Language of document : ECLI:EU:C:2021:898

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

9. November 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz – Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz – Richtlinie 2011/95/EU – Art. 3 und 23 – Günstigere Normen, die von den Mitgliedstaaten beibehalten oder erlassen werden können, um den Anspruch auf Asyl oder subsidiären Schutz auf die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zu erstrecken – Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung von einem Elternteil an sein minderjähriges Kind – Wahrung des Familienverbands – Wohl des Kindes“

In der Rechtssache C‑91/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 18. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Februar 2020, in dem Verfahren

LW

gegen

Bundesrepublik Deutschland

erlässt


DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, N. Jääskinen und J. Passer, der Richter M. Ilešič (Berichterstatter), J.‑C. Bonichot, A. Kumin und N. Wahl,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. Februar 2021,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von LW, vertreten durch Rechtsanwalt F. Schleicher,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und A. Azema als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Mai 2021

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 und Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen LW und der Bundesrepublik Deutschland wegen eines Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (im Folgenden: Bundesamt), mit dem ihr das Asylrecht versagt wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Völkerrecht

3        In Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 des am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) (im Folgenden: Genfer Konvention) heißt es:

„Im Sinne dieses Abkommens findet der Ausdruck ‚Flüchtling‘ auf jede Person Anwendung:

2.      die … aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als Staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.

Für den Fall, dass eine Person mehr als eine Staatsangehörigkeit hat, bezieht sich der Ausdruck ‚das Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt‘ auf jedes der Länder, dessen Staatsangehörigkeit diese Person hat. Als des Schutzes des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie hat, beraubt, gilt nicht eine Person, die ohne einen stichhaltigen, auf eine begründete Befürchtung gestützten Grund den Schutz eines der Länder nicht in Anspruch genommen hat, deren Staatsangehörigkeit sie besitzt.“

 Unionsrecht

4        Mit der Richtlinie 2011/95 wurde die „Neufassung“ der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2004, L 304, S. 12) vorgenommen.

5        In den Erwägungsgründen 4, 12, 14, 16, 18, 19, 36 und 38 der Richtlinie 2011/95 heißt es:

„(4)      Die Genfer [Konvention] und das Protokoll stellen einen wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen dar.

(12)      Das wesentliche Ziel dieser Richtlinie besteht darin, einerseits zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und andererseits sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird.

(14)      Die Mitgliedstaaten sollten die Befugnis haben, günstigere Regelungen als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Normen für Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die um internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat ersuchen, einzuführen oder beizubehalten, wenn ein solcher Antrag als mit der Begründung gestellt verstanden wird, dass der Betreffende entweder ein Flüchtling im Sinne von Artikel 1 Abschnitt A der Genfer Konvention oder eine Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz ist.

(16)      Diese Richtlinie achtet die Grundrechte und befolgt insbesondere die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundsätze. Sie zielt insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde und des Asylrechts für Asylsuchende und die sie begleitenden Familienangehörigen sicherzustellen sowie die Anwendung der Artikel 1, 7, 11, 14, 15, 16, 18, 21, 24, 34 und 35 der Charta zu fördern, und sollte daher entsprechend umgesetzt werden.

(18)      Bei der Umsetzung dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten im Einklang mit dem [am 20. November 1989 in New York geschlossenen] Übereinkommen der Vereinten Nationen … über die Rechte des Kindes [(United Nations Treaty Series, Bd. 1577, S. 3)] vorrangig das ‚Wohl des Kindes‘ berücksichtigen. Bei der Bewertung der Frage, was dem Wohl des Kindes dient, sollten die Mitgliedstaaten insbesondere dem Grundsatz des Familienverbands … Rechnung tragen.

(19)      Der Begriff ‚Familienangehörige‘ muss ausgeweitet werden, wobei … das Wohl des Kindes besonders zu berücksichtigen ist.

(36)      Familienangehörige sind aufgrund der alleinigen Tatsache, dass sie mit dem Flüchtling verwandt sind, in der Regel gefährdet, in einer Art und Weise verfolgt zu werden, dass ein Grund für die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus gegeben sein kann.

(38)      Bei der Gewährung der Ansprüche auf die Leistungen gemäß dieser Richtlinie sollten die Mitgliedstaaten dem Wohl des Kindes sowie den besonderen Umständen der Abhängigkeit der nahen Angehörigen, die sich bereits in dem Mitgliedstaat aufhalten und die nicht Familienmitglieder der Person sind, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, von dieser Person Rechnung tragen. Unter außergewöhnlichen Umständen, wenn es sich bei dem nahen Angehörigen der Person, die Anspruch auf internationalen Schutz hat, um eine verheiratete minderjährige Person handelt, die nicht von ihrem Ehepartner begleitet wird, kann es als dem Wohl der minderjährigen Person dienlich angesehen werden, wenn diese in ihrer ursprünglichen Familie lebt.“

