eine solche Feststellung trifft, den betroffenen Mitgliedstaat und kann Empfehlungen an ihn richten, die er nach demselben Verfahren beschließt.

Der Rat überprüft regelmäßig, ob die Gründe, die zu dieser Feststellung geführt haben, noch zutreffen.

(2)      Auf Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments kann der Europäische Rat einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat vorliegt, nachdem er den betroffenen Mitgliedstaat zu einer Stellungnahme aufgefordert hat.

(3)      Wurde die Feststellung nach Absatz 2 getroffen, so kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, bestimmte Rechte auszusetzen, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten, einschließlich der Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaats im Rat. Dabei berücksichtigt er die möglichen Auswirkungen einer solchen Aussetzung auf die Rechte und Pflichten natürlicher und juristischer Personen.

Die sich aus den Verträgen ergebenden Verpflichtungen des betroffenen Mitgliedstaats sind für diesen auf jeden Fall weiterhin verbindlich.

(4)      Der Rat kann zu einem späteren Zeitpunkt mit qualifizierter Mehrheit beschließen, nach Absatz 3 getroffene Maßnahmen abzuändern oder aufzuheben, wenn in der Lage, die zur Verhängung dieser Maßnahmen geführt hat, Änderungen eingetreten sind.

(5)      Die Abstimmungsmodalitäten, die für die Zwecke dieses Artikels für das Europäische Parlament, den Europäischen Rat und den Rat gelten, sind in Artikel 354 [AEUV] festgelegt.“

3        Art. 354 AEUV bestimmt:

„Für die Zwecke des Artikels 7 [EUV] über die Aussetzung bestimmter mit der Zugehörigkeit zur Union verbundener Rechte ist das Mitglied des Europäischen Rates oder des Rates, das den betroffenen Mitgliedstaat vertritt, nicht stimmberechtigt und der betreffende Mitgliedstaat wird bei der Berechnung des Drittels oder der vier Fünftel der Mitgliedstaaten nach den Absätzen 1 und 2 des genannten Artikels nicht berücksichtigt. Die Stimmenthaltung von anwesenden oder vertretenen Mitgliedern steht dem Erlass von Beschlüssen nach Absatz 2 des genannten Artikels nicht entgegen.

Für den Erlass von Beschlüssen nach Artikel 7 Absätze 3 und 4 [EUV] bestimmt sich die qualifizierte Mehrheit nach Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe b dieses Vertrags.

Beschließt der Rat nach dem Erlass eines Beschlusses über die Aussetzung der Stimmrechte nach Artikel 7 Absatz 3 [EUV] auf der Grundlage einer Bestimmung der Verträge mit qualifizierter Mehrheit, so bestimmt sich die qualifizierte Mehrheit hierfür nach Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe b dieses Vertrags oder, wenn der Rat auf Vorschlag der Kommission oder des Hohen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheitspolitik handelt, nach Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe a.

Für die Zwecke des Artikels 7 [EUV] beschließt das Europäische Parlament mit der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und mit der Mehrheit seiner Mitglieder.“

 Gerichtliche Kontrolle

4        In Art. 263 Abs. 1 und 6 AEUV heißt es:

„Der Gerichtshof der Europäischen Union überwacht die Rechtmäßigkeit der Gesetzgebungsakte sowie der Handlungen des Rates, der Kommission und der Europäischen Zentralbank, soweit es sich nicht um Empfehlungen oder Stellungnahmen handelt, und der Handlungen des Europäischen Parlaments und des Europäischen Rates mit Rechtswirkung gegenüber Dritten. Er überwacht ebenfalls die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union mit Rechtswirkung gegenüber Dritten.

Die in diesem Artikel vorgesehenen Klagen sind binnen zwei Monaten zu erheben; diese Frist läuft je nach Lage des Falles von der Bekanntgabe der betreffenden Handlung, ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat.“

5        Art. 269 AEUV lautet:

„Der Gerichtshof ist für Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit eines nach Artikel 7 [EUV] erlassenen Rechtsakts des Europäischen Rates oder des Rates nur auf Antrag des von einer Feststellung des Europäischen Rates oder des Rates betroffenen Mitgliedstaats und lediglich im Hinblick auf die Einhaltung der in dem genannten Artikel vorgesehenen Verfahrensbestimmungen zuständig.

Der Antrag muss binnen eines Monats nach der jeweiligen Feststellung gestellt werden. Der Gerichtshof entscheidet binnen eines Monats nach Antragstellung.“

 Protokoll (Nr. 24)

6        Der Einzige Artikel des Protokolls (Nr. 24) über die Gewährung von Asyl für Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. 2010, C 83, S. 305, im Folgenden: Protokoll [Nr. 24]) bestimmt:

„In Anbetracht des Niveaus des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union gelten die Mitgliedstaaten füreinander für alle rechtlichen und praktischen Zwecke im Zusammenhang mit Asylangelegenheiten als sichere Herkunftsländer. Dementsprechend darf ein Asylantrag eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats von einem anderen Mitgliedstaat nur berücksichtigt oder zur Bearbeitung zugelassen werden,

b)      wenn das Verfahren des Artikels 7 Absatz 1 [EUV] eingeleitet worden ist und bis der Rat oder gegebenenfalls der Europäische Rat diesbezüglich einen Beschluss im Hinblick auf den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehöriger der Antragsteller ist, gefasst hat;

…“

 Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments

7        Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments in der zum Zeitpunkt der Annahme der angefochtenen Entschließung geltenden Fassung (im Folgenden: Geschäftsordnung) lautet:

„Für die Annahme oder Ablehnung eines Textes werden nur die abgegebenen Ja- und Nein‑Stimmen bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses berücksichtigt, ausgenommen in den Fällen, für die in den Verträgen eine spezifische Mehrheit vorgesehen ist.“

8        Art. 226 Abs. 1 der Geschäftsordnung bestimmt:

„Treten Zweifel bezüglich der Anwendung oder Auslegung dieser Geschäftsordnung auf, kann der Präsident die Angelegenheit zur Prüfung an den zuständigen Ausschuss überweisen.

Die Ausschussvorsitze können ebenso verfahren, wenn sich im Verlauf der Arbeiten des Ausschusses ein solcher Zweifel im Zusammenhang mit der Ausschussarbeit ergibt.“

9        Aus Anlage V Abschnitt XVIII Nr. 8 der Geschäftsordnung ergibt sich, dass der Ausschuss für konstitutionelle Fragen des Parlaments für die Auslegung der Geschäftsordnung zuständig ist.

 Vorgeschichte des Rechtsstreits

10      Mit Entschließung vom 17. Mai 2017 zur Lage in Ungarn (2017/2656(RSP)) (ABl. 2018, C 307, S. 75) beauftragte das Parlament seinen Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres, einen Sonderbericht über diesen Mitgliedstaat im Hinblick darauf auszuarbeiten, im Plenum über einen begründeten Vorschlag abzustimmen, mit dem der Rat der Europäischen Union aufgefordert wird, Maßnahmen nach Art. 7 Abs. 1 EUV zu treffen. Der Bericht wurde am 25. Juni 2018 angenommen.

