Language of document : ECLI:EU:C:2022:823

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 20. Oktober 2022(1)

Rechtssache C365/21

MR,

Beteiligte:

Generalstaatsanwaltschaft Bamberg

(Vorabentscheidungsersuchen des Oberlandesgerichts Bamberg [Deutschland])

„Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Art. 54 – Vorbehalt bezüglich der Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem – Art. 55 – Gegen die Sicherheit des Staates oder andere gleichermaßen wesentliche Interessen gerichtete Straftat – Nationale Erklärungen – Vereinbarkeit mit den Art. 50 und 52 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union“






I.      Einleitung

1.        Der Gerichtshof hat sich mehrfach mit Fragen zu dem in Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen (im Folgenden: SDÜ)(2) enthaltenen Grundsatz ne bis in idem befasst, jedoch nur einmal mit der Vereinbarkeit diesen Grundsatz beschränkender Erklärungen, die auf Art. 55 SDÜ gestützt sind. In dieser früheren Rechtssache brauchte der Gerichtshof eine Frage zu diesem Punkt nicht zu beantworten, da es infolge seiner Antwort auf eine andere Frage in derselben Rechtssache nicht mehr erforderlich war, über die Gültigkeit einer Erklärung zu entscheiden(3). Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof Gelegenheit, diese Frage zu klären.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      SDÜ

2.        In Titel III SDÜ („Polizei und Sicherheit“) findet sich u. a. Kapitel 3 („Verbot der Doppelbestrafung“), das die Art. 54 und 55 dieses Übereinkommens enthält. Art. 54 SDÜ bestimmt:

„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“

3.        Art. 55 SDÜ lautet:

„(1)      Eine Vertragspartei kann bei der Ratifikation, der Annahme oder der Genehmigung dieses Übereinkommens erklären, dass sie in einem oder mehreren der folgenden Fälle nicht durch Artikel 54 gebunden ist:

a)      wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde; im letzteren Fall gilt diese Ausnahme jedoch nicht, wenn diese Tat teilweise im Hoheitsgebiet der Vertragspartei begangen wurde, in dem das Urteil ergangen ist;

b)      wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen die Sicherheit des Staates oder andere gleichermaßen wesentliche Interessen dieser Vertragspartei gerichtete Straftat darstellt;

c)      wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, von einem Bediensteten dieser Vertragspartei unter Verletzung seiner Amtspflichten begangen wurde.

(2)      Eine Vertragspartei, die eine solche Erklärung betreffend eine der in Absatz 1 Buchstabe b) genannten Ausnahmen abgibt, bezeichnet die Arten von Straftaten, auf die solche Ausnahmen Anwendung finden können.

(3)      Eine Vertragspartei kann eine solche Erklärung betreffend eine oder mehrere der in Absatz 1 genannten Ausnahmen jederzeit zurücknehmen.

(4)      Ausnahmen, die Gegenstand einer Erklärung nach Absatz 1 waren, finden keine Anwendung, wenn die betreffende Vertragspartei die andere Vertragspartei wegen derselben Tat um Verfolgung ersucht oder die Auslieferung des Betroffenen bewilligt hat.“

4.        Art. 56 SDÜ lautet:

„Wird durch eine Vertragspartei eine erneute Verfolgung gegen eine Person eingeleitet, die bereits durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat rechtskräftig abgeurteilt wurde, so wird jede in dem Hoheitsgebiet der zuletzt genannten Vertragspartei wegen dieser Tat erlittene Freiheitsentziehung auf eine etwa zu verhängende Sanktion angerechnet. Soweit das nationale Recht dies erlaubt, werden andere als freiheitsentziehende Sanktionen ebenfalls berücksichtigt, sofern sie bereits vollstreckt wurden.“

5.        Das SDÜ wurde durch das Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union, das durch den Vertrag von Amsterdam dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft beigefügt ist, in das Unionsrecht einbezogen(4). Später wurde das Protokoll (Nr. 19) über den in den Rahmen der Europäischen Union einbezogenen Schengen-Besitzstand (im Folgenden: Protokoll Nr. 19)(5) dem Vertrag von Lissabon beigefügt.

6.        Art. 7 des Protokolls Nr. 19(6) bestimmt:

„Bei den Verhandlungen über die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten in die Europäische Union gelten der Schengen-Besitzstand und weitere Maßnahmen, welche die Organe im Rahmen seines Anwendungsbereichs getroffen haben, als ein Besitzstand, der von allen Staaten, die Beitrittskandidaten sind, vollständig zu übernehmen ist.“

2.      Rahmenbeschluss 2008/841/JI

7.        Gemäß Art. 2 („Straftaten im Zusammenhang mit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung“) des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität(7) „[trifft jeder Mitgliedstaat … die erforderlichen Maßnahmen, um eine oder beide der folgenden Verhaltensweisen im Zusammenhang mit einer kriminellen Vereinigung als Straftatbestände zu bewerten: a) das Verhalten einer Person, die sich vorsätzlich und in Kenntnis entweder des Ziels und der allgemeinen Tätigkeit der kriminellen Vereinigung oder der Absicht der Vereinigung, die betreffenden Straftaten zu begehen, aktiv an den kriminellen Tätigkeiten der Vereinigung beteiligt, einschließlich durch Bereitstellung von Informationen oder materiellen Mitteln, Anwerbung neuer Mitglieder oder durch jegliche Art der Finanzierung der Tätigkeiten der Vereinigung, und sich bewusst ist, dass diese Beteiligung zur Durchführung der kriminellen Tätigkeiten der Vereinigung beiträgt; b) das Verhalten einer Person, das darin besteht, mit einer oder mehreren Personen eine Vereinbarung über die Ausübung einer Tätigkeit zu treffen, die, falls durchgeführt, der Begehung von in Artikel 1 genannten Straftaten gleichkäme – auch wenn diese Person nicht an der tatsächlichen Durchführung der Tätigkeit beteiligt ist.“

B.      Deutsches Recht

8.        Bei der Ratifikation des SDÜ brachte die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ einen „Vorbehalt“(8) in Bezug auf Art. 54 SDÜ an (BGBl. 1994 II, S. 631), der u. a. vorsieht, dass die Bundesrepublik Deutschland nicht durch Art. 54 SDÜ gebunden ist, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, den Straftatbestand von § 129 Strafgesetzbuch (im Folgenden: StGB) erfüllt.

9.        § 129 StGB („Bildung krimineller Vereinigungen“) lautet in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung:

„(1)      Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder sich an einer Vereinigung als Mitglied beteiligt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren bedroht sind. Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer eine solche Vereinigung unterstützt oder für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt.

(2)      Eine Vereinigung ist ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses.

(5)      In besonders schweren Fällen des Absatzes 1 Satz 1 ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn der Täter zu den Rädelsführern oder Hintermännern der Vereinigung gehört. …“

III. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

10.      Die Generalstaatsanwaltschaft Bamberg – Zentralstelle Cybercrime Bayern – führt u. a. gegen MR, einen israelischen Staatsangehörigen, ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung und des Anlagebetrugs.

