Language of document : ECLI:EU:C:2022:971

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

8. Dezember 2022(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 93/13/EWG – Missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen – Unberechtigter Rücktritt des Verbrauchers vom Vertrag – Für missbräuchlich erklärte Klausel, mit der der Anspruch des Gewerbetreibenden auf Ersatz des Schadens festgelegt wird – Anwendung dispositiven nationalen Rechts“

In der Rechtssache C‑625/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Obersten Gerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 22. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Oktober 2021, in dem Verfahren

VB

gegen

GUPFINGER Einrichtungsstudio GmbH

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Richters S. Rodin (Berichterstatter) und der Richterin O. Spineanu-Matei,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von VB, vertreten durch Rechtsanwälte G. Hamminger und S. Langer,

–        der GUPFINGER Einrichtungsstudio GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt S. Glaser,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und N. Ruiz García als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. 1993, L 95, S. 29).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen VB und der GUPFINGER Einrichtungsstudio GmbH (im Folgenden: Gupfinger) über den Ersatz des Schadens, der Letzterer durch den unberechtigten Rücktritt von einem Kaufvertrag entstanden ist.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der 13. Erwägungsgrund der Richtlinie 93/13 lautet:

„Bei Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten, in denen direkt oder indirekt die Klauseln für Verbraucherverträge festgelegt werden, wird davon ausgegangen, dass sie keine missbräuchlichen Klauseln enthalten. Daher sind Klauseln, die auf bindenden Rechtsvorschriften oder auf Grundsätzen oder Bestimmungen internationaler Übereinkommen beruhen, bei denen die Mitgliedstaaten oder die Gemeinschaft Vertragsparteien sind, nicht dieser Richtlinie zu unterwerfen; der Begriff ‚bindende Rechtsvorschriften‘ in Artikel 1 Absatz 2 umfasst auch Regeln, die nach dem Gesetz zwischen den Vertragsparteien gelten, wenn nichts anderes vereinbart wurde.“

4        Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie lautet:

„Vertragsklauseln, die auf bindenden Rechtsvorschriften oder auf Bestimmungen oder Grundsätzen internationaler Übereinkommen beruhen, bei denen die Mitgliedstaaten oder die Gemeinschaft – insbesondere im Verkehrsbereich – Vertragsparteien sind, unterliegen nicht den Bestimmungen dieser Richtlinie.“

5        Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie hat folgenden Wortlaut:

„Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass missbräuchliche Klauseln in Verträgen, die ein Gewerbetreibender mit einem Verbraucher geschlossen hat, für den Verbraucher unverbindlich sind, und legen die Bedingungen hierfür in ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften fest; sie sehen ferner vor, dass der Vertrag für beide Parteien auf derselben Grundlage bindend bleibt, wenn er ohne die missbräuchlichen Klauseln bestehen kann.“

6        Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass im Interesse der Verbraucher und der gewerbetreibenden Wettbewerber angemessene und wirksame Mittel vorhanden sind, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln durch einen Gewerbetreibenden in den Verträgen, die er mit Verbrauchern schließt, ein Ende gesetzt wird.“

 Österreichisches Recht

7        § 921 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs vom 11. Juni 1811 in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: ABGB) bestimmt:

„Der Rücktritt vom Vertrage lässt den Anspruch auf Ersatz des durch verschuldete Nichterfüllung verursachten Schadens unberührt. Das bereits empfangene Entgelt ist auf solche Art zurückzustellen oder zu vergüten, dass kein Teil aus dem Schaden des anderen Gewinn zieht.“

 Vorgeschichte des Rechtsstreits und Vorlagefragen

8        Am 12. November 2017 verkaufte Gupfinger an VB eine Einbauküche zum Preis von 10 924,70 Euro.

9        Der Kaufvertrag beruhte auf den Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Gupfinger, deren Punkt V vorsah, dass dieses Unternehmen, wenn der Kunde, ohne dazu berechtigt zu sein, vom Vertrag zurücktritt oder dessen Aufhebung begehrt, entweder die Erfüllung des Vertrags verlangen oder dessen Aufhebung zustimmen kann, und dass im letzteren Fall der Käufer verpflichtet ist, Gupfinger nach ihrer Wahl Schadenersatz in Höhe eines pauschal auf 20 % des Verkaufspreises festgelegten Betrags oder in Höhe des tatsächlich entstandenen Schadens zu zahlen (im Folgenden: streitige Klausel).