11      Mit Schreiben vom 10. September 2018 teilte der Ständige Vertreter Ungarns bei der Union dem Generalsekretär des Parlaments mit, dass nach Ansicht der ungarischen Regierung Enthaltungen bei der Abstimmung über die angefochtene Entschließung des Parlaments gemäß Art. 354 AEUV und Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung zu berücksichtigen seien, und bat um Unterrichtung der Mitglieder des Parlaments.

12      Am selben Tag teilte der Stellvertretende Generalsekretär des Parlaments den Abgeordneten über E‑Mail mit, dass bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses nur die für und gegen die Annahme der Entschließung abgegebenen Stimmen, nicht aber Enthaltungen berücksichtigt würden.

13      Am 12. September 2018 stimmte das Parlament über die angefochtene Entschließung ab. 448 Mitglieder stimmten für diese Entschließung, 197 stimmten dagegen, und 48 Mitglieder enthielten sich der Stimme. Nach der Abstimmung gab der Sitzungspräsident bekannt, dass die angefochtene Entschließung angenommen worden sei.

 Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof

14      Ungarn beantragt,

–        die angefochtene Entschließung für nichtig zu erklären und

–        dem Parlament die Kosten aufzuerlegen.

15      Das Parlament beantragt,

–        die Klage als offensichtlich unzulässig, hilfsweise als unbegründet abzuweisen und

–        Ungarn die Kosten aufzuerlegen.

16      Ungarn hat gemäß Art. 16 Abs. 3 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union beantragt, dass die Große Kammer über die Rechtssache entscheide.

17      Mit Beschluss vom 14. Mai 2019, Ungarn/Parlament (C‑650/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2019:438), hat der Gerichtshof angeordnet, das in Anlage 5 zur Klage Ungarns enthaltene Gutachten des Juristischen Dienstes des Parlaments aus den Akten zu entfernen und den Antrag Ungarns auf Vorlage des Dokuments zurückgewiesen.

18      Mit Beschluss vom 22. Mai 2019 hat der Präsident des Gerichtshofs die Republik Polen als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge Ungarns zugelassen.

 Zur Klage

 Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs und zur Zulässigkeit der Klage

 Vorbringen der Parteien

19      Das Parlament macht die Unzulässigkeit der vorliegenden Nichtigkeitsklage geltend, da sich aus Art. 269 AEUV und, hilfsweise, aus Art. 263 AEUV ergebe, dass die angefochtene Entschließung nicht Gegenstand einer solchen Klage sein könne.

20      Was erstens Art. 269 AEUV betreffe, ergebe sich aus der wörtlichen Auslegung dieser Bestimmung, dass sie die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf die vom Rat oder vom Europäischen Rat nach Art. 7 EUV erlassenen endgültigen Rechtsakte begrenze.

21      Diese Auslegung werde durch die Entstehungsgeschichte von Art. 269 AEUV bestätigt. Aus der Entwicklung der Verträge ergebe sich nämlich, dass das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren erst nach und nach einer gewissen Kontrolle durch den Gerichtshof unterworfen worden sei. Die nach dieser Bestimmung erlassenen Rechtsakte, die nicht in den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 269 AEUV fielen, gehörten daher stets zum „politischen Bereich“ der Verträge, der keiner gerichtlichen Kontrolle unterliege.

22      Im Übrigen sei Art. 269 AEUV im Verhältnis zu Art. 263 AEUV als lex specialis anzusehen und gehöre zu den Bestimmungen, die wie die Art. 271, 275 und 276 AEUV eine begrenzte Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung in bestimmten, vorher festgelegten Bereichen vorsähen.

23      Außerdem wäre es widersprüchlich, wenn die Feststellungen des Rates und des Europäischen Rates, auf die in Art. 269 AEUV ausdrücklich Bezug genommen werde und die schwerwiegende Folgen für den betroffenen Mitgliedstaat haben könnten, mit Ausnahme ihrer Verfahrensaspekte im Wesentlichen jeder gerichtlichen Kontrolle gemäß Art. 269 AEUV entzogen wären, während ein bloßer Vorschlag zur Einleitung des in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrens Gegenstand einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle sein könnte.

24      Zweitens ist das Parlament der Ansicht, dass die Klage, selbst wenn sie anhand von Art. 263 AEUV zu prüfen wäre, unzulässig sei, weil die angefochtene Entschließung nicht die Merkmale einer „anfechtbaren Handlung“ im Sinne von Art. 263 Abs. 1 AEUV aufweise.

25      Diese Entschließung führe nämlich nicht zu einer Änderung der Rechtsstellung Ungarns, da sie nur das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren in Gang setze, ohne den Rat hinsichtlich der gegebenenfalls zu treffenden Feststellung zu binden. Selbst wenn die Annahme der genannten Entschließung es ungarischen Staatsangehörigen ermöglichen würde, in einem anderen Mitgliedstaat einen Asylantrag nach Buchst. b des Einzigen Artikels des Protokolls (Nr. 24) zu stellen, hätte eine solche Möglichkeit keine nachteiligen Auswirkungen auf diese Staatsangehörigen oder für jeden anderen Unionsbürger oder für Ungarn selbst.

26      Im Übrigen habe der Gerichtshof in seinem Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586), lediglich entschieden, dass die in einem gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV angenommenen begründeten Vorschlag enthaltenen sachlichen Informationen besonders relevante Angaben bei der abstrakten Beurteilung der Frage darstellten, ob im Ausstellungsmitgliedstaat eines Europäischen Haftbefehls eine echte Gefahr einer Verletzung der Grundrechte bestehe. Diesem Urteil lasse sich daher nicht entnehmen, dass solche Vorschläge verbindliche Rechtswirkungen erzeugten.

27      Außerdem sei die angefochtene Entschließung als Zwischenmaßnahme anzusehen, da sie nicht den endgültigen Standpunkt des Parlaments festlege. Jedoch könnten nur Zwischenmaßnahmen, die unmittelbare, sichere und hinreichend verbindliche Rechtswirkungen hätten, unmittelbar gerichtlich überprüft werden, was bei der angefochtenen Entschließung nicht der Fall sei.

28      Ungarn, unterstützt durch die Republik Polen, hält die Klage für zulässig, weil die angefochtene Entschließung angesichts ihrer Wirkungen, insbesondere nach Buchst. b des Einzigen Artikels des Protokolls (Nr. 24), und der Erkenntnisse aus dem Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality (Mängel des Justizsystems) (C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586), eine anfechtbare Handlung im Sinne von Art. 263 AEUV sei. Im Übrigen sei Art. 269 AEUV eng auszulegen und nehme dem Gerichtshof nicht seine Zuständigkeit, über diese Klage zu befinden.