6        Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

d)      ‚Flüchtling‘ einen Drittstaatsangehörigen, der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will, oder einen Staatenlosen, der sich aus denselben vorgenannten Gründen außerhalb des Landes seines vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts befindet und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht dorthin zurückkehren will und auf den Artikel 12 keine Anwendung findet;

j)      ‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:

–        der Ehegatte der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, oder ihr nicht verheirateter Partner, der mit ihr eine dauerhafte Beziehung führt …;

–        die minderjährigen Kinder des unter dem ersten Gedankenstrich genannten Paares oder der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, sofern diese nicht verheiratet sind, gleichgültig, ob es sich nach dem nationalen Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt;

–        der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist …;

k)      ‚Minderjähriger‘ einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren;

n)      ‚Herkunftsland‘ das Land oder die Länder der Staatsangehörigkeit oder – bei Staatenlosen – des früheren gewöhnlichen Aufenthalts.“

7        Art. 3 („Günstigere Normen“) der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibehalten, sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind.“

8        Art. 4 („Prüfung der Tatsachen und Umstände“) Abs. 3 Buchst. e der Richtlinie 2011/95 sieht vor:

„Die Anträge auf internationalen Schutz sind individuell zu prüfen, wobei Folgendes zu berücksichtigen ist:

e)      die Frage, ob vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er den Schutz eines anderen Staates in Anspruch nimmt, dessen Staatsangehörigkeit er für sich geltend machen könnte.“

9        Art. 12 („Ausschluss“) der Richtlinie 2011/95 lautet:

„(1)      Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn er

a)      den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des [Flüchtlingshilfswerks] der Vereinten Nationen [(UNHCR)] gemäß Artikel 1 Abschnitt D der Genfer [Konvention] genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie;

b)      von den zuständigen Behörden des Landes, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Landes verknüpft sind, bzw. gleichwertige Rechte und Pflichten hat.

(2)      Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er

a)      ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke begangen hat, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen festzulegen;

b)      eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Aufnahmelandes begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde, das heißt vor dem Zeitpunkt der Ausstellung eines Aufenthaltstitels aufgrund der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft; insbesondere grausame Handlungen können als schwere nichtpolitische Straftaten eingestuft werden, auch wenn mit ihnen vorgeblich politische Ziele verfolgt werden;

c)      sich Handlungen zuschulden kommen ließ, die den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen, wie sie in der Präambel und in den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen verankert sind, zuwiderlaufen.

(3)      Absatz 2 findet auf Personen Anwendung, die andere zu den darin genannten Straftaten oder Handlungen anstiften oder sich in sonstiger Weise daran beteiligen.“

10      Art. 23 („Wahrung des Familienverbands“) der Richtlinie 2011/95 bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann.

(2)      Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf die in den Artikeln 24 bis 35 genannten Leistungen haben, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist.

(3)      Die Absätze 1 und 2 finden keine Anwendung, wenn der Familienangehörige aufgrund der Kapitel III und V von der Gewährung internationalen Schutzes ausgeschlossen ist oder ausgeschlossen wäre.

(4)      Unbeschadet der Absätze 1 und 2 können die Mitgliedstaaten aus Gründen der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung die dort aufgeführten Leistungen verweigern, einschränken oder entziehen.

(5)      Die Mitgliedstaaten können entscheiden, dass dieser Artikel auch für andere enge Verwandte gilt, die zum Zeitpunkt des Verlassens des Herkunftslandes innerhalb des Familienverbands lebten und zu diesem Zeitpunkt vollständig oder größtenteils von der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, abhängig waren.“

 Deutsches Recht

11      § 3 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1992 (BGBl. 1992 I S. 1126), wie es am 2. September 2008 (BGBl. 2008 I S. 1798) bekannt gemacht wurde, bestimmt in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: AsylG):

„Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne [der Genfer Konvention], wenn er sich

1.      aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe

2.      außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,

a)      dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will …

…“

12      § 26 Abs. 2 AsylG sieht vor:

„Ein zum Zeitpunkt seiner Asylantragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylberechtigten wird auf Antrag als asylberechtigt anerkannt, wenn die Anerkennung des Ausländers als Asylberechtigter unanfechtbar ist und diese Anerkennung nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist.“

13      § 26 Abs. 4 AsylG schließt von der Anwendung von § 26 u. a. Personen aus, die unter einen der Ausschlussgründe nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 fallen.

14      § 26 Abs. 5 AsylG bestimmt:

„Auf Familienangehörige im Sinne der Absätze 1 bis 3 von international Schutzberechtigten sind die Absätze 1 bis 4 entsprechend anzuwenden. An die Stelle der Asylberechtigung tritt die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz. …“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

15      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens wurde 2017 in Deutschland als Kind einer tunesischen Mutter und eines syrischen Vaters geboren.

16      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens besitzt die tunesische Staatsangehörigkeit. Es ist nicht erwiesen, ob sie auch die syrische Staatsangehörigkeit besitzt.