10      Am 28. November 2017 trat VB vom Kaufvertrag zurück, weil er jenes Haus nicht erwerben konnte, für das die Küche bestimmt war.

11      Am 14. Mai 2018 brachte Gupfinger eine Klage ein, mit der sie die Verurteilung von VB zur Zahlung von 5 270,60 Euro als vertraglichen Schadenersatz entsprechend dem entgangenen Gewinn begehrte. Der Anspruch wurde nicht auf die Bedingungen des Kaufvertrags, sondern auf die Bestimmungen des ABGB gestützt.

12      VB wandte die Missbräuchlichkeit der streitigen Klausel ein. Da diese vorsieht, dass der Verkäufer im Fall des unberechtigten Rücktritts die Möglichkeit hat, entweder Ersatz des ihm entstandenen Schadens oder einen pauschalierten Schadenersatz in Höhe von 20 % des Kaufpreises zu verlangen, macht VB geltend, dass die Missbräuchlichkeit dieser Klausel dazu führe, dass seine Haftung auf Zahlung höchstens dieses pauschalierten Schadenersatzes beschränkt sei.

13      Das Gericht des ersten Rechtszugs entschied, dass die streitige Klausel missbräuchlich sei, lehnte es jedoch ab, sie für nichtig zu erklären, mit der Begründung, dass die Nichtigerklärung der Klausel für VB nachteilig wäre. Bei Nichtigerklärung der streitigen Klausel wäre VB nämlich verpflichtet gewesen, Gupfinger gemäß dem ABGB nicht in Höhe des vertraglichen Schadenersatzes von 20 % des Verkaufspreises, sondern in Höhe des gesamten Schadens zu entschädigen, d. h. eines Wertes, der fast die Hälfte des Verkaufspreises ausmache. Dementsprechend verurteilte dieses Gericht VB zur Zahlung von 2 184,94 Euro, was 20 % des Verkaufspreises entspricht.

14      Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung ab und verurteilte VB zum Ersatz des gesamten Schadens mit der Begründung, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 es einem nationalen Gericht nicht verwehre, eine missbräuchliche Klausel, die es für nichtig erklärt habe, in Anwendung vertragsrechtlicher Grundsätze durch eine dispositive Vorschrift des nationalen Rechts zu ersetzen.

15      Gegen diese Entscheidung erhob VB beim Obersten Gerichtshof (Österreich), dem vorlegenden Gericht, Revision. Dieses Gericht führt aus, dass nach seiner eigenen Rechtsprechung eine Klausel, die zugunsten eines gewerblichen Verkäufers eine pauschale Stornogebühr in Höhe von 20 % des Kaufpreises vorsehe, als missbräuchlich einzustufen sei. Andererseits habe nach § 921 ABGB die Partei, die durch die verschuldete Nichterfüllung des Vertrags einen Schaden erleide, Anspruch auf vollen Ersatz des daraus entstehenden Schadens. In Anwendung dieser Bestimmung des ABGB hätte die Nichtigerklärung der missbräuchlichen Klausel somit zur Folge, dass die Beschränkung der Haftung von VB auf den pauschalierten Schadenersatz von 20 % des Verkaufspreises beseitigt würde. Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob eine solche Lösung mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung der Richtlinie 93/13 vereinbar ist.

16      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts kann für den Fall, dass der Vertrag nach der Nichtigerklärung einer missbräuchlichen Klausel nicht fortbestehen kann, die für nichtig erklärte Klausel durch eine Vorschrift des dispositiven Rechts ersetzt werden, wenn sich die Nichtigerklärung der Klausel nachteilig auf die Rechtssituation des Verbrauchers auswirken würde. So gehe aus dem Urteil vom 27. Januar 2021, Dexia Nederland (C‑229/19 und C‑289/19, EU:C:2021:68), hervor, dass ein Gewerbetreibender, der als Verkäufer einem Verbraucher eine Klausel auferlegt habe, die vom nationalen Gericht wegen ihrer Missbräuchlichkeit für nichtig erklärt worden sei, wenn der Vertrag ohne diese Klausel fortbestehen könne, keinen Anspruch auf die gesetzliche Entschädigung habe, die in einer dispositiven Vorschrift des nationalen Rechts vorgesehen sei, die ohne diese Klausel anwendbar gewesen wäre. Das vorlegende Gericht hält es im Ausgangsverfahren für möglich, die dispositiven Vorschriften des nationalen Rechts nicht anzuwenden. Allerdings fragt sich dieses Gericht, ob ein solches Ergebnis, das dazu führen würde, dass ein Verbraucher von der Verpflichtung zum Ersatz des Schadens befreit würde,
den er durch den unberechtigten Rücktritt vom Vertrag verursacht hat, der Systematik und den Werten des Zivilrechts widerspricht, die auf einem gerechten Ausgleich der Interessen der Vertragsparteien beruhen.