 Würdigung durch den Gerichtshof

29      Als Erstes ist zu prüfen, ob der Gerichtshof, wie das Parlament geltend macht, nach Art. 269 AEUV für die Entscheidung über die vorliegende Klage nicht zuständig ist.

30      Hierzu ist erstens festzustellen, dass der Gerichtshof nach diesem Artikel für Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit eines nach Art. 7 EUV erlassenen Rechtsakts des Europäischen Rates oder des Rates nur auf Antrag des von einer Feststellung des Europäischen Rates oder des Rates betroffenen Mitgliedstaats und lediglich im Hinblick auf die Einhaltung der in dem genannten Artikel vorgesehenen Verfahrensbestimmungen zuständig ist. Zudem muss dieser Antrag binnen eines Monats nach der jeweiligen Feststellung gestellt werden.

31      Da Art. 269 AEUV die Möglichkeit, eine Nichtigkeitsklage gegen Rechtsakte des Europäischen Rates oder des Rates nach Art. 7 EUV zu erheben, strengeren Voraussetzungen unterwirft als Art. 263 AEUV, enthält er eine Begrenzung der allgemeinen Zuständigkeit, die Art. 263 AEUV dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Unionsorgane einräumt, und ist daher eng auszulegen (vgl. entsprechend Urteil vom 19. Juli 2016, H/Rat u. a., C‑455/14 P, EU:C:2016:569, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32      Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 269 AEUV nur die Rechtsakte des Rates und des Europäischen Rates, die im Rahmen des in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrens erlassen werden, betrifft. Die nach Art. 7 Abs. 1 EUV angenommenen Entschließungen des Parlaments werden in Art. 269 AEUV nicht erwähnt.

33      Somit ergibt sich aus dem Wortlaut des letztgenannten Artikels, dass die Verfasser der Verträge eine Handlung wie die angefochtene Entschließung nicht von der allgemeinen Zuständigkeit ausnehmen wollten, die dem Gerichtshof der Europäischen Union durch Art. 263 AEUV zur Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Unionsorgane zuerkannt wird.

34      Eine solche Auslegung von Art. 269 AEUV kann im Übrigen zur Beachtung des Grundsatzes beitragen, nach dem die Europäische Union eine Rechtsunion ist, mit der ein umfassendes System von Rechtsbehelfen und Verfahren geschaffen worden ist, das dem Gerichtshof der Europäischen Union die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Unionsorgane zuweist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. April 1986, Les Verts/Parlament, 294/83, EU:C:1986:166, Rn. 23, vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 5. November 2019, EZB u. a./Trasta Komercbanka u. a., C‑663/17 P, C‑665/17 P und C‑669/17 P, EU:C:2019:923, Rn. 54).

35      Entgegen dem Vorbringen des Parlaments wird diese Schlussfolgerung nicht durch den Kontext in Frage gestellt, in den sich Art. 269 AEUV einfügt. Insoweit genügt nämlich der Hinweis, dass die Art. 271, 275 und 276 AEUV, mit denen das Parlament Art. 269 AEUV vergleicht, dem Gerichtshof nicht jede Befugnis nehmen, gemäß Art. 263 AEUV die Rechtmäßigkeit der dort genannten Handlungen der Union zu kontrollieren, und jedenfalls Bereiche betreffen, die nicht das Geringste mit dem in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahren zu tun haben. Zudem sind diese Art. 271, 275 und 276 AEUV erheblich anders als Art. 269 AEUV formuliert, so dass daraus keine sachdienlichen Erkenntnisse für die Auslegung des letztgenannten Artikels abgeleitet werden können.

36      Folglich nimmt Art. 269 AEUV dem Gerichtshof nicht die Zuständigkeit, über die vorliegende Klage zu befinden.

37      Was als Zweites die Zulässigkeit dieser Klage betrifft, sind nach ständiger Rechtsprechung mit der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV alle von den Organen erlassenen Bestimmungen unabhängig von ihrer Form anfechtbar, die verbindliche Rechtswirkungen erzeugen sollen (Urteile vom 26. März 2019, Kommission/Italien, C‑621/16 P, EU:C:2019:251, Rn. 44, sowie vom 9. Juli 2020, Tschechische Republik/Kommission, C‑575/18 P, EU:C:2020:530, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Um festzustellen, ob eine Handlung solche Wirkungen erzeugt und daher Gegenstand einer Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV sein kann, ist auf ihr Wesen abzustellen und sind diese Wirkungen anhand objektiver Kriterien wie z. B. des Inhalts dieser Handlung zu beurteilen, wobei gegebenenfalls der Zusammenhang ihres Erlasses und die Befugnisse des die Handlung vornehmenden Organs zu berücksichtigen sind (Urteil vom 9. Juli 2020, Tschechische Republik/Kommission, C‑575/18 P, EU:C:2020:530, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass mit der Annahme der angefochtenen Entschließung das in Art. 7 Abs. 1 EUV vorgesehene Verfahren eingeleitet wird. Allerdings darf nach Buchst. b des Einzigen Artikels des Protokolls (Nr. 24) ein Mitgliedstaat, sobald dieses Verfahren eingeleitet worden ist und solange der Rat oder der Europäische Rat keinen Beschluss im Hinblick auf den betreffenden Mitgliedstaat gefasst hat, abweichend von dem in diesem Einzigen Artikel aufgestellten Grundsatz einen Asylantrag eines Staatsangehörigen desjenigen Mitgliedstaats, gegen den dieses Verfahren anhängig ist, berücksichtigen oder zur Bearbeitung zulassen.

40      Daraus folgt, dass die Annahme der angefochtenen Entschließung das grundsätzlich für die Mitgliedstaaten geltende Verbot, einen von einem ungarischen Staatsangehörigen gestellten Asylantrag zu berücksichtigen oder zur Bearbeitung zuzulassen, unmittelbar beseitigt. Diese Entschließung ändert somit in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten die Situation Ungarns im Bereich des Asylrechts.

41      Daher erzeugt die angefochtene Entschließung ab ihrer Annahme und solange sich der Rat nicht zu den insoweit zu treffenden Folgemaßnahmen geäußert hat verbindliche Rechtswirkungen.

42      Das Parlament macht jedoch geltend, die angefochtene Entschließung stelle eine Zwischenmaßnahme dar, die einen vorläufigen Standpunkt zum Ausdruck bringe und nicht Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle nach Art. 263 AEUV sein könne.

43      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Zwischenmaßnahmen, die der Vorbereitung der endgültigen Entscheidung dienen, grundsätzlich keine Handlungen sind, die Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein können (Urteil vom 15. März 2017, Stichting Woonlinie u. a./Kommission, C‑414/15 P, EU:C:2017:215, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Bei diesen Zwischenmaßnahmen handelt es sich jedoch zum einen in erster Linie um Handlungen, die eine vorläufige Meinung des betreffenden Organs zum Ausdruck bringen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Oktober 2011, Deutsche Post und Deutschland/Kommission, C‑463/10 P und C‑475/10 P, EU:C:2011:656, Rn. 50).

