SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MACIEJ SZPUNAR
vom 16. Dezember 2021(1)
Rechtssache C‑411/20
S
gegen
Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit
(Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Bremen [Deutschland])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Freizügigkeit – Unionsbürgerschaft – Gleichbehandlung – Nicht erwerbstätiger Staatsbürger eines Mitgliedstaats, der sich seit weniger als drei Monaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält – Ausschluss dieser Person vom Bezug von Familienleistungen – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 4 – Gleichbehandlung – Richtlinie 2004/38/EG – Art. 6 – Aufenthalt von weniger als drei Monaten – Art. 24 Abs. 2 – Ausnahme von der Gleichbehandlung – Begriff ‚Sozialhilfeleistungen‘“
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
1. Kann ein Mitgliedstaat Unionsbürger, die Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat vom Bezug von Familienleistungen (Kindergeld) ausschließen, wenn sie in diesem Zeitraum keine inländischen Einkünfte erzielen, während ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats, der in diesen Mitgliedstaat zurückkehrt, nachdem er sich nach dem Unionsrecht in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, bei seiner Rückkehr Familienleistungen beanspruchen kann, ohne solche Einkünfte zu erzielen?
2. Diese Frage stellt das vorlegende Gericht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen S, einer bulgarischen Staatsangehörigen, und der Familienkasse Niedersachsen-Bremen der Bundesagentur für Arbeit (Deutschland, im Folgenden: Familienkasse) wegen deren Ablehnung, ihr Kindergeld zu gewähren.
3. In diesem Zusammenhang wird der Gerichtshof ersucht, Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG(2) und Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004(3) auszulegen und festzustellen, ob sich diese Frage vollständig in die durch die Urteile Dano(4), Alimanovic(5) und García-Nieto u. a.(6) eröffnete Rechtsprechungslinie einfügt.
4. In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich die Gründe erläutern, aus denen ich der Ansicht bin, dass der Ausschluss wirtschaftlich nicht aktiver Staatsangehöriger anderer Mitgliedstaaten vom Bezug von Familienleistungen, wie er im Ausgangsverfahren in Rede steht, nicht unter diese Rechtsprechungslinie fällt.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht
5. Neben einigen Bestimmungen des Primärrechts, nämlich Art. 21 Abs. 1 AEUV und Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), sind im Rahmen der vorliegenden Rechtssache Art. 1 Buchst. z, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j, Art. 4, Art. 11 Abs. 1 und 3 und Art. 70 der Verordnung Nr. 883/2004 sowie Art. 6, Art. 7 Abs. 1 Buchst. b, Art. 14 Abs. 1 und Art. 24 der Richtlinie 2004/38 relevant.
B. Deutsches Recht
6. § 62 Einkommensteuergesetz (im Folgenden: EStG) in der auf den Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits anwendbaren Fassung lautet:
„(1) 1Für Kinder im Sinne des § 63 hat Anspruch auf Kindergeld nach diesem Gesetz, wer
1. im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder
…
2Voraussetzung für den Anspruch nach Satz 1 ist, dass der Berechtigte durch die an ihn vergebene Identifikationsnummer … identifiziert wird. 3Die nachträgliche Vergabe der Identifikationsnummer wirkt auf Monate zurück, in denen die Voraussetzungen des Satzes 1 vorliegen.
(1a) 1Begründet ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaates der [Union] oder eines Staates, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt, so hat er für die ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts keinen Anspruch auf Kindergeld. 2Dies gilt nicht, wenn er nachweist, dass er inländische Einkünfte im Sinne des § 2 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 bis 4 mit Ausnahme von Einkünften nach § 19 Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 erzielt. 3NachAblauf des in Satz 1 genannten Zeitraums hat er Anspruch auf Kindergeld, es sei denn, die Voraussetzungen des § 2 Absatz 2 oder Absatz 3 des [Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetzes/EU)] liegen nicht vor oder es sind nur die Voraussetzungen des § 2 Absatz 2 Nummer 1a des Freizügigkeitsgesetzes/EU erfüllt, ohne dass vorher eine andere der in § 2 Absatz 2 des Freizügigkeitsgesetzes/EU genannten Voraussetzungen erfüllt war. 4Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gemäß Satz 2 vorliegen oder gemäß Satz 3 nicht gegeben sind, führt die Familienkasse in eigener Zuständigkeit durch. 5Lehnt die Familienkasse eine Kindergeldfestsetzung in diesem Fall ab, hat sie ihre Entscheidung der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen. 6Wurde das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen durch die Verwendung gefälschter oder verfälschter Dokumente oder durch Vorspiegelung falscher Tatsachen vorgetäuscht, hat die Familienkasse die zuständige Ausländerbehörde unverzüglich zu unterrichten.
…“
III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits, Vorlagefrage und Verfahren vor dem Gerichtshof
7. Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, S, ihr Ehemann, V, und ihre drei Kinder, geboren in 2003, 2005 und 2010, sind bulgarische Staatsangehörige.
8. Im Mai 2015 beantragte S erstmals bei der Familienkasse Kindergeld für ihre drei Kinder.
9. Mit Bescheid vom 13. Mai 2015 gab die Familienkasse dem Antrag statt und zahlte dieses Kindergeld für die drei Kinder ab dem Monat Mai 2015 fortlaufend aus.
10. Am 25. April 2016 meldete die Meldebehörde S und ihre drei Kinder von Amts wegen von ihrer Anschrift in Bremerhaven (Deutschland) ab, weil die fragliche Wohnung leer stand. Infolge dieser Abmeldung stellte die Familienkasse die Zahlung von Kindergeld an S ab dem 3. Juni 2016 ein, hob mit Bescheid vom selben Datum die Festsetzung des Kindergelds ab dem Monat Mai 2016 auf und forderte das für diesen Monat gezahlte Kindergeld von ihr zurück.
11. Im Dezember 2017 stellte die Klägerin unter Angabe einer Anschrift in Herne (Deutschland) einen Kindergeldantrag für zwei ihrer Kinder, nämlich für N und A, bei der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord (Deutschland). Mehrere Schreiben, die diese Behörde an diese Anschrift versandte, kamen mit dem Vermerk des Postdienstleisters „Empfänger unbekannt“ zurück.
12. Mit Bescheid vom 1. August 2018, der durch öffentliche Zustellung bekannt gegeben wurde, lehnte die Behörde diesen Antrag im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass S keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland habe.
13. Am 28. Oktober 2019 stellte S bei der Familienkasse einen neuen Kindergeldantrag für ihre drei Kinder.
14. Mit Bescheid vom 27. Dezember 2019 lehnte die Familienkasse diesen Antrag für die Zeit ab August 2019 ab. Die Familienkasse war der Auffassung, dass S, V und ihre Kinder seit dem 19. August 2019, dem Tag, an dem sie von Bulgarien aus nach Deutschland einreisten und eine Wohnung in Bremerhaven bezogen, ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hatten. Die Familienkasse ging nämlich davon aus, dass S in den ersten drei Monaten nach der Begründung ihres Wohnsitzes in Deutschland keine inländischen Einkünfte bezogen habe, so dass sie die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1a EStG für den Bezug von Kindergeld für diesen Zeitraum nicht erfülle.
15. Mit Einspruchsentscheidung vom 6. April 2020 wies die Familienkasse den Einspruch von S zurück und bestätigte ihre Ablehnungsentscheidung. Sie fügte hinzu, dass S im fraglichen Zeitraum keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sei, und vertrat die Auffassung, dass V in der Zeit vom 5. November bis zum 12. Dezember 2019 geringfügig beschäftigt gewesen sei.
16. Am 10. Mai 2020 erhob S beim vorlegenden Gericht Klage auf Aufhebung der Ablehnung ihres Kindergeldantrags und auf Verurteilung der Familienkasse zur Zahlung von Kindergeld für ihre drei Kinder für die Monate August 2019 bis einschließlich Oktober 2019.
17. Mit Beschluss vom 13. Juli 2020 trennte das Finanzgericht Bremen (Deutschland) das Verfahren wegen Kindergeld für den streitigen Zeitraum, d. h. für die Monate August 2019 bis Oktober 2019, vom Verfahren im Übrigen.