17      Darüber hinaus bezweifelt das vorlegende Gericht, dass die im Urteil vom 27. Januar 2021, Dexia Nederland (C‑229/19 und C‑289/19, EU:C:2021:68), angestellten Erwägungen auf den Ausgangsrechtsstreit übertragbar sind, da der Anspruch von Gupfinger auf Ersatz des durch den unberechtigten Rücktritt vom Kaufvertrag seitens VB verursachten Schadens nicht auf die streitige Klausel, sondern auf § 921 ABGB gestützt werde. Vor diesem Hintergrund könne die Anwendung dieser Bestimmung des ABGB nicht ausgeschlossen werden, unabhängig von der Missbräuchlichkeit des pauschalierten Schadenersatzes in Höhe von 20 % des Verkaufspreises. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts wäre eine solche Lösung nicht unvereinbar mit der Verpflichtung, das Vorliegen einer missbräuchlichen Klausel von Amts wegen zu prüfen, da sich diese Verpflichtung nur auf die Klauseln beziehe, die im Hinblick auf den Anspruch, mit dem das nationale Gericht befasst sei, relevant seien.

18      Das vorlegende Gericht weist zwar auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hin, wonach das nationale Gericht den Vertrag nicht durch Abänderung des Inhalts einer missbräuchlichen Klausel anpassen darf, hat allerdings Zweifel, ob diese Rechtsprechung auf eine teilbare Klausel anwendbar ist.

19      Vor diesem Hintergrund hat der Oberste Gerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 so auszulegen, dass bei der Prüfung eines vertraglichen Schadenersatzanspruchs des Unternehmers gegenüber dem Verbraucher, den jener auf einen unberechtigten Vertragsrücktritt des Verbrauchers stützt, die Anwendung von dispositivem nationalen Recht bereits dann ausgeschlossen ist, wenn in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Unternehmers eine missbräuchliche Klausel enthalten ist, die dem Unternehmer neben den Vorschriften des dispositiven nationalen Rechts gegen einen vertragsbrüchigen Verbraucher wahlweise einen pauschalierten Schadenersatzanspruch zubilligt?

Für den Fall der Bejahung der Frage 1:

2.      Ist eine solche Anwendung von dispositivem nationalen Recht auch dann ausgeschlossen, wenn der Unternehmer seine Schadenersatzforderung gegenüber dem Verbraucher nicht auf die Klausel stützt?

Für den Fall der Bejahung der Fragen 1 und 2:

3.      Widerspricht es den genannten unionsrechtlichen Bestimmungen, dass bei einer Klausel, die mehrere Regelungen (etwa alternative Sanktionen bei einem unberechtigten Vertragsrücktritt) enthält, jene Teile der Klausel im Vertragsverhältnis aufrecht bleiben, die ohnedies dem dispositiven nationalen Recht entsprechen und nicht als missbräuchlich zu qualifizieren sind?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur Zulässigkeit

20      Die Europäische Kommission macht geltend, dass, da der Anspruch, mit dem das vorlegende Gericht befasst sei, nicht auf eine missbräuchliche Klausel, sondern auf § 921 ABGB gestützt werde, die Antworten auf die Vorlagefragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erforderlich seien.

21      Auch wenn eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat, kann der Gerichtshof die Entscheidung über ein Ersuchen eines nationalen Gerichts verweigern, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 8. Juni 2016, Hünnebeck, C‑479/14, EU:C:2016:412, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Ferner muss das nationale Gericht die Missbräuchlichkeit einer Vertragsklausel, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 93/13 fällt, von Amts wegen prüfen und damit dem Ungleichgewicht zwischen dem Verbraucher und dem Gewerbetreibenden abhelfen, sobald es über die hierzu erforderlichen rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen verfügt (Urteil vom 21. Dezember 2016, Gutiérrez Naranjo u. a., C‑154/15, C‑307/15 und C‑308/15, EU:C:2016:980, Rn. 58).