45      Eine Entschließung wie die angefochtene, mit der das Parlament den Rat auffordert, nach Art. 7 Abs. 1 EUV das Bestehen einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte durch einen Mitgliedstaat festzustellen, kann jedoch nicht als Ausdruck eines vorläufigen Standpunkts des Parlaments angesehen werden, und zwar ungeachtet dessen, dass eine solche spätere Feststellung durch den Rat gegebenenfalls von der vorherigen Zustimmung des Parlaments gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV abhängt. Eine solche Zustimmung wird nämlich nur erfolgen, wenn der Rat das Bestehen einer solchen Gefahr feststellt, und darüber hinaus nur einen Rechtsakt betreffen, der sich aus einer dem Rat eigenen Beurteilung des Bestehens dieser Gefahr ergibt, die wiederum von der Beurteilung des Parlaments bei der Annahme der angefochtenen Entschließung abweichen kann.

46      Zum anderen geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch hervor, dass eine Zwischenmaßnahme, die eigenständige Rechtswirkungen erzeugt, Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein kann, soweit die mit diesem Rechtsakt verbundene Rechtswidrigkeit nicht im Rahmen einer Klage gegen die endgültige Entscheidung, deren Vorbereitung sie dient, beseitigt werden kann (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 30. Juni 1992, Spanien/Kommission, C‑312/90, EU:C:1992:282, Rn. 21 und 22, vom 30. Juni 1992, Italien/Kommission, C‑47/91, EU:C:1992:284, Rn. 27 und 28, sowie vom 13. Oktober 2011, Deutsche Post und Deutschland/Kommission, C‑463/10 P und C‑475/10 P, EU:C:2011:656, Rn. 53, 54 und 60).

47      Im vorliegenden Fall könnte sich Ungarn zwar, wie das Parlament geltend macht, auf die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entschließung berufen, um hierauf eine etwaige Nichtigkeitsklage gegen die Feststellung zu stützen, dass eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte der Union bestehe, wenn der Rat eine solche Feststellung auf der Grundlage von Art. 7 Abs. 1 EUV im Anschluss an diese Entschließung träfe.

48      Doch abgesehen davon, dass der Rat, wie der Generalanwalt in Nr. 100 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, nicht verpflichtet ist, zur angefochtenen Entschließung Stellung zu nehmen, würde es der etwaige Erfolg einer Nichtigkeitsklage gegen die vom Rat nach Art. 7 Abs. 1 EUV getroffene Feststellung jedenfalls nicht ermöglichen, sämtliche in Rn. 40 des vorliegenden Urteils genannten verbindlichen Rechtswirkungen dieser Entschließung zu beseitigen.

49      Unter diesen Umständen ist die angefochtene Entschließung als anfechtbare Handlung im Sinne von Art. 263 Abs. 1 AEUV anzusehen.

50      Was schließlich das Vorbringen des Parlaments zur Begründung seiner Einrede der Unzulässigkeit betrifft, nach dem die Rechtswirkungen der angefochtenen Entschließung Ungarn nicht unmittelbar beträfen, ist zu den Ausführungen in Rn. 40 des vorliegenden Urteils hinzuzufügen, dass ein Mitgliedstaat nach Art. 263 Abs. 2 AEUV jedenfalls weder dartun muss, dass er von der Handlung der Union, deren Nichtigerklärung er begehrt, unmittelbar und individuell betroffen ist, noch dass er ein Rechtsschutzinteresse hat (vgl. zu letztgenanntem Gesichtspunkt Urteil vom 5. September 2012, Parlament/Rat, C‑355/10, EU:C:2012:516, EU:C:2012:516, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Als Drittes kann ungeachtet dessen die dem Gerichtshof der Europäischen Union durch Art. 263 AEUV zuerkannte allgemeine Zuständigkeit für die Überwachung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Unionsorgane nicht in einer Weise ausgelegt werden, die der in Art. 269 AEUV vorgesehenen Begrenzung dieser allgemeinen Zuständigkeit ihre praktische Wirksamkeit nehmen könnte (vgl. entsprechend Urteil vom 1. Juli 2010, Povse, C‑211/10 PPU, EU:C:2010:400, Rn. 78).

52      Daraus folgt, dass Art. 263 AEUV, wenn er wie im vorliegenden Fall die Grundlage einer Nichtigkeitsklage gegen einen von einem Unionsorgan nach Art. 7 EUV erlassenen Rechtsakt bildet, nicht unabhängig von Art. 269 AEUV angewandt werden kann, sondern vielmehr im Licht des letztgenannten Artikels auszulegen ist.

53      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 269 AEUV Nichtigkeitsklagen gegen die nach Art. 7 EUV erlassenen Rechtsakte des Rates und des Europäischen Rates von bestimmten Voraussetzungen abhängig macht, mit denen der besonderen Natur des in dieser Bestimmung vorgesehenen Verfahrens Rechnung getragen werden soll. So behalten die in Art. 269 Abs. 1 AEUV genannten Voraussetzungen allein dem von diesem Verfahren betroffenen Mitgliedstaat das Recht vor, eine solche Klage zu erheben, und beschränken die Klagegründe, auf die diese Klage gestützt werden kann, allein auf die Rügen, mit denen ein Verstoß gegen die Verfahrensbestimmungen des Art. 7 EUV geltend gemacht wird.

54      Ließe man nun zu, dass von einem anderen Kläger als dem davon betroffenen Mitgliedstaat auf der Grundlage von Art. 263 AEUV eine Nichtigkeitsklage gegen einen nach Art. 7 Abs. 1 EUV angenommenen begründeten Vorschlag des Parlaments erhoben und zur Begründung dieser Klage jeder der in Art. 263 Abs. 2 AEUV genannten Klagegründe geltend gemacht werden könnte, verlören die in Art. 269 AEUV vorgesehenen besonderen Voraussetzungen weitgehend ihre praktische Wirksamkeit, denen die Erhebung einer Nichtigkeitsklage gegen diejenige Feststellung des Rates unterliegt, die in Art. 7 Abs. 1 EUV genannt wird und im Anschluss an diesen Vorschlag erlassen werden kann.

55      Würde ein derartiger begründeter Vorschlag des Parlaments auf Antrag eines solchen Klägers für nichtig erklärt, wäre der Rat daran gehindert, das Bestehen einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte der Union festzustellen, obwohl dieser Kläger nach Art. 269 Abs. 1 AEUV nicht die Nichtigerklärung dieser Feststellung beantragen kann.