17      Im Oktober 2015 erkannte das Bundesamt dem Vater der Klägerin des Ausgangsverfahrens die Flüchtlingseigenschaft zu. Der Antrag auf internationalen Schutz, den die in Libyen geborene Mutter der Klägerin des Ausgangsverfahrens gestellt hatte, die erklärt hatte, bis zu ihrer Ausreise aus diesem Staat dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt gehabt zu haben, blieb erfolglos.

18      Mit Bescheid vom 15. September 2017 lehnte das Bundesamt den im Namen der Klägerin des Ausgangsverfahrens nach ihrer Geburt gestellten Asylantrag als „offensichtlich unbegründet“ ab.

19      Mit Urteil vom 17. Januar 2019 hob das Verwaltungsgericht Cottbus (Deutschland) diesen Bescheid insoweit auf, als darin der Asylantrag der Klägerin des Ausgangsverfahrens als „offensichtlich unbegründet“ statt als „unbegründet“ abgelehnt worden war, und wies die Klage im Übrigen ab. Das Verwaltungsgericht befand, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht erfülle, da sie in Tunesien, ihrem – jedenfalls einen – Heimatstaat, keine begründete Furcht vor Verfolgung haben müsse. Ferner habe die Klägerin auch nicht in Anknüpfung an die Flüchtlingseigenschaft, die ihrem Vater in Deutschland zuerkannt worden sei, Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz aus § 26 Abs. 2 und 5 AsylG. Denn es widerspreche dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Schutzes, diesen Schutz auf Personen zu erstrecken, die als Angehörige eines schutzfähigen Staates von der Kategorie schutzbedürftiger Personen ausgeschlossen seien.

20      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht, dem Bundesverwaltungsgericht (Deutschland), Revision eingelegt.

21      Im Rahmen der Revision macht die Klägerin des Ausgangsverfahrens geltend, dass minderjährigen Kindern von Eltern mit unterschiedlicher nationaler Herkunft der Familienflüchtlingsstatus nach § 26 Abs. 2 in Verbindung mit § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG auch für den Fall zuzuerkennen sei, dass nur einem Elternteil die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. Der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes stehe dem nicht entgegen. Art. 3 der Richtlinie 2011/95 gestatte es einem Mitgliedstaat, in Fällen, in denen einem Angehörigen einer Familie internationaler Schutz gewährt werde, die Erstreckung dieses Schutzes auf andere Angehörige dieser Familie vorzusehen, sofern diese nicht unter einen der in Art. 12 der Richtlinie genannten Ausschlussgründe fielen und sofern ihre Situation wegen der Notwendigkeit, den Familienverband zu wahren, einen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweise. Im Rahmen dieser Gesetzgebung seien der Minderjährigenschutz und das Kindeswohl in besonderer Weise zu berücksichtigen.

22      Das vorlegende Gericht führt aus, die Klägerin des Ausgangsverfahrens habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus eigenem Recht. Aus Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 Abs. 2 der Genfer Konvention, in dem der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes zum Ausdruck komme, folge nämlich, dass Personen, die zwei oder mehr Staatsangehörigkeiten besäßen, die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden könne, wenn sie den Schutz eines der Länder ihrer Staatsangehörigkeit in Anspruch nehmen könnten. In diesem Sinne sei auch Art. 2 Buchst. d und n der Richtlinie 2011/95 auszulegen: Nur wer schutzlos sei, weil er keinen wirksamen Schutz durch ein Herkunftsland im Sinne des Art. 2 Buchst. n der Richtlinie genieße, sei Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens könne aber in Tunesien, einem Land ihrer Staatsangehörigkeit, effektiven Schutz erlangen.

23      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erfülle jedoch die im deutschen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für minderjährige ledige Kinder eines als Flüchtling anerkannten Elternteils. Denn nach § 26 Abs. 2 AsylG in Verbindung mit § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG sei zum Schutz der Familie im Asylverfahren die abgeleitete Flüchtlingseigenschaft auch einem Kind zuzuerkennen, das in Deutschland geboren worden sei und über seinen anderen Elternteil die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitze, in dessen Hoheitsgebiet es nicht verfolgt werde.

24      Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob eine solche Auslegung des deutschen Rechts mit der Richtlinie 2011/95 vereinbar ist.

25      Unter diesen Umständen hat das Bundesverwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass er der Vorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der dem minderjährigen ledigen Kind einer Person, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, eine von dieser abgeleitete Flüchtlingseigenschaft (sogenannter Familienflüchtlingsschutz) auch für den Fall zuzuerkennen ist, dass dieses Kind – über den anderen Elternteil – jedenfalls auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Landes besitzt, das nicht mit dem Herkunftsland des Flüchtlings identisch ist und dessen Schutz es in Anspruch nehmen kann?

