Language of document : ECLI:EU:C:2022:809

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

20. Oktober 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Asylpolitik – Aufenthaltstitel für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren – Richtlinie 2004/81/EG – Art. 6 – Anwendungsbereich – Drittstaatsangehöriger, der geltend macht, Opfer einer Straftat im Zusammenhang mit Menschenhandel gewesen zu sein – Einräumung der in Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Bedenkzeit – Verbot, eine Rückführungsentscheidung zu vollstrecken – Begriff – Tragweite – Berechnung dieser Bedenkzeit – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Überstellung in den Mitgliedstaat, der für die Prüfung dieses Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist“

In der Rechtssache C‑66/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) mit Entscheidung vom 28. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 29. Januar 2021, in dem Verfahren

O. T. E.

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos, der Richterin L. S. Rossi (Berichterstatterin), der Richter J.‑C. Bonichot und S. Rodin sowie der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und P. Huurnink als Bevollmächtigte,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und F. Wilman als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. Juni 2022

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 der Richtlinie 2004/81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren (ABl. 2004, L 261, S. 19).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen O. T. E., einem nigerianischen Staatsangehörigen, und dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) über dessen Entscheidung, den vom Kläger des Ausgangsverfahrens gestellten Antrag auf Erteilung einer vorläufigen Aufenthaltsgenehmigung für Asylsuchende ohne Prüfung mit der Begründung abzulehnen, dass die Italienische Republik der für die Prüfung dieses Antrags zuständige Mitgliedstaat sei.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Richtlinie 2004/81

3        In den Erwägungsgründen 2, 4 und 9 bis 11 der Richtlinie 2004/81 heißt es:

„(2)      Der Europäische Rat hat auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere seine Entschlossenheit bekundet, die illegale Einwanderung an ihrer Wurzel zu bekämpfen, insbesondere durch Maßnahmen gegen diejenigen, die Zuwanderer einschleusen oder wirtschaftlich ausbeuten. Er hat den Mitgliedstaaten empfohlen, ihre Bemühungen auf die Aufdeckung und Zerschlagung krimineller Netze auszurichten und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Rechte der Opfer gewahrt werden.

(4)      Diese Richtlinie findet unbeschadet des Schutzes Anwendung, der Flüchtlingen, Personen unter subsidiärem Schutz und Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, im Einklang mit dem internationalen Flüchtlingsrecht gewährt wird; sie berührt auch keine sonstigen Menschenrechtsinstrumente.

(9)      Mit dieser Richtlinie wird für die Opfer des Menschenhandels oder – sofern ein Mitgliedstaat eine entsprechende Ausweitung des Geltungsbereichs dieser Richtlinie beschließt – für Drittstaatsangehörige, denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde, ein Aufenthaltstitel eingeführt, der diesen hinlänglich Anreize für eine Kooperation mit den zuständigen Behörden bietet und gleichzeitig an gewisse Voraussetzungen geknüpft ist, um Missbrauch zu verhindern.

(10)      Es ist daher notwendig, die Kriterien für die Erteilung eines Aufenthaltstitels, die Aufenthaltsbedingungen sowie die Voraussetzungen für die Nichtverlängerung bzw. den Entzug des Aufenthaltstitels festzulegen. Das Aufenthaltsrecht im Sinne dieser Richtlinie ist an Bedingungen geknüpft und als vorläufig zu betrachten.

(11)      Die betroffenen Drittstaatsangehörigen sollten über die Möglichkeit, diesen Aufenthaltstitel zu erhalten, informiert werden und über eine Bedenkzeit verfügen. Diese soll ihnen ermöglichen, in voller Kenntnis der Sachlage – und unter Abwägung der Gefahren, denen sie sich aussetzen – darüber zu entscheiden, ob sie mit den zuständigen Behörden, bei denen es sich um die Polizei‑, Strafverfolgungs- und Justizbehörden handeln kann, kooperieren möchten, damit gewährleistet ist, dass ihre Kooperation freiwillig erfolgt und somit wirkungsvoller ist.“

4        Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Mit dieser Richtlinie sollen die Voraussetzungen für die Erteilung eines befristeten Aufenthaltstitels, der an die Dauer der maßgeblichen innerstaatlichen Verfahren gekoppelt ist, an Drittstaatsangehörige festgelegt werden, die bei der Bekämpfung des Menschenhandels und der Beihilfe zur illegalen Einwanderung kooperieren.“

5        Art. 2 dieser Richtlinie sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

d)      ‚Maßnahme zur Vollstreckung einer Rückführungsentscheidung‘ jede Maßnahme, die ein Mitgliedstaat im Hinblick auf die Durchsetzung einer von den zuständigen Behörden erlassenen Entscheidung trifft, mit der die Rückführung eines Drittstaatsangehörigen angeordnet wird;

e)      ‚Aufenthaltstitel‘ jede von den Behörden eines Mitgliedstaats erteilte Genehmigung, die einen Drittstaatenangehörigen, der die in dieser Richtlinie festgelegten Voraussetzungen erfüllt, zum rechtmäßigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats berechtigt;

…“

6        Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten wenden diese Richtlinie auf Drittstaatsangehörige, die Opfer von Straftaten im Zusammenhang mit Menschenhandel sind oder waren, auch dann an, wenn sie illegal in einen Mitgliedstaat eingereist sind.“

7        Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/81 hat folgenden Wortlaut:

„Sind die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats der Auffassung, dass ein Drittstaatsangehöriger in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen kann, so informieren sie die betroffene Person über die im Rahmen dieser Richtlinie gebotenen Möglichkeiten.“

8        Art. 6 („Bedenkzeit“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass den betroffenen Drittstaatsangehörigen eine Bedenkzeit zugestanden wird, in der sie sich erholen und dem Einfluss der Täter entziehen können, so dass sie eine fundierte Entscheidung darüber treffen können, ob sie mit den zuständigen Behörden zusammenarbeiten.

Die Dauer und der Beginn der in Unterabsatz 1 genannten Bedenkzeit werden nach dem innerstaatlichen Recht festgelegt.

(2)      Während der Bedenkzeit und in Erwartung der Entscheidung der zuständigen Behörden haben die betroffenen Drittstaatsangehörigen Zugang zu der in Artikel 7 vorgesehenen Behandlung und es darf keine ihre Person betreffende Rückführungsentscheidung vollstreckt werden.

(3)      Aufgrund der Bedenkzeit ergibt sich kein Aufenthaltsrecht nach dieser Richtlinie.