56      Ebenso wäre der Rat, sollte dieser Vorschlag aufgrund eines anderen als der in Art. 269 AEUV genannten Klagegründe für nichtig erklärt werden, gleichermaßen daran gehindert, das Bestehen einer solchen Gefahr festzustellen, obwohl dieser Klagegrund nach Art. 269 AEUV nicht geltend gemacht werden kann, um die Nichtigerklärung dieser Feststellung zu erwirken.

57      Hingegen ist die Möglichkeit, dass ein von einem nach Art. 7 Abs. 1 EUV angenommenen begründeten Vorschlag des Parlaments betroffener Mitgliedstaat gegen diesen Vorschlag gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV binnen zwei Monaten nach dessen Bekanntgabe eine Nichtigkeitsklage erhebt, nicht geeignet, die praktische Wirksamkeit der besonderen Bestimmungen zu beeinträchtigen, denen die Nichtigkeitsklage gegen die nach Art. 7 Abs. 1 EUV ergangene Feststellung des Rates gemäß Art. 269 AEUV unterliegt.

58      Obwohl die Klage auf Nichtigerklärung einer solchen Feststellung gemäß Art. 269 Abs. 2 AEUV binnen eines Monats, nachdem die fragliche Feststellung ergangen ist, zu erheben ist, ginge es somit über das zur Wahrung der praktischen Wirksamkeit von Art. 269 AEUV Erforderliche hinaus, zu verlangen, dass die Nichtigkeitsklage gegen den nach Art. 7 Abs. 1 EUV angenommenen begründeten Vorschlag des Parlaments einer ebensolchen Verkürzung ihrer Klagefrist unterliegt.

59      Aus den Erwägungen in den Rn. 54 bis 58 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass eine Nichtigkeitsklage, mit der gemäß Art. 263 AEUV ein nach Art. 7 EUV angenommener begründeter Vorschlag des Parlaments angefochten wird, nur von dem von diesem Vorschlag betroffenen Mitgliedstaat und binnen zwei Monaten nach Annahme des fraglichen Vorschlags erhoben werden kann. Zudem können die Nichtigkeitsgründe, auf die eine solche Klage gestützt wird, nur aus der Verletzung der in Art. 7 EUV genannten Verfahrensbestimmungen hergeleitet werden.

60      Im vorliegenden Fall ist Ungarn derjenige Mitgliedstaat, auf den sich die angefochtene Entschließung bezieht. Zudem ist die Klage dieses Mitgliedstaats innerhalb der in Art. 263 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Frist erhoben worden.

61      Nach alledem ist die vorliegende Nichtigkeitsklage zulässig, unabhängig davon, ob der Gerichtshof über jeden der zur Stützung dieser Klage vorgebrachten Klagegründe befinden kann.

 Zu den Klagegründen

62      Ungarn stützt seine Klage auf vier Klagegründe. Mit dem ersten Klagegrund wird ein Verstoß gegen Art. 354 Abs. 4 AEUV und Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung geltend gemacht. Mit dem zweiten Klagegrund wird ein Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit gerügt. Mit seinem dritten Klagegrund wirft Ungarn dem Parlament vor, gegen die Grundsätze der Demokratie und der Gleichbehandlung verstoßen zu haben. Mit dem vierten Klagegrund wird ein Verstoß gegen die Grundsätze der loyalen Zusammenarbeit, der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den Organen, der Wahrung berechtigter Erwartungen und der Rechtssicherheit gerügt.

63      In Anbetracht dessen, dass sie miteinander zusammenhängen, sind als Erstes der erste und der dritte Klagegrund zusammen zu prüfen.

 Zum ersten und zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 354 Abs. 4 AEUV, gegen Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung sowie gegen die Grundsätze der Demokratie und der Gleichbehandlung

–       Vorbringen der Parteien

64      Mit seinem ersten Klagegrund macht Ungarn geltend, das Parlament habe bei der Auszählung der für die Annahme der angefochtenen Entschließung abgegebenen Stimmen zu Unrecht die Enthaltungen ausgeschlossen.

65      Das in Art. 354 Abs. 4 AEUV aufgestellte Erfordernis einer qualifizierten Mehrheit für die Annahme eines begründeten Vorschlags nach Art. 7 Abs. 1 EUV durch das Parlament zeuge von der Bedeutung eines solchen Rechtsakts. Eine Auslegung dieser Bestimmung des AEU-Vertrags in dem Sinne, dass die Enthaltungen als abgegebene Stimmen anzusehen wären, so dass für die Annahme dieses Rechtsakts eine größere Anzahl Ja-Stimmen erforderlich wäre, würde es jedoch gerade erlauben, dieser Bedeutung Rechnung zu tragen.

66      Auch der Kontext des Art. 354 AEUV spreche für diese Auslegung. So ergebe sich aus Art. 354 Abs. 1 AEUV, dass im Verfahren nach Art. 7 Abs. 1 EUV für die Feststellung, ob eine Mehrheit von vier Fünfteln der Mitglieder des Rates erreicht werde, die Stimmen aller Mitgliedstaaten mit Ausnahme des betroffenen Mitgliedstaats zu zählen seien, unabhängig davon, ob sie dafür oder dagegen gestimmt oder sich der Stimme enthalten haben.

67      Im Übrigen sehe Art. 354 Abs. 4 AEUV, indem er eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und die Mehrheit der Mitglieder des Parlaments verlange, eine spezifische Mehrheit im Sinne von Art. 178 Abs. 3 letzter Halbsatz der Geschäftsordnung vor. Aus der letztgenannten Bestimmung ergebe sich aber, dass, wenn die Verträge eine spezifische Mehrheit vorsähen, sowohl die Stimmen für und gegen den zur Abstimmung gestellten Vorschlag als auch die Enthaltungen als abgegebene Stimmen zu betrachten seien.

68      Hingegen gestatte es schon der Wortlaut dieser Bestimmung der Geschäftsordnung nicht, die Ausnahme, die die genannte Bestimmung für den Fall einer durch die Verträge vorgeschriebenen spezifischen Mehrheit vorsehe, so auszulegen, dass sie nur für die Berechnung der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments gelte. Diese Bestimmung treffe nämlich eine sehr deutliche Unterscheidung zwischen der Situation, in der nur die Stimmen für und gegen den betreffenden Text bei der Berechnung der Zahl der abgegebenen Stimmen zu berücksichtigen seien, und den Situationen, in denen der fragliche Text nur mit einer spezifischen, in den Verträgen vorgesehenen Mehrheit wirksam angenommen werden könne.

69      Im Übrigen würden die Abgeordneten in der Plenarsitzung des Parlaments ihr Votum durch die Wahl zwischen den Schaltflächen „dafür“, „dagegen“ oder „Enthaltung“ zum Ausdruck bringen. Daraus ergebe sich eindeutig, dass die Enthaltung eine der Formen der Stimmabgabe sei.

