SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
ATHANASIOS RANTOS
vom 3. März 2022(1)
Rechtssache C‑873/19
Deutsche Umwelthilfe e. V.
gegen
Bundesrepublik Deutschland,
Beteiligte:
Volkswagen AG
(Vorabentscheidungsersuchen des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts [Deutschland])
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Übereinkommen von Aarhus – Zugang zu Gerichten – Art. 9 Abs. 3 – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 Abs. 1 – Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz – Anerkannte Umweltvereinigung – Klagebefugnis für die Anfechtung der EG-Typgenehmigung für Kraftfahrzeuge vor einem nationalen Gericht – Verordnung (EG) Nr. 715/2007 – Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen – Art. 5 Abs. 2 – Dieselmotor – Verringerung von Stickoxidemissionen, die durch ein ‚Thermofenster‘ begrenzt wird – Abschalteinrichtung – Zulassung einer solchen Einrichtung, wenn sie zum Schutz des Motors vor Beschädigungen oder Unfall und zur Gewährung des sicheren Betriebs des Fahrzeugs notwendig ist – Stand der Technik“
I. Einführung
1. Im Ausgangsverfahren genehmigte die für die EG-Typgenehmigung zuständige nationale Behörde für Fahrzeuge des Automobilherstellers Volkswagen AG, die mit einem Dieselmotor der Generation Euro 5 ausgerüstet sind, eine in den Rechner zur Motorsteuerung integrierte Software, die bei bestimmten äußeren Temperaturen die Abgasrückführung reduziert, was eine Erhöhung der Stickoxidemissionen (NOx) zur Folge hat.
2. Der Deutsche Umwelthilfe e. V., eine anerkannte Umweltvereinigung, erhob gegen diese Entscheidung Klage beim Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht (Deutschland) und machte geltend, dass es sich bei dieser Software um eine rechtswidrige „Abschalteinrichtung“ im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007(2) handele.
3. Dem vorlegenden Gericht zufolge fehlt der Deutschen Umwelthilfe nach nationalem Recht die Klagebefugnis zur Anfechtung dieser Entscheidung. Es möchte daher erstens wissen, ob Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus(3) in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verlangt, dass eine solche Vereinigung eine Verwaltungsentscheidung, mit der die EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge erteilt wird, im Hinblick auf Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 vor den nationalen Gerichten anfechten kann.
4. Für den Fall, dass diese Frage bejaht wird, möchte das vorlegende Gericht zweitens wissen, ob die „Notwendigkeit“ einer Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 nach dem Stand der Technik zum Zeitpunkt der EG-Typgenehmigung für die betreffenden Fahrzeuge zu beurteilen ist und ob weitere Umstände zu berücksichtigen sind, die zur Zulässigkeit einer solchen Abschalteinrichtung führen könnten.
II. Rechtlicher Rahmen
A. Völkerrecht
5. Art. 1 („Ziel“) des Übereinkommens von Aarhus sieht vor:
„Um zum Schutz des Rechts jeder männlichen/weiblichen Person gegenwärtiger und künftiger Generationen auf ein Leben in einer seiner/ihrer Gesundheit und seinem/ihrem Wohlbefinden zuträglichen Umwelt beizutragen, gewährleistet jede Vertragspartei das Recht auf Zugang zu Informationen, auf Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und auf Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen.“
6. Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) Nrn. 4 und 5 des Übereinkommens von Aarhus sieht vor:
„[Im Sinne dieses Übereinkommens]
4. bedeutet ‚Öffentlichkeit‘ eine oder mehrere natürliche oder juristische Personen und, in Übereinstimmung mit den innerstaatlichen Rechtsvorschriften oder der innerstaatlichen Praxis, deren Vereinigungen, Organisationen oder Gruppen;
5. bedeutet ‚betroffene Öffentlichkeit‘ die von umweltbezogenen Entscheidungsverfahren betroffene oder wahrscheinlich betroffene Öffentlichkeit oder die Öffentlichkeit mit einem Interesse daran; im Sinne dieser Begriffsbestimmung haben nichtstaatliche Organisationen, die sich für den Umweltschutz einsetzen und alle nach innerstaatlichem Recht geltenden Voraussetzungen erfüllen, ein Interesse.“
7. Art. 9 („Zugang zu Gerichten“) Abs. 2 und 3 des Übereinkommens bestimmt:
„(2) Jede Vertragspartei stellt im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften sicher, dass Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit,
a) die ein ausreichendes Interesse haben oder alternativ
b) eine Rechtsverletzung geltend machen, sofern das Verwaltungsprozessrecht einer Vertragspartei dies als Voraussetzung erfordert, Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht und/oder einer anderen auf gesetzlicher Grundlage geschaffenen unabhängigen und unparteiischen Stelle haben, um die materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen anzufechten, für die Artikel 6 und – sofern dies nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht vorgesehen ist und unbeschadet des Absatzes 3 – sonstige einschlägige Bestimmungen dieses Übereinkommens gelten.
Was als ausreichendes Interesse und als Rechtsverletzung gilt, bestimmt sich nach den Erfordernissen innerstaatlichen Rechts und im Einklang mit dem Ziel, der betroffenen Öffentlichkeit im Rahmen dieses Übereinkommens einen weiten Zugang zu Gerichten zu gewähren. Zu diesem Zweck gilt das Interesse jeder nichtstaatlichen Organisation, welche die in Artikel 2 Nummer 5 genannten Voraussetzungen erfüllt, als ausreichend im Sinne des Buchstaben a. Derartige Organisationen gelten auch als Träger von Rechten, die im Sinne des Buchstaben b verletzt werden können.
…
(3) Zusätzlich und unbeschadet der in den Absätzen 1 und 2 genannten Überprüfungsverfahren stellt jede Vertragspartei sicher, dass Mitglieder der Öffentlichkeit, sofern sie etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien erfüllen, Zugang zu verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren haben, um die von Privatpersonen und Behörden vorgenommenen Handlungen und begangenen Unterlassungen anzufechten, die gegen umweltbezogene Bestimmungen ihres innerstaatlichen Rechts verstoßen.“
B. Unionsrecht
1. Verordnung (EG) Nr. 1367/2006
8. Art. 1 („Ziel“) Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 1367/2006(4) bestimmt:
„Ziel dieser Verordnung ist es, durch Festlegung von Vorschriften zur Anwendung der Bestimmungen des VN/ECE‑Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (im Folgenden das ‚Århus-Übereinkommen‘ genannt) auf die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft zur Umsetzung der Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen beizutragen, und zwar insbesondere[,] indem
…
d) in Umweltangelegenheiten der Zugang zu Gerichten auf Gemeinschaftsebene zu den in dieser Verordnung festgelegten Bedingungen gewährt wird.“
9. Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) Abs. 1 Buchst. f dieser Verordnung sieht vor:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck
…
f) ‚Umweltrecht‘ Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, die unabhängig von ihrer Rechtsgrundlage zur Verfolgung der im Vertrag niedergelegten Ziele der gemeinschaftlichen Umweltpolitik beitragen: Erhaltung und Schutz der Umwelt sowie Verbesserung ihrer Qualität, Schutz der menschlichen Gesundheit, umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen sowie Förderung von Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bewältigung regionaler und globaler Umweltprobleme“.
2. Verordnung Nr. 715/2007
10. In den Erwägungsgründen 1, 6 und 7 der Verordnung Nr. 715/2007 heißt es:
„(1) … Die technischen Vorschriften für die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich ihrer Emissionen sollten … harmonisiert werden, um zu vermeiden, dass die Mitgliedstaaten unterschiedliche Vorschriften erlassen, und um ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen.