11.      Am 8. Dezember 2020 ordnete das Amtsgericht – Ermittlungsrichter – Bamberg gegen MR die Untersuchungshaft an (nationaler Haftbefehl). Als Haftgrund wurde Fluchtgefahr angenommen. Nach Ansicht des Amtsgerichts – Ermittlungsrichter – Bamberg bestand ein dringender Tatverdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung in Tatmehrheit mit gewerbs- und bandenmäßigem Betrug gemäß § 129 Abs. 1, § 129 Abs. 5 Satz 1 und 2, § 263 Abs. 1, § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1, § 263 Abs. 5, § 25 Abs. 2 und § 53 StGB. Am 11. Dezember 2020 erließ das Gericht auf der Grundlage des nationalen Haftbefehls einen Europäischen Haftbefehl.

12.      MR war bereits zuvor durch rechtskräftiges Urteil des Landesgerichts Wien (Österreich) vom 1. September 2020 wegen gewerbsmäßigen schweren Betrugs und wegen Geldwäscherei rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Die durch dieses Urteil verhängte Freiheitsstrafe von vier Jahren wurde von MR inzwischen teilweise verbüßt. Der Rest der Freiheitsstrafe wurde mit Wirkung zum 29. Januar 2021 zur Bewährung ausgesetzt.

13.      MR wurde jedoch am selben Tag mit Beschluss des Landesgerichts Wien vom 29. Januar 2021 aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Amtsgerichts – Ermittlungsrichter – Bamberg in österreichische Haft genommen. Diese Haft endete am 18. Mai 2021. Seitdem befand er sich MR in Abschiebehaft (Ziel: Israel). Nach inoffiziellen Informationen soll er bereits in Israel angekommen sein.

14.      Gegen den nationalen Haftbefehl sowie gegen den auf dessen Grundlage erlassenen Europäischen Haftbefehl legte MR Beschwerde ein. Mit Beschluss vom 8. März 2021 wurden diese Beschwerden vom Landgericht Bamberg (Deutschland) als unbegründet verworfen. Dieses entschied, dass die Aburteilung von MR durch das Landesgericht Wien nur wegen der Betrugsstraftaten zum Nachteil der Geschädigten in Österreich erfolgt sei. Nunmehr werde MR wegen der Betrugsstraftaten zum Nachteil der Geschädigten in Deutschland verfolgt. Da die beiden Beschwerden nicht dieselben Geschädigten beträfen, handele es sich nicht um dieselbe Straftat im Sinne von Art. 54 SDÜ und Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta). Hilfsweise verwies das Landgericht Bamberg auf Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ, da MR in dem bei ihm anhängigen Verfahren wegen einer Straftat nach § 129 StGB verfolgt werde und die Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifikation des SDÜ einen entsprechenden Vorbehalt erklärt habe.

15.      Gegen diesen Beschluss des Landgerichts Bamberg richtete sich die weitere Beschwerde von MR. Mit dieser weiteren Beschwerde ist das vorlegende Gericht befasst, dass für die Zwecke seiner Entscheidungsfindung um Vorabentscheidung ersucht.

16.      Das vorlegende Gericht möchte wissen, ob nach dem Unionsrecht ein Verfolgungshindernis besteht. Wäre dies der Fall, müsste der nationale Haftbefehl aufgehoben werden. Damit verlöre auch der Europäische Haftbefehl seine Grundlage.

17.      Für die Frage, ob ein Verfolgungshindernis besteht, kommt es darauf an, ob MR mit dem deutschen bzw. dem Europäischen Haftbefehl wegen einer Tat verfolgt wird, für die er bereits durch die österreichischen Behörden verfolgt und abgeurteilt wurde.

18.      Dabei ist auf den Sachverhalt abzustellen, der dem deutschen nationalen Haftbefehl zugrunde liegt, sowie auf den Sachverhalt, der dem Urteil des Landesgerichts Wien zugrunde liegt.

19.      In dem nationalen Haftbefehl wird MR zur Last gelegt, zusammen mit weiteren Mittätern einen Komplex von sogenannten Cybertrading-Unternehmen geschaffen und aufrechterhalten zu haben, in welchem die dort für die Kundenakquisition und ‑betreuung angestellten sogenannten Agenten („Conversion agents“ und „Retention agents“) – dem Tatplan entsprechend – aus Callcentern aus dem Ausland, u. a. Bulgarien, heraus gutgläubigen Anlegern (den Kunden) in mehreren europäischen Ländern, darunter Deutschland und Österreich, gewinnversprechende Geldanlagen offerierten. Auf diese Weise veranlassten die Agenten die Anleger zu Einzahlungen, die unmittelbar als Tatbeute vereinnahmt wurden. Den Anlegern wurde dabei unter Einsatz einer speziellen Software ein Anlageverlust vorgegaukelt. Der Gewinn aus der Tatbeute floss – nach Abzug der Sach- und Personalkosten für die Callcenter und die dort tätigen Personen (u. a. die Agenten) – über Umwege, die der Verschleierung der Geldflüsse dienten – an den Beschuldigten MR und seine Mittäter. Die Rolle von MR bestand darin, dass dieser und seine Mittäter den Betrieb organisierten, der Voraussetzung für die einzelnen Betrugshandlungen der Agenten zum Nachteil der jeweils Geschädigten war. MR nahm also ausschließlich Managementaufgaben wahr, während die Agenten in den Callcentern, die je nach Muttersprache der Geschädigten abteilungsmäßig zusammengefasst tätig wurden (für Deutschland und Österreich im sogenannten „German Desk“), von Abteilungsleitern geführt wurden. Insoweit stimmen – nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts – die MR vorgeworfenen Handlungen, die dem deutschen nationalen Haftbefehl und der Verurteilung durch das Landesgericht Wien zugrunde liegen, überein.

20.      Das vorlegende Gericht erläutert, dass nach deutschem Recht kein Verfolgungshindernis bestehe. Darüber hinaus stellt es klar, dass es die Auffassung des Landgerichts Bamberg nicht teile, wonach eine Tatidentität schon wegen der unterschiedlichen Geschädigten ausgeschlossen sei (der deutsche nationale Haftbefehl beziehe sich auf in Deutschland eingetretene Vermögensschäden und deutsche Geschädigte, während das Urteil des Landesgerichts Wien in Österreich eingetretene Schäden und österreichische Geschädigte betreffe). Anders als das Landgericht Bamberg hat das vorlegende Gericht auch Zweifel, ob möglicherweise aufgrund unionsrechtlicher Bestimmungen ein Verfolgungshindernis vorliege.