70      Die Republik Polen macht geltend, Art. 354 Abs. 4 AEUV sei im Licht von Art. 354 Abs. 1 AEUV als Verpflichtung zu verstehen, die Enthaltungen als abgegebene Stimmen zu erachten. Der Hinweis in Art. 354 Abs. 1 letzter Satz AEUV, wonach Stimmenthaltungen im Europäischen Rat nicht berücksichtigt werden dürften, stelle nämlich eine Ausnahme von der Regel dar, so dass das Fehlen eines solchen Hinweises in Art. 354 Abs. 4 AEUV im Umkehrschluss zeige, dass Enthaltungen zu berücksichtigen seien, wenn das Parlament für die Zwecke des Art. 7 EUV beschließe.

71      Außerdem wäre es nach Ansicht dieses Mitgliedstaats in Anbetracht dessen, dass der Wortlaut von Art. 83 Abs. 3 der Geschäftsordnung ausdrücklich auf die in Art. 354 Abs. 4 AEUV vorgesehene Mehrheit Bezug nehme, unlogisch, davon auszugehen, dass der letzte Halbsatz von Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung eingeführt worden sei, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass in den Fällen, in denen die Verträge eine spezifische Mehrheit vorsähen, die einfache Mehrheit für die Annahme eines Beschlusses nicht ausreiche. Schließlich sehe Art. 180 der Geschäftsordnung in aller Form die Möglichkeit der Enthaltung vor.

72      Das Parlament ist der Ansicht, dass Art. 354 AEUV zwar nicht klarstelle, ob bei den abgegebenen Stimmen Stimmenthaltungen zu berücksichtigen seien, ihm diese Bestimmung jedoch die Befugnis verleihe, diese Frage in seiner Geschäftsordnung zu regeln. Aus Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung ergebe sich aber, dass Enthaltungen im vorliegenden Fall nicht hätten berücksichtigt werden müssen, da die Ausnahme am Ende dieser Bestimmung nur darauf abziele, von dem in Art. 231 Abs. 1 AEUV verankerten Grundsatz abzuweichen, nach dem eine Mehrheit zustande komme, wenn es mehr Ja- als Nein-Stimmen gebe, und dahin auszulegen sei, dass die Ja-Stimmen für den betreffenden Text auch der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments entsprechen müssten.

73      Mit seinem dritten Klagegrund macht Ungarn zum einen geltend, dass Art. 354 AEUV und Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung im Licht des in Art. 2 EUV verankerten Demokratieprinzips hätten ausgelegt werden und zur Einbeziehung von Enthaltungen in die Berechnung des Abstimmungsergebnisses hätten führen müssen, da eine solche Berücksichtigung mit der Sicherstellung einer umfassenden Vertretung des Volkes am besten die demokratischen Werte der Union gewährleisten würde.

74      Die Art und Weise, wie das Parlament im vorliegenden Fall die abgegebenen Stimmen gezählt habe, führe hingegen dazu, der Enthaltung als Abstimmungsoption ihren Sinn zu nehmen. Den Mitgliedern des Parlaments hätten nicht alle sich aus der Ausübung ihres Amtes ergebenden Möglichkeiten zur Verfügung gestanden, ohne dass diese Einschränkung auf einem legitimen Ziel basiere.

75      Zum anderen führe die vom Parlament vertretene Auslegung von Art. 354 Abs. 4 AEUV und der Geschäftsordnung zu einer durch kein legitimes Ziel zu rechtfertigende Ungleichbehandlung zwischen den Mitgliedern des Parlaments, die sich bei der Abstimmung über die angefochtene Entschließung der Stimme enthalten hätten, und den Mitgliedern des Parlaments, die in Bezug auf die Entschließung eine Stimme abgegeben haben.

76      Das Parlament ist der Ansicht, Ungarn habe in seiner Erwiderung den Sinn seines dritten Klagegrundes geändert, indem darin geltend gemacht werde, das Parlament habe gegen Art. 354 Abs. 4 AEUV und Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung verstoßen. Dieses Vorbringen sei nicht nachvollziehbar und daher unzulässig. Jedenfalls sei der dritte Klagegrund Ungarns unbegründet.

–       Würdigung durch den Gerichtshof

77      Zunächst ist erstens festzustellen, dass der Gerichtshof über den ersten Klagegrund nicht entscheiden kann, soweit Ungarn damit dem Parlament vorwirft, für die Zwecke der Annahme der angefochtenen Entschließung gegen Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung verstoßen zu haben. Diese Bestimmung kann nämlich nicht, anders als die Verfahrensbestimmungen gemäß Art. 354 AEUV, auf den in Art. 7 Abs. 5 EUV ausdrücklich Bezug genommen wird, als Verfahrensbestimmung nach Art. 7 EUV im Sinne von Art. 269 AEUV angesehen werden.

78      Was zweitens die vom Parlament gegen den dritten Klagegrund erhobene Einrede der Unzulässigkeit betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 120 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs und der dazu ergangenen Rechtsprechung die Klageschrift den Streitgegenstand, die geltend gemachten Klagegründe und Argumente sowie eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten muss. Diese Angaben müssen so klar und deutlich sein, dass sie dem Beklagten die Vorbereitung seines Verteidigungsvorbringens und dem Gerichtshof die Wahrnehmung seiner Kontrollaufgabe ermöglichen. Folglich müssen sich die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die eine Klage gestützt wird, zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben, und die Anträge in der Klageschrift müssen eindeutig formuliert sein, damit der Gerichtshof nicht ultra petita entscheidet oder eine Rüge übergeht (Urteil vom 16. April 2015, Parlament/Rat, C‑540/13, EU:C:2015:224, Rn. 9 und die dort angeführte Rechtsprechung).

79      Im vorliegenden Fall geht aus der Klageschrift hervor, dass Ungarn mit seinem dritten Klagegrund im Wesentlichen die Vereinbarkeit der angefochtenen Entschließung insbesondere mit Art. 354 Abs. 4 AEUV in Verbindung mit dem Demokratieprinzip und dem Grundsatz der Gleichbehandlung in Abrede stellt, weil die Enthaltungen bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses nicht berücksichtigt worden seien.

80      Diese Rüge wurde in der Klageschrift erhoben und ist eindeutig, so dass die vom Parlament erhobene Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen ist.

81      Da Ungarn im Übrigen mit diesem dritten Klagegrund, wie in Rn. 79 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nicht isoliert einen Verstoß gegen die Grundsätze der Demokratie und der Gleichbehandlung geltend macht, sondern dartun will, dass die Annahme der angefochtenen Entschließung insbesondere gegen die Verfahrensbestimmung des Art. 354 Abs. 4 AEUV in Verbindung mit diesen Grundsätzen verstoßen habe, kann der Gerichtshof, wie aus Rn. 59 des vorliegenden Urteils hervorgeht, über diesen dritten Klagegrund entscheiden.