(4)      Ein Mitgliedstaat kann jederzeit im Interesse der öffentlichen Ordnung und zum Schutz der inneren Sicherheit sowie für den Fall, dass die zuständigen Behörden festgestellt haben, dass die betroffene Person den Kontakt mit den Tätern der in Artikel 2 Buchstaben b und c genannten Straftaten aktiv, freiwillig und aus eigener Initiative wieder aufgenommen hat, die Bedenkzeit beenden.“

9        Art. 7 („Behandlung vor Erteilung des Aufenthaltstitels“) dieser Richtlinie bestimmt:

„(1)      Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass den betroffenen Drittstaatsangehörigen, die nicht über ausreichende Mittel verfügen, die Mittel zur Sicherstellung ihres Lebensunterhalts gewährt werden und sie Zugang zu medizinischer Notversorgung erhalten. Sie beachten die speziellen Bedürfnisse besonders schutzbedürftiger Personen, einschließlich psychologischer Hilfe, soweit diese angemessen und durch innerstaatliches Recht vorgesehen ist.

(2)      Bei der Anwendung dieser Richtlinie tragen die Mitgliedstaaten den Sicherheits- und Schutzbedürfnissen der betroffenen Drittstaatsangehörigen gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften gebührend Rechnung.

…“

10      In Art. 8 („Erteilung und Verlängerung des Aufenthaltstitels“) Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:

„Nach Ablauf der Bedenkzeit oder zu einem früheren Zeitpunkt, wenn die zuständigen Behörden der Auffassung sind, dass der betroffene Drittstaatsangehörige bereits die unter Buchstabe b) genannte Voraussetzung erfüllt, prüfen die Mitgliedstaaten,

a)      welche Möglichkeiten sich durch eine Verlängerung seines Aufenthalts in ihrem Hoheitsgebiet für die Ermittlungen oder das Gerichtsverfahren ergeben,

b)      ob er seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit eindeutig bekundet hat und

c)      ob er alle Verbindungen zu denjenigen abgebrochen hat, die der Begehung der in Artikel 2 Buchstaben b) und c) genannten Straftaten verdächtig sind.“

 DublinIII-Verordnung

11      Die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. 2003, L 50, S. 1), wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31) (im Folgenden: Dublin‑III-Verordnung), mit Wirkung vom 18. Juli 2013 aufgehoben und ersetzt.

12      Art. 1 der Dublin‑III-Verordnung lautet:

„Diese Verordnung legt die Kriterien und Verfahren fest, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zur Anwendung gelangen (im Folgenden ‚zuständiger Mitgliedstaat‘).“

13      Art. 21 („Aufnahmegesuch“) der Verordnung sieht in seinem Abs. 1 vor:

„Hält der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig, so kann er so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Artikel 20 Absatz 2, diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen.

Abweichend von Unterabsatz 1 wird im Fall einer Eurodac-Treffermeldung im Zusammenhang mit Daten gemäß Artikel 14 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über die Einrichtung von Eurodac für den Abgleich von Fingerabdruckdaten zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist und über der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung dienende Anträge der Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Eurodac-Daten sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT‑Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (ABl. 2013, L 180, S. 1)] dieses Gesuch innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Treffermeldung gemäß Artikel 15 Absatz 2 jener Verordnung gestellt.

Wird das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb der in Unterabsätzen 1 und 2 niedergelegten Frist unterbreitet, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für die Prüfung des Antrags zuständig.“

14      Art. 26 Abs. 1 Satz 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Stimmt der ersuchte Mitgliedstaat der Aufnahme oder Wiederaufnahme eines Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d zu, setzt der ersuchende Mitgliedstaat die betreffende Person von der Entscheidung in Kenntnis, sie in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, sowie gegebenenfalls von der Entscheidung, ihren Antrag auf internationalen Schutz nicht zu prüfen.“

15      In Art. 27 („Rechtsmittel“) der Dublin‑III-Verordnung heißt es:

„(1)      Der Antragsteller oder eine andere Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d hat das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht.

(2)      Die Mitgliedstaaten sehen eine angemessene Frist vor, in der die betreffende Person ihr Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Absatz 1 wahrnehmen kann.

(3)      Zum Zwecke eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung sehen die Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht Folgendes vor:

a)      dass die betroffene Person aufgrund des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung berechtigt ist, bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben; oder

b)      dass die Überstellung automatisch ausgesetzt wird und diese Aussetzung innerhalb einer angemessenen Frist endet, innerhalb der ein Gericht, nach eingehender und gründlicher Prüfung, darüber entschieden hat, ob eine aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung gewährt wird; oder

c)      die betreffende Person hat die Möglichkeit, bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung zu beantragen. …“

16      Art. 29 dieser Verordnung sieht vor:

„(1)      Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme[‑] oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

(2)      Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.

…“

 Richtlinie 2001/40/EG

17      Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2001/40/EG des Rates vom 28. Mai 2001 über die gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen über die Rückführung von Drittstaatsangehörigen (ABl. 2001, L 149, S. 34) bestimmt:

„Unbeschadet der Verpflichtungen, die sich aus Artikel 23 und der Anwendung von Artikel 96 des am 19. Juni 1990 in Schengen [zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik] unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 [betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19)] …, ergeben, soll mit dieser Richtlinie die Anerkennung einer Rückführungsentscheidung ermöglicht werden, die von einer zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats – nachstehend ‚Entscheidungsmitgliedstaat‘ genannt – gegenüber einem Drittstaatsangehörigen erlassen wurde, der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats – nachstehend ‚Vollstreckungsmitgliedstaat‘ genannt – aufhält.“

18      Art. 2 dieser Richtlinie sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

b)      ‚Rückführungsentscheidung‘ jede von einer zuständigen Verwaltungsbehörde eines Entscheidungsmitgliedstaats erlassene Entscheidung, mit der die Rückführung angeordnet wird;

…“

 Richtlinie 2004/38/EG

19      Art. 28 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, berichtigt in ABl. 2004, L 229, S. 35) bestimmt:

„(1)      Bevor der Aufnahmemitgliedstaat eine Ausweisung aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt, berücksichtigt er insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen im Hoheitsgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Aufnahmemitgliedstaat und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.

(2)      Der Aufnahmemitgliedstaat darf gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, die das Recht auf Daueraufenthalt in seinem Hoheitsgebiet genießen, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügen.“

 Niederländisches Recht

20      Art. 8 der Wet tot algehele herziening van de Vreemdelingenwet (Vreemdelingenwet 2000) (Gesetz über die vollständige Reform des Ausländergesetzes [Ausländergesetz von 2000]) vom 23. November 2000 (Stb. 2000, Nr. 496) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Ausländergesetz) bestimmt:

„Ein Ausländer hält sich nur rechtmäßig in den Niederlanden auf:

k)      in dem Zeitraum, in dem ihn der Minister in die Lage versetzt, Anzeige wegen eines Verstoßes gegen Art. 273f des Wetboek van Strafrecht (Strafgesetzbuch) [über den Menschenhandel] zu erstatten“.