…
(6) Zur Verbesserung der Luftqualität und zur Einhaltung der Luftverschmutzungsgrenzwerte ist insbesondere eine erhebliche Minderung der Stickstoffoxidemissionen bei Dieselfahrzeugen erforderlich. …
(7) Bei der Festlegung von Emissionsgrenzwerten ist es wichtig zu berücksichtigen, wie sie sich auf die Märkte und die Wettbewerbsfähigkeit der Hersteller auswirken, welche direkten und indirekten Kosten den Unternehmen durch sie entstehen und welchen Nutzen in Form von Anregung von Innovation, Verbesserung der Luftqualität, Senkung der Gesundheitskosten und Gewinn zusätzlicher Lebensjahre sie bringen und welche Gesamtwirkung sie auf die CO2-Emissionen haben.“
11. Art. 1 („Gegenstand“) Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2007 lautet:
„Diese Verordnung legt gemeinsame technische Vorschriften für die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen (‚Fahrzeuge‘ genannt) und Ersatzteilen wie emissionsmindernde Einrichtungen für den Austausch hinsichtlich ihrer Schadstoffemissionen fest.“
12. Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) Nr. 10 dieser Verordnung sieht vor:
„Im Sinne dieser Verordnung und ihrer Durchführungsmaßnahmen bezeichnet der Ausdruck:
…
10. ‚Abschalteinrichtung‘ ein Konstruktionsteil, das die Temperatur, die Fahrzeuggeschwindigkeit, die Motordrehzahl (UpM), den eingelegten Getriebegang, den Unterdruck im Einlasskrümmer oder sonstige Parameter ermittelt, um die Funktion eines beliebigen Teils des Emissionskontrollsystems zu aktivieren, zu verändern, zu verzögern oder zu deaktivieren, wodurch die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems unter Bedingungen, die bei normalem Fahrzeugbetrieb vernünftigerweise zu erwarten sind, verringert wird“.
13. Art. 5 („Anforderungen und Prüfungen“) Abs. 1 und 2 der Verordnung bestimmt:
„(1) Der Hersteller rüstet das Fahrzeug so aus, dass die Bauteile, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht.
(2) Die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist unzulässig. Dies ist nicht der Fall, wenn:
a) die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten;
b) die Einrichtung nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist;
[oder]
c) die Bedingungen in den Verfahren zur Prüfung der Verdunstungsemissionen und der durchschnittlichen Auspuffemissionen im Wesentlichen enthalten sind.“
14. Anhang I („Emissionsgrenzwerte“) der Verordnung Nr. 715/2007 enthält u. a. für Euro-5-Fahrzeuge die in Tabelle 1 aufgeführten NOx-Emissionsgrenzwerte.
3. Richtlinie 2007/46/EG
15. Die Richtlinie 2007/46/EG(5) wurde durch die Verordnung (EU) 2018/858(6) gemäß deren Art. 88 mit Wirkung vom 1. September 2020 aufgehoben. In Anbetracht des streitgegenständlichen Zeitraums findet diese Richtlinie auf den Ausgangsrechtsstreit jedoch weiterhin Anwendung.
16. Art. 1 („Gegenstand“) dieser Richtlinie bestimmte:
„Diese Richtlinie schafft einen harmonisierten Rahmen mit den Verwaltungsvorschriften und allgemeinen technischen Anforderungen für die Genehmigung aller in ihren Geltungsbereich fallenden Neufahrzeuge und der zur Verwendung in diesen Fahrzeugen bestimmten Systeme, Bauteile und selbstständigen technischen Einheiten; damit sollen ihre Zulassung, ihr Verkauf und ihre Inbetriebnahme in der Gemeinschaft erleichtert werden.
…
Zur Durchführung dieser Richtlinie werden in Rechtsakten besondere technische Anforderungen für den Bau und den Betrieb von Fahrzeugen festgelegt; Anhang IV enthält eine vollständige Auflistung dieser Rechtsakte.“
17. Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) Nr. 5 dieser Richtlinie sah vor:
„Im Sinne dieser Richtlinie und der in Anhang IV aufgeführten Rechtsakte – soweit dort nichts anderes bestimmt ist – bezeichnet der Ausdruck
…
5. ‚EG-Typgenehmigung‘ das Verfahren, nach dem ein Mitgliedstaat bescheinigt, dass ein Typ eines Fahrzeugs, eines Systems, eines Bauteils oder einer selbstständigen technischen Einheit den einschlägigen Verwaltungsvorschriften und technischen Anforderungen dieser Richtlinie und der in Anhang IV oder XI aufgeführten Rechtsakte entspricht“.
18. Anhang IV („Für die EG-Typgenehmigung von Fahrzeugen anzuwendende Vorschriften“) der Richtlinie 2007/46 verwies in seinem Teil I („Aufstellung der Rechtsakte für die EG-Typgenehmigung von in unbegrenzter Serie hergestellten Fahrzeugen“) für „Emissionen leichter Pkw und Nutzfahrzeuge (Euro 5 und 6)/Zugang zu Informationen“ auf die Verordnung Nr. 715/2007.
C. Deutsches Recht
19. § 42 der Verwaltungsgerichtsordnung(7) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: VwGO) bestimmt:
„(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts (Anfechtungsklage) sowie die Verurteilung zum Erlass eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts (Verpflichtungsklage) begehrt werden.
(2) Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein.“
20. § 113 Abs. 1 VwGO sieht vor:
„Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. …“
21. § 1 Abs. 1 des Gesetzes über ergänzende Vorschriften zu Rechtsbehelfen in Umweltangelegenheiten nach der EG-Richtlinie 2003/35/EG(8) (Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz)(9) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: UmwRG) bestimmt:
„Dieses Gesetz ist anzuwenden auf Rechtsbehelfe gegen folgende Entscheidungen:
…
5. Verwaltungsakte oder öffentlich-rechtliche Verträge, durch die andere als in den Nummern 1 bis 2b genannte Vorhaben unter Anwendung umweltbezogener Rechtsvorschriften des Bundesrechts, des Landesrechts oder unmittelbar geltender Rechtsakte der Europäischen Union zugelassen werden, und
6. Verwaltungsakte über Überwachungs- oder Aufsichtsmaßnahmen zur Umsetzung oder Durchführung von Entscheidungen nach den Nummern 1 bis 5, die der Einhaltung umweltbezogener Rechtsvorschriften des Bundesrechts, des Landesrechts oder unmittelbar geltender Rechtsakte der Europäischen Union dienen.
Dieses Gesetz findet auch Anwendung, wenn entgegen geltenden Rechtsvorschriften keine Entscheidung nach Satz 1 getroffen worden ist. …
…
Die Sätze 1 und 2 gelten nicht, wenn eine Entscheidung im Sinne dieses Absatzes auf Grund einer Entscheidung in einem verwaltungsgerichtlichen Streitverfahren erlassen worden ist.“
22. § 2 Abs. 1 UmwRG lautet:
„Eine nach § 3 anerkannte inländische oder ausländische Vereinigung kann, ohne eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen zu müssen, Rechtsbehelfe nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung gegen eine Entscheidung nach § 1 Absatz 1 Satz 1 oder deren Unterlassen einlegen, wenn die Vereinigung
1. geltend macht, dass eine Entscheidung nach § 1 Absatz 1 Satz 1 oder deren Unterlassen Rechtsvorschriften, die für die Entscheidung von Bedeutung sein können, widerspricht,
2. geltend macht, in ihrem satzungsgemäßen Aufgabenbereich der Förderung der Ziele des Umweltschutzes durch die Entscheidung nach § 1 Absatz 1 Satz 1 oder deren Unterlassen berührt zu sein, und
3. im Falle eines Verfahrens nach
a) § 1 Absatz 1 Satz 1 Nummern 1 bis 2b zur Beteiligung berechtigt war;
b) § 1 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4 zur Beteiligung berechtigt war und sie sich hierbei in der Sache gemäß den geltenden Rechtsvorschriften geäußert hat oder ihr entgegen den geltenden Rechtsvorschriften keine Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist.
