Language of document : ECLI:EU:C:2023:57

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

31. Januar 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Europäischer Haftbefehl – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Vollstreckungsvoraussetzungen – Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde – Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Recht auf Zugang zu einem zuvor durch Gesetz errichteten Gericht – Möglichkeit der Ausstellung eines neuen Europäischen Haftbefehls, der gegen dieselbe Person gerichtet ist“

In der Rechtssache C‑158/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) mit Entscheidung vom 9. März 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 11. März 2021, in dem Strafverfahren gegen

Lluís Puig Gordi,

Carles Puigdemont Casamajó,

Antoni Comín Oliveres,

Clara Ponsatí Obiols,

Meritxell Serret Aleu,

Marta Rovira Vergés,

Anna Gabriel Sabaté,

Beteiligte:

Ministerio Fiscal,

Abogacía del Estado,

Partido político VOX,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi sowie der Richter M. Ilešič, J.‑C. Bonichot, N. Piçarra, I. Jarukaitis, A. Kumin, N. Jääskinen und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. April 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Puig Gordi, vertreten durch S. Bekaert, Advocaat, und G. Boyé Tuset, Abogado,

–        von Herrn Puigdemont Casamajó, vertreten durch G. Boyé Tuset, Abogado,

–        von Herrn Comín Oliveres, vertreten durch G. Boyé Tuset, J. Costa Rosselló und I. Elbal, Abogados,

–        von Herrn Ponsatí Obiols, vertreten durch G. Boyé Tuset und I. Elbal Sánchez, Abogados,

–        von Frau Rovira Vergés, vertreten durch A. Van den Eynde Adroer, Abogado,

–        von Frau Gabriel Sabaté, vertreten durch B. Salellas Vilar, Abogado,

–        des Ministerio Fiscal, vertreten durch F. A. Cadena Serrano, C. Madrigal Martínez-Pereda, J. Moreno Verdejo und J. A. Zaragoza Aguado, Fiscales,

–        des Partido político VOX, vertreten durch M. Castro Fuertes, Abogada, und M. P. Hidalgo López, Procuradora,

–        der spanischen Regierung, vertreten durch S. Centeno Huerta, A. Gavela Llopis und J. Ruiz Sánchez als Bevollmächtigte,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte im Beistand von F. Matthis und B. Renson, Avocats,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und A. Wellman als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Baquero Cruz und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Juli 2022,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

2        Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Lluís Puig Gordi, Herrn Carles Puigdemont Casamajó, Herrn Antoni Comín Oliveres, Frau Clara Ponsatí Obiols, Frau Meritxell Serret Aleu, Frau Marta Rovira Vergés und Frau Anna Gabriel Sabaté.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 6, 8 und 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:

„(6)      Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

(8)      Entscheidungen zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls müssen ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss.

(12)      Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union …, insbesondere in deren Kapitel VI, zum Ausdruck kommen. Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann.

…“

4        Art. 1 dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

„(1)      Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)      Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)      Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“

5        In den Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses werden Gründe für die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls genannt.

6        Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses sieht vor:

„Ausstellende Justizbehörde ist die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedstaats, die nach dem Recht dieses Staats für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zuständig ist.“

7        Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584 erläutert die Informationen, die ein Europäischer Haftbefehl enthalten muss, und stellt klar, dass dieser in die Amtssprache oder eine der Amtssprachen des Vollstreckungsstaats zu übersetzen ist.

8        Art. 15 Abs. 2 bis 3 des Rahmenbeschlusses lautet:

„(2)      Ist die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, so bittet sie um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen …

(3)      Die ausstellende Justizbehörde kann der vollstreckenden Justizbehörde jederzeit alle zusätzlichen sachdienlichen Informationen übermitteln.“

 Belgisches Recht

9        Art. 4 der Loi du 19 décembre 2003 relative au mandat d’arrêt européen (Gesetz vom 19. Dezember 2003 über den Europäischen Haftbefehl) (Moniteur belge vom 22. Dezember 2003, S. 60075) bestimmt in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung:

„Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wird in folgenden Fällen abgelehnt:

5.      wenn ernsthafte Gründe vorliegen, anzunehmen, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls die Grundrechte der betreffenden Person, wie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union bestimmt, gefährden könnte.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10      Im Rahmen des Ausgangsstrafverfahrens wurden vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien), dem vorlegenden Gericht, am 14. Oktober 2019 gegen Herrn Puigdemont Casamajó und am 4. November 2019 gegen Herrn Comín Oliveres, Herrn Puig Gordi und Frau Ponsatí Obiols Europäische Haftbefehle erlassen.

11      Das Königreich Belgien leitete Verfahren zur Vollstreckung der gegen Herrn Puigdemont Casamajó, Herrn Comín Oliveres und Herrn Puig Gordi erlassenen Europäischen Haftbefehle ein.

12      Diese Verfahren wurden ausgesetzt, soweit sie Herrn Puigdemont Casamajó und Herrn Comín Oliveres betrafen, nachdem diese Mitglieder des Europäischen Parlaments geworden waren.

13      Mit Beschluss vom 7. August 2020 lehnte die Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg te Brussel (niederländischsprachiges Gericht Erster Instanz von Brüssel, Belgien) die Vollstreckung des gegen Herrn Puig Gordi erlassenen Europäischen Haftbefehls ab.