21      Art. 30 Abs. 1 des Ausländergesetzes bestimmt, dass ein Antrag auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis nicht geprüft wird, wenn nach der Dublin‑III-Verordnung festgestellt ist, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung dieses Antrags zuständig ist.

22      In Abschnitt B8/3.1 des Vreemdelingencirculaire 2000 (Ausländer-Runderlass von 2000) heißt es in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Ausländer-Runderlass) u. a.:

„Der Kommandant der Koninklijke Marechaussee (Gendarmerie, Niederlande, im Folgenden: KMar) verfügt über die gleichen Befugnisse wie der Leiter der nationalen Polizei, wenn es in Bezug auf einen Ausländer Hinweise auf Menschenhandel gibt. …

Der Immigratie- en Naturalisatiedienst (Einwanderungs- und Einbürgerungsbehörde, Niederlande, im Folgenden: IND) unterscheidet drei aufenthaltsrechtliche Situationen in Bezug auf das befristete Aufenthaltsrecht von Opfern sowie Zeugen, die Menschenhandel anzeigen:

1.      die Bedenkzeit für Opfer des Menschenhandels;

2.      die Aufenthaltserlaubnis für Opfer des Menschenhandels; und

3.      die Aufenthaltserlaubnis für Zeugen, die Menschenhandel anzeigen.

1.      Bedenkzeit

Nach Art. 8 Buchst. k des Ausländergesetzes wird mutmaßlichen Opfern des Menschenhandels eine Bedenkzeit von höchstens drei Monaten gewährt, in der sie entscheiden müssen, ob sie Anzeige wegen Menschenhandels erstatten oder anderweitig im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung oder Untersuchung gegen eine des Menschenhandels verdächtige Person oder im Rahmen eines diese Person betreffenden Urteils in der Sache kooperieren.

Die Polizei oder die KMar bietet dem mutmaßlichen Opfer eine Bedenkzeit an, sobald es den geringsten Hinweis gibt, dass es sich um Menschenhandel handelt, und/oder auf Veranlassung der Inspectie Sociale Zaken en Werkgelegenheid (Inspektion für soziale Angelegenheiten und Beschäftigung, Niederlande) …

Während der Bedenkzeit setzt der IND die Ausreise des mutmaßlichen Opfers des Menschenhandels aus den Niederlanden aus.

Die Bedenkzeit wird nur einmal gewährt und kann nicht verlängert werden.

Die Bedenkzeit steht ausschließlich Ausländern offen, die sich illegal in den Niederlanden aufhalten und die

–        sich in einer Situation befinden oder befanden, die nach Art. 273f Strafgesetzbuch strafbar ist;

–        sich in den Niederlanden noch nicht in einer Situation befunden haben, die nach Art. 273f des Strafgesetzbuchs strafbar ist, jedoch möglicherweise Opfer des Menschenhandels sind; oder

–        keinen Zugang zu den Niederlanden hatten, aber möglicherweise Opfer des Menschenhandels sind, wobei die KMar nötigenfalls in Absprache mit der Staatsanwaltschaft die Bedenkzeit beim geringsten Hinweis auf Menschenhandel gewährt.

Die Bedenkzeit wird Zeugen, die Menschenhandel anzeigen, nicht gewährt.

Der IND gewährt die Bedenkzeit Ausländern, die sich in Haft befinden, ausschließlich mit der Zustimmung der Staatsanwaltschaft und der Polizei oder der KMar.

Während der Bedenkzeit muss sich das mutmaßliche Opfer einmal pro Monat bei der regionalen Einheit der Polizei oder KMar melden, der es verwaltungstechnisch zugewiesen wurde.

Die Bedenkzeit endet, wenn

–        die Polizei oder die KMar feststellt, dass das mutmaßliche Opfer während der Bedenkzeit ‚mit unbekanntem Ziel‘ abgereist ist;

–        das mutmaßliche Opfer während der Bedenkzeit mitteilt, dass es darauf verzichtet, Anzeige zu erstatten oder anderweitig im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung oder Untersuchung gegen die des Menschenhandels verdächtige Person oder im Rahmen eines diese Person betreffenden Urteils in der Sache zu kooperieren;

–        das mutmaßliche Opfer Anzeige wegen Menschenhandels erstattet hat und das Protokoll unterzeichnet hat oder im Rahmen einer strafrechtlichen Ermittlung oder Untersuchung gegen die des Menschenhandels verdächtige Person oder im Rahmen eines diese Person betreffenden Urteils in der Sache kooperiert hat; oder

–        das mutmaßliche Opfer einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis (auf einer anderen Grundlage als der des vorliegenden Absatzes) stellt.

Wenn die Bedenkzeit endet, hebt der IND die Aussetzung der Ausreise auf.“

 Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

23      Nachdem er drei Asylanträge in Italien sowie einen weiteren in Belgien gestellt hatte, beantragte der Kläger des Ausgangsverfahrens, ein nigerianischer Staatsangehöriger, am 26. April 2019 in den Niederlanden Asyl.

24      Am 3. Juni 2019 ersuchte das Königreich der Niederlande die Italienische Republik um die Wiederaufnahme des Klägers gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Dublin‑III-Verordnung. Die Italienische Republik stimmte der Wiederaufnahme am 13. Juni 2019 zu.

25      Am 18. Juli 2019 informierte der Staatssekretär den Kläger des Ausgangsverfahrens über seine Absicht, seinen Asylantrag ohne Prüfung abzulehnen, da die Italienische Republik gemäß der Dublin‑III-Verordnung der für die Prüfung seines Antrags zuständige Mitgliedstaat sei.

26      Am 30. Juli 2019 erklärte der Kläger des Ausgangsverfahrens, er sei in Italien Opfer von Menschenhandel gewesen und habe einen der Täter in einer Aufnahmeeinrichtung in den Niederlanden wiedererkannt. Er wurde dazu von der Ausländerbehörde angehört.

27      Mit Entscheidung vom 12. August 2019 lehnte der Staatssekretär die Bearbeitung des Antrags des Klägers des Ausgangsverfahrens auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis für Asylsuchende ab und begründete dies damit, dass die Italienische Republik nach der Dublin‑III-Verordnung der zuständige Mitgliedstaat sei. Mit dieser Entscheidung ordnete er die Überstellung des Klägers des Ausgangsverfahrens nach Italien an.

28      Am 3. Oktober 2019 erstattete der Kläger des Ausgangsverfahrens bei den niederländischen Behörden Anzeige mit der Begründung, dass er Opfer des Menschenhandels gewesen sei.

29      Gemäß den dem Gerichtshof vorliegenden Angaben kam die Staatsanwaltschaft nach einer Prüfung zu dem Ergebnis, dass in den Niederlanden nichts vorliege, womit sich die Anzeige des Klägers des Ausgangsverfahrens untermauern ließe. Da die Zusammenarbeit des Klägers des Ausgangsverfahrens bei strafrechtlichen Ermittlungen in den Niederlanden nicht erforderlich war, wurde seiner Anzeige nicht weiter nachgegangen.