Bei Rechtsbehelfen gegen eine Entscheidung nach § 1 Absatz 1 Satz 1 Nummern 2a bis 6 oder gegen deren Unterlassen muss die Vereinigung zudem die Verletzung umweltbezogener Rechtsvorschriften geltend machen.“
23. § 25 Abs. 2 der Verordnung über die EG-Genehmigung für Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger sowie für Systeme, Bauteile und selbstständige technische Einheiten für diese Fahrzeuge (EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung)(10) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: EG-FGV) bestimmt:
„(1) Stellt das Kraftfahrt-Bundesamt [im Folgenden: KBA] fest, dass Fahrzeuge, Systeme, Bauteile und selbstständige technische Einheiten nicht mit dem genehmigten Typ übereinstimmen, kann es die erforderlichen Maßnahmen nach den für den jeweiligen Typ anwendbaren Richtlinien 2007/46/EG, 2002/24/EG(11) und 2003/37/EG(12) anordnen, um die Übereinstimmung der Produktion mit dem genehmigten Typ sicherzustellen.
(2) Das [KBA] kann zur Beseitigung aufgetretener Mängel und zur Gewährleistung der Vorschriftsmäßigkeit auch bereits im Verkehr befindlicher Fahrzeuge, selbstständiger technischer Einheiten oder Bauteile nachträglich Nebenbestimmungen anordnen.“
III. Ausgangsverfahren, Vorlagefragen und Verfahren vor dem Gerichtshof
24. Volkswagen produzierte u. a. Kraftfahrzeuge des Modells VW Golf Plus TDI, die mit einem Dieselmotor des Typs EA 189 der Generation Euro 5 mit einem Hubraum von 2 Litern ausgestattet sind (im Folgenden: betroffene Fahrzeuge). Diese Fahrzeuge verfügen über ein Ventil für die Abgasrückführung.
25. Die betroffenen Fahrzeuge waren ursprünglich mit einer in den Rechner zur Motorsteuerung integrierten Software mit einem „Modus 0“ und einem „Modus 1“ (im Folgenden: Umschaltlogik) ausgerüstet. Modus 1 kam beim im Labor durchgeführten, die Schadstoffemissionen betreffenden Zulassungstest namens „Neuer Europäischer Fahrzyklus“ (NEFZ) zum Einsatz. Lagen die charakteristischen Bedingungen dieses Zulassungstests nicht vor, fand Modus 0 Anwendung; in diesem Fall verringerte sich die Abgasrückführungsrate. Im realen Fahrbetrieb befanden sich diese Fahrzeuge nahezu ausschließlich im Modus 0, mit der Folge, dass sie die in der Verordnung Nr. 715/2007 festgelegten Stickoxid-Grenzwerte nicht einhielten. Laut Vorlagebeschluss stellte die Umschaltlogik daher eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung dar. Im Rahmen des EG-Typgenehmigungsverfahrens für die betreffenden Fahrzeuge wurde das KBA von Volkswagen nicht über die Umschaltlogik informiert.
26. Am 15. Oktober 2015 erließ das KBA gemäß § 25 Abs. 2 EG-FGV eine Entscheidung, mit der es Volkswagen u. a. aufgab, die Euro-5-Motoren des Typs EA 189 mit den geltenden nationalen und unionsrechtlichen Vorschriften in Einklang zu bringen. Die Lösungen seien vor Applikation im Feld durch das KBA zu genehmigen.
27. Vor diesem Hintergrund nahm Volkswagen ein Update der in den Rechner zur Motorsteuerung der betroffenen Fahrzeuge integrierten Software vor (im Folgenden: in Rede stehende Software). Diese Software legte ein Thermofenster fest, bei dem die Abgasrückführungsrate, d. h. der Anteil der in den Motor zurückgeleiteten Abgase, bei einer Umgebungstemperatur unter – 9 Grad Celsius bei 0 %, zwischen – 9 und 11 Grad Celsius bei 85 % und schließlich, über 11 Grad Celsius ansteigend, ab einer Umgebungstemperatur von 15 Grad Celsius bei 100 % lag (im Folgenden: Thermofenster).
28. Mit Entscheidung vom 20. Juni 2016 (im Folgenden: streitige Entscheidung) erteilte das KBA eine Genehmigung für die in Rede stehende Software. In diesem Zusammenhang stellte es u. a. fest, dass keine unzulässigen Abschalteinrichtungen im Sinne der Verordnung Nr. 715/2007 vorhanden seien; die noch vorhandenen Abschalteinrichtungen erachtete es als zulässig.
29. Am 15. November 2016 legte die Deutsche Umwelthilfe, eine nach § 3 UmwRG zur Einlegung von Rechtsbehelfen anerkannte Vereinigung, gegen die streitige Entscheidung Widerspruch ein, der bei Einreichung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens noch nicht beschieden worden war.
30. Am 24. April 2018 erhob dieser Verein beim Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht, dem vorlegenden Gericht, Klage auf Aufhebung der streitigen Entscheidung. Er machte geltend, dass mit der in Rede stehenden Software eine als unzulässig im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 zu bewertende Abschalteinrichtung eingeführt worden sei, weil diese bei den in Deutschland vorherrschenden durchschnittlichen Temperaturen, nämlich etwa 10,4 Grad Celsius im Jahr 2018, aktiv werde. Den Automobilherstellern sei es grundsätzlich möglich, Motoren zu entwickeln, die aus technischer Sicht eine Herunterregelung der Systeme zur Verringerung von NOx-Emissionen nicht schon bei durchschnittlichen Temperaturen, also unter normalen Betriebsbedingungen, erforderlich machten.
31. Die Bundesrepublik Deutschland macht geltend, die Deutsche Umwelthilfe sei für eine Anfechtung der streitigen Entscheidung nicht klagebefugt, ihre Klage daher unzulässig.
32. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist die Deutsche Umwelthilfe im vorliegenden Fall nicht nach § 42 Abs. 2 VwGO klagebefugt. Nach dieser Vorschrift ist die Klage, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den in Rede stehenden Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Es gebe keine gesetzliche Vorschrift, aus der sich ausnahmsweise entgegen dem dieser Vorschrift zugrunde liegenden System des Individualrechtsschutzes eine Klagebefugnis dieser Vereinigung ergeben könnte.
33. Insbesondere falle das Ausgangsverfahren nicht in den Anwendungsbereich des UmwRG, wie er in dessen § 1 Abs. 1 definiert sei. Von den Entscheidungen, die von einer Umweltschutzorganisation angefochten werden könnten, komme im vorliegenden Fall allein die in § 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Nr. 5 UmwRG genannte Kategorie in Betracht, wonach dieses Gesetz auf Klagen gegen Verwaltungsakte oder öffentlich-rechtliche Verträge anwendbar sei, durch die andere als die in § 1 Abs. 1 Nrn. 1 bis 2b genannten Vorhaben unter Anwendung umweltbezogener Rechtsvorschriften des Bundesrechts, des Landesrechts oder unmittelbar geltender Rechtsakte der Union zugelassen würden. Insoweit weise Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 einen Umweltbezug auf und stelle nicht lediglich eine technische Regelung zur Regulierung des Binnenmarkts dar, wie sich aus den Erwägungsgründen 1, 4 und 7 dieser Verordnung ergebe.