2.      Ist Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen, dass die Einschränkung, wonach ein Anspruch der Familienangehörigen auf die in den Art. 24 bis 35 dieser Richtlinie genannten Leistungen nur zu gewähren ist, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung des Familienangehörigen vereinbar ist, es verbietet, dem minderjährigen Kind unter den in der ersten Frage beschriebenen Umständen die von dem anerkannten Flüchtling abgeleitete Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen?

3.      Ist für die Beantwortung der ersten und der zweiten Frage von Bedeutung, ob es für das Kind und seine Eltern möglich und zumutbar ist, ihren Aufenthalt in dem Land zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit das Kind und seine Mutter besitzen, dessen Schutz diese in Anspruch nehmen können und das nicht mit dem Herkunftsland des Flüchtlings (Vaters) identisch ist, oder genügt es, dass die Familieneinheit im Bundesgebiet auf der Grundlage aufenthaltsrechtlicher Regelungen gewahrt bleiben kann?

 Zu den Vorlagefragen

26      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 3 und 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen sind, dass sie einen Mitgliedstaat daran hindern, auf der Grundlage günstigerer nationaler Bestimmungen dem minderjährigen ledigen Kind eines Drittstaatsangehörigen, dem in Anwendung der mit dieser Richtlinie geschaffenen Regelung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, zur Wahrung des Familienverbands die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuzuerkennen, und zwar auch in dem Fall, dass dieses Kind im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats geboren worden ist und über seinen anderen Elternteil die Staatsangehörigkeit eines anderen Drittstaats besitzt, in dessen Hoheitsgebiet es nicht Gefahr laufen würde, verfolgt zu werden. In diesem Zusammenhang möchte das vorlegende Gericht auch wissen, ob es für die Beantwortung dieser Frage von Bedeutung ist, ob es dem Kind und seinen Eltern möglich und zumutbar ist, ihren Aufenthalt im zuletzt genannten Drittstaat zu nehmen.

27      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Bestimmungen der Richtlinie 2011/95 im Licht ihrer allgemeinen Systematik und ihres Zwecks in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention und einschlägigen anderen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt, auszulegen sind. Diese Auslegung muss zudem, wie dem 16. Erwägungsgrund der Richtlinie zu entnehmen ist, die Achtung der in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) anerkannten Rechte gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Januar 2021, Bundesrepublik Deutschland [Flüchtlingseigenschaft eines Staatenlosen palästinensischer Herkunft], C‑507/19, EU:C:2021:3, Rn. 39).

28      Zur Beantwortung der Vorlagefragen ist als Erstes festzustellen, dass ein Kind, das sich in einer Situation wie der in Rn. 26 des vorliegenden Urteils beschriebenen befindet, nicht die Voraussetzungen erfüllt, um selbst die Flüchtlingseigenschaft in Anwendung der mit der Richtlinie 2011/95 geschaffenen Regelung zuerkannt zu bekommen.

29      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 der Ausdruck „Flüchtling“ u. a. einen „Drittstaatsangehörigen [bezeichnet], der aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will“.

30      Aus dieser Definition folgt, dass die Flüchtlingseigenschaft das Vorliegen zweier Voraussetzungen erfordert, die auf das Engste miteinander verbunden sind und zum einen die Furcht vor Verfolgung und zum anderen den fehlenden Schutz vor Verfolgungshandlungen durch den Drittstaat, dessen Staatsangehörigkeit der Betroffene besitzt, betreffen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Januar 2021, Secretary of State for the Home Department, C‑255/19, EU:C:2021:36, Rn. 56).

31      Diese Definition übernimmt im Wesentlichen die Definition in Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Konvention. Dort heißt es: „Für den Fall, dass eine Person mehr als eine Staatsangehörigkeit hat, bezieht sich der Ausdruck ‚das Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt,‘ auf jedes der Länder, dessen Staatsangehörigkeit diese Person hat. Als des Schutzes des Landes, dessen Staatsangehörigkeit sie hat, beraubt, gilt nicht eine Person, die ohne einen stichhaltigen, auf eine begründete Befürchtung gestützten Grund den Schutz eines der Länder nicht in Anspruch genommen hat, deren Staatsangehörigkeit sie besitzt.“

32      Zwar ist diese Klarstellung, die Ausdruck des Grundsatzes der Subsidiarität des internationalen Schutzes ist, nicht ausdrücklich in die Richtlinie 2011/95 aufgenommen worden, doch ergibt sich aus Art. 2 Buchst. n der Richtlinie, dass jedes Land, dessen Staatsangehörigkeit ein Antragsteller gegebenenfalls besitzt, als sein „Herkunftsland“ im Sinne dieser Richtlinie anzusehen ist.