30      Der Kläger des Ausgangsverfahrens erhob gegen die Entscheidung vom 12. August 2019 Klage beim vorlegenden Gericht. Er macht insbesondere geltend, diese Entscheidung sei rechtswidrig, da ihm nach Art. 6 der Richtlinie 2004/81 eine Bedenkzeit hätte gewährt werden müssen.

31      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts stellt sich die Frage, ob dem Kläger des Ausgangsverfahrens zu irgendeinem Zeitpunkt ab dem 30. Juli 2019 die in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/81 vorgesehene Bedenkzeit hätte eingeräumt werden müssen und, wenn ja, ob der Staatssekretär, obwohl diese Bedenkzeit nicht gewährt worden war, Maßnahmen zur Vorbereitung der Rückführung des Klägers des Ausgangsverfahrens aus dem niederländischen Hoheitsgebiet ergreifen durfte, und ob – im Zusammenhang mit dieser Frage – die Entscheidung vom 12. August 2019 eine Rückführungsentscheidung im Sinne von Art. 6 Abs. 2 dieser Richtlinie darstellt. Des Weiteren fragt sich das vorlegende Gericht, welche Konsequenzen aus dem Umstand zu ziehen sind, dass das niederländische Recht abgesehen von den im Ausländer-Runderlass genannten Gesichtspunkten weder die Dauer noch den Beginn dieser Bedenkzeit festlegt und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/81 daher nicht in niederländisches Recht umgesetzt wurde.

32      Unter diesen Umständen hat die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      a)      Ist Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/81, da das Königreich der Niederlande es unterlassen hat, den Beginn der nach dieser Vorschrift garantierten Bedenkzeit nach dem innerstaatlichen Recht festzulegen, dahin auszulegen, dass die Bedenkzeit von Rechts wegen zu dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Drittstaatsangehörige den niederländischen Behörden den Menschenhandel meldet (mitteilt)?

b)      Ist Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/81, da das Königreich der Niederlande es unterlassen hat, die Dauer der nach dieser Vorschrift garantierten Bedenkzeit nach dem innerstaatlichen Recht festzulegen, dahin auszulegen, dass die Bedenkzeit von Rechts wegen endet, nachdem Anzeige wegen Menschenhandels erstattet wurde oder der betreffende Drittstaatsangehörige zum Ausdruck gebracht hat, dass er auf die Erstattung einer Anzeige verzichtet?

2.      Sind unter „Rückführungsentscheidungen“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 auch Maßnahmen zur Rückführung eines Drittstaatsangehörigen aus dem Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zu verstehen?

3.      a)      Steht Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 dem entgegen, dass während der nach Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie garantierten Bedenkzeit eine Überstellungsentscheidung getroffen wird?

b)      Steht Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 dem entgegen, dass während der nach Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie garantierten Bedenkzeit eine bereits getroffene Überstellungsentscheidung vollstreckt oder ihre Vollstreckung vorbereitet wird?

 Zum Vorabentscheidungsersuchen

 Zur Zulässigkeit

33      Die niederländische und die tschechische Regierung bezweifeln, dass die Vorlagefragen für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens erheblich sind.

34      Nach Ansicht der tschechischen Regierung steht die vom vorlegenden Gericht begehrte Auslegung von Art. 6 der Richtlinie 2004/81 mit der Situation des Klägers des Ausgangsverfahrens offensichtlich in keinem Zusammenhang. Zum einen trage dieser nämlich lediglich vor, Opfer von Straftaten im Zusammenhang mit Menschenhandel gewesen zu sein, obwohl die Richtlinie 2004/81 gemäß ihrem Art. 3 nur für Drittstaatsangehörige gelte, die Opfer solcher Straftaten „sind oder waren“. Zum anderen gehe aus dem Vorabentscheidungsersuchen nicht hervor, dass die zuständigen Behörden die Frage geprüft hätten, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens gemäß Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2004/81 in deren Anwendungsbereich falle.

35      Die niederländische Regierung trägt vor, dass Art. 6 dieser Richtlinie nicht auf einen Drittstaatsangehörigen anwendbar sei, der sich, wie es beim Kläger des Ausgangsverfahrens der Fall sei, in seiner Eigenschaft als Antragsteller auf internationalen Schutz rechtmäßig im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhalte.

36      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit gilt. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 15. Dezember 1995, Bosman, C‑415/93, EU:C:1995:463, Rn. 59 und 61, sowie vom 25. November 2021, État luxembourgeois [Information zu einer Gruppe von Steuerpflichtigen], C‑437/19, EU:C:2021:953, Rn. 81).

37      Eine Auslegung des Unionsrechts, die für das nationale Gericht von Nutzen ist, ist im Übrigen nur dann möglich, wenn das vorlegende Gericht den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in dem sich seine Fragen stellen, darlegt oder zumindest die tatsächlichen Annahmen, auf denen diese beruhen, erläutert. Außerdem müssen in der Vorlageentscheidung die genauen Gründe angegeben sein, aus denen dem nationalen Gericht die Auslegung des Unionsrechts fraglich und die Vorlage einer Vorabentscheidungsfrage an den Gerichtshof erforderlich erscheint (Urteil vom 10. März 2022, Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs [Umfassender Krankenversicherungsschutz], C‑247/20, EU:C:2022:177, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Im vorliegenden Fall betrifft das Vorabentscheidungsersuchen im Wesentlichen die Frage, ob die niederländischen Behörden dem Kläger des Ausgangsverfahrens, einem nigerianischen Staatsangehörigen, der in den Niederlanden einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, nachdem er dies schon in Italien und Belgien getan hatte, ab dem Zeitpunkt, zu dem er bei diesen Behörden angegeben hat, sowohl in Italien als auch in den Niederlanden Opfer von Straftaten im Zusammenhang mit Menschenhandel gewesen zu sein, die in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/81 vorgesehene Bedenkzeit hätten einräumen müssen, bevor die Entscheidung vom 12. August 2019, den Betroffenen gemäß der Dublin‑III-Verordnung in die Italienische Republik zu überstellen, rechtmäßig erlassen werden konnte. Das vorlegende Gericht fragt sich außerdem, ob diese Entscheidung als „Rückführungsentscheidung“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 einzustufen ist.

39      Da das vorlegende Gericht dazu aufgerufen ist, die Frage zu entscheiden, ob die niederländischen Behörden im Ausgangsrechtsstreit dadurch gegen Art. 6 der Richtlinie 2004/81 verstoßen haben, dass sie dem Kläger des Ausgangsverfahrens die gemäß diesem Artikel eingeräumten Garantien vorenthalten haben, ist daher nicht ersichtlich, dass die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht.