34. § 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Nr. 5 UmwRG beziehe sich allerdings nur auf Verwaltungsakte, durch die „Vorhaben“ zugelassen würden. Der Begriff „Vorhaben“ im Sinne dieser Bestimmung sei in Umsetzung der Richtlinie 85/337/EWG(13) angenommen worden, die in ihrem Art. 1 Abs. 2 ein „Projekt“ als „die Errichtung von baulichen oder sonstigen Anlagen“ (erster Gedankenstrich) und „sonstige Eingriffe in Natur und Landschaft einschließlich derjenigen zum Abbau von Bodenschätzen“ (zweiter Gedankenstrich) definiere. In diesem Rahmen betreffe die nationale Regelung nur ortsfeste Anlagen oder Maßnahmen, die einen unmittelbaren Eingriff darstellten. Die EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge stelle aber ebenso wie die von der streitigen Entscheidung betroffene Modifizierung der EG-Typgenehmigung einen Fall einer „Produktzulassung“ dar und sei kein „Vorhaben“ im Sinne des nationalen Rechts, da sie keine ortsfeste Anlage betreffe und mit keinem unmittelbaren Eingriff in die Natur oder die Landschaft verbunden sei.
35. Zu einem anderen Ergebnis ließe sich auch nicht durch eine weite Auslegung des Begriffs „Vorhaben“ im Sinne von § 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Nr. 5 UmwRG kommen. Zwar habe der Gerichtshof festgestellt, dass der nationale Richter sein nationales Recht im Hinblick auf die Gewährung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in den vom Umweltrecht der Union erfassten Bereichen so auszulegen habe, dass es so weit wie möglich im Einklang mit den in Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus festgelegten Zielen stehe(14). Das vorlegende Gericht sehe sich aufgrund des im nationalen Recht klar definierten Begriffs des „Vorhabens“ jedoch daran gehindert, diesen auch auf den vorliegenden Fall der Freigabe eines Software-Updates zur Herstellung der Vorschriftsmäßigkeit der betroffenen Fahrzeuge zu erstrecken.
36. Ferner könnten die Vorschriften des UmwRG auch nicht analog angewandt werden; dies setze eine planwidrige Lücke der nationalen Regelung voraus, d. h., dass die in Rede stehende Interessenlage vom Gesetzgeber nicht gesehen worden sei oder wegen späterer Veränderung der Umstände nicht habe gesehen werden können. Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens, das zu der Änderung des UmwRG im Jahr 2017 geführt habe, die u. a. der Anpassung des Gesetzes an die völkerrechtlichen Vorgaben aus Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus habe dienen und dem Urteil vom 8. März 2011, Lesoochranárske zoskupenie (C‑240/09, EU:C:2011:125), habe Rechnung tragen sollen, sei nämlich die Problematik der Anwendung des Begriffs „Vorhaben“ im Sinne von § 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Nr. 5 dieses Gesetzes erörtert worden. Insoweit sei ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass dieses Gesetz den Produktbereich – auch in Bezug auf Kraftfahrzeuge – außen vor lasse. Außerdem werde in der Gesetzesbegründung ausdrücklich von einer Übertragung des Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus in Form einer Generalklausel abgesehen, da dies nach Auffassung des nationalen Gesetzgebers mit weitergehenden Abgrenzungsschwierigkeiten und Rechtsunsicherheit verbunden wäre.
37. Die Deutsche Umwelthilfe könne auch unmittelbar aus Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus keine Klagebefugnis herleiten. Da diese Bestimmung als solche im Unionsrecht nämlich keine unmittelbare Wirkung habe, wie im Urteil vom 20. Dezember 2017, Protect Natur‑, Arten- und Landschaftsschutz Umweltorganisation (C‑664/15, im Folgenden: Urteil Protect, EU:C:2017:987, Rn. 45), festgestellt worden sei, stelle sie keine gesetzliche Bestimmung im Sinne von § 42 Abs. 2 Halbsatz 1 VwGO dar.
38. Das vorlegende Gericht führt weiter aus, dass die Deutsche Umwelthilfe auch nicht nach § 42 Abs. 2 Halbsatz 2 VwGO klagebefugt sei, wonach der Kläger geltend machen müsse, durch den in Rede stehenden Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Das Individualrechtsschutzsystem der VwGO sei nämlich subjektiv-rechtlich ausgeprägt. Im Ausgangsverfahren sei jedoch ein betroffenes subjektives Recht einer natürlichen Person nicht zu erkennen. Der im vorliegenden Fall allein in Betracht kommende Verstoß gegen das Verbot der Verwendung von Abschalteinrichtungen in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 vermittele einer natürlichen Person kein subjektives Recht, denn diese Bestimmung ziele nicht darauf ab, einen Personenkreis zu schützen, der entscheidend von der Allgemeinheit abgegrenzt sei.
39. Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist daher für das Ausgangsverfahren entscheidungserheblich, ob die Deutsche Umwelthilfe eine Klagebefugnis unmittelbar aus dem Unionsrecht herleiten kann. Im Licht des Urteils Protect könne sich diese aus Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta ergeben. Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass das Ausgangsverfahren nicht unter Art. 9 Abs. 2 dieses Übereinkommens falle, da zum einen die streitige Entscheidung keine Entscheidung sei, für die dessen Art. 6 gelte, und es zum anderen auch keine nationale Regelung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Satz 1 des Übereinkommens gebe, nach der sonstige einschlägige Bestimmungen des Übereinkommens für den vorliegenden Fall gelten sollten.
40. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die sich aus dem Urteil Protect ergebenden Konsequenzen im Hinblick auf das nationale Verfahrensrecht von den nationalen Gerichten unterschiedlich beurteilt worden seien. Es bestünden daher Zweifel daran, dass es das Unionsrecht einer anerkannten Umweltvereinigung ermögliche, auch über die bereits bestehenden Rechtsschutzmöglichkeiten des UmwRG hinaus eine behördliche Produktzulassung der hier in Rede stehenden Art anzufechten, sofern die Beachtung von objektiv-rechtlichen Bestimmungen des Unionsumweltrechts durchgesetzt werden solle.
41. Für den Fall, dass der Gerichtshof der Auffassung sein sollte, dass eine Umweltvereinigung zur Anfechtung der EG-Typgenehmigung von Fahrzeugen klagebefugt sei, ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die Rechtmäßigkeit der streitigen Entscheidung entscheidend von der Auslegung von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 abhänge, insbesondere was den Begriff der „Notwendigkeit“ einer Abschalteinrichtung betreffe. Es fragt sich, ob die Automobilhersteller sich am aktuellen Stand der Technik zu orientieren hätten, wenn es darum gehe, ob eine Abschalteinrichtung tatsächlich für den Schutz des Motors vor Beschädigung oder Unfall und für den sicheren Betrieb des Fahrzeugs notwendig sei.
42. Unter diesen Umständen hat das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen, und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus in Verbindung mit Art. 47 der Charta dahin gehend auszulegen, dass es Umweltvereinigungen grundsätzlich möglich sein muss, einen Bescheid vor Gericht anzufechten, mit dem die Produktion von Diesel-Personenkraftwagen mit Abschalteinrichtungen – möglicherweise unter Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 – gebilligt wird?
2. Bei Bejahung der Frage 1:
a) Ist Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 dahin gehend auszulegen, dass Maßstab für die Frage der Notwendigkeit einer Abschalteinrichtung zum Schutz des Motors vor Beschädigungen oder Unfall und zur Gewährleistung des sicheren Betriebs des Fahrzeugs grundsätzlich der aktuelle Stand der Technik im Sinne des technisch Machbaren im Zeitpunkt der Erteilung der EG-Typgenehmigung ist?
b) Sind neben dem Stand der Technik weitere Umstände zu berücksichtigen, welche zur Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung führen können, obwohl diese allein am jeweils aktuellen Stand der Technik bemessen nicht „notwendig“ im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 715/2007 wäre?
43. Die Deutsche Umwelthilfe, das KBA, Volkswagen und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Parteien und Beteiligten haben auch schriftlich auf die Fragen des Gerichtshofs geantwortet.