18. Das vorlegende Gericht stellt erstens fest, dass das Kindergeld unter den Begriff der „Familienleistungen“ gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 falle(7). Das durch Steuern finanzierte Kindergeld werde den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands unabhängig vom Elterneinkommen und unabhängig von einer im Ermessen liegenden individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Antragstellers gewährt. Dem Kindergeld komme eine Doppelfunktion zu, nämlich die verfassungsrechtlich gebotene steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes und, soweit es hierfür nicht erforderlich sei, die sozialrechtliche Förderung der Familie.
19. Zweitens weist das vorlegende Gericht im Wesentlichen darauf hin, dass der aus einer Gesetzesänderung im Juli 2019 hervorgegangene § 62 Abs. 1a EStG eine Ungleichbehandlung zwischen einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründe, und einem deutschen Staatsangehörigen, der nach einem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland begründe, vornehme. Nach dieser Bestimmung werde einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, wie S, in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts die Gewährung von Kindergeld verweigert, wenn er nicht den Nachweis erbringe, dass er inländische Einkünfte aus einer Erwerbstätigkeit erziele, während ein deutscher Staatsangehöriger auch dann Kindergeld erhalte, wenn er keine solche Tätigkeit ausübe.
20. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, der deutsche Gesetzgeber sei in dem Gesetzentwurf, der zur Einfügung von Abs. 1a in § 62 EStG geführt habe, davon ausgegangen, dass die in Rede stehende Ungleichbehandlung mit dem Unionsrecht vereinbar sei, da sie es ermögliche, einen Zustrom von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zu vermeiden, der zu einer unangemessenen Inanspruchnahme des deutschen Systems der sozialen Sicherheit führen könne. Außerdem könne diese Ungleichbehandlung nach Ansicht des Gesetzgebers auf Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 gestützt werden, da das von nicht erwerbstätigen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats erhaltene Kindergeld wie eine Sozialleistung wirke. Allerdings sei der Gesetzgeber in diesem Gesetzentwurf nicht ausdrücklich auf die möglichen Auswirkungen von Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 eingegangen. Schließlich habe der deutsche Gesetzgeber diese Ungleichbehandlung unter Bezugnahme auf das Urteil Kommission/Vereinigtes Königreich(8) mit der Notwendigkeit gerechtfertigt, die Finanzen des aufnehmenden Mitgliedstaats zu schützen.
21. Drittens stellt das vorlegende Gericht jedoch fest, dass die Frage, ob Kindergeld unter den Begriff „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 falle, im Schrifttum kontrovers diskutiert werde. Einige Autoren seien nämlich der Auffassung, dass es sich bei dem Kindergeld um eine echte Leistung der sozialen Sicherheit handele, weil es ohne eine Bedürftigkeitsprüfung gewährt werde. Außerdem sei ein Mitgliedstaat nach der Verordnung Nr. 883/2004 zwar dafür zuständig, die Voraussetzungen für die Gewährung von Familienleistungen an in seinem Hoheitsgebiet ansässige, nicht erwerbstätige Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten festzulegen, doch sehe Art. 4 dieser Verordnung eine Verpflichtung zur Gleichbehandlung vor, und diese Verordnung enthalte keine Bestimmung, die eine Ungleichbehandlung wie die in der vorliegenden Rechtssache in Rede stehende ermögliche.
22. Unter diesen Umständen hat das Finanzgericht Bremen mit Beschluss vom 20. August 2020, der beim Gerichtshof am 2. September 2020 eingegangen ist, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Sind Art. 24 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats, der im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt begründet und nicht nachweist, dass er inländische Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb, aus selbständiger Arbeit oder aus nichtselbständiger Arbeit hat, für die ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts keinen Anspruch auf Familienleistungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 hat, während ein Staatsangehöriger des betreffenden Mitgliedstaats, der sich in der gleichen Situation befindet, ohne den Nachweis inländischer Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft, aus Gewerbebetrieb, aus selbständiger Arbeit oder aus nichtselbständiger Arbeit einen Anspruch auf Familienleistungen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 hat?
23. S, die deutsche, die tschechische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben Erklärungen eingereicht. Eine mündliche Verhandlung hat nicht stattgefunden. Die Parteien haben die Fragen des Gerichtshofs schriftlich beantwortet.
IV. Vorbemerkungen
24. Was die von der Kommission geäußerten Zweifel an der Eigenschaft der Klägerin des Ausgangsverfahrens als Arbeitsuchende betrifft, möchte ich darauf hinweisen, dass das vorlegende Gericht feststellt, dass S im fraglichen Zeitraum keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen ist und ihr Ehemann im Zeitraum vom 5. November 2019 bis zum 12. Dezember 2019 geringfügig beschäftigt war.
25. Jedenfalls ist festzustellen, dass das in Rede stehende Kindergeld nicht als „finanzielle Leistungen“, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern sollen, eingestuft werden kann, so dass die Vorlagefrage nicht, wie die Kommission vorschlägt, im Licht von Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 45 AEUV(9), sondern nur im Licht der erstgenannten Bestimmung zu prüfen ist.
V. Prüfung der Vorlagefrage
26. Mit seiner einzigen Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 24 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der ein Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, während der ersten drei Monate seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat nur dann Familienleistungen beziehen kann, wenn er während dieses Zeitraums inländische Einkünfte erzielt, während ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats, der in diesen Mitgliedstaat zurückkehrt, nachdem er sich nach dem Unionsrecht in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, bei seiner Rückkehr ohne eine Einkünfte betreffende Voraussetzung Familienleistungen beanspruchen kann.
27. Um dem Gerichtshof eine sachdienliche Antwort auf diese Frage vorzuschlagen, werde ich als Erstes prüfen, ob die Situation der Klägerin des Ausgangsverfahrens und ihrer Kinder in den Anwendungsbereich von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 fällt (Abschnitt A). Da ich, wie sich aus meinen folgenden Ausführungen ergibt, der Ansicht bin, dass dies nicht der Fall ist, werde ich mich als Zweites mit der Frage befassen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften mit dem in Art. 18 AEUV verankerten und in Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie sowie Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 konkretisierten Diskriminierungsverbot vereinbar sind (Abschnitt B).
A. Zur Anwendbarkeit von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38
28. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 „jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats [genießt]“. Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie sieht vor, dass „[a]bweichend von Absatz 1 … der Aufnahmemitgliedstaat jedoch nicht verpflichtet [ist], anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b einen Anspruch auf Sozialhilfe … zu gewähren“.
29. Wie ich bereits ausgeführt habe, geht es im vorliegenden Fall um die Frage, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sachverhalt in den Anwendungsbereich der in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Ausnahme fällt. Der Gerichtshof hatte bereits Gelegenheit, diese Bestimmung im Rahmen der Rechtssachen auszulegen, in denen die Urteile Dano, Alimanovic, García-Nieto u. a. sowie Jobcenter Krefeld(10) ergangen sind.
30. Um beurteilen zu können, ob sich die Frage des vorlegenden Gerichts in diese Rechtsprechungslinie einfügt, erscheint es mir sinnvoll, vorab die sich aus diesen Urteilen ergebenden Erkenntnisse darzulegen.
1. Rechtsprechungskontext
a) Urteile Dano, Alimanovic und García-Nieto u. a.
31. Der Gerichtshof hat in den Urteilen Dano, Alimanovic und García-Nieto u. a. die Voraussetzungen festgelegt, unter denen der Aufnahmemitgliedstaat eines wirtschaftlich nicht aktiven Unionsbürgers, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, im Bereich der Sozialhilfeleistungen von dem einem solchen Unionsbürger zustehenden Recht auf Gleichbehandlung, das in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehen ist, abweichen kann. In den Rechtssachen, in denen diese Urteile ergangen sind, ging es nämlich um die Weigerung der deutschen Behörden, Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten nach deutschem Recht vorgesehene „Grundsicherungsleistungen“, insbesondere „existenzsichernde Regelleistungen“, zu gewähren.