82      In der Sache ist erstens darauf hinzuweisen, dass nach Art. 354 Abs. 4 AEUV das Parlament, wenn es einen Beschluss nach Art. 7 EUV zu fassen hat, mit der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und mit der Mehrheit seiner Mitglieder beschließt.

83      Da die Verträge nicht festlegen, was unter „abgegebenen Stimmen“ zu verstehen ist, ist dieser autonome Begriff des Unionsrechts entsprechend seinem üblichen Sinn im gewöhnlichen Sprachgebrauch auszulegen, wobei der Zusammenhang, in dem er verwendet wird, und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung verfolgt werden, zu der er gehört (vgl. entsprechend Urteil vom 23. April 2020, Associazione Avvocatura per i diritti LGBTI, C‑507/18, EU:C:2020:289, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

84      Wie der Generalanwalt in den Nrn. 128 bis 130 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, umfasst der Begriff „abgegebene Stimmen“ in seinem üblichen Sinn jedoch nur die Äußerung eines befürwortenden oder ablehnenden Votums über einen bestimmten Vorschlag. Da eine Enthaltung ihrem üblichen Sinn nach als Weigerung zu verstehen ist, zu einem bestimmten Vorschlag Stellung zu beziehen, kann sie nicht mit einer „abgegebenen Stimme“ gleichgestellt werden.

85      Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Mehrheitsregel des Art. 354 Abs. 4 AEUV zwei Erfordernisse umfasst. Die vom Parlament nach Art. 7 EUV angenommenen Rechtsakte bedürfen nämlich zum einen der Zustimmung von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen und zum anderen der Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments.

86      Indem die Verfasser des AEU-Vertrags vorgeschrieben haben, dass die vom Parlament nach Art. 7 EUV angenommenen Rechtsakte dieser doppelten Mehrheit bedürfen, haben sie die Bedeutung solcher Rechtsakte sowohl auf politischer als auch auf verfassungsrechtlicher Ebene hervorgehoben.

87      Während also aus den in Rn. 84 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen Enthaltungen nicht bei der Feststellung berücksichtigt werden können, ob eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen für die Annahme eines solchen Rechtsakts erreicht wird, sind sie hingegen, wie in Art. 354 Abs. 4 AEUV vorgesehen, für die Prüfung, ob die Ja-Stimmen die Mehrheit der Mitglieder des Parlaments abbilden, zu berücksichtigen. Nach dieser Mehrheitsregel kann ein begründeter Vorschlag des Parlaments nach Art. 7 EUV nämlich nicht angenommen werden, wenn die Zahl der Mitglieder, die für ihn gestimmt haben, die verbleibende Zahl der Mitglieder des Parlaments nicht überschreitet, unabhängig davon, ob sie gegen ihn gestimmt haben, sich enthalten haben oder bei der Abstimmung abwesend waren.

88      Aus den in den Rn. 84 bis 87 des vorliegenden Urteils dargelegten Erwägungen ergibt sich, dass Art. 354 Abs. 4 AEUV dahin auszulegen ist, dass für die Zwecke von Art. 7 EUV Enthaltungen bei der Berechnung der Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen nicht zu berücksichtigen sind.

89      Der Umstand, dass, wie Ungarn geltend gemacht hat, die Enthaltungen bei der Berechnung der in Art. 7 Abs. 1 EUV genannten Mehrheit von vier Fünfteln der Mitglieder des Rates berücksichtigt werden, ist insoweit unerheblich. Wie sich nämlich aus Rn. 87 des vorliegenden Urteils ergibt, ist es einer Abstimmungsregel, nach der die Mehrheit der Mitglieder eines Organs erforderlich ist, eigen, dass diejenigen, die sich der Stimme enthalten, bei der Feststellung, ob diese Mehrheit der Mitglieder erreicht ist, berücksichtigt werden, im Gegensatz zu einer Abstimmungsregel, die eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen verlangt.

90      Auch das auf Art. 354 Abs. 1 letzter Satz AEUV gestützte Vorbringen der Republik Polen kann keinen Erfolg haben. Diese Bestimmung sieht zwar vor, dass die Stimmenthaltungen der im Europäischen Rat anwesenden oder vertretenen Mitglieder diesen nicht daran hindern, einstimmig gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV festzustellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch einen Mitgliedstaat vorliegt, doch folgt daraus noch nicht, dass in Ermangelung einer solchen Klarstellung in Art. 354 Abs. 4 AEUV die Enthaltungen bei der Berechnung der Zweidrittelmehrheit der im Parlament abgegebenen Stimmen zu berücksichtigen wären.

91      Hierzu ist festzustellen, dass es die ausdrückliche Klarstellung in Art. 354 Abs. 1 AEUV zu den Stimmenthaltungen ermöglicht, für die Zwecke der Anwendung von Art. 7 Abs. 2 EUV jedwede Unsicherheit hinsichtlich des Gewichts von Stimmenthaltungen der im Europäischen Rat anwesenden oder vertretenen Mitgliedstaaten zu beseitigen.

92      Indem die Verfasser des AEU-Vertrags in Art. 354 Abs. 1 letzter Satz AEUV vorsahen, dass Stimmenthaltungen dieses Organ nicht daran hindern, die Feststellung nach Art. 7 Abs. 2 EUV zu treffen, wollten die Verfasser des AEU-Vertrags somit ausdrücklich ausschließen, dass die Stimmenthaltung eines einzigen der im Europäischen Rat anwesenden oder vertretenen Mitgliedstaaten, abgesehen vom betroffenen Mitgliedstaat, dieses Organ daran hindern kann, eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der Werte, auf die sich die Union gründet, durch den letztgenannten Mitgliedstaat festzustellen.

93      Entgegen dem Vorbringen der Republik Polen war eine solche Klarstellung in Art. 354 Abs. 4 AEUV allerdings auch nicht erforderlich, da, wie sich aus Rn. 84 des vorliegenden Urteils ergibt, der Begriff der „abgegebenen Stimmen“ in seinem üblichen Sinn bedeutet, dass Enthaltungen bei der Berechnung dieser Stimmen nicht zu berücksichtigen sind. Daher ist auch ohne eine Klarstellung, wie sie in Art. 354 Abs. 1 AEUV enthalten ist, eine Regel, die wie Art. 354 Abs. 4 AEUV eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen vorschreibt, so zu verstehen, dass sie die Berücksichtigung von Enthaltungen ausschließt.

94      Was zweitens den geltend gemachten Verstoß gegen Art. 354 Abs. 4 AEUV im Licht des Demokratieprinzips und des Grundsatzes der Gleichbehandlung betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese beiden Grundsätze gemäß Art. 2 EUV Werte darstellen, auf die sich die Union gründet. Außerdem beruht die Arbeitsweise der Union nach Art. 10 EUV auf einer repräsentativen Demokratie, und in Art. 20 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist der Grundsatz der Gleichbehandlung verankert.