IV. Würdigung
A. Zur ersten Vorlagefrage
44. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine anerkannte Umweltvereinigung, die nach nationalem Recht zur Einlegung von Rechtsbehelfen berechtigt ist, eine Verwaltungsentscheidung, mit der eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge erteilt wird, die möglicherweise gegen Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 verstößt, wonach – von Ausnahmen abgesehen – die Verwendung von Abschalteinrichtungen verboten ist, die die Wirksamkeit von Systemen zur Emissionsbegrenzung verringern, vor einem innerstaatlichen Gericht anfechten können muss.
45. Nach Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus stellt unbeschadet der in den Abs. 1 und 2 dieser Vorschrift genannten Überprüfungsverfahren jede Vertragspartei sicher, dass Mitglieder der Öffentlichkeit, sofern sie etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien erfüllen, Zugang zu verwaltungsbehördlichen oder gerichtlichen Verfahren haben, um die von Privatpersonen und Behörden vorgenommenen Handlungen und begangenen Unterlassungen anzufechten, die gegen umweltbezogene Bestimmungen ihres innerstaatlichen Rechts verstoßen.
46. Zur Beantwortung der ersten Frage werde ich zunächst den Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus und dann die Tragweite dieser Bestimmung in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta prüfen.
1. Zum Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus
47. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass das Ausgangsverfahren die Möglichkeit betrifft, ein gerichtliches Verfahren einzuleiten, um die Handlung einer Behörde anzufechten, nämlich die EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge. Diese in Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus genannten Voraussetzungen sind daher erfüllt. Die übrigen Voraussetzungen betreffen den sachlichen und den persönlichen Anwendungsbereich dieser Bestimmung, die nacheinander behandelt werden.
48. In Bezug auf seinen sachlichen Anwendungsbereich verlangt Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus, dass die betreffende Handlung gegen „umweltbezogene Bestimmungen [des] innerstaatlichen Rechts“ verstößt. Im vorliegenden Fall führt die Deutsche Umwelthilfe die Verordnung Nr. 715/2007, insbesondere ihren Art. 5 Abs. 2, an. Es ist daher zu prüfen, ob diese Bestimmung unter das „umweltbezogene … innerstaatliche Recht“ fällt.
49. Insoweit teile ich zum einen – entgegen dem KBA – die Auffassung des vorlegenden Gerichts, dass diese Verordnung unter das Umweltrecht fällt und somit nicht nur als technische Regelung zur Regulierung des Binnenmarkts anzusehen ist. Diese Frage ist nämlich meines Erachtens im Urteil vom 17. Dezember 2020, CLCV u. a. (Abschalteinrichtung für Dieselmotoren) (C‑693/18, im Folgenden: Urteil CLCV, EU:C:2020:1040, Rn. 113), entschieden worden, in dem festgestellt wurde, dass das mit der Verordnung Nr. 715/2007 verfolgte Ziel darin besteht, in der Union die Umwelt zu schützen und die Luftqualität zu verbessern.
50. Das KBA macht auch geltend, dass diese Verordnung auf Art. 95 EG (jetzt Art. 114 AEUV) gestützt sei, der die Maßnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten betrifft, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts zum Gegenstand haben. Art. 95 Abs. 3 bestimmt jedoch, dass die Kommission in ihren Vorschlägen in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umweltschutz und Verbraucherschutz von einem hohen Schutzniveau ausgeht und dabei insbesondere alle auf wissenschaftliche Ergebnisse gestützten neuen Entwicklungen berücksichtigt. Folglich ist die Tatsache, dass die Verordnung nicht auf einer spezifischen Rechtsgrundlage für die Umwelt, nämlich Art. 175 EG, beruht, nicht geeignet, ihre Verbindung mit dem Umweltrecht auszuschließen.
51. Jedenfalls wird in Art. 2 Abs. 1 Buchst. f der Verordnung Nr. 1367/2006 der Begriff „Umweltrecht“ definiert als „Rechtsvorschriften der Gemeinschaft, die unabhängig von ihrer Rechtsgrundlage zur Verfolgung der im Vertrag niedergelegten Ziele der gemeinschaftlichen Umweltpolitik beitragen: Erhaltung und Schutz der Umwelt sowie Verbesserung ihrer Qualität, Schutz der menschlichen Gesundheit, umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen sowie Förderung von Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bewältigung regionaler und globaler Umweltprobleme“(15). Dies trifft auf die Verordnung Nr. 715/2007 zu.
52. Was speziell Art. 5 Abs. 2 der Verordnung angeht, so betrifft diese Bestimmung die „Abschalteinrichtungen“ im Sinne von Art. 3 Nr. 10 dieser Verordnung. Diese Bestimmung hat zwar technischen Charakter, fügt sich aber in den Rahmen der Verordnung ein und zielt darauf ab, die Emissionen von Schadstoffen zu begrenzen und so zum Schutz der Umwelt beizutragen. Allgemein ist es, wie die Deutsche Umwelthilfe vorgebracht hat, undenkbar, das Umweltrecht und die technischen Vorschriften grundsätzlich voneinander zu trennen, da eine umweltschützende Vorschrift häufig technischen Charakter hat. Insoweit weise ich darauf hin, dass es im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 715/2007 heißt, dass „[d]ie technischen Vorschriften für die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich ihrer Emissionen … folglich harmonisiert werden [sollten], um zu vermeiden, dass die Mitgliedstaaten unterschiedliche Vorschriften erlassen, und um ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen“. Dieser Erwägungsgrund stellt folglich ausdrücklich einen Zusammenhang zwischen den technischen Vorschriften über die EG-Typgenehmigung und dem Umweltschutz her.
53. Zum anderen ist die von der Deutschen Umwelthilfe angeführte Bestimmung des Unionsrechts, nämlich Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007, in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar und als Teil der Bestimmungen des innerstaatlichen Umweltrechts anzusehen(16).
54. Was den persönlichen Anwendungsbereich von Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus betrifft, so sieht diese Bestimmung vor, dass „Mitglieder der Öffentlichkeit, sofern sie etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien erfüllen“, Inhaber der in der Bestimmung vorgesehenen Rechte sind. Insoweit geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Deutsche Umwelthilfe eine nach § 3 UmwRG zur Einlegung von Rechtsbehelfen anerkannte Umweltvereinigung ist, die nach ihrer Satzung den Natur- und Umweltschutz sowie den umwelt- und gesundheitsrelevanten Verbraucherschutz, insbesondere durch Aufklärung und Beratung der Verbraucher, zu fördern beabsichtigt. Folglich erfüllt diese Vereinigung die Voraussetzungen für eine Prozessführung vor den nationalen Gerichten zum Schutz der Umwelt.
55. Daher gehört eine Vereinigung wie die Deutsche Umwelthilfe nicht nur zur „Öffentlichkeit“ im Sinne von Art. 2 Abs. 4 des Übereinkommens von Aarhus, sondern auch zur „betroffenen Öffentlichkeit“ im Sinne von Art. 2 Abs. 5 dieses Übereinkommens. Nach der letztgenannten Bestimmung haben aber die Nichtregierungsorganisationen, die sich für den Umweltschutz einsetzen und alle nach innerstaatlichem Recht geltenden Voraussetzungen erfüllen, ein Interesse.
56. Schließlich fragt sich das vorlegende Gericht, ob von der Wendung „nach innerstaatlichem Recht festgelegte Kriterien“ im Sinne von Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus nur solche Kriterien erfasst sind, die sich auf den Kreis der Anfechtungsberechtigten beziehen; der nationale Gesetzgeber habe solche Kriterien in § 3 UmwRG verbindlich festgelegt. Meines Erachtens betrifft diese Wendung auch den Gegenstand einer Klage, und die genannten Kriterien müssen mit dem Unionsrecht im Einklang stehen. Diese Frage wird im Folgenden geprüft.