32. In der Rechtssache Dano hatte Frau Dano nie in Deutschland gearbeitet, es gab keine Anhaltspunkte dafür, dass sie sich um Arbeit bemüht hätte, und sie hatte von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch gemacht, „in den Genuss der Sozialhilfe in Deutschland zu kommen“(11), wo sie seit mehr als drei Monaten mit ihrem Sohn im Kleinkindalter gelebt hatte. Der Gerichtshof entschied, dass sich Frau Dano und ihr Sohn nicht auf das Diskriminierungsverbot des Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie berufen könnten, da sie nicht über ausreichende Existenzmittel verfügten und daher kein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat nach der Richtlinie 2004/38 geltend machen konnten(12). Der Gerichtshof, insoweit Generalanwalt Wathelet(13) folgend, stellte fest, dass, würde einem betroffenen Mitgliedstaat die Möglichkeit genommen, unter diesen Umständen Sozialleistungen zu versagen, „dies … zur Folge [hätte], dass Personen, die bei ihrer Ankunft im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, um für ihren Lebensunterhalt aufzukommen, automatisch in den Genuss solcher Mittel kämen, und zwar durch die Gewährung einer besonderen beitragsunabhängigen Geldleistung, deren Ziel darin besteht, den Lebensunterhalt des Empfängers zu sichern“(14). Der Gerichtshof wies darauf hin, dass das Gleiche in Bezug auf Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 gelte, da die dort genannten Leistungen gemäß diesem Artikel ausschließlich in dem Mitgliedstaat, in dem die betreffende Person wohne, und nach dessen Rechtsvorschriften(15) und mithin nach Unionsrecht gewährt würden.
33. In der Rechtssache, in der das Urteil Alimanovic(16) ergangen ist, hatte Frau Alimanovic, die seit mehr als drei Monaten in Deutschland wohnte, Sozialhilfeleistungen für sich und ihre Tochter beantragt. Sie waren weniger als ein Jahr in kürzeren Beschäftigungen bzw. Arbeitsgelegenheiten tätig und hatten zu dem Zeitpunkt, zu dem die Gewährung der streitigen Leistungen versagt wurde, nicht mehr den Status von Arbeitsuchenden gemäß Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38(17). Der Gerichtshof wies darauf hin, dass Frau Alimanovic und ihre Tochter dem vorlegenden Gericht zufolge zwar aus Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 ein Aufenthaltsrecht ableiten könnten, der Aufnahmemitgliedstaat in diesem Fall aber auf die Ausnahmebestimmung von Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie zurückgreifen könne, um ihnen die beantragte Sozialhilfe nicht zu gewähren(18). Der Gerichtshof stellte klar, dass diese Möglichkeit einer Ausnahme auf das abgestufte System für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft gestützt sei, das das Aufenthaltsrecht und den Zugang zu Sozialleistungen sichern solle. Daher war der Gerichtshof der Auffassung, dass die Richtlinie 2004/38, soweit sie dieses System einführe, „selbst verschiedene Faktoren [berücksichtigt], die die jeweiligen persönlichen Umstände der eine Sozialleistung beantragenden Person kennzeichnen, insbesondere die Dauer der Ausübung einer Erwerbstätigkeit“, so dass im Rahmen der Anwendung dieser Ausnahmeregelung durch den Aufnahmemitgliedstaat keine Einzelprüfung erforderlich gewesen sei, weder, um die persönlichen Umstände des Betreffenden zu berücksichtigen, noch, um festzustellen, dass der betreffende Unionsbürger im Rahmen seines Aufenthalts dem Sozialhilfesystem eine unangemessene Belastung verursache(19).
34. In der Rechtssache, in der das Urteil García-Nieto u. a. ergangen ist, waren die Kläger des Ausgangsverfahrens, die seit weniger als drei Monaten in Deutschland wohnten, Arbeitsuchende(20). Der Gerichtshof entschied, dass aus dem Wortlaut von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 ausdrücklich hervorgehe, dass der Aufnahmemitgliedstaat anderen Personen als Arbeitnehmern, Selbständigen oder Personen, denen dieser Status erhalten bleibe, während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts jegliche Sozialhilfeleistungen verweigern dürfe(21).
35. In diesen drei Urteilen hat der Gerichtshof somit für Recht erkannt, dass Art. 24 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten dann vom Bezug von Sozialhilfeleistungen ausgeschlossen sind, wenn ihnen entweder kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 im Aufnahmemitgliedstaat zusteht(22) oder ihnen ein auf drei Monate begrenztes Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie(23) oder lediglich ein auf Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie gestütztes Aufenthaltsrecht zusteht(24), während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten. Würde diesen Personen ein Anspruch auf Sozialleistungen unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländern gewährt, so liefe dies nach Ansicht des Gerichtshofs nämlich dem Zweck zuwider, das finanzielle Gleichgewicht des Sozialhilfesystems der Mitgliedstaaten zu wahren, indem – wie aus dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/38 hervorgeht – eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats durch Personen, die ihr Aufenthaltsrecht ausüben, verhindert wird(25).
b) Urteil Jobcenter Krefeld
36. Der Sachverhalt in der dem Urteil Jobcenter Krefeld zugrunde liegenden Rechtssache, der einen mit seinen beiden minderjährigen Töchtern in Deutschland wohnenden polnischen Staatsangehörigen betraf, unterscheidet sich deutlich von den Sachverhalten, um die es in den drei vorgenannten Rechtssachen ging. JD, ein Unionsbürger, hatte nämlich, bevor er im Aufnahmemitgliedstaat arbeitslos war, dort gearbeitet und dort seine Kinder eingeschult und genoss daher ein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1).
37. Der Gerichtshof war der Auffassung, dass sich die Situation eines Unionsbürgers wie JD hinsichtlich des Zwecks der Wahrung des finanziellen Gleichgewichts des Sozialhilfesystems der Mitgliedstaaten deutlich von der Situation der Kläger in den Rechtssachen Dano (kein Aufenthaltsrecht auf der Grundlage der Richtlinie 2004/38), Alimanovic (Aufenthaltsrecht lediglich zum Zweck der Arbeitsuche aufgrund von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38) und García-Nieto u. a. (Aufenthaltsrecht aufgrund von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38) unterscheide(26). Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, wies der Gerichtshof darauf hin, dass das den Kindern eines (ehemaligen) Wanderarbeitnehmers und – in abgeleiteter Form – dem Elternteil, der die elterliche Sorge für sie wahrnehme, zuerkannte Aufenthaltsrecht ursprünglich auf die Arbeitnehmereigenschaft dieses Elternteils zurückgehe. Ist dieses Recht einmal erworben, erwächst es jedoch zu einem eigenständigen Recht und kann über den Verlust dieser Eigenschaft hinaus fortbestehen(27). Des Weiteren entschied der Gerichtshof, dass Personen, denen ein solches Aufenthaltsrecht zustehe, auch das in der Verordnung Nr. 492/2011(28) vorgesehene Recht auf Gleichbehandlung mit Inländern im Bereich der Gewährung sozialer Vergünstigungen genössen, und zwar selbst dann, wenn sie sich nicht mehr auf die Arbeitnehmereigenschaft berufen könnten, aus der sie ihr ursprüngliches Aufenthaltsrecht hergeleitet hätten(29).
38. Einige Elemente der Rechtsprechung aus den Urteilen Dano, Alimanovic, García-Nieto u. a. sowie Jobcenter Krefeld scheinen mir für die Prüfung der vom vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache gestellten Frage relevant zu sein, insbesondere diejenigen, die den Begriff der „Sozialhilfeleistungen“ betreffen. Es stellt sich daher die folgende Frage: Sind die Erkenntnisse aus dieser Rechtsprechung auf das Ausgangsverfahren übertragbar? Ich habe insoweit Zweifel.
2. Besonderheiten der vorliegenden Rechtssache
39. Die Situation, um die es im Ausgangsverfahren geht, hat mit den Rechtssachen, in denen die Urteile Dano, Alimanovic, García-Nieto u. a. und Jobcenter Krefeld ergangen sind, gemeinsam, dass der Unionsbürger in dem Zeitraum, für den die nationale Behörde seinen Kindergeldantrag abgelehnt hatte, im Aufnahmemitgliedstaat keine inländischen Einkünfte bezog. Außerdem beruht der Aufenthalt von S und ihren Kindern im Aufnahmemitgliedstaat, wie es in der Rechtssache, in der das Urteil García-Nieto u. a. ergangen ist, der Fall war, auf Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38.