21.      Da nach nationalem Recht kein Verfolgungshindernis bestehe, komme es allein darauf an, ob ein Verfahrenshindernis aufgrund des in Art. 54 SDÜ sowie Art. 50 der Charta geregelten Grundsatzes ne bis in idem bestehe. Sollte ein solches Verbot bestehen, so wäre weiter zu klären, ob Art. 54 SDÜ noch für das vorliegende Verfahren relevant wäre. Dieser Artikel wäre nicht anwendbar, wenn Art. 55 SDÜ und die insoweit von der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifikation des SDÜ abgegebene Erklärung weiterhin Gültigkeit hätten.

22.      Überdies möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die von der Bundesrepublik Deutschland anlässlich der Ratifikation des SDÜ in Bezug auf § 129 StGB abgegebene Erklärung in diesem Umfang (d. h., wenn die kriminelle Vereinigung ausschließlich Vermögenskriminalität betreibt und darüber hinaus keine politischen, ideologischen, religiösen oder weltanschaulichen Ziele verfolgt) mit Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vereinbar ist.

23.      Vor diesem Hintergrund hat das Oberlandesgericht Bamberg (Deutschland) mit Beschluss vom 4. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Juni 2021, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 55 SDÜ insoweit mit Art. 50 der Charta vereinbar und noch gültig, als er vom Verbot der Doppelverfolgung die Ausnahme zulässt, dass eine Vertragspartei bei der Ratifikation, der Annahme oder der Genehmigung dieses Übereinkommens erklären kann, dass sie nicht durch Art. 54 SDÜ gebunden ist, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen die Sicherheit des Staates oder andere gleichermaßen wesentliche Interessen dieser Vertragspartei gerichtete Straftat darstellt?

2.      Für den Fall, dass Frage 1 bejaht wird:

Stehen die Art. 54 und 55 SDÜ sowie Art. 50 und 52 der Charta einer Auslegung der von der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifikation des SDÜ in Bezug auf § 129 StGB abgegebenen Erklärung durch die deutschen Gerichte dahin gehend entgegen, dass von der Erklärung auch solche kriminellen Vereinigungen – wie die im Ausgangsverfahren vorliegende – erfasst werden, die ausschließlich Vermögenskriminalität betreiben und darüber hinaus keine politischen, ideologischen, religiösen oder weltanschaulichen Ziele verfolgen und auch nicht mit unlauteren Mitteln Einfluss auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft gewinnen wollen?

24.      MR, die österreichische, die französische und die deutsche Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der Sitzung vom 7. Juli 2022 haben diese Verfahrensbeteiligen und die Generalstaatsanwaltschaft Bamberg mündliche Ausführungen gemacht.

IV.    Würdigung

A.      Erste Frage

25.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob eine auf Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ beruhende Erklärung mit Art. 50 und Art. 52 Abs. 1 der Charta vereinbar ist.

26.      Dies gibt Anlass zu einer kurzen Klassifizierung und Kategorisierung von Art. 54 und Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ im Rechtsrahmen der Union.

1.      Art. 54 SDÜ

27.      Der Grundsatz ne bis in idem ist in Art. 54 SDÜ verankert, der bestimmt, dass, wer durch eine Vertragspartei(9) rechtskräftig abgeurteilt worden ist, durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden darf, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.

28.      Der Grundsatz ne bis in idem stellt ein Grundrecht dar, das jeder auf dem Rechtsstaatsprinzip basierenden Rechtsordnung bekannt ist. Dieser Grundsatz diente von Anfang an dazu, den Einzelnen gegen Willkür zu schützen, die darin bestünde, ein und dieselbe Person für dieselbe Tat unter verschiedenen Bezeichnungen mehrmals zu verurteilen(10). In einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der sich durch die Abschaffung von Binnengrenzen auszeichnet, erfüllt er „noch einen anderen Zweck“(11), nämlich die Sicherstellung der Freizügigkeit. Im weiteren Sinne unterfällt er auch dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten: Wenn die Behörden des Mitgliedstaats A in einem Strafverfahren jemanden verurteilt oder freigesprochen haben, sollten diejenigen des Mitgliedstaats B Vertrauen in den Ausgang dieses Verfahrens haben und nicht mehr selbst ein Verfahren einleiten dürfen. In einem solchen Fall wird das einer jeden nationalen Strafrechtsordnung innewohnende Territorialitätsprinzip, wie auch in anderen Bereichen des Unionsrechts üblich, durch die Auswirkungen des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts durchbrochen.

29.      In diesem Sinne hat der Gerichtshof in seiner ersten Entscheidung über den Grundsatz ne bis in idem im SDÜ – welches auch die erste Entscheidung über die Auslegung des SDÜ war –(12) ausgeführt, dass das in Art. 54 SDÜ aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung unabhängig davon, ob es auf zum Strafklageverbrauch führende Verfahren unter oder ohne Mitwirkung eines Gerichts oder auf Urteile angewandt wird, zwingend impliziere, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde(13).

30.      In Bezug auf die Vereinbarkeit von Art. 54 SDÜ mit der Charta hat der Gerichtshof im Urteil Spasic(14) entschieden, dass eine Bestimmung wie Art. 54 SDÜ den Wesensgehalt des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzes ne bis in idem achte(15), gleichwohl jedoch zu prüfen sei, ob die Beschränkung, die mit der Vollstreckungsbedingung in Art. 54 SDÜ verbunden ist, verhältnismäßig ist, was am Maßstab von Art. 52 Abs. 1 der Charta zu beurteilen sei. Der Gerichtshof ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Beschränkung verhältnismäßig sei(16).

31.      In ähnlicher Weise wird in den unverbindlichen, gleichwohl aber aufschlussreichen(17) Erläuterungen zur Charta in Bezug auf Art. 50 ausdrücklich Art. 54 SDÜ als eine der Bestimmungen erwähnt, die unter die horizontale Klausel in Art. 52 Abs. 1 der Charta fallen(18).

2.      Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ – Erklärungen zu Ausnahmen vom Grundsatz ne bis in idem

a)      Allgemeine Erwägungen

32.      Art. 55 Abs. 1 SDÜ lässt eine Reihe von Ausnahmen vom Grundsatz ne bis in idem zu, indem er den Vertragsparteien gestattet, zu erklären, dass sie unter bestimmten Voraussetzungen nicht durch Art. 54 SDÜ gebunden sind. Die Bestimmung sieht vor, dass eine Vertragspartei bei der Ratifikation, der Annahme oder der Genehmigung des SDÜ erklären kann, dass sie in einem oder mehreren der folgenden Fälle nicht durch Art. 54 SDÜ gebunden ist: a) wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde; im letzteren Fall gilt diese Ausnahme jedoch nicht, wenn diese Tat teilweise im Hoheitsgebiet der Vertragspartei begangen wurde, in dem das Urteil ergangen ist, b) wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, eine gegen die Sicherheit des Staates oder andere gleichermaßen wesentliche Interessen dieser Vertragspartei gerichtete Straftat darstellt, und c) wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, von einem Bediensteten dieser Vertragspartei unter Verletzung seiner Amtspflichten begangen wurde.