2. Zur Tragweite von Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta
57. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs können für Rechtsbehelfe gemäß Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus „Kriterien“ festgelegt werden, woraus sich ergibt, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen des ihnen insoweit überlassenen Gestaltungsspielraums verfahrensrechtliche Vorschriften über die Voraussetzungen der Einlegung solcher Rechtsbehelfe erlassen können(17). Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, diente die Novellierung des UmwRG im Jahr 2017 u. a. der Anpassung des Gesetzes an die völkerrechtlichen Vorgaben aus Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus.
58. Dem vorlegenden Gericht zufolge fehlt der Deutschen Umwelthilfe nach nationalem Recht für die Anfechtung einer Verwaltungsentscheidung, mit der eine EG-Typgenehmigung erteilt wird, die Klagebefugnis(18). Außerdem hat Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus im Unionsrecht als solcher keine unmittelbare Wirkung(19). Unter diesen Umständen kann diese Bestimmung, wenn das nationale Recht keine Klagebefugnis einer anerkannten Umweltvereinigung vorsieht, dieser für sich allein keine Klagebefugnis verleihen.
59. Das vorlegende Gericht hat sich jedoch zur Rechtfertigung seines Vorabentscheidungsersuchens auf das Urteil Protect berufen. Insoweit wird in diesem Urteil in Bezug auf den Zugang von Umweltorganisationen zu Gerichten die Verbindung zwischen Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus und Art. 47 der Charta hergestellt(20). Die Erwägungen des Gerichtshofs in diesem Urteil scheinen mir aber in vollem Umfang auf die vorliegende Rechtssache wie folgt übertragbar zu sein.
60. Nach Art. 3 Nr. 5 der Richtlinie 2007/46 bezeichnet der Ausdruck EG-Typgenehmigung das Verfahren, nach dem ein Mitgliedstaat bescheinigt, dass ein Typ eines Fahrzeugs, eines Systems, eines Bauteils oder einer selbstständigen technischen Einheit den einschlägigen Verwaltungsvorschriften und technischen Anforderungen dieser Richtlinie und der in Anhang IV oder XI aufgeführten Rechtsakte entspricht. In diesem Anhang IV wurde auf die Verordnung Nr. 715/2007 verwiesen, deren Art. 5 Abs. 2 zwingenden Charakter hat.
61. Erlässt ein Mitgliedstaat verfahrensrechtliche Vorschriften, die auf Rechtsbehelfe gemäß Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus anwendbar sind, die auf die Geltendmachung von Rechten einer Umweltvereinigung aus Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 gerichtet sind, um Entscheidungen der zuständigen nationalen Behörden im Hinblick auf ihre sich aus diesem Artikel ergebenden Verpflichtungen überprüfen zu lassen, setzt dieser Mitgliedstaat folglich eine Verpflichtung um, die sich aus diesem Artikel ergibt, und führt daher im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta Recht der Union durch, so dass die Charta anwendbar ist(21).
62. Zwar hat Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus im Unionsrecht als solcher keine unmittelbare Wirkung, doch verpflichtet diese Bestimmung in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta die Mitgliedstaaten dazu, einen wirksamen gerichtlichen Schutz der durch das Recht der Union garantierten Rechte, insbesondere der Vorschriften des Umweltrechts, zu gewährleisten(22).
63. Das in Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus vorgesehene Recht, einen Rechtsbehelf einzulegen, hätte jedoch keine praktische Wirksamkeit, ja würde ausgehöhlt, wenn zugelassen würde, dass durch im innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien bestimmten Kategorien der „Mitglieder der Öffentlichkeit“, erst recht der „betroffenen Öffentlichkeit“ wie Umweltorganisationen, die die Voraussetzungen von Art. 2 Abs. 5 des Übereinkommens von Aarhus erfüllen, der Zugang zu den Gerichten gänzlich verwehrt würde(23). Solchen Vereinigungen darf nicht die Möglichkeit genommen werden, die Beachtung der aus dem Unionsumweltrecht hervorgegangenen Rechtsvorschriften überprüfen zu lassen, zumal solche Rechtsvorschriften in den meisten Fällen auf das allgemeine Interesse und nicht auf den alleinigen Schutz der Rechtsgüter Einzelner gerichtet sind und Aufgabe besagter Umweltvereinigungen der Schutz des Allgemeininteresses ist(24).
64. Der Ausdruck „etwaige in ihrem innerstaatlichen Recht festgelegte Kriterien“ in Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus bedeutet zwar, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung dieser Bestimmung einen Gestaltungsspielraum behalten. Kriterien, die derart streng sind, dass es für Umweltorganisationen praktisch unmöglich ist, Handlungen und Unterlassungen im Sinne von Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus anzufechten, sind aber nicht zulässig(25).
65. Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Deutsche Umwelthilfe nicht über die Klagebefugnis verfügt, um eine Verwaltungsentscheidung anzufechten, mit der die EG-Typgenehmigung erteilt wird, und zwar insbesondere deshalb, weil diese Genehmigung eine „Produktzulassung“ darstellt und das nationale Recht es einer Umweltvereinigung, selbst wenn sie unter den Begriff „betroffene Öffentlichkeit“ im Sinne von Art. 2 Abs. 5 des Aarhus-Übereinkommens fällt, bei einer solchen Zulassung nicht erlaubt, bei einem nationalen Gericht eine Klage gegen eine Verwaltungsentscheidung einzulegen, mit der die EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge erteilt wird. Soweit sie Umweltorganisationen eine Anfechtung einer solchen Zulassungsentscheidung gänzlich verwehren, genügen die betreffenden nationalen Verfahrensvorschriften nicht den Anforderungen des Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta(26).
66. Mit anderen Worten verlangt die praktische Wirksamkeit von Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 bei einer Prüfung unter dem Blickwinkel des Grundrechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, anerkannten Umweltvereinigungen das Recht zu gewährleisten, eine Verwaltungsentscheidung anzufechten, mit der die EG-Typgenehmigung erteilt wird(27).
67. Die durch die Charta garantierten Freiheiten können zwar eingeschränkt werden, doch muss jede Einschränkung ihrer Ausübung gemäß Art. 52 Abs. 1 der Charta gesetzlich vorgesehen sein und ihren Wesensgehalt achten. Außerdem dürfen nach dieser Bestimmung unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen(28). Im vorliegenden Fall vermag ich jedoch nicht zu erkennen, welche von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung es rechtfertigen könnte, einer Umweltvereinigung den Zugang zu Gerichten zwecks Anfechtung der EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge zu verbieten(29).
68. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kann selbst bei einer weiten Auslegung oder analogen Anwendung des nationalen Rechts einer Umweltvereinigung keine Klagebefugnis für die Anfechtung einer Entscheidung über die Erteilung der EG-Typgenehmigung zuerkannt werden. Ich stelle jedoch fest, dass dieses Gericht ein Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 18. April 2018 über die Rechtmäßigkeit der Einführung des Regelbetriebs bestimmter überlanger Lastkraftwagen und der Verlängerung des Probebetriebs bestimmter anderer überlanger Lastkraftwagen erwähnt, in dem die Auffassung vertreten wurde, dass eine anerkannte Umweltvereinigung, die die Beachtung der aus dem Unionsumweltrecht hervorgegangenen Rechtsvorschriften begehre, nach § 42 Abs. 2 Halbsatz 2 VwGO klagebefugt sei. Außerdem hat, wie das KBA vorbringt, die Deutsche Umwelthilfe im Rahmen des Ausgangsverfahrens geltend gemacht, dass sich ihre Klagebefugnis unmittelbar aus § 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Nr. 6 und § 2 Abs. 1 UmwRG ergebe.