23      Für die volle Effektivität des von der genannten Richtlinie vorgesehenen Schutzes ist es nämlich erforderlich, dass das nationale Gericht, das von Amts wegen die Missbräuchlichkeit einer Klausel festgestellt hat, alle Konsequenzen aus dieser Feststellung ziehen kann, ohne abwarten zu müssen, dass der Verbraucher nach dem Hinweis auf seine Rechte erklärt, dass er die Nichtigerklärung dieser Klausel begehrt (Urteil vom 21. Dezember 2016, Gutiérrez Naranjo u. a., C‑154/15, C‑307/15 und C‑308/15, EU:C:2016:980, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24      Insoweit geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen hervor, dass zum einen feststeht, dass die streitige Klausel in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Kaufvertrag enthalten ist. Des Weiteren hat das vorlegende Gericht Zweifel, was die zutreffende Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs anbelangt. Zum anderen geht aus diesen Unterlagen auch hervor, dass VB vor den nationalen Gerichten den Klagegrund der Missbräuchlichkeit der streitigen Klausel, die in dem betreffenden Kaufvertrag enthalten ist, geltend machte.

25      Da das vorlegende Gericht die Auswirkungen einer die zivilrechtliche Haftung eines Verbrauchers betreffenden missbräuchlichen Klausel, die diesem Verbraucher vom Verkäufer auferlegt wurde, auf dessen auf Schadenersatz gerichtete Klage zu bestimmen hat, kann daher nicht angenommen werden, dass die Vorlagefragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits offensichtlich unerheblich sind.

26      Das Vorabentscheidungsersuchen ist somit zulässig.

 Zur Beantwortung der Fragen

27      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen sind, dass sie, wenn eine Schadenersatzklausel in einem Kaufvertrag für missbräuchlich und folglich nichtig erklärt worden ist, und der Vertrag ohne diese Klausel gleichwohl fortbestehen kann, dem entgegenstehen, dass der gewerbliche Verkäufer, der diese Klausel auferlegt hat, im Rahmen einer Schadenersatzklage, die ausschließlich auf eine dispositive Vorschrift des nationalen Schuldrechts gestützt wird, Schadenersatz – wie er in dieser Vorschrift, die ohne die genannte Klausel anwendbar gewesen wäre, vorgesehen ist – verlangen kann.

28      Für die Beantwortung dieser Frage ist darauf hinzuweisen, dass Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13, insbesondere der zweite Halbsatz, nicht darauf abzielt, die Nichtigkeit sämtlicher Verträge herbeizuführen, die missbräuchliche Klauseln enthalten, sondern darauf, die nach dem Vertrag bestehende formale Ausgewogenheit der Rechte und Pflichten der Vertragsparteien durch eine materielle Ausgewogenheit zu ersetzen und so ihre Gleichheit wiederherzustellen, wobei der betreffende Vertrag – abgesehen von der Änderung, die sich aus dem Wegfall der missbräuchlichen Klauseln ergibt – grundsätzlich unverändert bestehen bleiben muss. Sofern die letztere Bedingung erfüllt ist, kann der betreffende Vertrag nach Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 bestehen bleiben, soweit ein solcher Fortbestand des Vertrags ohne die missbräuchlichen Klauseln nach den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts rechtlich möglich ist, was anhand eines objektiven Ansatzes zu prüfen ist (Urteil vom 8. September 2022, D.B.P. u. a. [Auf eine Fremdwährung lautendes Hypothekendarlehen], C‑80/21 bis C‑82/21, EU:C:2022:646, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29      Die ausnahmsweise bestehende Möglichkeit, eine für nichtig erklärte missbräuchliche Klausel durch eine dispositive nationale Vorschrift zu ersetzen, ist auf Fälle beschränkt, in denen die Streichung dieser missbräuchlichen Klausel den Richter zwingen würde, den Vertrag in seiner Gesamtheit für unwirksam zu erklären, was für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen hätte, so dass dieser dadurch geschädigt würde (Urteil vom 8. September 2022, D.B.P. u. a. [Auf eine Fremdwährung lautendes Hypothekendarlehen], C‑80/21 bis C‑82/21, EU:C:2022:646, Rn. 67 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Demnach kann das nationale Gericht, wenn ein Vertrag nach der Streichung der missbräuchlichen Klauseln in Kraft bleiben kann, diese Klauseln nicht durch eine dispositive nationale Vorschrift ersetzen (Urteil vom 8. September 2022, D.B.P. u. a. [Auf eine Fremdwährung lautendes Hypothekendarlehen], C‑80/21 bis C‑82/21, EU:C:2022:646, Rn. 68).