33.      Gemäß Art. 139 Abs. 1 SDÜ werden die Ratifikations‑, Annahme- oder Genehmigungsurkunden bei der Regierung des Großherzogtums Luxemburg hinterlegt; diese notifiziert die Hinterlegung allen Vertragsparteien.

34.      Seit der durch den Vertrag von Amsterdam erfolgten Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in die Unionsrechtsordnung stellt das SDÜ einen Unionsrechtsakt dar.

35.      Was den rechtlichen Charakter solcher Erklärungen angeht, ist gleich zu Beginn hervorzuheben, dass diese nicht als „Vorbehalte“ im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. d des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge anzusehen sind(19). Dies ergibt sich nicht nur aus dem Umstand, dass das SDÜ seit der Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in die Unionsrechtsordnung als Unionsrechtsakt anzusehen ist, der – per definitionem – keinen Raum für einen „Vorbehalt“ im Sinne des Wiener Übereinkommens lässt, sondern auch aus Art. 137 SDÜ, der „Vorbehalte“ nur im Rahmen von Art. 60 SDÜ zulässt(20). Folglich sollte der Begriff „Erklärung“ anstelle des Begriffs „Vorbehalt“ verwendet werden(21). Eine solche Erklärung ist ausschließlich aus unionsrechtlicher Perspektive zu prüfen, wobei in diesem Zusammenhang ein Rückgriff auf das allgemeine Völkerrecht unangemessen ist.

b)      Vereinbarkeit mit Art. 50 und Art. 52 Abs. 1 der Charta

36.      Sodann stellt sich die Frage – und hierauf zielt das Ersuchen des vorlegenden Gerichts ab –, ob insbesondere eine auf Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ beruhende Erklärung mit der Charta, genauer gesagt mit deren Art. 50 und Art. 52 Abs. 1, vereinbar ist. Eine solche Ausnahme fällt in den Anwendungsbereich der Charta(22), so wie ausdrücklich im SDÜ vorgesehen, welches (inzwischen) ein Unionsrechtsakt ist und Mitgliedstaaten die Beschränkung eines Grundrechts gestattet, wobei diese eine solche Beschränkung notifizieren müssen.

37.      Der Gerichtshof hat sich bislang noch nicht mit der Frage der Vereinbarkeit der in Art. 55 SDÜ vorgesehenen Ausnahmen mit höherrangigem Recht befasst. Im Urteil Kossowski(23) hat er nicht über die Frage entschieden, ob Erklärungen nach Art. 55 Abs. 1 Buchst. a SDÜ – d. h. Erklärungen, dass ein Mitgliedstaat nicht durch Art. 54 SDÜ gebunden ist, wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde(24) – nach der Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in die Unionsrechtsordnung fortgelten, da die Beantwortung dieser Frage in jener Rechtssache in Anbetracht der Antwort des Gerichtshofs auf eine andere Frage nicht mehr erforderlich war. Generalanwalt Bot war allerdings nach eingehender Prüfung zu der Auffassung gelangt, dass die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. a SDÜ vorgesehene Ausnahme „den Wesensgehalt des in Art. 50 der Charta genannten Grundsatzes ne bis in idem verletzt“(25). Auf die Schlussanträge des Generalanwalts Bot werde ich nachstehend zurückkommen(26).

38.      Ausnahmen von dem in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatz sind grundsätzlich möglich, sofern sie den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta genügen(27). Genau wie im oben angeführten Urteil Spasic ist daher zu prüfen, ob die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehene Ausnahme die in Art. 52 Abs. 1 der Charta genannten Kriterien erfüllt.

39.      Nach Art. 52 Abs. 1 der Charta muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

1)      Einschränkung

40.      Eine auf Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ beruhende Erklärung stellt zweifellos eine Einschränkung des Grundrechts ne bis in idem dar, da diese Bestimmung ja gerade bezweckt, dieses Grundrecht unter bestimmten Voraussetzungen zu beschränken.

2)      Gesetzlich vorgesehen

41.      Da die Möglichkeit, Erklärungen abzugeben und somit Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem vorzunehmen, in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ, um den es hier geht, vorgesehen ist, könnte man auf den ersten Blick das Vorliegen einer gesetzlichen Regelung, so wie sie nach Art. 52 Abs. 1 der Charta erforderlich ist, vermuten.

42.      Meines Erachtens ist die Rechtslage jedoch weniger eindeutig, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Die Frage, ob Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ überhaupt noch anwendbar ist, ist nämlich untrennbar mit der Frage verbunden, ob die auf seiner Grundlage abgegebenen Erklärungen anwendbar sind. Anders gesagt: Wenn es nicht möglich ist, sich auf eine Erklärung zu stützen, ist der gesamte in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehene Mechanismus nicht mehr anwendbar.

43.      Die Voraussetzung „gesetzlich vorgesehen“ erfordert nämlich – worauf die österreichische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen zutreffend hinweist – erstens, dass das Gesetz angemessen zugänglich sein muss, d. h., dass es der betroffenen Person möglich sein muss, die auf einen gegebenen Fall anwendbaren rechtlichen Vorschriften zu erkennen und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Bestimmtheit vorherzusehen; zweitens muss das Gesetz so präzise formuliert sein, dass die betroffene Person ihr Verhalten danach einrichten kann(28).

44.      Auf den ersten Blick erfüllt Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ die vorgenannten Voraussetzungen: Er ist klar formuliert und es ist für jedermann erkennbar, dass Mitgliedstaaten Ausnahmen vom Grundsatz ne bis in idem vorsehen können, um die Sicherheit des Staates oder andere gleichermaßen wesentliche Interessen zu schützen. Dennoch haben Gerichte in einigen Mitgliedstaaten (Italien(29) und Griechenland(30)) ersichtlich Zweifel an der Gültigkeit der von ihren jeweiligen Mitgliedstaaten auf Grundlage von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ abgegebenen Erklärungen. Diese Zweifel werden damit begründet, dass die Erklärungen nicht mehr gültig seien, weil Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ nicht mehr angewendet werden sollte.

45.      Was die auf dieser Bestimmung beruhenden Erklärungen der Mitgliedstaaten angeht, stellt sich die Lage nochmals anders dar.

46.      Vorab sei angemerkt, dass nach der Einbeziehung des SDÜ in die Unionsrechtsordnung nur schwer verständlich ist, wie noch an Art. 139 SDÜ festgehalten werden kann, der bestimmt, dass die Ratifikations‑, Annahme- oder Genehmigungsurkunden bei der Regierung des Großherzogtums Luxemburg hinterlegt werden, die die Hinterlegung allen Vertragsparteien notifiziert. Die Bekanntgabe von Ausnahmen von einem Grundrecht, das in der Charta garantiert ist, kann, wenn die Möglichkeit, Ausnahmen vorzunehmen in einem Unionsrechtsakt vorgesehen ist, nicht der Regierung eines Mitgliedstaats überlassen werden, sondern sollte auf Unionsebene erfolgen, vorzugsweise im Amtsblatt. Der Umstand, dass die Erklärungen nicht von der Europäischen Union (sei es im Amtsblatt oder anderswo) veröffentlicht wurden, erschwert die genaue Feststellung, von welchen Vertragsparteien derartige Erklärungen abgegeben wurden.