33      Somit ergibt sich aus Art. 2 Buchst. d in Verbindung mit Art. 2 Buchst. n der Richtlinie 2011/95, dass ein Antragsteller, der die Staatsangehörigkeit mehrerer Drittstaaten besitzt, nur dann als schutzlos angesehen wird, wenn er den Schutz keiner dieser Staaten in Anspruch nehmen kann oder aus Furcht vor Verfolgung nicht in Anspruch nehmen will. Diese Auslegung wird im Übrigen durch Art. 4 Abs. 3 Buchst. e der Richtlinie bestätigt, wonach zu den bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zu berücksichtigenden Gesichtspunkten die Frage gehört, ob vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er den Schutz eines anderen Staates in Anspruch nimmt, dessen Staatsangehörigkeit er für sich geltend machen könnte.

34      Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens in Tunesien, einem Drittstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie über ihre Mutter besitze, effektiven Schutz erlangen könne. Insoweit lägen keine Erkenntnisse vor, dass die Tunesische Republik nicht bereit und in der Lage wäre, der Klägerin des Ausgangsverfahrens den erforderlichen Schutz vor Verfolgung und vor Abschiebung nach Syrien, dem Herkunftsland ihres von den deutschen Behörden als Flüchtling anerkannten Vaters, oder in einen anderen Drittstaat zu gewähren.

35      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass in Anwendung der mit der Richtlinie 2011/95 geschaffenen Regelung einem Antrag auf internationalen Schutz aus eigenem Recht nicht allein deshalb stattgegeben werden kann, weil ein Familienangehöriger des Antragstellers die begründete Furcht vor Verfolgung hat oder tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, wenn erwiesen ist, dass der Antragsteller trotz seiner Bindung zu diesem Familienangehörigen und der besonderen Verwundbarkeit – die, wie im 36. Erwägungsgrund der Richtlinie ausgeführt, in der Regel daraus folgt – nicht selbst von Verfolgung und einem ernsthaften Schaden bedroht ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 50).

36      Als Zweites ist festzustellen, dass die Richtlinie 2011/95 eine Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus auf die Familienangehörigen, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieser Eigenschaft oder dieses Status erfüllen, kraft Ableitung von einer Person, der diese Eigenschaft oder dieser Status zuerkannt worden ist, nicht vorsieht. Aus Art. 23 der Richtlinie geht nämlich hervor, dass diese den Mitgliedstaaten nur aufgibt, ihr nationales Recht so anzupassen, dass diese Familienangehörigen gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf bestimmte Leistungen haben, die der Wahrung des Familienverbands dienen, wie z. B. die Ausstellung eines Aufenthaltstitels und der Zugang zu Beschäftigung oder Bildung, soweit dies mit der persönlichen Rechtsstellung dieser Familienangehörigen vereinbar ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 68).

37      Ferner ergibt sich aus Art. 2 Buchst. j der Richtlinie 2011/95, der für die Zwecke der Richtlinie den Begriff „Familienangehörige“ definiert, in Verbindung mit Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie, dass sich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den Anspruch auf diese Leistungen vorzusehen, nicht auf Kinder einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, erstreckt, die im Aufnahmemitgliedstaat einer Familie geboren wurden, die dort gegründet worden ist.

38      Als Drittes ist zur Klärung der Frage, ob ein Mitgliedstaat einem Kind, das sich in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden befindet, zum Zweck der Wahrung des Familienverbands gleichwohl die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuerkennen kann, darauf hinzuweisen, dass Art. 3 der Richtlinie 2011/95 es den Mitgliedstaaten gestattet, „günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes [zu] erlassen oder [beizubehalten], sofern sie mit dieser Richtlinie vereinbar sind“.

39      Der Gerichtshof hat festgestellt, dass sich aus diesem Wortlaut in Verbindung mit dem 14. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95 ergibt, dass die in Art. 3 dieser Richtlinie erwähnten günstigeren Normen z. B. die Lockerung der Voraussetzungen vorsehen können, unter denen ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus erhalten kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 70).

40      Was die in diesem Art. 3 enthaltene Klarstellung anbelangt, dass jede günstigere Norm mit der Richtlinie 2011/95 vereinbar sein muss, hat der Gerichtshof entschieden, dass damit gemeint ist, dass diese Norm die allgemeine Systematik oder die Ziele der Richtlinie nicht gefährden darf. Insbesondere sind Normen verboten, die die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zuerkennen sollen, die sich in Situationen befinden, die keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes aufweisen (Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 71 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Die auf der Grundlage des nationalen Rechts erfolgende automatische Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft an Familienangehörige einer Person, der diese Eigenschaft gemäß der mit der Richtlinie 2011/95 geschaffenen Regelung zuerkannt wurde, weist jedoch nicht von vornherein keinen Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes auf (Urteil vom 4. Oktober 2018, Ahmedbekova, C‑652/16, EU:C:2018:801, Rn. 72).