40      Unter diesen Umständen betrifft der Einwand der niederländischen und der tschechischen Regierung, Art. 6 der Richtlinie 2004/81 sei auf den Ausgangsrechtsstreit nicht anwendbar, nicht die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, sondern die inhaltliche Prüfung der Fragen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. März 2020, „Agro In 2001“, C‑234/18, EU:C:2020:221, Rn. 44, und vom 28. Oktober 2021, Komisia za protivodeystvie na koruptsiyata i za otnemane na nezakonno pridobitoto imushtestvo, C‑319/19, EU:C:2021:883, Rn. 25).

41      Somit ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

 Zu den Fragen

42      Was die Prüfungsreihenfolge der im Vorabentscheidungsersuchen gestellten Fragen betrifft, ist zunächst die zweite Frage zu beantworten, die die Auslegung des Begriffs „Rückführungsentscheidung“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 und die Frage betrifft, ob dieser Begriff eine Entscheidung erfasst, mit der ein Mitgliedstaat einen Drittstaatsangehörigen gemäß der Dublin‑III-Verordnung in einen anderen Mitgliedstaat überstellt. Anschließend ist die dritte Frage zu beantworten, mit der sich das vorlegende Gericht Fragen zur Tragweite des in Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 genannten Verbots stellt. Zum Schluss ist die erste Frage zu prüfen, mit der das vorlegende Gericht nach den Berechnungsregeln für die Bedenkzeit im Sinne von Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie fragt.

 Zur zweiten Frage

–       Vorbemerkungen

43      Vor der Prüfung der zweiten Frage ist als Erstes auf das in Rn. 34 des vorliegenden Urteils erwähnte Vorbringen der tschechischen Regierung einzugehen, wonach im Wesentlichen die in Art. 6 der Richtlinie 2004/81 vorgesehene Bedenkzeit keinem Drittstaatsangehörigen zugutekommen dürfe, der lediglich geltend mache, Opfer von Straftaten im Zusammenhang mit Menschenhandel gewesen zu sein.

44      Hierzu ist festzustellen, dass gemäß Art. 1 der Richtlinie 2004/81 mit dieser die Voraussetzungen für die Erteilung eines befristeten Aufenthaltstitels an Drittstaatsangehörige festgelegt werden sollen, die bei der Bekämpfung des Menschenhandels und der Beihilfe zur illegalen Einwanderung kooperieren.

45      Nach Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie wenden die Mitgliedstaaten diese Richtlinie auf Drittstaatsangehörige, die Opfer von Straftaten im Zusammenhang mit Menschenhandel sind oder waren, auch dann an, wenn sie illegal in einen Mitgliedstaat eingereist sind.

46      Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie legt den zuständigen nationalen Behörden die Pflicht auf, alle Drittstaatsangehörigen über die im Rahmen dieser Richtlinie gebotenen Garantien zu informieren, wenn sie der Auffassung sind, dass die Drittstaatsangehörigen „in den Anwendungsbereich“ dieser Richtlinie fallen können. Zu diesen Garantien gehören gemäß dem elften Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/81 der Anspruch auf Gewährung der in Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Bedenkzeit.

47      Zweck dieser Bedenkzeit ist gemäß Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie, sicherzustellen, dass die betreffenden Drittstaatsangehörigen sich erholen und dem Einfluss der Täter der Straftaten, deren Opfer sie sind oder waren, entziehen können, so dass sie eine fundierte Entscheidung darüber treffen können, ob sie insoweit mit den zuständigen Behörden zusammenarbeiten.

48      Nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 haben die betreffenden Drittstaatsangehörigen während der Bedenkzeit und in Erwartung der Entscheidung der zuständigen Behörden Zugang zu der in Art. 7 dieser Richtlinie vorgesehenen Behandlung, und es darf keine ihre Person betreffende Rückführungsentscheidung vollstreckt werden.

49      Durch die Klarstellung, dass die Maßnahmen, in deren Genuss die Drittstaatsangehörigen während der Bedenkzeit kommen, „in Erwartung der Entscheidung der zuständigen Behörden“ gelten, verweist Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 implizit auf deren Art. 8, wonach diesen Drittstaatsangehörigen nach Ablauf der Bedenkzeit oder zu einem früheren Zeitpunkt unter bestimmten Voraussetzungen ein Aufenthaltstitel erteilt werden kann. Aus Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie und insbesondere seinem Buchst. c ergibt sich jedoch, dass die Erteilung eines solchen Aufenthaltsrechts nicht erfordert, dass erwiesen ist, dass diese Drittstaatsangehörigen Opfer von Straftaten im Zusammenhang mit Menschenhandel sind oder waren. Daraus folgt, dass sie in den Genuss der in Art. 6 dieser Richtlinie vorgesehenen Bedenkzeit kommen können, auch wenn nicht festgestellt wurde, dass sie Opfer solcher Straftaten sind oder waren. Aus Art. 5 in Verbindung mit Art. 6 der Richtlinie 2004/81 geht insoweit hervor, dass die Bedenkzeit jedem Drittstaatsangehörigen eingeräumt werden muss, sobald der betreffende Mitgliedstaat vernünftigerweise annehmen kann, dass der Drittstaatsangehörige Opfer von Straftaten im Zusammenhang mit Menschenhandel sein oder gewesen sein kann, was zwangsläufig der Fall ist, wenn er bei einer der Behörden, die über seine Situation entscheiden sollen, hinreichend plausibel geltend macht, dass er solche Behandlungen erleidet oder erlitten hat.

50      Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens vor dem Erlass der Entscheidung vom 12. August 2019, deren Rechtmäßigkeit das vorlegende Gericht zu prüfen hat, geltend gemacht hat, Opfer von Menschenhandel gewesen zu sein, und erklärt hat, deshalb Anzeige erstatten zu wollen und einen der Täter dieser Straftat in einer Aufnahmeeinrichtung in den Niederlanden wiedererkannt zu haben. Daher scheint es, dass der Kläger des Ausgangsverfahrens hinreichend plausibel geltend gemacht hat, Opfer des Menschenhandels gewesen zu sein, was zu prüfen allerdings Sache des vorlegenden Gerichts ist.

51      Als Zweites ist in Bezug auf das Vorbringen der niederländischen Regierung, die in Art. 6 der Richtlinie 2004/81 vorgesehene Bedenkzeit sei naturgemäß auf einen Antragsteller auf internationalen Schutz nicht anwendbar, weil sich dieser rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalte und daher nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie falle, darauf hinzuweisen, dass in keiner Bestimmung dieser Richtlinie zwischen den Drittstaatsangehörigen je nach ihrem rechtmäßigen oder unrechtmäßigen Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten unterschieden wird. Dadurch, dass es in ihrem Art. 3 Abs. 1 heißt, dass sie „auch dann“ auf Opfer von Straftaten im Zusammenhang mit Menschenhandel anwendbar ist, wenn diese „illegal in einen Mitgliedstaat eingereist sind“, schließt diese Richtlinie im Gegenteil keinesfalls aus, dass solche Opfer, die rechtmäßig in einen Mitgliedstaat eingereist sind und sich rechtmäßig dort aufhalten, in den Genuss der von dieser Richtlinie eingeräumten Garantien kommen.