47.      Was die von Mitgliedstaaten erlassenen Ausnahmen und gegebenenfalls deren Bekanntgabe angeht, fehlt es völlig an der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geforderten Zugänglichkeit und Vorhersehbarkeit. Dies liegt daran, dass sowohl für die Mitgliedstaaten als auch für die Grundrechtsinhaber unklar ist, ob Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ noch Anwendung findet.

48.      Es steht fest, dass acht Mitgliedstaaten(31) (damals „Vertragsparteien“) (Dänemark, Deutschland, Griechenland, Frankreich, Italien, Österreich, Finnland, und Schweden) Erklärungen gemäß Art. 55 Abs. 1 SDÜ abgaben, bevor der Schengen-Besitzstand in die Unionsrechtsordnung einbezogen wurde(32). Die Erklärung Frankreichs ist allerdings niemals beim Depositar (der luxemburgischen Regierung) eingegangen(33). Es gibt auch keinen Nachweis dafür, dass Italien dem Depositar notifiziert hat. Überdies ist nach der Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in die Unionsrechtsordnung offenbar keine einzige Erklärung von einem Mitgliedstaat abgegeben worden(34). Die Beitrittsverträge von 2003, 2005 und 2012 sahen deshalb vor, dass die Bestimmungen des Protokolls Nr. 19 und die darauf aufbauenden oder anderweitig damit zusammenhängenden Rechtsakte ab dem Tag des Beitritts für die neuen Mitgliedstaaten bindend und in ihnen anzuwenden sind(35). Jedoch ist in den Beitrittsverträgen von der Möglichkeit, dass die Mitgliedstaaten Erklärungen abgeben können, von dabei einzuhaltenden Fristen und der Verpflichtung, die Erklärungen beim Depositar zu hinterlegen oder zu veröffentlichen, keine Rede. Dadurch entsteht ein Zustand erheblicher Unsicherheit.

49.      Da keine der Erklärungen auf Unionsebene veröffentlicht wurde, ist das Erfordernis der Zugänglichkeit meines Erachtens nicht erfüllt. Vernünftigerweise kann nicht erwartet werden, dass Personen, die von solchen Erklärungen betroffen sein könnten, selbst auf jeder nationalen Ebene Erkundigungen einziehen, so wie es die französische Regierung in der mündlichen Verhandlung hat erkennen lassen.

50.      Vor dem von mir soeben beschriebenen Hintergrund fällt es mir sehr schwer, die von den acht Mitgliedstaaten abgegebenen Erklärungen als nach wie vor geltendes Recht anzusehen. Die gesamte Situation ist offensichtlich zu unklar und verwirrend, als dass sie Sicherheit bezüglich der Rechtsgrundlage der Einschränkung bieten könnte(36).

51.      Folglich bin ich der Ansicht, dass auf der Grundlage von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ abgegebene Erklärungen mit dem sich aus Art. 52 Abs. 1 der Charta ergebenden Erfordernis, dass eine Beschränkung gesetzlich vorgesehen sein muss, nicht vereinbar sind. Da diese Erklärungen, wie oben aufgezeigt, untrennbar mit Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ verbunden sind, ist der gesamte Mechanismus dieser Bestimmung berührt und durch die nationalen Gerichte nicht mehr anwendbar.

3)      Wesensgehalt des Grundsatzes ne bis in idem

52.      In Bezug auf die Frage, ob Art. 55 Abs. 1 Buchst. b „den Wesensgehalt [des Grundrechts ne bis in idem] achte[t]“, hat der Gerichtshof hinsichtlich der Vollstreckungsbedingung in Art. 54 SDÜ entschieden, dass diese Bedingung „den Grundsatz ne bis in idem als solchen nicht in Frage stellt“(37). Allerdings wird durch die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ enthaltene Ausnahme, ganz ähnlich wie durch die anderen in Art. 55 Abs. 1 SDÜ vorgesehenen Ausnahmen, der Grundsatz an sich sehr wohl in Frage gestellt, da ein Mitgliedstaat erklären kann, in bestimmten Situationen nicht durch diesen Grundsatz gebunden zu sein. Anders als die Vollstreckungsbedingung in Art. 54 SDÜ, die verhindern soll, dass ein rechtskräftig Abgeurteilter der Strafe entgeht, ermöglicht die in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ vorgesehene Ausnahme, worauf MR in seinen schriftlichen Erklärungen hingewiesen hat, eine erneute Strafverfolgung, Aburteilung und Strafvollstreckung trotz rechtskräftig erfolgter und vollstreckter Aburteilung. Dies läuft aber dem Zweck des Grundsatzes ne bis in idem genau zuwider(38).

53.      Des Weiteren möchte ich auf Generalanwalt Bot verweisen, der in diesem Zusammenhang die besondere Bedeutung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts hervorgehoben hat, der als ergänzende Dimension zum Binnenmarkt „einen Rechtsrahmen gewährleistet, der die individuellen Rechte der Unionsbürger enthält“(39) und somit dazu beitrage, dem Begriff der Unionsbürgerschaft eine „konkrete Dimension“(40) zu verleihen. Dabei betonte er auch die grundlegende Bedeutung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung (und des gegenseitigen Vertrauens) im Verhältnis zum Grundsatz ne bis in idem(41). Im Wesentlichen war er der Ansicht, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 54 SDÜ bereits die Berücksichtigung eines breiten Spektrums von Straftaten gestatte; eine zusätzliche Berücksichtigung des Territorialitätsvorbehalts würde den Grundsatz ne bis in idem nicht hinreichend berücksichtigen.

54.      Ich muss gestehen, dass mir diese Begründung nicht nur gefällt, sondern dass ich auch denke, dass sie sich auf Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ übertragen lässt. Die beiden in Art. 55 Abs. 1 Buchst. a und b SDÜ vorgesehenen Ausnahmen beziehen sich auf das dem Strafrecht zugrunde liegende Territorialitätsprinzip: Während es im Fall von Buchst. a darum geht, dass sich ein Staat die strafrechtliche Zuständigkeit vorbehalten möchte, falls die Tat in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde, geht es ihm im Fall von Buchst. b darum, sich die strafrechtliche Zuständigkeit für Taten vorzubehalten, die sich gegen die Sicherheit des Staates oder andere gleichermaßen wesentliche Interessen richten, die ihm besonders wichtig sind. Generalanwalt Bots Erwägungen in der Rechtssache Kossowski sind deshalb im vorliegenden Fall entsprechend anwendbar.