42      Denn zum einen haben die Verfasser der Genfer Konvention in der Schlussakte der Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen und staatenlosen Personen vom 25. Juli 1951, die den Text der Genfer Konvention ausgearbeitet hat, betont, dass „die Einheit der Familie … ein für den Flüchtling unentbehrliches Recht darstellt“, und den Unterzeichnerstaaten empfohlen, „die Maßnahmen zu ergreifen, die zum Schutze der Familie des Flüchtlings notwendig sind, besonders im Hinblick darauf, … sicherzustellen, dass die Einheit der Familie des Flüchtlings aufrechterhalten wird“, und dadurch einen engen Zusammenhang zwischen diesen Maßnahmen und dem Zweck des internationalen Schutzes hergestellt. Das Bestehen dieses Zusammenhangs wurde zudem von den Organen des UNHCR wiederholt bestätigt.

43      Zum anderen wird in der Richtlinie 2011/95 selbst das Bestehen dieses Zusammenhangs anerkannt, da in ihrem Art. 23 Abs. 1 allgemein die Pflicht für die Mitgliedstaaten vorgesehen ist, dafür Sorge zu tragen, dass der Familienverband der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, aufrechterhalten werden kann.

44      Folglich ist festzustellen, dass ein Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes vorliegt, wenn die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung von einer als Flüchtling anerkannten Person automatisch auf das minderjährige Kind unabhängig davon erstreckt wird, ob dieses Kind selbst die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieser Eigenschaft erfüllt, und zwar auch dann, wenn es im Aufnahmemitgliedstaat geboren worden ist, wie dies in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmung vorgesehen ist, die – wie das vorlegende Gericht ausführt – das Ziel des Schutzes der Familie und der Wahrung des Familienverbands international Schutzberechtigter verfolgt.

45      Gleichwohl kann es Situationen geben, in denen eine solche automatische Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft zur Wahrung des Familienverbands auf das minderjährige Kind kraft Ableitung von einer Person, der diese Eigenschaft zuerkannt worden ist, trotz des Bestehens dieses Zusammenhangs mit der Richtlinie 2011/95 unvereinbar wäre.

46      Denn zum einen läuft es in Anbetracht des den Ausschlussgründen der Richtlinie 2011/95 zugrunde liegenden Zwecks, der darin liegt, die Glaubwürdigkeit des durch die Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Konvention vorgesehenen Schutzsystems zu erhalten, dem in Art. 3 der Richtlinie niedergelegten Vorbehalt zuwider, dass ein Mitgliedstaat Bestimmungen erlässt oder beibehält, die die Rechtsstellung des Flüchtlings einer Person gewähren, die hiervon nach Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie ausgeschlossen ist (Urteil vom 9. November 2010, B und D, C‑57/09 und C‑101/09, EU:C:2010:661, Rn. 115).

47      Wie das vorlegende Gericht hervorhebt, schließt § 26 Abs. 4 AsylG aber solche Personen vom Anspruch auf die sich aus einer Anwendung von § 26 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 5 ergebende Erstreckung der Flüchtlingseigenschaft aus.

48      Zum anderen ergibt sich aus Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95, dass der Unionsgesetzgeber ausschließen wollte, dass die der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, gewährten Leistungen auf einen Familienangehörigen dieser Person erstreckt werden, wenn dies mit der persönlichen Rechtsstellung des betreffenden Familienangehörigen unvereinbar wäre.

49      Aus der Entstehungsgeschichte der genannten Bestimmung und des Umfangs des in ihr vorgesehenen Vorbehalts ergibt sich, dass der Vorbehalt auch dann greift, wenn ein Mitgliedstaat beschließt, sich nicht auf die Erstreckung der Leistungen zu beschränken, sondern gemäß Art. 3 der Richtlinie 2011/95 günstigere Normen erlassen möchte, nach denen der Status einer Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, automatisch auf ihre Familienangehörigen erstreckt wird, unabhängig davon, ob sie selbst die Voraussetzungen für die Zuerkennung dieses Status erfüllen.

50      Der nunmehr in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 enthaltene Vorbehalt war nämlich ein Vorschlag des Europäischen Parlaments im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens, das zur Verabschiedung der Richtlinie 2004/83 geführt hat, deren „Neufassung“ die Richtlinie 2011/95 darstellt und deren Art. 23 dem gleichen Artikel der Richtlinie 2011/95 weitgehend entspricht. Dieser Vorschlag nahm auf den Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften Bezug, der die Verpflichtung der Mitgliedstaaten vorsah, dafür Sorge zu tragen, „dass begleitende Familienangehörige Anspruch auf denselben Status wie die internationalen Schutz beantragende Person haben“. Das Parlament hatte vorgeschlagen, diese Verpflichtung auf die Familienangehörigen, die sich der Antrag stellenden Person später anschließen, zu erstrecken, es aber für angebracht gehalten, diesen Vorbehalt einzufügen, um zu berücksichtigen, dass die Familienangehörigen „unter Umständen einen eigenständigen und anderen Rechtsstatus [als der Antragsteller haben], der unter Umständen nicht mit dem internationalen Schutzstatus vereinbar ist“ (vgl. den Bericht des Europäischen Parlaments vom 8. Oktober 2002 über den Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen [KOM(2001) 510 – A 5‑0333/2002 final, Änderungsantrag 22 (ABl. 2002, C 51 E, S. 325)]).