40. Im Gegensatz zur Klägerin des Ausgangsverfahrens wohnten die Unionsbürger in den Rechtssachen, in denen die Urteile Dano und Alimanovic ergangen sind, jedoch seit mehr als drei Monaten im Aufnahmemitgliedstaat, und ihr Aufenthalt stützte sich grundsätzlich auf Art. 7 der Richtlinie 2004/38(30). Vor allem aber geht es in der vorliegenden Rechtssache, wie ich im Folgenden darlegen werde, nicht um „Sozialhilfeleistungen“, wie dies in den Rechtssachen der Fall war, in denen die Urteile Dano, Alimanovic und García-Nieto u. a. ergangen sind, sondern um Familienleistungen(31).
41. Unter diesen Umständen möchte ich meine Zweifel daran zum Ausdruck bringen, dass sich der Aufnahmemitgliedstaat unter den Gegebenheiten der vorliegenden Rechtssache auf die in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Beschränkungen berufen kann. Bevor ich mich mit dieser Frage befasse, ist zu klären, ob S und ihren Kindern das in Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehene Recht auf Gleichbehandlung zusteht, und daher zu prüfen, ob sie sich rechtmäßig in diesem Mitgliedstaat aufhalten(32).
3. Aufenthaltsrecht nach Art. 6 der Richtlinie 2004/38
a) Vorbemerkungen
42. Der Gerichtshof hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Unionsbürgerschaft dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein(33). Nach Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Die Richtlinie 2004/38 soll nach ihrem Art. 1 u. a. die Bedingungen für die Ausübung dieses Rechts und seine Beschränkungen festlegen(34). Hierzu gehören die in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie genannten, die ihren persönlichen Anwendungsbereich betreffen(35), und unbestreitbar die in Art. 6 der Richtlinie vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen.
b) Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nach Art. 6 der Richtlinie 2004/38
43. Was den persönlichen Anwendungsbereich von Art. 24 der Richtlinie 2004/38 betrifft, weise ich darauf hin, dass der Gerichtshof in den Urteilen Dano, Alimanovic und García-Nieto u. a. entschieden hat, dass ein Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zu „Sozialhilfeleistungen“ eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nur verlangen kann, wenn sein Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen dieser Richtlinie erfüllt(36). Dieses Erfordernis ist daher eine Voraussetzung für den Genuss des in dieser Bestimmung vorgesehenen Rechts auf Gleichbehandlung.
44. In ihren schriftlichen Erklärungen trägt die Kommission vor, dass Unionsbürger während der ersten drei Monate im Aufnahmemitgliedstaat zwar ein Recht auf Aufenthalt nach Art. 6 der Richtlinie 2004/38 hätten, ein „rechtmäßiger Aufenthalt“ aber erst dann entstehe, wenn die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie erfüllt seien. Sie hat diese Äußerung in ihrer schriftlichen Antwort auf die diesbezügliche Frage des Gerichtshofs dahin präzisiert, dass „dieses Recht auf Aufenthalt des Unionsbürgers eines anderen Mitgliedstaats während der ersten drei Monate … noch kein ‚rechtmäßiger Aufenthalt‘ im Sinne [von] Artikel 7 Absatz 1 [dieser Richtlinie] ist“ (37).
45. Ich teile den Standpunkt der Kommission nicht, und ich bin der Meinung, dass die verwendeten Begriffe zu Verwirrung führen können.
46. Erstens weise ich darauf hin, dass nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 „ein Unionsbürger … das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von bis zu drei Monaten [hat], wobei er lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht“(38). Dieses Aufenthaltsrecht wird somit allen Unionsbürgern unabhängig davon zuerkannt, ob sie wirtschaftlich aktiv sind oder nicht. Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie erhält dieses Aufenthaltsrecht aufrecht, solange der Unionsbürger und seine Familienangehörigen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Angesichts der Rechtmäßigkeit des im Gesamtzusammenhang der Richtlinie 2004/38(39) in deren Art. 6 vorgesehenen Aufenthaltsrechts lässt sich somit nicht leugnen, dass S und ihre Kinder, wie sich aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ergibt, ihr (rechtmäßiges) Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats auf Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie stützen können und folglich nach deren Art. 24 Abs. 1 im Anwendungsbereich des Vertrags das Recht auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats genießen.
47. Zweitens führt der Umstand, dass die Kommission den Begriff „rechtmäßiger Aufenthalt“ dahin auslegt, dass er sich nur auf das Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 und nicht auf das in Art. 6 dieser Richtlinie genannte bezieht, insbesondere bei den nationalen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats zu Verwirrung, was vermieden werden sollte. Diese Begriffe deuten nämlich darauf hin, dass es sich bei dem Aufenthaltsrecht nach Art. 6 der Richtlinie 2004/38 nicht um einen rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne dieser Richtlinie handelt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Ansatz der Kommission ergibt sich weder aus der Systematik noch aus dem Wortlaut dieser Richtlinie. Dieser Ansatz beruht auch nicht auf dem von der Richtlinie verfolgten Ziel, nämlich, wie sich aus ständiger Rechtsprechung ergibt, die Ausübung des elementaren und individuellen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwächst, zu erleichtern und dieses Recht zu verstärken(40).
48. Darüber hinaus stützt die Kommission ihre Argumentation auf die Rn. 68 und 75 des Urteils Kommission/Vereinigtes Königreich(41). Es ist jedoch festzustellen, dass sich die allgemeine Bezugnahme des Gerichtshofs in diesen Randnummern auf „die Voraussetzungen für ein rechtmäßiges Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat“(42) nicht nur auf die in Art. 7 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Voraussetzungen für ein Recht auf Aufenthalt von mehr als drei Monaten, sondern auch auf die Voraussetzungen für ein Recht auf Aufenthalt von bis zu drei Monaten bezieht(43). Außerdem impliziert das mit dieser Richtlinie in Bezug auf das Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat eingeführte abgestufte System, dass der Unionsbürger und seine Familienangehörigen eine oder mehrere Stufen der Ausübung ihres Freizügigkeitsrechts im Aufnahmemitgliedstaat zurücklegen können müssen, wenn sie die von dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen, die je nach Dauer des Aufenthalts variabel sind, erfüllen.
49. Nach dieser Klarstellung und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass sich S für den Zeitraum, auf den sich die Ablehnung ihres Antrags auf Kindergeld bezieht und die den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland entspricht, offensichtlich auf ein Recht auf rechtmäßigen Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 berufen kann, werde ich mich nunmehr mit dem sachlichen Anwendungsbereich von Art. 24 dieser Richtlinie und damit mit dem Begriff „Sozialhilfeleistung“ befassen, wie er in der Rechtsprechung des Gerichtshofs definiert wird, um festzustellen, ob Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar ist.
4. Fällt das in Rede stehende Kindergeld unter den Begriff „Sozialhilfeleistungen“ im Sinne der Richtlinie 2004/38?
a) Begriff der „Sozialhilfeleistungen“
50. Wie sich aus ihren Erklärungen ergibt, sind S, die deutsche, die tschechische und die polnische Regierung sowie die Kommission der Auffassung, dass das in Rede stehende Kindergeld nicht unter den Begriff der „Sozialhilfeleistungen“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 falle. Außerdem machen die tschechische und die polnische Regierung sowie die Kommission geltend, dass diese Bestimmung im vorliegenden Fall nicht anwendbar sei. Somit stellt sich die Frage, ob das in Rede stehende Kindergeld als „Sozialhilfeleistungen“ im Sinne der Richtlinie eingestuft werden kann.
51. Ich weise erstens darauf hin, dass der Begriff „Sozialhilfeleistungen“ nach der Definition des Gerichtshofs so zu verstehen ist, dass er sich auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme bezieht, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was Auswirkungen auf das gesamte Niveau der Beihilfe haben kann, die dieser Staat gewähren kann(44). Außerdem hat der Gerichtshof ebenfalls festgestellt, dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die ihren Empfängern das Minimum an Existenzmitteln gewährleisten sollen, das erforderlich ist, um ein Leben zu führen, das der Menschenwürde entspricht, als „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 anzusehen sind(45).