95      Was zum einen das Demokratieprinzip betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass sich die politische und verfassungsrechtliche Bedeutung eines begründeten Vorschlags gemäß Art. 7 Abs. 1 EUV – wie der angefochtenen Entschließung – in der von Art. 354 Abs. 4 AEUV für seine Annahme verlangten doppelten Mehrheit widerspiegelt.

96      Außerdem ist entgegen dem Vorbringen Ungarns den Mitgliedern des Parlaments, die ihre Befugnisse ausüben wollten, indem sie sich bei der Abstimmung über die angefochtene Entschließung der Stimme enthielten, diese Möglichkeit nicht genommen worden, da die Enthaltungen als solche zum Zwecke der Prüfung, ob die Mehrheit der Mitglieder des Parlaments dafür stimmte, berücksichtigt wurden. Im Übrigen handelten die Mitglieder des Parlaments, die beschlossen hatten, sich bei dieser Abstimmung der Stimme zu enthalten, in Kenntnis der Sachlage, da sie unstreitig im Voraus darüber informiert worden waren, dass Enthaltungen nicht als abgegebene Stimmen gezählt werden würden.

97      Folglich verstößt der Ausschluss von Enthaltungen bei der Auszählung der abgegebenen Stimmen im Sinne von Art. 354 AEUV nicht gegen das Demokratieprinzip.

98      Was zum anderen den Grundsatz der Gleichbehandlung betrifft, dessen Verletzung Ungarn ebenfalls geltend macht, ist darauf hinzuweisen, dass dieser Grundsatz verlangt, dass vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleichbehandelt werden, sofern eine solche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. September 2010, Chatzi, C‑149/10, EU:C:2010:534, Rn. 64, und vom 8. September 2020, Kommission und Rat/Carreras Sequeros u. a., C‑119/19 P und C‑126/19 P, EU:C:2020:676, Rn. 137).

99      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass alle Mitglieder des Parlaments bei der Abstimmung über die angefochtene Entschließung über die gleichen Möglichkeiten verfügten, nämlich für oder gegen die Annahme dieser Entschließung zu stimmen oder aber sich bei dieser Abstimmung der Stimme zu enthalten, und dass sie sich zum Zeitpunkt dieser Abstimmung über die Folgen ihrer diesbezüglichen Entscheidung und insbesondere darüber völlig im Klaren waren, dass die Enthaltungen im Gegensatz zu den Stimmen für oder gegen diese Entschließung bei der Berechnung des Abstimmungsergebnisses nicht berücksichtigt werden würden. Folglich kann bei den Abgeordneten, die sich dabei der Stimme enthielten, in Anbetracht der Ausführungen in Rn. 84 des vorliegenden Urteils nicht davon ausgegangen werden, dass sie sich in einer Situation befänden, die objektiv mit der Situation derjenigen vergleichbar wäre, die zum Zwecke der Auszählung der abgegebenen Stimmen im Sinne von Art. 354 Abs. 4 AEUV für oder gegen diese Annahme stimmten.

100    Nach alledem ist festzustellen, dass das Parlament nicht gegen Art. 354 Abs. 4 AEUV in Verbindung mit den Grundsätzen der Demokratie und der Gleichbehandlung verstoßen hat, als es bei der Annahme der angefochtenen Entschließung die Enthaltungen nicht als abgegebene Stimmen gezählt hat.

101    Der erste und der dritte Klagegrund sind daher zurückzuweisen.

 Zum zweiten und zum vierten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 4 Abs. 3 EUV sowie gegen die Grundsätze der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den Unionsorganen, der Wahrung berechtigter Erwartungen und der Rechtssicherheit

–       Vorbringen der Parteien

102    Mit seinem zweiten Klagegrund macht Ungarn geltend, die angefochtene Entschließung verstoße gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit, da sie angenommen worden sei, ohne dass das Parlament vorher durch Befragung des Ausschusses für konstitutionelle Fragen die Unsicherheit hinsichtlich der Auslegung von Art. 178 Abs. 3 der Geschäftsordnung beseitigt hätte.

103    Selbst wenn Art. 226 der Geschäftsordnung es dem Präsidenten des Parlaments anheimstellen würde, ob er diesen Ausschuss mit der Angelegenheit befasse, könnten diesem Ausschuss gleichwohl nicht seine Befugnisse entzogen werden, indem die Annahme einer Maßnahme auf der Grundlage einer Regel zugelassen werde, deren Auslegung zweifelhaft sei.

104    Außerdem könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Ausschuss für konstitutionelle Fragen die Geschäftsordnung zukünftig anders auslege und das Abstimmungsergebnis über die angefochtene Entschließung nachträglich in Frage stelle, was zu einer Situation der Ungewissheit führe.

105    Das Parlament hält diesen Klagegrund für offensichtlich unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet.

106    Mit seinem vierten Klagegrund macht Ungarn geltend, die angefochtene Entschließung verstoße gegen Art. 4 Abs. 3 EUV sowie gegen die Grundsätze der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den Unionsorganen, der Wahrung berechtigter Erwartungen und der Rechtssicherheit. Das Parlament habe sich zum Zwecke der Annahme dieser Entschließung zu Unrecht auf Verstöße gegen das Unionsrecht betreffende Verfahren gestützt, die die Kommission abgeschlossen habe oder bezüglich deren Ungarn und die Kommission einen Dialog aufgenommen hätten. Außerdem habe die Kommission es ungeachtet dieser Verfahren nicht für gerechtfertigt gehalten, das in Art. 7 EUV vorgesehene Verfahren einzuleiten, was ausschließe, dass diese Vertragsverletzungsverfahren die Grundlage für die angefochtene Entschließung bilden könnten.

107    Das Parlament bezweifelt die Zulässigkeit dieses Klagegrundes und hält ihn jedenfalls für unbegründet.

–       Würdigung durch den Gerichtshof

108    Aus Rn. 59 des vorliegenden Urteils geht hervor, dass der Gerichtshof über die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entschließung lediglich im Hinblick auf die Einhaltung der in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrensbestimmungen befinden kann.

109    Mit seinem zweiten und seinem vierten Klagegrund macht Ungarn jedoch keine Verletzung dieser Verfahrensbestimmungen geltend.

110    Daraus folgt, dass der zweite und der vierte Klagegrund zurückzuweisen sind.

111    Nach alledem ist die Klage insgesamt abzuweisen.

 Kosten

112    Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da das Parlament beantragt hat, Ungarn zur Tragung der Kosten zu verurteilen, und Ungarn mit seinem Vorbringen unterlegen ist, sind Ungarn die Kosten aufzuerlegen.

113    Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung trägt die Republik Polen als Streithelferin ihre eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Klage wird abgewiesen.

2.      Ungarn trägt neben seinen eigenen Kosten die Kosten des Europäischen Parlaments.

3.      Die Republik Polen trägt ihre eigenen Kosten.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Ungarisch.