31      Daraus folgt namentlich, dass ein Gewerbetreibender, der einem Verbraucher eine Klausel auferlegt hat, die vom nationalen Gericht für missbräuchlich und folglich nichtig erklärt worden ist, wenn der Vertrag ohne diese Klausel fortbestehen kann, keinen Anspruch auf die Entschädigung hat, die in einer dispositiven Vorschrift des nationalen Rechts vorgesehen ist, die ohne diese Klausel anwendbar gewesen wäre (Urteil vom 27. Januar 2021, Dexia Nederland, C‑229/19 und C‑289/19, EU:C:2021:68, Rn. 67).

32      Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts hervor, dass die streitige Klausel für den Fall eines unberechtigten Rücktritts des Käufers vom Vertrag vorsieht, dass der Verkäufer die Wahl hat zwischen einem pauschalierten Schadenersatz in Höhe von 20 % des Kaufpreises und dem vollständigen Ersatz des durch den unberechtigten Rücktritt verursachten Schadens. Nach Ansicht dieses Gerichts stellt die erste dieser Alternativen den missbräuchlichen Bestandteil der streitigen Klausel dar, während die zweite Alternative die Bestimmungen von § 921 ABGB widerspiegelt.

33      Insoweit ist vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Beurteilungen festzustellen, dass eine Klausel wie die streitige insgesamt missbräuchlich ist. Eine solche Klausel begründet nämlich ein erhebliches Ungleichgewicht zwischen den Rechten und Pflichten der Parteien zum Nachteil des Verbrauchers, da sie dem gewerblichen Verkäufer eine Wahlmöglichkeit einräumt, die es ihm im Fall der seinem Vertragspartner zuzurechnenden Vertragsauflösung ermöglicht, eine Entschädigung in Höhe des ihm entstandenen Schadens zu erhalten, wenn dieser sich auf mehr als 20 % des Vertragswerts beläuft, oder in Höhe von 20 % dieses Werts, wenn der ihm tatsächlich entstandene Schaden geringer ist. Der Mechanismus einer solchen Klausel ist aufgrund der Möglichkeit, die sich der Gewerbetreibende vorbehält und die es ihm ermöglicht, eine Entschädigung zu verlangen, die den ihm tatsächlich entstandenen Schaden übersteigen kann, missbräuchlich.

34      Daher ist eine solche Klausel unteilbar und muss als Ganzes für nichtig erklärt werden. Es ist somit unerheblich, dass eine der Alternativen, die sie vorsieht, einer dispositiven Vorschrift des nationalen Rechts über den Ersatz des Schadens entspricht, der sich aus dem unberechtigten Rücktritt von einem Vertrag ergibt, unabhängig davon, dass bei dieser Vorschrift angenommen wird, dass sie eine ausgewogene Regelung aller Rechte und Pflichten der Parteien darstellt und daher nach Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 93/13 von deren Anwendungsbereich ausgenommen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Mai 2022, Zagrebačka banka, C‑567/20, EU:C:2022:352, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung). Es ist auch unerheblich, dass die andere Alternative für sich genommen eine missbräuchliche Klausel darstellen kann.

35      Folglich wird das vorlegende Gericht nach Maßgabe der in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung zu prüfen haben, ob der Fortbestand des Kaufvertrags nach Streichung der streitigen Klausel rechtlich möglich ist.

36      Wenn dies der Fall ist, kann das nationale Gericht die streitige Klausel, wie aus Rn. 30 des vorliegenden Urteils hervorgeht, nicht durch eine dispositive nationale Vorschrift ersetzen.

37      Insbesondere kann in diesem Fall, wie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ein Gewerbetreibender, der dem Verbraucher eine missbräuchliche Schadenersatzklausel auferlegt hat, nicht den Schadenersatz beanspruchen, den eine dispositive Vorschrift des nationalen Rechts vorsieht, die ohne diese Klausel anwendbar gewesen wäre.