52. Zweitens stelle ich fest, dass dieses Kindergeld im Ausgangsverfahren nach den in Nr. 18 der vorliegenden Schlussanträge wiedergegebenen Angaben des vorlegenden Gerichts durch Steuern finanziert und den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt wird, der unabhängig vom Elterneinkommen ist und die persönliche Bedürftigkeit des Antragstellers nicht berücksichtigt. Aus diesen Angaben geht auch hervor, dass es sich bei dem Kindergeld nach der Literatur um eine echte Leistung der sozialen Sicherheit handelt, weil es ohne eine Bedürftigkeitsprüfung gewährt wird. Mit anderen Worten hängt die Gewährung dieser Leistungen, wie sich auch aus den Erklärungen der deutschen Regierung ergibt(46), weder vom Elterneinkommen noch von der persönlichen Bedürftigkeit der Antragsteller ab und wird auch nicht zur Existenzsicherung des Antragstellers und seiner Familie gezahlt. Diese Leistungen sollen zwar die steuerliche Freistellung des Existenzminimums des Kindes ermöglichen, sie dienen jedoch auch, wie das vorlegende Gericht klarstellt, der sozialrechtlichen Förderung der Familie.
53. Insoweit ist meines Erachtens darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs Leistungen, die unabhängig von einer auf einer Ermessensausübung beruhenden Einzelfallbeurteilung der persönlichen Bedürftigkeit ohne Weiteres solchen Familien gewährt werden, die bestimmte objektive Kriterien insbesondere hinsichtlich ihrer Größe, ihres Einkommens und ihrer Kapitalrücklagen erfüllen, und die dem Ausgleich von Familienlasten dienen, als Leistungen der sozialen Sicherheit anzusehen sind(47). Werden diese Kriterien auf das in Rede stehende Kindergeld angewandt, so ist es daher vorbehaltlich der vom nationalen Gericht vorzunehmenden Überprüfungen als „Leistung der sozialen Sicherheit“ im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 einzustufen(48).
54. Daraus folgt meines Erachtens, dass das in Rede stehende Kindergeld nicht als „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 eingestuft werden kann und dass diese Bestimmung demzufolge nicht auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbar ist.
b) Ansatz der deutschen Regierung
55. Die deutsche Regierung ist jedoch der Ansicht, dass der in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 zum Ausdruck kommende Rechtsgedanke auf das in Rede stehende Kindergeld anzuwenden sei. Bei wirtschaftlich nicht aktiven Personen kämen diese Leistungen nämlich ihrer Wirkung nach einer Sozialhilfeleistung gleich.
56. Ich teile diesen Standpunkt nicht.
57. Erstens weise ich darauf hin, dass es sich bei der Situation von S und ihren Kindern um die eines Unionsbürgers handelt, der sein Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats auf Art. 6 der Richtlinie 2004/38 stützt. Zwar hat der Gerichtshof festgestellt, dass es, da die Mitgliedstaaten von Unionsbürgern nicht verlangen dürften, dass diese für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten im Hoheitsgebiet des jeweiligen Mitgliedstaats über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts und eine persönliche Absicherung für den Fall der Krankheit verfügten, legitim sei, dass den betreffenden Mitgliedstaaten nicht auferlegt werde, während dieses Zeitraums die Kosten für sie zu übernehmen(49). Es ist jedoch hervorzuheben, dass sich diese Feststellung auf den mit der Richtlinie 2004/38 verfolgten Zweck der Wahrung des finanziellen Gleichgewichts des Sozialhilfesystems der Mitgliedstaaten (zehnter Erwägungsgrund) bezieht, wobei es sich um einen Zweck handelt, der mit der in Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Ausnahmeregelung in Einklang steht. Aus dieser Bestimmung geht klar hervor, dass sie ausschließlich die „Sozialhilfe“ betrifft.
58. Demzufolge würde es gegen den Wortlaut dieser Bestimmung verstoßen, wenn man sich, wie die deutsche Regierung, zur Verweigerung des beantragten Kindergelds auf Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 stützen würde. Der Unionsgesetzgeber wollte nämlich nicht die Leistungen der sozialen Sicherheit ausschließen, sondern verhindern, dass ein Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nimmt. Zudem liefe die Auslegung der deutschen Regierung dem allgemeinen Geist zuwider, der dem durch die Richtlinie 2004/38 eingeführten abgestuften System hinsichtlich des Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat zugrunde liegt, da das in Art. 6 dieser Richtlinie vorgesehene Aufenthaltsrecht nach ihrem Art. 14 nicht so lange aufrechterhalten wird, wie der Unionsbürger und seine Familienangehörigen nicht das System der sozialen Sicherheit unangemessen in Anspruch nehmen, sondern so lange, wie sie nicht die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen.
59. Da sich die aus den Urteilen Dano und Alimanovic hervorgegangene Rechtsprechung auf das Verhältnis des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung von Unionsbürgern zu den in Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Aufenthaltsbedingungen, d. h. insbesondere die Voraussetzung, über ausreichende Existenzmittel zu verfügen(50), stützt, möchte ich zweitens betonen, dass ich nicht erkennen kann, wie es möglich sein soll, diese Rechtsprechung, wie die deutsche Regierung vorschlägt, auf das Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, der keine solche Voraussetzung vorsieht, zu übertragen. Außerdem ist mit Generalanwalt Saugmandsgaard Øe daran zu erinnern, dass „das Unionsrecht auf Solidaritätswerten beruht, die seit der Schaffung einer Unionsbürgerschaft noch gestärkt worden sind“(51).
60. In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen bin ich der Auffassung, dass das streitige Kindergeld nicht unter den Begriff der „Sozialhilfeleistungen“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 fällt, wie er vom Gerichtshof definiert wurde. Daher kann sich der Aufnahmemitgliedstaat nicht auf diese Bestimmung stützen, um hinsichtlich der Gewährung dieser Leistungen von dem in Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Anspruch auf Gleichbehandlung, der den Unionsbürgern zusteht, abzuweichen.
B. Zur Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften mit dem Recht auf Gleichbehandlung nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004
1. Zum Verhältnis zwischen Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004
61. Wie ich ausgeführt habe, ist meines Erachtens davon auszugehen, dass der Aufenthalt von S und ihrer Kinder, die Unionsbürger sind, mit dem Unionsrecht vereinbar ist, da sie sich gemäß Art. 6 der Richtlinie 2004/38 rechtmäßig in Deutschland aufhalten(52). Daher genießen sie nach Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie im Anwendungsbereich des Vertrags das Recht auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats.
62. Unter diesen Umständen folgt daraus, dass Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 anwendbar ist, da S und ihre Kinder keine Sozialhilfeleistungen, sondern Leistungen der sozialen Sicherheit (Kindergeld) beantragen(53), und dass die in Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehene Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung dagegen nicht anwendbar ist(54).
63. Das vorlegende Gericht weist im Wesentlichen darauf hin, dass einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, wie S, in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts nach § 62 Abs. 1a EStG die Gewährung von Kindergeld verweigert wird, wenn er nicht den Nachweis erbringt, dass er eine Erwerbstätigkeit ausübt (inländische Einkünfte), während ein deutscher Staatsangehöriger auch dann Kindergeld erhält, wenn er keine solche Tätigkeit ausübt(55). Das vorlegende Gericht geht daher davon aus, dass die in Rede stehende nationale Bestimmung eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit vornimmt.
64. Die tschechische und die polnische Regierung sind insoweit der Ansicht, dass die in Rede stehende nationale Bestimmung eine nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 verbotene unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit vornehme, die nicht unter Berufung auf die in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Ausnahme gerechtfertigt werden könne(56).
65. Es stellt sich nunmehr die Frage, ob eine Ungleichbehandlung, wie sie das vorlegende Gericht festgestellt hat, eine nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 und/oder nach Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 verbotene Diskriminierung darstellt.
2. Zum Vorliegen einer nach Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 verbotenen unmittelbaren Diskriminierung
66. Zunächst weise ich darauf hin, dass Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 das in Art. 18 AEUV verankerte Diskriminierungsverbot konkretisieren. Im Rahmen der vorliegenden Rechtssache stellt sich insoweit die Frage nach dem Verhältnis zwischen diesen beiden Bestimmungen.
67. Meines Erachtens sprechen mehrere Gründe für eine Prüfung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Ungleichbehandlung allein unter dem Blickwinkel von Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004.