51      Der Unionsgesetzgeber hat diese Verpflichtung letztlich nicht festgelegt. Er behielt jedoch den Vorbehalt der Vereinbarkeit bei und beschränkte sich darauf, den Mitgliedstaaten in Art. 23 Abs. 1 und 2 der Richtlinien 2004/83 und 2011/95 vorzuschreiben, dafür Sorge zu tragen, dass der Familienverband aufrechterhalten werden kann und die Familienangehörigen der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die selbst nicht die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Schutzes erfüllen, gemäß den nationalen Verfahren Anspruch auf bestimmte Leistungen haben.

52      Aus der Entstehungsgeschichte dieses Art. 23 ergibt sich somit, dass ein Mitgliedstaat, der in Ausübung der in Art. 3 der genannten Richtlinien erteilten Befugnis günstigere Normen erlassen oder beibehalten möchte, wonach der einem solchen Berechtigten gewährte Status automatisch auf seine Familienangehörigen – unabhängig davon, ob sie selbst die Voraussetzungen für die Gewährung dieses Status erfüllen – erstreckt wird, bei der Anwendung dieser Normen auf die Einhaltung des in Art. 23 Abs. 2 genannten Vorbehalts zu achten hat.

53      Der Umfang dieses Vorbehalts ist im Hinblick auf das Ziel von Art. 23 der Richtlinie 2011/95, die Wahrung des Familienverbands der Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, zu gewährleisten, und den spezifischen Kontext, in den sich dieser Vorbehalt einfügt, zu bestimmen.

54      Insoweit ist festzustellen, dass es mit der persönlichen Rechtsstellung des Kindes des international Schutzberechtigten, das selbst nicht die Voraussetzungen dieses Schutzes erfüllt, insbesondere unvereinbar wäre, die in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 genannten Leistungen oder die Rechtsstellung des Schutzberechtigten auf dieses Kind zu erstrecken, wenn es die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats oder eine andere Staatsangehörigkeit besitzt, die ihm unter Berücksichtigung aller Merkmale seiner persönlichen Rechtsstellung einen Anspruch auf eine bessere Behandlung in diesem Mitgliedstaat als die sich aus dieser Erstreckung ergebende Behandlung gibt.

55      Diese Auslegung des Vorbehalts in Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 trägt dem Wohl des Kindes, unter dessen Berücksichtigung diese Vorschrift auszulegen und anzuwenden ist, in vollem Umfang Rechnung. Im 16. Erwägungsgrund der Richtlinie wird ausdrücklich hervorgehoben, dass sie die in der Charta verankerten Grundrechte achtet und darauf abzielt, die Anwendung u. a. des durch Art. 7 der Charta verbürgten Rechts auf Achtung des Familienlebens und der in Art. 24 der Charta anerkannten Rechte des Kindes fördern soll, zu denen in Art. 24 Abs. 2 der Charta die Pflicht zur Berücksichtigung des Wohles des Kindes gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. September 2021, Bundesrepublik Deutschland [Familienangehöriger], C‑768/19, EU:C:2021:709, Rn. 36 bis 38).

56      Diese Auslegung entspricht im Übrigen der Auslegung, die das UNHCR vorgeschlagen hat, dessen Dokumente angesichts der Rolle, die ihm durch die Genfer Konvention übertragen worden ist, besonders relevant sind (Urteil vom 23. Mai 2019, Bilali, C‑720/17, EU:C:2019:448, Rn. 57).

57      So hatte das UNHCR in seinen Anmerkungen zur Richtlinie 2004/83 im Hinblick auf deren Art. 23 Abs. 1 und 2 ausgeführt, dass „[nach seiner Ansicht] Familienangehörigen dieselbe Rechtsstellung wie dem Hauptantragsteller zu gewähren [ist] (abgeleitete Rechtsstellung)“, und Folgendes festgestellt: „Der Grundsatz der Einheit der Familie ergibt sich aus der Schlussakte der Bevollmächtigtenkonferenz der Vereinten Nationen von 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und Staatenlosen sowie aus den Menschenrechten. Die meisten Mitgliedstaaten [der Europäischen Union] sehen für Familienangehörige von Flüchtlingen eine abgeleitete Rechtsstellung vor. Die Erfahrung [des UNHCR] zeigt auch, dass dies im Allgemeinen die praktischste Vorgehensweise ist. Allerdings gibt es Situationen, in denen diesem Grundsatz der abgeleiteten Rechtsstellung nicht zu folgen ist, nämlich wenn Familienmitglieder selbst Asyl beantragen wollen oder die Gewährung der abgeleiteten Rechtsstellung mit ihrer persönlichen Rechtsstellung unvereinbar wäre, etwa weil sie Staatsangehörige des Aufnahmelandes sind oder weil sie aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit Anspruch auf eine bessere Behandlung haben.“