69. Das vorlegende Gericht hat das Verfahrensrecht in Bezug auf die Voraussetzungen, die für die Einleitung eines Überprüfungsverfahrens vorliegen müssen, so weit wie möglich im Einklang sowohl mit den Zielen von Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus als auch mit dem Ziel eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes für die durch das Unionsrecht verliehenen Rechte auszulegen, um es einer Umweltvereinigung wie der Deutschen Umwelthilfe zu ermöglichen, eine möglicherweise im Widerspruch zum Umweltrecht der Union stehende Entscheidung vor einem innerstaatlichen Gericht anzufechten(30).
70. Sollte eine solche unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich sein, ist nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, gehalten, für deren volle Wirksamkeit zu sorgen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende nationale Rechtsvorschrift aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Vorschrift auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste(31).
71. Das vorlegende Gericht fragt sich, ob Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus dahin auszulegen sei, dass die Mitgliedstaaten aufgrund der Vielzahl an Entscheidungen mit Umweltbezug bestimmte Verwaltungsentscheidungen, wie beispielsweise Entscheidungen über Produktzulassungen, von einer durch Umweltvereinigungen veranlassten gerichtlichen Überprüfung ausnehmen könnten, so dass die Möglichkeit einer Klage auf bestimmte, im Hinblick auf ihre Umweltauswirkungen schwerwiegende Entscheidungen beschränkt wäre. Ich bin jedoch der Ansicht, dass ein solcher Ansatz weder in den Bestimmungen dieses Übereinkommens noch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Stütze findet. Jedenfalls kann, wie die Deutsche Umwelthilfe geltend macht, eine Entscheidung, mit der die EG-Typgenehmigung erteilt wird, für eine große Zahl von Fahrzeugen relevant sein und daher nicht als nur von minderer Bedeutung für den Umweltschutz angesehen werden. In diesem Sinne ist, wie es im sechsten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 715/2007 heißt, zur Verbesserung der Luftqualität und zur Einhaltung der Luftverschmutzungsgrenzwerte eine erhebliche Minderung der NOx-Emissionen bei Dieselfahrzeugen erforderlich.
72. Darüber hinaus betont das vorlegende Gericht, dass im Gegensatz zu dem Sachverhalt, der dem Urteil Protect zugrunde lag und das österreichische Recht betraf, Umweltvereinigungen nach deutschem Recht im Rahmen des UmwRG die Möglichkeit hätten, die Zulassung von Vorhaben überprüfen zu lassen, und dass es daher keinen völligen Ausschluss des Verbandsklagerechts gebe. Im Verfahrensrecht bestehe daher keine Rechtsschutzlücke, wie sie mit diesem Urteil festgestellt worden sei. Wie das vorlegende Gericht feststellt, hat eine Vereinigung wie die Deutsche Umwelthilfe jedoch keinen Zugang zu den Gerichten, um eine Entscheidung anzufechten, mit der eine EG-Typgenehmigung erteilt wird. Daher bin ich der Ansicht, dass die im Rahmen des Urteils Protect ergangene Rechtsprechung uneingeschränkt anwendbar ist, um die Einhaltung einer aus dem Umweltrecht der Union hervorgegangenen Norm überprüfen zu lassen.
73. Das KBA und Volkswagen machen geltend, dass dem deutschen Verfahrensrecht eine Popularklage strukturell fremd sei und eine Umweltvereinigung daher stets geltend machen können müsse, dass sie durch das behördliche Handeln möglicherweise in ihren Rechten verletzt sei. Im vorliegenden Fall führt die Anwendung von Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta jedoch nicht zu einer Popularklage(32). Das Recht auf Zugang zu den Gerichten in einer Rechtssache wie der des Ausgangsverfahrens setzt nämlich voraus, dass der betreffenden Vereinigung nach nationalem Recht das Recht eingeräumt wurde, vor Gericht zu klagen, da ihre Satzung von den zuständigen nationalen Behörden anerkannt worden ist. Eine solche Vereinigung bietet somit Gewähr für Ernsthaftigkeit und Kompetenz bei der Ausübung ihrer Tätigkeit(33). Da diese Vereinigungen ein rechtlich anerkanntes Interesse im Bereich des Umweltschutzes haben, sind sie von einer Verletzung direkt anwendbarer Bestimmungen des Umweltrechts der Union ausreichend betroffen, um sich vor den innerstaatlichen Gerichten auf diese Bestimmungen zu berufen(34).
74. Nach alledem schlage ich vor, auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Aarhus in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen ist, dass eine anerkannte Umweltvereinigung, die nach nationalem Recht zur Einlegung von Rechtsbehelfen berechtigt ist, eine Verwaltungsentscheidung, mit der eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge erteilt wird, die möglicherweise gegen Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 verstößt, wonach – von Ausnahmen abgesehen – die Verwendung von Abschalteinrichtungen verboten ist, die die Wirksamkeit von Systemen zur Emissionsbegrenzung verringern, vor einem innerstaatlichen Gericht anfechten können muss.
B. Zur zweiten Vorlagefrage
75. Mit seiner zweiten Frage, die für den Fall gestellt wird, dass die erste Frage bejaht wird, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass die „Notwendigkeit“ einer Abschalteinrichtung zum Schutz des Motors vor Beschädigungen oder Unfall und für den sicheren Betrieb des Fahrzeugs anhand des Stands der Technik im Zeitpunkt der Erteilung der EG-Typgenehmigung zu beurteilen ist, und ob für die Prüfung der Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung auch andere Umstände als diese „Notwendigkeit“ zu berücksichtigen sind(35).
76. Nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, unzulässig. Es gibt jedoch drei Ausnahmen von diesem Verbot, wobei die in Buchst. a dieser Bestimmung genannte Ausnahme den Fall betrifft, dass „die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten“.
77. Zunächst stelle ich fest, dass das vorlegende Gericht in seiner Frage von der Annahme ausgeht, dass das Thermofenster eine „Abschalteinrichtung“ im Sinne von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung Nr. 715/2007 darstellt. Im Urteil CLCV hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Einrichtung, die jeden Parameter im Zusammenhang mit dem Ablauf der in der Verordnung vorgesehenen Zulassungsverfahren erkennt, um die Leistung des Emissionskontrollsystems bei diesen Verfahren zu verbessern und so die Zulassung des Fahrzeugs zu erreichen, eine solche „Abschalteinrichtung“ darstellt, selbst wenn eine solche Verbesserung punktuell auch unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden kann(36).
78. Der Gerichtshof hat ferner ausgeführt, dass das Verbot, auf das sich Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 715/2007 bezieht, ausgehöhlt und jeder praktischen Wirksamkeit beraubt würde, wenn es zulässig wäre, dass die Hersteller Fahrzeuge allein deshalb mit solchen Abschalteinrichtungen ausstatten, um den Motor vor Verschmutzung und Verschleiß zu schützen(37). Diese Rechtsprechung ist im Zusammenhang mit der Prüfung der Vereinbarkeit der Umschaltlogik mit dem Unionsrecht ergangen.
79. Die Rechtssachen C‑128/20, GSMB Invest, C‑134/20, Volkswagen, sowie C‑145/20, Porsche Inter Auto und Volkswagen, betreffen ein Thermofenster, das demjenigen ähnlich ist, das Gegenstand der vorliegenden Frage ist. In meinen gemeinsamen Schlussanträgen zu diesen drei Rechtssachen(38) vom 23. September 2021 habe ich dem Gerichtshof vorgeschlagen, festzustellen, dass Art. 3 Nr. 10 in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass eine Einrichtung, die im realen Fahrbetrieb eines Kraftfahrzeugs nur dann die volle Funktionsfähigkeit der Abgasrückführung gewährleistet, wenn Außentemperaturen zwischen 15 und 33 Grad Celsius herrschen und der Fahrbetrieb unterhalb von 1 000 Höhenmetern stattfindet, während außerhalb dieses Fensters im Verlauf von 10 Grad Celsius und oberhalb von 1 000 Höhenmetern im Verlauf von 250 Höhenmetern die Abgasrückführrate linear auf 0 verringert wird, so dass die NOx-Emissionen die Grenzwerte dieser Verordnung übersteigen, eine „Abschalteinrichtung“ darstellt(39). Diese Erwägungen sind auf die vorliegende Rechtssache übertragbar.