68. Erstens kann sich der Aufnahmemitgliedstaat, wie ich bereits dargelegt habe(57), nicht auf die in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorgesehene Ausnahmeregelung berufen. Es trifft zwar zu, dass Personen wie S und ihre Kinder in den Anwendungsbereich von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie fallen, weil sie ein auf Art. 6 der Richtlinie gestütztes Aufenthaltsrecht genießen, doch fallen sie, wenn sie Leistungen der sozialen Sicherheit beantragen, auch in den Anwendungsbereich von Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 und haben unter den in dieser Bestimmung festgelegten besonderen Voraussetzungen einen Anspruch auf Gleichbehandlung.
69. Zweitens ist Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 insbesondere in Bezug auf die Leistungen der sozialen Sicherheit, die nicht in den Anwendungsbereich der in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorgesehenen Ausnahmeregelung fallen, lex specialis im Verhältnis zu Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie, da er zwei spezifische Voraussetzungen aufstellt. Gemäß Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 haben nämlich, „[s]ofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist, … Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates“ (Hervorhebung nur hier).
70. Drittens bleiben die Mitgliedstaaten, da die Verordnung Nr. 883/2004 keine Maßnahme zur Harmonisierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit, sondern einen Rechtsakt zur Koordinierung dieser Systeme darstellt, dafür zuständig, unter Beachtung des Unionsrechts in ihren Rechtsvorschriften die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen eines Systems der sozialen Sicherheit festzulegen(58).
71. Im vorliegenden Fall ist ein Mitgliedstaat wie die Bundesrepublik Deutschland nach der Verordnung Nr. 883/2004 zwar dafür zuständig, über die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld in seinem Hoheitsgebiet zu entscheiden, doch begründet Art. 4 dieser Verordnung ein Recht auf Gleichbehandlung und enthält keine Ausnahme, die eine Ungleichbehandlung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende rechtfertigen könnte. Folglich kann sich ein Mitgliedstaat nicht seiner Verpflichtung entziehen, die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten und seiner eigenen Staatsangehörigen zu gewährleisten.
72. Es ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht seine Befürchtung geäußert hat, dass Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 nicht beachtet worden sei und die in Rede stehende Regelung, da das entscheidende Unterscheidungskriterium die Staatsangehörigkeit sei, folglich eine unmittelbare Diskriminierung darstelle.
73. Ich bin auch davon überzeugt, dass die Ungleichbehandlung der beiden in Rede stehenden Situationen nicht mit Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 vereinbar ist(59). Unter diesen Umständen bin ich der Ansicht, dass die in Rede stehende nationale Bestimmung eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit einführt, die mangels einer ausdrücklichen Ausnahme in der Verordnung Nr. 883/2004 nicht gerechtfertigt werden kann.
74. Das Argument der Kommission, dass die Situation von Unionsbürgern wie S, die in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts keiner Erwerbstätigkeit nachgingen, und die von deutschen Staatsangehörigen, die in ihr Land zurückkehrten und während desselben Zeitraums keiner solchen Beschäftigung nachgingen, im Hinblick auf die Gewährung der in Rede stehenden Leistungen nicht vergleichbar seien, ist daher nicht stichhaltig(60). Da S ihren rechtmäßigen Wohnsitz im Aufnahmemitgliedstaat hat, ergibt sich aus der Anwendung von Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004, dass die Situation von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, für die diese Verordnung gilt, und die Situation von Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats vergleichbar sind; daher müssen Erstere „die gleichen Rechte und Pflichten“ haben wie Letztere.
C. Zwischenergebnis
75. Im Licht dieser Erwägungen schlage ich vor, auf die Vorlagefrage des vorlegenden Gerichts zu antworten, dass Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, während der ersten drei Monate seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat nur dann Familienleistungen beziehen kann, wenn er während dieses Zeitraums inländische Einkünfte erzielt, während ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats, der in diesen Mitgliedstaat zurückkehrt, nachdem er sich nach dem Unionsrecht in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, bei seiner Rückkehr ohne eine Einkünfte betreffende Voraussetzung Familienleistungen beanspruchen kann.
D. Zum Vorliegen einer nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 verbotenen Diskriminierung
76. Folgt der Gerichtshof meinem Vorschlag zur Prüfung der in Rede stehenden Ungleichbehandlung im Licht von Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004, so braucht die Frage des vorlegenden Gerichts nicht unter dem Blickwinkel von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 beantwortet zu werden.
77. Die folgende Analyse wird daher hilfsweise für den Fall vorgenommen, dass der Gerichtshof eine nuanciertere Lösung für die Prüfung der in Rede stehenden Ungleichbehandlung wählen sollte.
78. In einem ersten Schritt werde ich das Vorbringen der Kommission zur fehlenden Vergleichbarkeit der in Rede stehenden Situationen zurückweisen, und in einem zweiten Schritt werde ich prüfen, ob, wie die deutsche Regierung vorträgt, die Verweigerung des in Rede stehenden Kindergelds durch die nationalen Behörden gerechtfertigt und verhältnismäßig ist.
1. Zum Vorbringen der Kommission zur Vergleichbarkeit der in Rede stehenden Situationen
79. Aus ihrer schriftlichen Antwort auf eine Frage des Gerichtshofs, die sich insbesondere auf die Rechtfertigung der vom vorlegenden Gericht festgestellten Ungleichbehandlung bezieht, geht hervor, dass die beiden in Rede stehenden Situationen nach Ansicht der Kommission nicht vergleichbar sind. Das Aufenthaltsrecht, das Unionsbürgern nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts oder während eines kürzeren Zeitraums zustehe, sei noch kein rechtmäßiger Aufenthalt im Sinne von Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie. Der Unionsbürger könne sich erst mit dem Erwerb des Rechts auf rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne der letztgenannten Bestimmung auf das Diskriminierungsverbot in Bezug auf Sozialhilfeleistungen berufen.
80. Dieses Vorbringen vermag nicht durchzugreifen.
81. Wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, spricht zwar grundsätzlich nichts dagegen, dass die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, von der inhaltlichen Voraussetzung abhängig gemacht wird, dass diese die Erfordernisse für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllen(61). Die in den Nrn. 43 bis 49 der vorliegenden Schlussanträge dargelegten Erwägungen veranlassen mich jedoch zu dem Schluss, dass sich ein Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats, der sich nach Art. 6 der Richtlinie 2004/38 in Deutschland aufhält, und ein deutscher Staatsangehöriger, der nach einem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat in diesen Mitgliedstaat zurückkehrt, beide über ein Recht auf rechtmäßigen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat verfügen und sich daher in einer, wenn nicht identischen(62), so doch zumindest vergleichbaren Situationen befinden.
82. Selbst wenn also eine Ungleichbehandlung, wie sie vom vorlegenden Gericht festgestellt wurde, eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt, ist sie nicht willkürlich und kann gerechtfertigt sein(63). Ich werde daher den von der deutschen Regierung angeführten Rechtfertigungsgrund für die streitige Ungleichbehandlung prüfen.
2. Zur Frage, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Weigerung objektiv gerechtfertigt ist oder nicht
a) Zu den von der deutschen Regierung vorgebrachten Rechtfertigungsgründen: Ziel des Schutzes der öffentlichen Finanzen
83. Die deutsche Regierung macht geltend, dass § 62 Abs. 1a EStG zu keiner Ungleichbehandlung zwischen Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten und deutschen Staatsangehörigen führe. Sie geht davon aus, wobei sie sich insbesondere auf die Erwägungen des Gerichtshofs in Rn. 80 des Urteils Kommission/Vereinigtes Königreich(64) bezüglich Kindergeld stützt, dass der Leistungsausschluss für wirtschaftlich nicht aktive Familien gerechtfertigt sei, da er geeignet, erforderlich und angemessen sei, um das Ziel des Schutzes der öffentlichen Finanzen zu erreichen. Die Bestimmung solle somit in Anbetracht der Gefahr für die öffentlichen Finanzen aufgrund der Zunahme der von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten zwischen 2010 und 2017 gestellten Kindergeldanträge zum einen und des Anstiegs der missbräuchlichen Beantragung von Kindergeld zum anderen einer unangemessenen Inanspruchnahme der Leistungen der Sozialversicherung in Deutschland vorbeugen. Das ausgezahlte Kindergeld sei nämlich im Jahr 2020 auf 46,67 Mrd. Euro angestiegen, wobei 21,28 % an ausländische Staatsangehörige ausgezahlt worden seien. Außerdem sei in den letzten Jahren die Anzahl der Beschäftigten aus anderen Mitgliedstaaten sowie – teilweise – die Zahl der Kindergeldkinder aus anderen Mitgliedstaaten stark angestiegen(65). Im Übrigen sei die durchschnittliche Kinderzahl einer Familie aus einem anderen Mitgliedstaat höher als die deutscher Familien, so dass der finanzielle Aufwand für die Leistungen für ausländische Staatsangehörige um rund 15 % über dem für die Auszahlung der Leistungen an deutsche Familien liege.