58      Vorbehaltlich der Überprüfungen, die das vorlegende Gericht vorzunehmen hat, ist jedoch nicht ersichtlich, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens aufgrund ihrer tunesischen Staatsangehörigkeit oder eines anderen Merkmals ihrer persönlichen Rechtsstellung Anspruch auf eine bessere Behandlung in Deutschland hätte als die Behandlung, die sich aus der kraft Ableitung vorgenommenen Erstreckung der ihrem Vater zuerkannten Flüchtlingseigenschaft ergibt, die in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bestimmung vorgesehen ist.

59      Schließlich ist noch festzustellen, dass die Vereinbarkeit einer günstigeren nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden oder ihrer Anwendung auf eine Situation wie die der Klägerin des Ausgangsverfahrens mit der Richtlinie 2011/95 und insbesondere mit dem Vorbehalt in ihrem Art. 23 Abs. 2 nicht davon abhängt, ob es ihr und ihren Eltern möglich und zumutbar ist, ihren Aufenthalt in Tunesien zu nehmen.

60      Wie der Generalanwalt in Nr. 93 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist es nämlich Sinn und Zweck von Art. 23 der Richtlinie 2011/95, der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, den Genuss der ihr durch diesen Schutz verliehenen Rechte zu ermöglichen und dabei zugleich ihren Familienverband im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats zu wahren. Dass für die Familie der Klägerin des Ausgangsverfahrens eine Möglichkeit besteht, ihren Aufenthalt in Tunesien zu nehmen, kann daher nicht Grundlage dafür sein, den Vorbehalt in Art. 23 Abs. 2 so zu verstehen, dass er es ausschließt, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da eine solche Auslegung bedeuten würde, dass ihr Vater auf das ihm in Deutschland gewährte Recht auf Asyl verzichtet.

61      Zudem lässt sich unter diesen Umständen mit der Anwendung von Rechtsvorschriften, nach denen Angehörige der Familie einer Person, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, als Flüchtlinge anerkannt werden können, obgleich für diese Familie die Möglichkeit besteht, ihren Aufenthalt in einem Drittstaat zu nehmen, die in Rn. 41 des vorliegenden Urteils getroffene Feststellung, dass solchen Rechtsvorschriften nicht jeder Zusammenhang mit dem Zweck des internationalen Schutzes fehlt, nicht in Frage stellen.


62      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Art. 3 und 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen sind, dass sie einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, auf der Grundlage günstigerer nationaler Bestimmungen dem minderjährigen Kind eines Drittstaatsangehörigen, dem in Anwendung der mit dieser Richtlinie geschaffenen Regelung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, zur Wahrung des Familienverbands die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuzuerkennen, und zwar auch in dem Fall, dass dieses Kind im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats geboren worden ist und über seinen anderen Elternteil die Staatsangehörigkeit eines anderen Drittstaats besitzt, in dem es nicht Gefahr laufen würde, verfolgt zu werden, sofern dieses Kind nicht unter einen der Ausschlussgründe nach Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie fällt und es aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder eines anderen Merkmals seiner persönlichen Rechtsstellung Anspruch auf eine bessere Behandlung in dem genannten Mitgliedstaat hätte als die Behandlung, die sich aus der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt. Insoweit ist es nicht von Bedeutung, ob es dem Kind und seinen Eltern möglich und zumutbar ist, ihren Aufenthalt in diesem anderen Drittstaat zu nehmen.

 Kosten

63      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 3 und 23 Abs. 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes sind dahin auszulegen, dass sie einen Mitgliedstaat nicht daran hindern, auf der Grundlage günstigerer nationaler Bestimmungen dem minderjährigen Kind eines Drittstaatsangehörigen, dem in Anwendung der mit dieser Richtlinie geschaffenen Regelung die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, zur Wahrung des Familienverbands die Flüchtlingseigenschaft kraft Ableitung zuzuerkennen, und zwar auch in dem Fall, dass dieses Kind im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats geboren worden ist und über seinen anderen Elternteil die Staatsangehörigkeit eines anderen Drittstaats besitzt, in dem es nicht Gefahr laufen würde, verfolgt zu werden, sofern dieses Kind nicht unter einen der Ausschlussgründe nach Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie fällt und es aufgrund seiner Staatsangehörigkeit oder eines anderen Merkmals seiner persönlichen Rechtsstellung Anspruch auf eine bessere Behandlung in dem genannten Mitgliedstaat hätte als die Behandlung, die sich aus der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ergibt. Insoweit ist es nicht von Bedeutung, ob es dem Kind und seinen Eltern möglich und zumutbar ist, ihren Aufenthalt in diesem anderen Drittstaat zu nehmen.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.