80. Mit seiner zweiten Frage, Buchst. a, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die „Notwendigkeit“ einer Abschalteinrichtung im Hinblick auf den Schutz des Motors vor Beschädigungen oder Unfall und für den sicheren Betrieb des Fahrzeugs danach beurteilt wird, was zum Zeitpunkt der Erteilung der EG-Typgenehmigung für die betroffenen Fahrzeuge technisch machbar ist.
81. Ich stimme mit diesem Gericht darin überein, dass für die Beantwortung dieser Frage auf den Zeitpunkt der EG-Typgenehmigung abzustellen ist. Diese betrifft nämlich Neufahrzeuge, die die zum Zeitpunkt der Genehmigung geltenden Rechtsakte einhalten müssen, darunter die in Anhang IV der Richtlinie 2007/46 genannten, zu denen die Verordnung Nr. 715/2007 gehört.
82. Was die technischen Anforderungen in Bezug auf diese Genehmigung betrifft, habe ich in meinen Schlussanträgen in den Rechtssachen C‑128/20, GSMB Invest, C‑134/20, Volkswagen, sowie C‑145/20, Porsche Inter Auto und Volkswagen, festgestellt, dass in der Verordnung Nr. 715/2007 nicht davon die Rede ist, dass die EG-Typgenehmigung von der Verwendung einer bestimmten Technologie abhängig wäre(40). Mit anderen Worten verfolgt, wie Volkswagen geltend macht, diese Verordnung genau wie die Richtlinie 2007/46 einen technikneutralen Ansatz.
83. Ich habe ebenfalls darauf hingewiesen, dass es laut dem siebten Erwägungsgrund dieser Verordnung „[b]ei der Festlegung von Emissionsgrenzwerten … wichtig [ist,] zu berücksichtigen, wie sie sich auf die Märkte und die Wettbewerbsfähigkeit der Hersteller auswirken, welche direkten und indirekten Kosten den Unternehmen durch sie entstehen und welchen Nutzen in Form von Anregung von Innovation, Verbesserung der Luftqualität, Senkung der Gesundheitskosten und Gewinn zusätzlicher Lebensjahre sie bringen und welche Gesamtwirkung sie auf die CO2-Emissionen haben“. Der Unionsgesetzgeber hat somit bereits bei der Festlegung der Grenzwerte für Schadstoffemissionen die Interessen der Automobilhersteller berücksichtigt. Es ist daher deren Sache, die technischen Vorrichtungen anzupassen und anzuwenden, damit diese Grenzwerte eingehalten werden, ohne dass die eingesetzte Technik zwangsläufig die bestmögliche sein müsste oder vorgeschrieben wäre(41). In diesem Sinne kann es, wie das KBA vorgebracht hat, ausreichen, auf dem Markt verbreitete moderne durchschnittliche Technologien zu verwenden, sofern diese den Anforderungen an die EG-Typgenehmigung entsprechen.
84. Ich habe hinzugefügt, dass, wenn eine Abschalteinrichtung nach Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 715/2007 allein deshalb zugelassen würde, weil z. B. die Kosten für die Forschung hoch sind, die technische Ausrüstung teuer ist oder für den Nutzer häufigere und kostspieligere Wartungsarbeiten am Fahrzeug anfallen, diese Verordnung letztlich ausgehöhlt würde(42).
85. Auch diese Erwägungen scheinen mir auf den vorliegenden Fall übertragbar zu sein. In diesem Sinne stimme ich der Auffassung des vorlegenden Gerichts zu, dass eine Ausnahme nach Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 715/2007 grundsätzlich nicht in Betracht kommen dürfte, wenn Motoren aus Kostengründen vom Hersteller so gestaltet werden, dass eine wirksame Abgasreinigungstechnik im Normalbetrieb nicht ohne Motorschäden gewährleistet und diese Technik deshalb weitgehend abgeschaltet wird.
86. Eine „Notwendigkeit“ für eine Abschalteinrichtung besteht nur dann, wenn es ohne sie nicht möglich wäre, unmittelbare Beschädigungsrisiken, die zu einer konkreten Gefahr während des Betriebs des Fahrzeugs führen, zu vermeiden(43).
87. Das vorlegende Gericht möchte außerdem mit seiner zweiten Frage, Buchst. b, wissen, ob neben dem Stand der Technik weitere Umstände zu berücksichtigen sind, die zur Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung führen können, obwohl diese allein am jeweils aktuellen Stand der Technik bemessen nicht „notwendig“ im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 715/2007 wäre.
88. Insoweit geht, was den Begriff „notwendig“ betrifft, aus dem Urteil CLCV hervor, dass dieser Art. 5 Abs. 2 Buchst. a als Ausnahme vom Verbot der Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirksamkeit der Emissionskontrollsysteme verringern, eng auszulegen ist(44).
89. Ist, wie das vorlegende Gericht unter Buchst. b seiner zweiten Frage angibt(45), die vorliegend in Rede stehende Abschalteinrichtung nicht „notwendig“, gibt es daher meines Erachtens keine weiteren Umstände, die zur Zulässigkeit der Abschalteinrichtung führen können. Sofern die beiden anderen in Art. 5 Abs. 2 Buchst. b bzw. c der Verordnung Nr. 715/2007 vorgesehenen Ausnahmen im Ausgangsverfahren nicht anwendbar sind, sieht diese Verordnung nämlich keine zusätzliche Rechtfertigung für die Zulassung einer Abschalteinrichtung vor.
90. Daher schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 715/2007 dahin auszulegen ist, dass die „Notwendigkeit“ einer Abschalteinrichtung zum Schutz des Motors vor Beschädigungen oder Unfall und für den sicheren Betrieb des Fahrzeugs nicht anhand des Stands der Technik im Zeitpunkt der Erteilung der EG-Typgenehmigung zu beurteilen ist und dass für die Prüfung der Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung keine anderen Umstände als diese „Notwendigkeit“ zu berücksichtigen sind.
V. Ergebnis
91. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts (Deutschland) wie folgt zu antworten:
1. Art. 9 Abs. 3 des am 25. Juni 1998 in Aarhus unterzeichneten und im Namen der Europäischen Gemeinschaft mit dem Beschluss 2005/370/EG des Rates vom 17. Februar 2005 genehmigten Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass eine anerkannte Umweltvereinigung, die nach nationalem Recht zur Einlegung von Rechtsbehelfen berechtigt ist, eine Verwaltungsentscheidung, mit der eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge erteilt wird, die möglicherweise gegen Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge verstößt, wonach – von Ausnahmen abgesehen – die Verwendung von Abschalteinrichtungen verboten ist, die die Wirksamkeit von Systemen zur Emissionsbegrenzung verringern, vor einem innerstaatlichen Gericht anfechten können muss.
2. Art. 5 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 715/2007 ist dahin auszulegen, dass die „Notwendigkeit“ einer Abschalteinrichtung zum Schutz des Motors vor Beschädigungen oder Unfall und für den sicheren Betrieb des Fahrzeugs nicht anhand des Stands der Technik im Zeitpunkt der Erteilung der EG-Typgenehmigung zu beurteilen ist und dass für die Prüfung der Zulässigkeit einer Abschalteinrichtung keine anderen Umstände als diese „Notwendigkeit“ zu berücksichtigen sind.