55.      Die Entwicklung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist, seit das SDÜ abgeschlossen wurde, sehr weit vorangekommen. Insbesondere angesichts der schrittweisen Entwicklung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung sowie des Inkrafttretens der Charta halte ich die in Art. 55 Abs. 1 SDÜ vorgesehenen Ausnahmen für überflüssig. Ich möchte auch darauf hinweisen, dass für die Entscheidung des Gerichtshofs, dass die geplante Übereinkunft über den Beitritt zur EMRK nicht mit den Verträgen vereinbar war, der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens maßgeblich war(42). Vor diesem Hintergrund ließe sich die Aufrechterhaltung von Ausnahmen wie der in Rede stehenden, die diesem Grundsatz eindeutig zuwiderläuft, nur schwer rechtfertigen(43).

4)      Ergebnis

56.      Aus allen vorgenannten Gründen bin ich der Ansicht, dass die Erklärungen nicht mehr anwendbar sind. Sie sind nicht gesetzlich vorgesehen; überdies achtet Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ auch nicht den Wesensgehalt des Grundsatzes ne bis in idem. Die Erklärungen sollten daher beerdigt werden.

57.      Ich schlage dem Gerichtshof deshalb vor, die erste Frage dahin zu beantworten, dass auf Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ beruhende Erklärungen nicht mit Art. 50 und Art. 52 Abs. 1 der Charta vereinbar sind. In solchen Erklärungen genannte Bestimmungen können nicht in Gerichtsverfahren angewandt werden.

B.      Zweite Frage

58.      Infolge des Ergebnisses meiner Prüfung der ersten Frage ist die Prüfung der zweiten Frage nicht mehr erforderlich. Die nachstehende Würdigung wird daher lediglich der Vollständigkeit halber für den Fall vorgenommen, dass der Gerichtshof hinsichtlich der ersten Frage zu einem anderen Ergebnis gelangen sollte.

59.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 54 und 55 SDÜ sowie die Art. 50 und 52 der Charta einer Auslegung entgegenstehen, nach der von der Erklärung gemäß Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ auch solche kriminellen Vereinigungen erfasst werden, die ausschließlich Vermögenskriminalität betreiben und darüber hinaus keine politischen, ideologischen, religiösen oder weltanschaulichen Ziele verfolgen und auch nicht mit unlauteren Mitteln Einfluss auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft gewinnen wollen.

60.      In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass der Begriff „Sicherheit des Staates“ in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ von den Vertragsparteien gewählt wurde. Ein ähnlicher Begriff wird in Art. 4 Abs. 2 EUV verwendet, in dem es heißt, dass die Union die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit achtet. Weiter heißt es dort, dass insbesondere die nationale Sicherheit weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten fällt(44).

61.      Der Gerichtshof hat solche die „nationale Sicherheit“ betreffenden Ausnahmen stets sorgfältig von gewöhnlichen Ausnahmen betreffend die „öffentliche Sicherheit“, die aus Gründen der „öffentlichen Ordnung“ (ordre public) gerechtfertigt sind, unterschieden, die vor allem im Bereich des Binnenmarkts vorkommen(45). Er hat entschieden, dass die nationale Sicherheit dem zentralen Anliegen entspreche, die wesentlichen Funktionen des Staates und die grundlegenden Interessen der Gesellschaft zu schützen, und die Verhütung und Repression von Tätigkeiten umfasse, die geeignet sind, die tragenden Strukturen eines Landes im Bereich der Verfassung, Politik oder Wirtschaft oder im sozialen Bereich in schwerwiegender Weise zu destabilisieren und insbesondere die Gesellschaft, die Bevölkerung oder den Staat als solchen unmittelbar zu bedrohen, wie insbesondere terroristische Aktivitäten(46). Das Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit geht über die Ziele der Bekämpfung der Kriminalität im Allgemeinen, auch der schweren Kriminalität, und des Schutzes der öffentlichen Sicherheit hinaus. Bedrohungen der nationalen Sicherheit lassen sich nämlich aufgrund ihrer Art und ihrer besonderen Schwere von der allgemeinen Gefahr des Auftretens selbst schwerer Spannungen oder Störungen im Bereich der öffentlichen Sicherheit unterscheiden. Das Ziel des Schutzes der nationalen Sicherheit ist daher geeignet, Maßnahmen zu rechtfertigen, die schwerere Grundrechtseingriffe enthalten als solche, die mit den übrigen Zielen gerechtfertigt werden könnten(47).

62.      Nach der deutschen Erklärung, die gemäß Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ abgegeben wurde, ist Deutschland in Bezug auf eine Reihe von Straftaten nicht durch Art. 54 SDÜ gebunden, u. a. in Bezug auf § 129 StGB. Nach dieser Vorschrift wird bestraft, wer eine Vereinigung gründet oder unterstützt, deren Zweck oder Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet ist. Seit Deutschland den Rahmenbeschluss 2008/841(48) umgesetzt hat, ist eine „Vereinigung“ als „ein auf längere Dauer angelegter, von einer Festlegung von Rollen der Mitglieder, der Kontinuität der Mitgliedschaft und der Ausprägung der Struktur unabhängiger organisierter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen zur Verfolgung eines übergeordneten gemeinsamen Interesses“ definiert.

63.      In Deutschland besteht, sowohl in der Rechtsprechung als auch in der Rechtslehre, Einigkeit darüber, dass diese Vorschrift, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung (ordre public) schützt(49), die abstrakte Gefahr und erhöhte „kriminelle Intensität“(50) erfassen soll, die in der Gründung einer kriminellen Vereinigung ihren Ausdruck findet. Dies hat zur Folge, dass die Strafandrohung bereits ein Stadium erfasst, das bei (anderen) Straftaten typischerweise noch ein Vorbereitungsstadium darstellt.

64.      § 129 StGB verbietet kriminelle Aktivitäten auch über den recht eng gefassten Bereich des Schutzes der nationalen Sicherheit hinaus. Die Vorschrift erfasst nämlich die Gründung einer Vereinigung zur Begehung jeglicher sonstigen Straftat. Der vorliegende Fall ist ein gutes Beispiel dafür. MR und seine Komplizen begingen Vermögenskriminalität, insbesondere Betrug. Darüber hinaus wurden keine weiteren Zwecke verfolgt oder verwirklicht. Bei einer solchen Sachlage gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass Deutschlands nationale Sicherheit gefährdet wäre. Betrug zum Nachteil einer beachtlichen Anzahl von Menschen ist weit davon entfernt, die Grundfesten der Bundesrepublik Deutschland zu erschüttern(51).

65.      Demzufolge schlage ich dem Gerichtshof vor, die zweite Frage dahin zu beantworten, dass die Art. 54 und 55 SDÜ sowie die Art. 50 und 52 der Charta einer Auslegung entgegenstehen, nach der von der Erklärung gemäß Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ auch solche kriminellen Vereinigungen erfasst werden, die ausschließlich Vermögenskriminalität betreiben und darüber hinaus keine politischen, ideologischen, religiösen oder weltanschaulichen Ziele verfolgen und auch nicht mit unlauteren Mitteln Einfluss auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft gewinnen wollen.