52      Außerdem ergibt sich aus dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/81, dass die von ihr bestimmten Drittstaatsangehörigen eingeräumten Rechte u. a. unbeschadet der Garantien gelten, die sich für sie aus ihrer etwaigen Eigenschaft als Antragsteller auf internationalen Schutz ergeben. Daraus folgt, dass der Unionsgesetzgeber keineswegs ausgeschlossen hat, dass mit der Richtlinie 2004/81 andere Rechte als die anerkannt werden können, die diesen Drittstaatsangehörigen aufgrund ihrer Eigenschaft als Antragsteller auf internationalen Schutz u. a. im Hinblick auf die speziellen Bedürfnisse im Zusammenhang mit ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit wie die in Art. 7 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Bedürfnisse im Bereich der Sicherheit und des Schutzes seitens der nationalen Behörden zuerkannt werden.

–       Zu den Fragen

53      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 dahin auszulegen ist, dass unter den Begriff „Rückführungsentscheidung“ eine Maßnahme fällt, mit der ein Drittstaatsangehöriger in Anwendung der Dublin‑III-Verordnung vom Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats überstellt wird.

54      Hierzu ist festzustellen, dass der Begriff „Rückführungsentscheidung“ in der Richtlinie 2004/81 nicht definiert wird und diese für die Ermittlung seines Sinns und seiner Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist. Daher ist eine autonome und einheitliche Auslegung dieses Begriffs im Sinne der Richtlinie 2004/81 vorzunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. April 2021, The North of England P & I Association, C‑786/19, EU:C:2021:276, Rn. 49).

55      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur deren Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 1. August 2022, Vyriausioji tarnybinės etikos komisija, C‑184/20, EU:C:2022:601, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung).

56      Hinsichtlich des Wortlauts kann anhand des Begriffs „Rückführung“ in seinem gewöhnlichen Sinn nicht bestimmt werden, ob das Hoheitsgebiet, das die zurückzuführende Person verlassen soll, dasjenige des Mitgliedstaats ist, der die betreffende Rückführungsmaßnahme erlassen hat, oder das der gesamten Union. Aus den mit der Richtlinie 2004/81 verfolgten Zielen sowie dem Kontext ihres Art. 6 Abs. 1 ergibt sich jedoch, dass die Maßnahme, deren Vollstreckung nach diesem Artikel verboten ist, diejenige ist, mit der gegenüber dem Betroffenen angeordnet wird, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verlassen.

57      Was erstens die Ziele der Richtlinie 2004/81 betrifft, wird mit dieser Richtlinie, wie dies u. a. aus ihrem Art. 1 sowie ihren Erwägungsgründen 2, 4 und 11 hervorgeht, das doppelte Ziel verfolgt, die Bemühungen auf die Aufdeckung und Zerschlagung krimineller Netze auszurichten und gleichzeitig sicherzustellen, dass die Rechte der Opfer des Menschenhandels gewahrt werden, indem diesen Opfern während eines gewissen Zeitraums insbesondere ermöglicht wird, über die Möglichkeit einer Kooperation mit den nationalen Polizei‑, Strafverfolgungs- und Justizbehörden bei der Bekämpfung einer solchen Straftat nachzudenken.

58      Gemäß diesem doppelten Ziel, die Rechte der Opfer des Menschenhandels zu schützen und zur Wirksamkeit der Strafverfolgung beizutragen, wurde mit der Richtlinie 2004/81 die in deren Art. 6 Abs. 1 vorgesehene Bedenkzeit eingeführt, mit der, wie diese Bestimmung vorsieht, dafür gesorgt werden soll, dass sich die betreffenden Drittstaatsangehörigen erholen und dem Einfluss der Täter der Straftaten, deren Opfer sie sind oder waren, entziehen können, so dass sie eine fundierte Entscheidung darüber treffen können, ob sie mit den zuständigen Behörden zusammenarbeiten.

59      Ebenfalls in Anbetracht dieses doppelten Ziels verlangt Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 während dieser Bedenkzeit zum einen von dem Mitgliedstaat, in dem sich der Betroffene befindet, dass er dessen grundlegenden Bedürfnissen dadurch genügt, dass er ihm die in Art. 7 dieser Richtlinie vorgesehene Behandlung gewährt, und zum anderen, dass er während dieses Zeitraums auf die Vollstreckung jeder Rückführungsmaßnahme verzichtet, wobei dem Betroffenen vorübergehend gestattet wird, „in Erwartung der Entscheidung der zuständigen Behörden“ im Hoheitsgebiet zu bleiben. Wie der Generalanwalt in Nr. 69 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, sind diese beiden Anforderungen miteinander verknüpft, da die in Art. 7 der Richtlinie 2004/81 genannten Beistands- und Hilfsmaßnahmen, die während der Bedenkzeit sichergestellt werden müssen, nicht vollständig erfüllt werden können, wenn der Betroffene das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats verlassen hat.

60      Die Annahme, dass während der Bedenkzeit die „Rückführungsentscheidung“ nach Art. 6 Abs. 2, deren Vollstreckung verboten ist, keine gemäß der Dublin‑III-Verordnung erlassene Entscheidung über die Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat sein könne, wäre geeignet, die Verwirklichung des von dieser Richtlinie verfolgten doppelten Ziels zu gefährden.

61      Zum einen würde nämlich die Vollstreckung einer solchen Überstellungsentscheidung während der in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/81 vorgesehenen Bedenkzeit darauf hinauslaufen, dass das Opfer des Menschenhandels nicht mehr die speziellen Hilfsdienste in Anspruch nehmen könnte, durch die es Unterstützung finden konnte, und dass so die ihm in diesem Mitgliedstaat nach Art. 7 der Richtlinie 2004/81 gewährte Behandlung beendet würde, was der Erholung des Opfers schaden und folglich seine Schutzbedürftigkeit erhöhen würde.

62      Zum anderen könnte die Vollstreckung einer solchen Entscheidung in dem frühen Stadium, in das die dem Opfer des Menschenhandels eingeräumte Bedenkzeit fällt, die Kooperation dieses Opfers bei den strafrechtlichen Ermittlungen und/oder dem Gerichtsverfahren beeinträchtigen. Die Überstellung des Opfers in einen anderen Mitgliedstaat, bevor es sich während der ihm eingeräumten Bedenkzeit zu seiner Bereitschaft zur Kooperation bei diesen Ermittlungen und/oder bei diesem Verfahren äußern konnte, würde nicht nur den zuständigen Behörden eine Zeugenaussage nehmen, die zur Verfolgung der Täter der betreffenden Straftat besonders nützlich sein könnte, sondern würde paradoxerweise auch dazu führen, den Betroffenen aus dem zuständigen Mitgliedstaat zu entfernen, obwohl er dort anwesend sein müsste, um im notwendigen Maße an diesen Ermittlungen und/oder diesem Verfahren beteiligt zu werden.