38      Die Möglichkeit, eine missbräuchliche Klausel durch eine dispositive Vorschrift des nationalen Rechts zu ersetzen, ist nämlich, wie sich aus der in Rn. 29 des vorliegenden Urteils angeführten ständigen Rechtsprechung ergibt, auf Situationen beschränkt, in denen die Nichtigerklärung dieser missbräuchlichen Klausel zur Unwirksamkeit des Vertrags führen würde, die für den Verbraucher besonders nachteilige Folgen hätte, so dass dieser dadurch geschädigt würde.

39      Außerdem ist unerheblich, dass die Nichtigerklärung der missbräuchlichen Schadenersatzklausel zur Folge hat, dass der Verbraucher von jeglicher Schadenersatzpflicht befreit ist. Aus den Rn. 64 und 67 des Urteils vom 27. Januar 2021, Dexia Nederland (C‑229/19 und C‑289/19, EU:C:2021:68), ergibt sich nämlich, dass, wenn ein Vertrag eine missbräuchliche Schadenersatzklausel enthält, die Unmöglichkeit, diese durch eine dispositive Vorschrift des nationalen Rechts zu ersetzen, die Erreichung des langfristigen Ziels von Art. 7 der Richtlinie 93/13 sicherstellen soll, das darin besteht, der Verwendung missbräuchlicher Klauseln ein Ende zu setzen, indem der Abschreckungseffekt aufrechterhalten wird, der darin besteht, dass diese Klauseln schlicht unangewendet bleiben. Art und Bedeutung des öffentlichen Interesses, auf dem der Schutz, der den Verbrauchern gewährt wird, beruht und gemäß dem die Richtlinie 93/13 die Mitgliedstaaten verpflichtet, angemessene und wirksame Mittel vorzusehen, damit der Verwendung missbräuchlicher Klauseln ein Ende gesetzt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juni 2012, Banco Español de Crédito, C‑618/10, EU:C:2012:349, Rn. 68), rechtfertigen eine solche Konsequenz. Daher kann sich ein Gewerbetreibender, der das vertragliche Gleichgewicht durch Auferlegung einer missbräuchlichen Klausel gestört hat, nicht auf dieses Gleichgewicht berufen, um den Folgen der Ungültigerklärung dieser Klausel zu entgehen.

40      Es ist auch unerheblich, dass der Gewerbetreibende, der eine missbräuchliche Schadenersatzklausel auferlegt hat, seine Schadenersatzklage auf eine dispositive Vorschrift des nationalen Rechts stützt und nicht auf den Teil dieser Klausel, der dieser Vorschrift entspricht. Die Durchführung der in Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 vorgesehenen Folgen kann nämlich nicht von den prozessualen Entscheidungen dieses Gewerbetreibenden abhängen.

41      Das vorlegende Gericht wird jedoch zunächst die konkreten Umstände des vorliegenden Falls entsprechend den Rn. 33 und 35 des vorliegenden Urteils zu prüfen haben.

42      Nach alledem sind Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13 dahin auszulegen, dass sie, wenn eine Schadenersatzklausel in einem Kaufvertrag für missbräuchlich und folglich nichtig erklärt worden ist, und der Vertrag ohne diese Klausel gleichwohl fortbestehen kann, dem entgegenstehen, dass der gewerbliche Verkäufer, der diese Klausel auferlegt hat, im Rahmen einer Schadenersatzklage, die ausschließlich auf eine dispositive Vorschrift des nationalen Schuldrechts gestützt wird, Schadenersatz – wie er in dieser Vorschrift, die ohne die genannte Klausel anwendbar gewesen wäre, vorgesehen ist – verlangen kann.

 Kosten

43      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen

sind dahin auszulegen, dass sie,

wenn eine Schadenersatzklausel in einem Kaufvertrag für missbräuchlich und folglich nichtig erklärt worden ist, und der Vertrag ohne diese Klausel gleichwohl fortbestehen kann, dem entgegenstehen, dass der gewerbliche Verkäufer, der diese Klausel auferlegt hat, im Rahmen einer Schadenersatzklage, die ausschließlich auf eine dispositive Vorschrift des nationalen Schuldrechts gestützt wird, Schadenersatz – wie er in dieser Vorschrift, die ohne die genannte Klausel anwendbar gewesen wäre, vorgesehen ist – verlangen kann.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Deutsch.