84. Was erstens die Geeignetheit der fraglichen nationalen Bestimmung angeht, das Ziel des Schutzes der öffentlichen Finanzen zu erreichen, macht die deutsche Regierung geltend, dass der Ausschluss vom Kindergeld für wirtschaftlich nicht aktive Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten während der ersten drei Monate ihres Aufenthalts den Anreiz für diese Personen mindern könne, sich in Deutschland niederzulassen. Außerdem führe die Voraussetzung einer Erwerbstätigkeit zu einer Verringerung der Anzahl der Kindergeldanträge.
85. Zweitens macht die deutsche Regierung zur Erforderlichkeit der in Rede stehenden nationalen Vorschrift geltend, dass es keine anderen Möglichkeiten gebe, das Ziel des Schutzes der öffentlichen Finanzen zu erreichen. Zum einen gelte der fragliche Ausschluss nur für den Zeitraum der ersten drei Aufenthaltsmonate und betreffe nur Nichterwerbstätige und Arbeitsuchende. Zum anderen gehe ein solcher Ausschluss mit Maßnahmen zur verbesserten behördlichen Sachverhaltsüberprüfung einher, und nach § 62 Abs. 1a EStG prüfe die Familienkasse bei begründeten Zweifeln das Vorliegen der Voraussetzungen des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern im Rahmen eines Kindergeldantrags selbst, was es ermögliche, bereits frühzeitig organisierten Leistungsmissbrauch zu erkennen und zu verhindern.
86. Zur Angemessenheit der in Rede stehenden nationalen Bestimmung macht die deutsche Regierung drittens geltend, dass der Aufnahmemitgliedstaat, da er nach Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 nicht verpflichtet sei, nicht aktiven Unionsbürgern Sozialhilfeleistungen zu gewähren, auch nicht zur Zahlung anderer beitragsunabhängiger Leistungen verpflichtet sein könne, die zwar unabhängig von einer Hilfebedürftigkeit gewährt würden, jedoch im Fall von Hilfebedürftigkeit auf existenzsichernde Leistungen angerechnet und aus Steuereinnahmen finanziert würden.
b) Würdigung
87. Ich weise zunächst darauf hin, dass sich die aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vorschrift ergebende Ungleichbehandlung unionsrechtlich nur rechtfertigen lässt, wenn sie auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen des Allgemeininteresses beruht und in angemessenem Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Ziel steht. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass eine Maßnahme dann verhältnismäßig ist, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was dazu erforderlich ist(66). Zwar ist es Sache des nationalen Gerichts, dies zu beurteilen, doch kann der Gerichtshof Hinweise geben, die ihm seine Entscheidung erleichtern.
1) Zum Vorliegen erwiesener Gefahren für die öffentlichen Finanzen
88. Was als Erstes das Vorliegen erwiesener Gefahren für die öffentlichen Finanzen aufgrund der Zunahme der von Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten gestellten Kindergeldanträge anbelangt, möchte ich zwei Bemerkungen machen.
89. Erstens bin ich der Ansicht, dass die Erwägungen der deutschen Regierung zu dem Umstand, dass Familien aus anderen Mitgliedstaaten eine höhere Zahl von Kindern hätten als deutsche Familien, nicht relevant sind(67).
90. Zweitens beschränkt sich die deutsche Regierung auf das Vorbringen, dass 21,28 % des Kindergeldbetrags für die Kinder ausländischer Staatsangehöriger, d. h. für die Kinder von Unionsbürgern aus anderen Mitgliedstaaten und Kinder von Drittstaatsangehörigen gezahlt worden seien. Im vorliegenden Fall ist der an die Letztgenannten gezahlte Betrag jedoch nicht relevant. Was die Unionsbürger betrifft, hat diese Regierung auch nicht klargestellt, welche Beträge für die Kinder wirtschaftlich nicht aktiver Unionsbürger und welche für die Kinder wirtschaftlich aktiver Unionsbürger gezahlt werden, wobei der letztgenannte Betrag im vorliegenden Fall ebenfalls nicht relevant ist.
91. Daher bin ich der Ansicht, dass nicht bewiesen ist, dass die Erhöhung der Ausgaben für das in Rede stehende Kindergeld durch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten (bzw. ihre Kinder) verursacht wird. Meines Erachtens kann der Umstand, dass ein Ausgabenposten wie der des Kindergelds steigt, als solcher kein negativer Indikator für die wirtschaftliche Situation eines Mitgliedstaats sein. Es erscheint mir nämlich wichtig, darauf hinzuweisen, dass Sozialausgaben im Allgemeinen zum sozialen Zusammenhalt und zur Wirtschaftstätigkeit beitragen können, indem sie es den Begünstigten ermöglichen, auf dem Arbeitsmarkt aktiver zu sein und einen größeren Beitrag zu leisten. Im Übrigen sollten die Auswirkungen auf die Haushaltseinnahmen und die langfristige Dynamik der Wirtschaft im Kontext der Arbeitsmarktintegration auf Unionsebene beurteilt werden. So kann die Aufnahme von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die mit einer Erhöhung der Sozialausgaben, insbesondere in der Anfangsphase, und gegebenenfalls mit Ausgaben für die Ausbildung verbunden ist, auch einem Bedarf der Wirtschaft des Mitgliedstaats entsprechen, indem für bestimmte Sektoren, in denen ein Mangel an Arbeitskräften besteht, angemessene Arbeitskräfte bereitgestellt werden und damit zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit des Mitgliedstaats beigetragen wird(68).
92. Was die universell ausgerichteten Leistungen der sozialen Sicherheit betrifft, die wie das in Rede stehende Kindergeld Kinder betreffen, ist es meines Erachtens erforderlich, sich auf genaue und zutreffende Daten zu stützen, um eine Ungleichbehandlung für gerechtfertigt halten zu können. Würde man daher anerkennen, dass vage und ungenaue allgemeine finanzielle Erwägungen eine Ungleichbehandlung zwischen Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten und inländischen Staatsangehörigen rechtfertigen können, so hätte dies zur Folge, dass die Anwendung und die Tragweite einer so grundlegenden Regel des Unionsrechts wie des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit zeitlich und räumlich je nach dem Zustand der Staatsfinanzen der Mitgliedstaaten variieren könnten(69), ohne dass der betreffende Mitgliedstaat konkrete und genaue Beweise für das Bestehen einer tatsächlichen Gefahr für die öffentlichen Finanzen vorgelegt hätte(70).
93. Was als Zweites das Vorliegen erwiesener Gefahren für die Erhaltung der öffentlichen Finanzen aufgrund zunehmender, in organisierter Form vorgenommener Missbräuche und Betrugsfälle durch Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, angeht, möchte ich auf folgende Gesichtspunkte hinweisen.
94. Erstens ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Begriff des Rechtsmissbrauchs ein autonomer Begriff des Unionsrechts, wonach „[d]ie Feststellung eines Missbrauchs … zum einen voraus[setzt], dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der [unions]rechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde. Zum anderen setzt sie ein subjektives Element voraus, nämlich die Absicht, sich einen [unions]rechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden.“(71)
95. Zweitens hat der Gerichtshof hervorgehoben, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, das Vorliegen dieser beiden Elemente, eines objektiven und eines subjektiven, festzustellen, deren Beweis nach nationalem Recht zu erbringen ist, „soweit dies die Wirksamkeit des [Unions]rechts nicht beeinträchtigt“(72). Er hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Anwendung einer nationalen Vorschrift über den Rechtsmissbrauch nicht die volle Wirksamkeit und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten beeinträchtigen darf. Insbesondere können die nationalen Gerichte bei der Beurteilung der Ausübung eines sich aus einer Unionsbestimmung ergebenden Rechts nicht die Tragweite dieser Bestimmung verändern oder die mit ihr verfolgten Zwecke vereiteln(73).