63      Was zweitens den Kontext der in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/81 vorgesehenen Bedenkzeit betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass gemäß deren Art. 5 den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats gegenüber dem Opfer des Menschenhandels eine Pflicht zur Vorabinformation über die „im Rahmen dieser Richtlinie gebotenen Möglichkeiten“ obliegt. Zu diesen Möglichkeiten gehört nicht nur, in den Genuss der Bedenkzeit zu kommen, sondern auch, die in Art. 7 der Richtlinie 2004/81 vorgesehenen Unterstützungs- und Betreuungsmaßnahmen zu erhalten und, unter bestimmten Voraussetzungen, gemäß Art. 8 dieser Richtlinie einen vorläufigen Aufenthaltstitel erteilt zu bekommen, der nach dem neunten Erwägungsgrund dieser Richtlinie für das Opfer „hinlänglich Anreize“ für eine Kooperation mit den zuständigen Behörden bieten soll.

64      Wie der Generalanwalt in Nr. 67 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, würde dieser Informationspflicht ihre praktische Wirksamkeit genommen, wenn es dem betreffenden Mitgliedstaat gestattet wäre, während der in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/81 vorgesehenen Bedenkzeit den Betroffenen in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen, obwohl sich der betreffende Mitgliedstaat verpflichtet hat, ihm während der Bedenkzeit die oben genannten Maßnahmen zu gewähren sowie spätestens bei Ablauf der Bedenkzeit einen befristeten Aufenthaltstitel in seinem Hoheitsgebiet zu erteilen, wenn die in Art. 8 dieser Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind.

65      Die vorstehende Auslegung kann nicht durch die Prüfung der vom vorlegenden Gericht angeführten Richtlinien 2001/40 und 2004/38 in Frage gestellt werden. Es genügt nämlich die Feststellung, dass diese Richtlinien, die selbst keine Definition des Begriffs „Rückführungsmaßnahme“ enthalten, keine eindeutigen Schlüsse zur geografischen Tragweite dieses Begriffs im Sinne der Richtlinie 2004/81 zulassen. Das Vorbringen der deutschen Regierung, das sich insbesondere auf die Richtlinie 2001/40 stützt und wonach der Begriff „Rückführungsentscheidung“ typischerweise in den Beziehungen mit Drittstaaten verwendet werde, wird rein vom Wortlaut her gesehen durch den Gebrauch dieses Begriffs insbesondere in Art. 28 der Richtlinie 2004/38 entkräftet, der unzweifelhaft nur die Ausweisung aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und nicht die Ausweisung aus dem Hoheitsgebiet der gesamten Union betrifft. Überdies verweist die Richtlinie 2004/81 auch nicht auf die Bestimmungen der Verordnung Nr. 343/2003, die zur Zeit des Erlasses dieser Richtlinie in Kraft war und die ab dem 18. Juli 2013 durch die Dublin‑III-Verordnung, in der diese Richtlinie im Übrigen auch nicht genannt wird, aufgehoben und ersetzt wurde.

66      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 dahin auszulegen ist, dass unter den Begriff „Rückführungsentscheidung“ eine Maßnahme fällt, mit der ein Drittstaatsangehöriger in Anwendung der Dublin‑III-Verordnung vom Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats überstellt wird.

 Zur dritten Frage

67      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass eine in Anwendung der Dublin‑III-Verordnung erlassene Entscheidung zur Überstellung eines Drittstaatsangehörigen während der in Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Bedenkzeit erlassen oder vollstreckt wird oder ihre Vollstreckung vorbereitet wird.

68      Nach Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 „darf keine [die betroffenen Drittstaatsangehörigen] betreffende Rückführungsentscheidung vollstreckt werden“.

69      Demzufolge verbietet Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 seinem Wortlaut nach weder den Erlass einer Rückführungsentscheidung noch den Erlass jeder anderen Maßnahme zur Vorbereitung von deren Vollstreckung.

70      Unter Berücksichtigung der Antwort auf die zweite Frage lässt diese Bestimmung es somit nur nicht zu, dass während der gemäß Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie eingeräumten Bedenkzeit eine Überstellungsentscheidung vollstreckt wird, die in Anwendung der Dublin‑III-Verordnung gegenüber Drittstaatsangehörigen, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen, erlassen wurde.

71      Wie der Generalanwalt in Nr. 88 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, dürfen beim Erlass von Maßnahmen zur Vorbereitung der Vollstreckung der Überstellungsentscheidung während der in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/81 vorgesehenen Bedenkzeit die zuständigen nationalen Behörden die Verwirklichung des in Rn. 58 des vorliegenden Urteils genannten doppelten Ziels dieser Bestimmung allerdings nicht gefährden. Demzufolge ist der Erlass von Maßnahmen zur Vorbereitung der Vollstreckung dieser Entscheidung während der Bedenkzeit zwar nicht verboten, er darf der Bedenkzeit jedoch nicht ihre praktische Wirksamkeit nehmen, was das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren zu prüfen haben wird. Dies könnte insbesondere der Fall sein, wenn die Maßnahmen zur Vorbereitung der Überstellungsentscheidung darin bestehen, das Opfer des Menschenhandels für die Zwecke seiner Überstellung in Haft zu nehmen, da solche vorbereitenden Maßnahmen ihm in Anbetracht seiner Schutzbedürftigkeit u. a. nicht ermöglichen, sich zu erholen und eine fundierte Entscheidung darüber zu treffen, ob es mit den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem es sich befindet, zusammenarbeitet.

72      Außerdem wird durch diese Auslegung von Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 die Beachtung der eindeutig festgelegten und relativ kurzen Fristen nicht gefährdet, die für das Verwaltungsverfahren zur Übertragung der Prüfungszuständigkeit für den Antrag auf internationalen Schutz auf den ersuchten Mitgliedstaat nach der Dublin‑III-Verordnung gelten.

73      So geht aus Rn. 69 des vorliegenden Urteils hervor, dass die Einräumung einer Bedenkzeit an einen Antragsteller auf internationalen Schutz den Mitgliedstaat, in dem dieser sich aufhält, nicht daran hindert, während der Bedenkzeit sein Gesuch um Wiederaufnahme dieses Antragstellers durch einen anderen Mitgliedstaat gemäß Art. 21 Abs. 1 dieser Verordnung zu stellen und, falls dem stattgegeben wird, innerhalb der Bedenkzeit eine Entscheidung über die Überstellung in den ersuchten Mitgliedstaat zu erlassen.