V.      Ergebnis

66.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Oberlandesgerichts Bamberg (Deutschland) wie folgt zu beantworten:

Auf der Grundlage von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen abgegebene Erklärungen sind unvereinbar mit den Art. 50 und Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. In solchen Erklärungen genannte Bestimmungen können nicht in Gerichtsverfahren angewandt werden.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Übereinkommen von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19).


3      Siehe Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483, Rn. 55).


4      ABl. 1997, C 340, S. 93.


5      ABl. 2010, C 83, S. 290.


6      Das denselben Wortlaut hat wie das Protokoll, das dem Vertrag von Amsterdam beigefügt ist.


7      ABl. 2008, L 300, S. 42.


8      Im Englischen: „reservation“.


9      Der Umstand, dass im SDÜ der Begriff „Vertragspartei“ statt „Mitgliedstaat“ verwendet wird, ist dessen zwischenstaatlichem Ursprung geschuldet.


10      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Kossowski (C‑486/14, EU:C:2015:812, Nr. 36).


11      Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Kossowski (C‑486/14, EU:C:2015:812, Nr. 38).


12      Die Entscheidung des Gerichtshofs war auf den früheren Art. 35 Abs. 4 EUV gestützt. Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in den verbundenen Rechtssachen Gözütok und Brügge (C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2002:516, Nr. 2).


13      Vgl. Urteil vom 11. Februar 2003, Gözütok und Brügge (C‑187/01 und C‑385/01, EU:C:2003:87, Rn. 33).


14      Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic (C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586).


15      Vgl. Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic (C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 59).


16      Vgl. Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic (C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 59 ff.).


17      Die Erläuterungen wurden gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta als Anleitung für die Auslegung dieser Charta verfasst und sind von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen.


18      Vgl. die Erläuterung zu Art. 50 – Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden, in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17): „Nach Artikel 50 findet die Regel ‚ne bis in idem‘ nicht nur innerhalb der Gerichtsbarkeit eines Staates, sondern auch zwischen den Gerichtsbarkeiten mehrerer Mitgliedstaaten Anwendung. Dies entspricht dem Rechtsbesitzstand der Union; siehe die Art. 54 bis 58 des Schengener Durchführungsübereinkommens und Urteil des Gerichtshofes vom 11. Februar 2003, Rechtssache C‑187/01 Gözütok (Slg. 2003, I-1345), Artikel 7 des Übereinkommens über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften sowie Artikel 10 des Übereinkommens über die Bekämpfung der Bestechung. Die klar eingegrenzten Ausnahmen, in denen die Mitgliedstaaten nach diesen Übereinkommen von der Regel ‚ne bis in idem‘ abweichen können, sind von der horizontalen Klausel des Art. 52 Abs. 1 über die Einschränkungen abgedeckt. Was die in Art. 4 des Protokolls Nr. 7 bezeichneten Fälle betrifft, nämlich die Anwendung des Grundsatzes in ein und demselben Mitgliedstaat, so hat das garantierte Recht dieselbe Bedeutung und dieselbe Tragweite wie das entsprechende Recht der EMRK.“


19      Geschehen zu Wien am 23. Mai 1969. In Kraft getreten am 27. Januar 1980. Vertragssammlung der Vereinten Nationen, Bd. 1155, S. 331. Nach dieser Bestimmung bedeutet „Vorbehalt“ eine wie auch immer formulierte oder bezeichnete, von einem Staat bei der Unterzeichnung, Ratifikation, Annahme oder Genehmigung eines Vertrags oder bei dem Beitritt zu einem Vertrag abgegebene einseitige Erklärung, durch die der Staat bezweckt, die Rechtswirkung einzelner Vertragsbestimmungen in der Anwendung auf diesen Staat auszuschließen oder zu ändern.


20      Gemäß Art. 60 SDÜ finden zwischen zwei Vertragsparteien, von denen eine keine Partei des Europäischen Auslieferungsübereinkommens vom 13. September 1957 ist, die Bestimmungen jenes Übereinkommens unter Berücksichtigung der Vorbehalte und Erklärungen Anwendung, die entweder bei der Ratifikation jenes Übereinkommens, oder – für Vertragsparteien, die keine Partei des Auslieferungsübereinkommens sind – bei der Ratifikation, Annahme oder Genehmigung dieses Übereinkommens gemacht werden.


21      Es ist anzumerken, dass Deutschland in seinem auf Grundlage von Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ angenommenen Gesetz das Wort „Vorbehalt“ anstelle des Worts „Erklärung“ verwendet.


22      Vgl. Art. 51 Abs. 1 der Charta.


23      Vgl. Urteil vom 29. Juni 2016, Kossowski (C‑486/14, EU:C:2016:483).


24      In letzterem Fall (d. h., wenn die Tat, die dem ausländischen Urteil zugrunde lag, teilweise in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde) gilt diese Ausnahme jedoch nicht, wenn diese Tat teilweise im Hoheitsgebiet der Vertragspartei begangen wurde, in dem das Urteil ergangen ist.


25      Siehe Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Kossowski (C‑486/14, EU:C:2015:812, Nr. 68).


26      Siehe Nr. 55 der vorliegenden Schlussanträge.


27      In diesem Zusammenhang schließe ich mich der von MR vertretenen Auffassung, dass das Recht in Art. 50 der Charta in keiner Weise einschränkbar sei, nicht an.


28      Vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteile vom 26. April 1979 Sunday Times/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:1979:0426JUD000653874), Beschwerde Nr. 6538/74, § 49, und vom 29. März 2010 Medvedyev u. a./Frankreich (CE:ECHR:2010:0329JUD000339403), Beschwerde Nr. 3394/03, §§ 93 ff.


29      Mit Urteil vom 6. Juli 2011 (Walz, RG 12396/927) hat das Tribunale di Milano (Gericht Mailand) entschieden, dass die italienische Erklärung ab dem Zeitpunkt der durch den Vertrag von Amsterdam erfolgten Einbeziehung des SDÜ in das Unionsrecht nicht mehr anwendbar sei. Das Gericht ist der Auffassung, dass insoweit, als die Einbeziehung nicht die von den Mitgliedstaaten abgegebenen Erklärungen betroffen habe, diese Erklärungen mangels ausdrücklicher Erneuerung als nicht mehr wirksam anzusehen seien. Innerhalb der Europäischen Union, die darauf abziele, einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, in dem der freie Personenverkehr garantiert sei, müsse der Grundsatz ne bis in idem in besonders weitgehender Weise angewendet werden, um zu verhindern, dass jemand, der sein Recht auf Freizügigkeit ausübe, für dieselbe Tat im Hoheitsgebiet mehrerer Mitgliedstaat verfolgt werde; folglich seien Abweichungen vom Grundsatz ne bis in idem, wie diejenigen in Art. 55 Abs. 1 SDÜ, nicht mehr gestattet.