96. Insoweit bin ich, wie der Gerichtshof, der Auffassung, dass der Umstand, dass sich ein Mitgliedstaat, wie von der deutschen Regierung geltend gemacht, mit einer hohen Zahl von Rechtsmissbrauchs- oder Betrugsfällen konfrontiert sieht, die von Kindergeld beziehenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten unter Einsatz betrügerischer Mittel begangen werden, den Erlass einer nationalen Maßnahme wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die unter Ausschluss jeder spezifischen Beurteilung des eigenen Verhaltens der Betroffenen auf generalpräventiven Erwägungen beruht, nicht rechtfertigen kann(74).
97. Im vorliegenden Fall ist klar ersichtlich, dass die von der deutschen Regierung vorgelegten Beweise nicht als konkrete Beweise im Zusammenhang mit dem individuellen Verhalten der Klägerin des Ausgangsverfahrens angesehen werden können. Diese Beweise erfüllen nämlich nicht die in objektiver und subjektiver Hinsicht für die Feststellung eines Rechtsmissbrauchs in einem konkreten Fall erforderlichen Voraussetzungen, wie sie sich aus den Nrn. 94 und 95 der vorliegenden Schlussanträge ergeben. Insoweit hat das vorlegende Gericht keinen durch die Klägerin des Ausgangsverfahrens begangenen Rechtsmissbrauch festgestellt. Jedenfalls führt das Gericht nicht aus, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens von ihrer Freizügigkeit „allein mit dem Ziel Gebrauch [gemacht hätte], in den Genuss der Sozialhilfe in Deutschland zu kommen“(75).
98. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass ein genereller Betrugsverdacht nicht ausreichen kann, um eine Maßnahme, die die Ziele der Richtlinie 2004/38 beeinträchtigt, zu rechtfertigen(76). Insofern würde die Tatsache, dass die Durchführung von Maßnahmen mit allgemeiner Geltung durch die Bundesrepublik Deutschland akzeptiert würde, bedeuten, es einem Mitgliedstaat zu erlauben, die Rechte auf Freizügigkeit und Gleichbehandlung zu umgehen, was zur Folge hätte, dass andere Mitgliedstaaten ebenfalls solche Maßnahmen vorsehen und einseitig u. a. die Anwendung von Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie aussetzen könnten(77). Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass S zu Zwecken des Sozialtourismus und allein mit dem Ziel, dort in den Genuss von Kindergeld zu kommen, nach Deutschland eingereist ist, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
99. Folglich scheint mir wenig Zweifel daran zu bestehen, dass die deutsche Regierung keinen Rechtsmissbrauch der Klägerin des Ausgangsverfahrens nachgewiesen hat, da im vorliegenden Fall keinerlei objektives oder subjektives Element eindeutig erkennbar ist.
2) Zur Verhältnismäßigkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmung
100. Für den Fall, dass das vorlegende Gericht gleichwohl der Auffassung sein sollte, dass die deutsche Regierung das Vorliegen erwiesener Gefahren für die öffentlichen Finanzen belegt hat, werde ich prüfen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Bestimmung in Anbetracht der von der deutschen Regierung vorgelegten Nachweise als geeignet angesehen werden kann, die Erreichung des Ziels des Schutzes der öffentlichen Finanzen zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
101. Was erstens die Geeignetheit einer nationalen Vorschrift wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden angeht, so möchte ich darauf hinweisen, dass die Situation von S und ihren Kindern nicht unter die Situationen fällt, die den Urteilen Dano, Alimanovic und García-Nieto u. a. zugrunde lagen(78). Das vorlegende Gericht hat daher zu prüfen, ob die nationalen Behörden bei der Gewährung von Kindergeld wie dem in Rede stehenden hinsichtlich des auf drei Monate beschränkten Aufenthaltsrechts die Anforderungen des Art. 6 der Richtlinie 2004/38 beachten, da die Voraussetzungen des Art. 7 dieser Richtlinie nur bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten gelten. In diesem Zusammenhang erscheint es mir nämlich schwierig, als Band der Integration zum Aufnahmemitgliedstaat eine Bedingung eines Aufenthalts von bestimmter Dauer aufzustellen, da diese Bedingung, wenn sie über eine Aufenthaltsdauer von drei Monaten hinausginge, im unmittelbaren Widerspruch zur Art und den Bedingungen des in Art. 6 der Richtlinie 2004/38 vorgesehen Aufenthaltsrechts stünde und möglicherweise im Widerspruch zu den in Art. 7 der Richtlinie für Aufenthalte von mehr drei Monaten vorgesehenen Bedingungen stehen könnte.
102. Was zweitens die Verhältnismäßigkeit einer nationalen Bestimmung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden betrifft, stellt sich die Frage, ob es weniger einschränkende Maßnahmen gibt, mit denen das Ziel des Schutzes der öffentlichen Finanzen erreicht werden kann.
103. Zur Wahrung der Kohärenz der Richtlinie 2004/38 kommt in diesem Zusammenhang die innere Logik der Urteile Dano, Alimanovic und García-Nieto u. a., wonach im Rahmen von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 keine individuelle Prüfung durch den Aufnahmemitgliedstaat erforderlich ist(79), in der Situation von Personen wie S und ihren Kindern nicht zum Tragen. Da ihre Situation nämlich nicht unter Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 fällt, scheint mir eine Prüfung zur Bestimmung der persönlichen Umstände der betreffenden Personen in Bezug auf die Gewährung von Kindergeld unter denselben Voraussetzungen wie inländischen Staatsangehörigen für die Prüfung relevant zu sein, ob diese Personen tatsächlich im Aufnahmemitgliedstaat wohnen(80) und deshalb in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörige sie sind, keinen Anspruch auf Kindergeld mehr haben.
104. Eine solche individuelle Prüfung würde es also ermöglichen, zum einen zu vermeiden, dass wirtschaftlich nicht aktive Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten zwangsläufig und ausschließlich vom Bezug von Familiengeld ausgeschlossen werden, womit ihr Grundrecht auf Freizügigkeit gewahrt bliebe, und zum anderen Fälle von Rechtsmissbrauch und Betrug durch Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, auch in organisierter Form, zu erkennen, um die Zahl der Personen, die diese Leistungen beantragen, zu verringern und so die öffentlichen Finanzen zu schonen.
105. Drittens und letztens weise ich darauf hin, dass das vorlegende Gericht, da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Ablehnung Kindergeld betrifft, auch prüfen muss, ob die nationalen Behörden den Grundrechten Rechnung getragen haben, deren Beachtung der Gerichtshof sichert, insbesondere dem in Art. 7 der Charta niedergelegten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wobei dieser Artikel im Zusammenhang mit der Verpflichtung zu sehen ist, das Wohl des Kindes, wie es in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannt ist, zu berücksichtigen(81).
106. Ich bin daher der Ansicht, dass für den Fall, dass der Gerichtshof die vom vorlegenden Gericht gestellte Frage unter dem Blickwinkel von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 prüfen sollte, zu antworten wäre, dass diese Bestimmung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Bestimmung entgegensteht, nach der ein Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, während der ersten drei Monate seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat nur dann Familienleistungen beziehen kann, wenn er während dieses Zeitraums inländische Einkünfte erzielt, während ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats, der in diesen Mitgliedstaat zurückkehrt, nachdem er sich nach dem Unionsrecht in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, bei seiner Rückkehr ohne eine Einkünfte betreffende Voraussetzung Familienleistungen beanspruchen kann.
VI. Ergebnis
107. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Frage des Finanzgerichts Bremen (Deutschland) wie folgt zu antworten:
Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der ein Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, während der ersten drei Monate seines Aufenthalts in diesem Mitgliedstaat nur dann Familienleistungen beziehen kann, wenn er während dieses Zeitraums inländische Einkünfte erzielt, während ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats, der in diesen Mitgliedstaat zurückkehrt, nachdem er sich nach dem Unionsrecht in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, bei seiner Rückkehr ohne eine Einkünfte betreffende Voraussetzung Familienleistungen beanspruchen kann.