74      Des Weiteren trifft es zwar zu, dass gemäß Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung der ersuchende Mitgliedstaat für die Überstellung des Antragstellers über eine Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs oder dem Erlass der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung oder eine auf Sach- und Rechtsfragen gerichtete Überprüfung dieser Entscheidung, wenn dies gemäß Art. 27 Abs. 3 aufschiebende Wirkung hat, verfügt. Wird diese Frist nicht eingehalten, ist der ersuchte Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme der betreffenden Person verpflichtet, und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Juli 2017, A.S., C‑490/16, EU:C:2017:585, Rn. 46, 57 und 58).

75      In Bezug auf die Richtlinie 2004/81 ist allerdings darauf hinzuweisen, dass, wie ihr Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 vorsieht, die Dauer und der Beginn der in dieser Vorschrift vorgesehenen Bedenkzeit nach dem innerstaatlichen Recht festgelegt werden.

76      Infolgedessen ist es Sache der Mitgliedstaaten, ein Gleichgewicht zwischen der Dauer der Bedenkzeit, die sie den Opfern des Menschenhandels in ihren jeweiligen Hoheitsgebieten einräumen, und der Einhaltung der in Art. 29 Abs. 1 und 2 der Dublin‑III-Verordnung vorgesehenen Frist sicherzustellen, um ein korrektes Zusammenspiel und die Wahrung der praktischen Wirksamkeit dieser Instrumente zu garantieren.

77      Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass eine in Anwendung der Dublin‑III-Verordnung erlassene Entscheidung über die Überstellung eines Drittstaatsangehörigen während der in Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie garantierten Bedenkzeit vollstreckt wird, aber weder dem Erlass einer solchen Entscheidung noch dem Erlass von Maßnahmen zur Vorbereitung der Vollstreckung dieser Entscheidung entgegensteht, sofern diese vorbereitenden Maßnahmen der Bedenkzeit nicht ihre praktische Wirksamkeit nehmen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

 Zur ersten Frage

78      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2004/81 mangels einer nationalen Maßnahme zur Umsetzung in das nationale Recht dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Bedenkzeit von Rechts wegen zu dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der betreffende Drittstaatsangehörige den zuständigen nationalen Behörden mitteilt, dass er Opfer des Menschenhandels sei oder gewesen sei, und von Rechts wegen endet, nachdem dieser Drittstaatsangehörige Anzeige mit der Begründung erstattet, dass er Opfer des Menschenhandels gewesen sei, oder aber diesen Behörden mitgeteilt hat, dass er darauf verzichte.

79      Wie aus der in den Rn. 23 bis 30 des vorliegenden Urteils zusammengefassten Schilderung des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens hervorgeht, haben die zuständigen nationalen Behörden im vorliegenden Fall zu keinem Zeitpunkt vor dem Erlass der Überstellungsentscheidung vom 12. August 2019 den Kläger des Ausgangsverfahrens, der zuvor geltend gemacht hatte, Opfer des Menschenhandels gewesen zu sein, und erklärt hatte, deshalb Anzeige erstatten zu wollen und einen der Täter dieser Straftat in einer Aufnahmeeinrichtung in den Niederlanden erkannt zu haben, über die im Rahmen der Richtlinie 2004/81 gebotenen Möglichkeiten einschließlich der Möglichkeit, in den Genuss der in Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Bedenkzeit zu kommen, informiert und ihm keine solche Bedenkzeit eingeräumt.

80      Allerdings ist festzustellen, wie aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervorgeht, dass der Ausgangsrechtsstreit die Rechtmäßigkeit der Entscheidung vom 12. August 2019, den Kläger des Ausgangsverfahrens in Anwendung der Dublin‑III-Verordnung nach Italien zu überstellen, betrifft. Wie in Rn. 77 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, steht die Richtlinie 2004/81 dem Erlass einer Überstellungsentscheidung während der in ihrem Art. 6 Abs. 1 vorgesehenen Bedenkzeit nicht entgegen. Daraus folgt, dass selbst unter der Annahme, dass dem Kläger des Ausgangsverfahrens eine solche Bedenkzeit hätte eingeräumt werden müssen, die von den niederländischen Behörden dadurch begangene Unregelmäßigkeit, dass sie im vorliegenden Fall keine solche Bedenkzeit eingeräumt haben, die Rechtmäßigkeit der vor dem vorlegenden Gericht angefochtenen Überstellungsentscheidung nicht beeinträchtigen könnte, da Art. 6 der Richtlinie 2004/81 es nur nicht zulässt, dass eine solche Entscheidung vollstreckt wird, wenn dem Drittstaatsangehörigen keine Bedenkzeit eingeräumt wurde, auf die er gemäß diesem Art. 6 Anspruch hatte.

81      Aus der vorstehenden Randnummer ergibt sich auch, dass für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Entscheidung vom 12. August 2019 eine Beantwortung der Frage, ab welchem und bis zu welchem Zeitpunkt dem Kläger des Ausgangsverfahrens eine Bedenkzeit hätte eingeräumt werden müssen, für den Gerichtshof bedeuten würde, ein Gutachten zu einer rein hypothetischen Frage abzugeben.

82      Nach ständiger Rechtsprechung ist es aber nicht Sache des Gerichtshofs, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben (Urteile vom 16. Juli 1992, Meilicke, C‑83/91, EU:C:1992:332, Rn. 25, und vom 8. Juni 2017, OL, C‑111/17 PPU, EU:C:2017:436, Rn. 33).

83      Infolgedessen ist festzustellen, dass der Gerichtshof die erste Frage nicht zu beantworten hat.

 Kosten

84      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81/EG des Rates vom 29. April 2004 über die Erteilung von Aufenthaltstiteln für Drittstaatsangehörige, die Opfer des Menschenhandels sind oder denen Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet wurde und die mit den zuständigen Behörden kooperieren,

ist dahin auszulegen, dass

unter den Begriff „Rückführungsentscheidung“ eine Maßnahme fällt, mit der ein Drittstaatsangehöriger in Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, vom Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats überstellt wird.

2.      Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 2004/81

ist dahin auszulegen, dass

er dem entgegensteht, dass eine in Anwendung der DublinIII-Verordnung erlassene Entscheidung über die Überstellung eines Drittstaatsangehörigen während der in Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie garantierten Bedenkzeit vollstreckt wird, aber weder dem Erlass einer solchen Entscheidung noch dem Erlass von Maßnahmen zur Vorbereitung der Vollstreckung dieser Entscheidung entgegensteht, sofern diese vorbereitenden Maßnahmen der Bedenkzeit nicht ihre praktische Wirksamkeit nehmen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Niederländisch.