30      Mit Urteil 1/2011 vom 9. Juni 2011 wurde von der Ordentlichen Strafkammer des Areios Pagos (Kassationsgerichtshof, Griechenland) festgestellt, dass die von Griechenland abgegebene Erklärung wie auch die von anderen Mitgliedstaaten abgegebenen Erklärungen nicht mehr gültig seien. Die in der griechischen Erklärung vorgesehene Beschränkung sei keine erforderliche Einschränkung im Sinne von Art. 52 Abs. 1 der Charta und entspreche nicht tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen: Angesichts der Identität der Werte und Rechtskulturen der Mitgliedstaaten sei die Verfolgung und Verhängung einer strafrechtlichen Sanktion für die betreffende Straftat nicht erforderlich und könne nicht als von der Union anerkannte, dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung angesehen werden.


31      Zusätzlich zu diesen Mitgliedstaaten gaben Norwegen, Liechtenstein und die Schweiz wie auch das Vereinigte Königreich Erklärungen ab.


32      Dies ergibt sich aus der Gesamtschau der verfügbaren Quellen. Vgl. Gölly, S., „NE BIS IN IDEM“. Das unionsrechtliche Doppelverfolgungsverbot, Wien, 2017, S. 102 bis 151, insbesondere S. 113; Schomburg, W., Wahl, T., in Schomburg, W., Lagodny, O., Gleß, S., Hackner, T., Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., München, 2020, SDÜ Art. 55, Rn. 1a; Arbeitsunterlage der Kommissionsdienststellen (Commission Staff Working Document), Anhang zum Grünbuch über Kompetenzkonflikte und den Grundsatz ne bis in idem in Strafsachen (KOM[2005] 696 endgültig), SEK(2005) 1767, Brüssel, 23. Dezember 2005, S. 47; Note des Ratsvorsitzes für den Ausschuss „Artikel 36“, „Erklärungen der Mitgliedstaaten gemäß Artikel 55 des Schengener Durchführungsübereinkommens“, Brüssel, 1. Juni 2006, Dok. Nr. 10061/06 (COPEN 61, COMIX 514, S. 2).


33      Dies wurde in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof von Frankreich eingeräumt.


34      Art. 8 des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union, das dem Vertrag von Amsterdam beigefügt ist, bestimmt im Wesentlichen, dass der Schengen-Besitzstand von allen Staaten, die Beitrittskandidaten sind, in vollem Umfang zu übernehmen ist.


35      Vgl. beispielsweise Art. 3 der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 2003, L 236, S. 33).


36      Hielte man an der Ausnahme gemäß Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ fest, befänden wir uns überdies in einer Situation, die noch schlimmer wäre als die einer Anwendung des Unionsrechts à la carte: Im Grunde liefe es darauf hinaus, Mitgliedstaaten, die der Union erst später beigetreten sind als andere, „Privilegien“ zu verweigern.


37      Vgl. Urteil vom 27. Mai 2014, Spasic (C‑129/14 PPU, EU:C:2014:586, Rn. 58).


38      Offensichtlich unterscheidet sich diese Situation von derjenigen im Urteil vom 22. März 2022, bpost (C‑117/20, EU:C:2022:202, Rn. 43), in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass die Möglichkeit, Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen zu kumulieren, den Wesensgehalt von Art. 50 der Charta wahre, sofern die nationale Regelung es nicht ermöglicht, denselben Sachverhalt aufgrund desselben Verstoßes oder zur Verfolgung desselben Ziels zu verfolgen und zu ahnden, sondern nur die Möglichkeit einer Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen aufgrund anderer Regelungen vorsieht.


39      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Kossowski (C‑486/14, EU:C:2015:812, Nr. 44).


40      Ebd.


41      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Kossowski (C‑486/14, EU:C:2015:812, Nr. 43).


42      Vgl. Gutachten 2/13 (Beitritt der Europäischen Union zur EMRK) vom 18. Dezember 2014 (EU:C:2014:2454, Rn. 168, 191 bis 194 und 258).


43      Ähnlich wird auch in der Rechtsliteratur hervorgehoben, dass gemäß Art. 55 SDÜ auferlegte Beschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem angesichts der Weiterentwicklung der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Strafsachen überholt seien, weshalb der Freiheit des Einzelnen Vorrang vor dem sich auf die Ausnahme berufenden Staat einzuräumen sei. Vgl. in diesem Sinne Schomburg, W., Wahl, T., in Schomburg, W., Lagodny, O., Gleß, S., Hackner, T., Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., München, 2020, SDÜ Art. 55, Rn. 11, wo pointiert und prägnant ausgeführt wird, dass die gegenseitige Anerkennung keine Einbahnstraße zur Befriedigung der libido puniendi der Mitgliedstaaten sei, sondern auch zugunsten des Einzelnen gelte.


44      Nur am Rande sei bemerkt, dass es in anderen Sprachfassungen des SDÜ – anders als in der englischen („national security“) – keine entsprechende Parallele zwischen der Terminologie in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ (im Französischen „sûreté de l’État“; im Deutschen „Sicherheit des Staates“) und Art. 4 Abs. 2 EUV (im Französischen „sécurité nationale“; im Deutschen „nationale Sicherheit“) festzustellen ist. Allerdings messe ich diesen geringfügigen semantischen Abweichungen keine normative Bedeutung zu.


45      Vgl. z. B. Art. 36, Art. 45 Abs. 3, Art. 52 und Art. 65 Abs. 1 Buchst. b AEUV oder Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) (ABl. 2002, L 201, S. 37).


46      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 135). Vgl. auch Urteil vom 20. September 2022, SpaceNet und Telekom Deutschland (C‑793/19 und C‑794/19, EU:C:2022:702, Rn. 92).


47      Vgl. Urteil vom 6. Oktober 2020, La Quadrature du Net u. a. (C‑511/18, C‑512/18 und C‑520/18, EU:C:2020:791, Rn. 136).


48      Vgl. Vierundfünfzigstes Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität, Gesetz vom 17. Juli 2017, BGBl. 2017 I, S. 2440.


49      Vgl. z. B., Heger, M., in Lackner, K., Kühl, K., Heger, M., Strafgesetzbuch. Kommentar, 29. Aufl., C. H. Beck, München, 2018, § 129, Rn. 1.


50      Vgl. Schäfer, J., Anstötz, S., in  Erb, V., Schäfer, J., Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 3, 4. Aufl., München, 2021, Art. 129, Rn. 2.


51      Überdies gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass die Aktivitäten von MR Auswirkungen auf das deutsche Finanzsystem im Ganzen gehabt hätten. In der mündlichen Verhandlung schien die Kommission der Auffassung zu sein, dass eine Gefährdung des Bestands des Finanzsystems eines Mitgliedstaats einem Interesse, das dem der Sicherheit des Staates in Art. 55 Abs. 1 Buchst. b SDÜ gleichwertig ist, gleichkomme.