14      Das vorlegende Gericht erläutert, diese Entscheidung sei darauf gestützt gewesen, dass es für die Entscheidung über die strafrechtliche Verfolgung von Herrn Puig Gordi und damit für den Erlass dieses Europäischen Haftbefehls nicht zuständig gewesen sei. Die Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg te Brussel (niederländischsprachiges Gericht Erster Instanz von Brüssel) habe unter Verweis auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Begriff „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584, auf die Erwägungsgründe 8 und 12 des Rahmenbeschlusses, auf das Urteil des EGMR vom 2. Juni 2005, Claes u. a./Belgien (CE:ECHR:2005:0602JUD004682599), und auf die belgischen Rechtsvorschriften die Auffassung vertreten, dass es zu diesem Zweck über die Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde, also des vorlegenden Gerichts, befinden könne. Es habe deren Zuständigkeit unter Bezugnahme auf Stellungnahmen der Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen (im Folgenden: WGAD) vom 25. April und vom 13. Juni 2019, die Urteile des EGMR vom 22. Juni 2000, Coëme u. a./Belgien (CE:ECHR:2000:0622JUD003249296), und vom 2. Juni 2005, Claes u. a./Belgien (CE:ECHR:2005:0602JUD004682599), den zwölften Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses sowie Bestimmungen des belgischen und des spanischen Rechts verneint.

15      Die belgische Staatsanwaltschaft legte gegen den in Rn. 13 des vorliegenden Urteils genannten Beschluss vom 7. August 2020 bei der Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel, Belgien) Berufung ein, die mit Urteil vom 7. Januar 2021 zurückgewiesen wurde.

16      Dem vorlegenden Gericht zufolge bezieht sich dieses letztgenannte Urteil auf einen Bericht der WGAD vom 27. Mai 2019, auf die in Rn. 14 des vorliegenden Urteils genannten Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie auf ein Dokument über die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts, das auf Antrag der belgischen Staatsanwaltschaft von einem Richter der Strafkammer dieses letztgenannten Gerichts vorgelegt worden sei. Auf der Grundlage dieser Informationen habe die Cour d’appel de Bruxelles (Appellationshof Brüssel) entschieden, dass die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts zur Verurteilung von Herrn Puig Gordi nicht auf einer ausdrücklichen gesetzlichen Grundlage beruhe, und habe daraus geschlossen, dass die Vollstreckung des gegen ihn erlassenen Europäischen Haftbefehls seine Grundrechte beeinträchtige. Darüber hinaus sei die äußerst schwerwiegende Gefahr eines Verstoßes gegen die Unschuldsvermutung zu berücksichtigen.

17      In diesem Zusammenhang führt das vorlegende Gericht aus, dass es u. a. darüber befinden müsse, ob es einen neuen Europäischen Haftbefehl gegen Herrn Puig Gordi erlassen könne, nachdem die Vollstreckung eines früheren Europäischen Haftbefehls abgelehnt worden sei, und ob es die gegen andere Angeklagte in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Strafverfahren erlassenen Europäischen Haftbefehle aufrechterhalten oder aufheben müsse.

18      Erstens sei die vollstreckende Justizbehörde nach dem Unionsrecht nicht befugt, die Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde zu kontrollieren. Eine eventuell fehlende Zuständigkeit stelle keinen vom Rahmenbeschluss 2002/584 vorgesehenen Ablehnungsgrund dar und müsse von der fehlenden Eigenschaft als „Justizbehörde“ im Sinne dieses Rahmenbeschlusses unterschieden werden. Die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls dürfe nicht auf einen nur vom nationalen Recht vorgesehenen Ablehnungsgrund gestützt werden.

19      Zweitens seien die belgischen Gerichte nicht für die Auslegung des spanischen Rechts zuständig. Im vorliegenden Fall hätten die belgischen Gerichte das spanische Recht zudem unzutreffend ausgelegt, indem sie sich u. a. auf Stellungnahmen der WGAD gestützt hätten, die nicht nach dem Völkerrecht eingerichtet worden sei und deren Meinungen nicht die Position des Menschenrechtsrates der Organisation der Vereinten Nationen wiedergäben. Die belgischen Gerichte hätten es hingegen versäumt, mehrere Entscheidungen des vorlegenden Gerichts zu seiner eigenen Zuständigkeit und die Bestätigung dieser Rechtsprechung durch ein Urteil des Tribunal Constitucional (Verfassungsgerichtshof, Spanien) vom 17. Februar 2021 zu berücksichtigen.

20      Drittens hätten die belgischen Gerichte vor der Entscheidung über die Vollstreckung des gegen Herrn Puig Gordi erlassenen Europäischen Haftbefehls um zusätzliche Informationen gemäß Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bitten müssen.

21      Viertens stelle das Vorliegen einer ernsthaften Gefahr, dass die Grundrechte der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen worden sei, verletzt würden, keinen in diesem Rahmenbeschluss genannten Grund für die Ablehnung der Vollstreckung dar. So habe der Gerichtshof einen solchen Ablehnungsgrund auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses nur unter der Voraussetzung zugelassen, dass das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel im Ausstellungsmitgliedstaat festgestellt worden sei.

22      Unter diesen Umständen hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Gibt der Rahmenbeschluss 2002/584 der vollstreckenden Justizbehörde die Möglichkeit, die Übergabe der mittels eines Europäischen Haftbefehls gesuchten Person auf der Grundlage der Ablehnungsgründe abzulehnen, die in ihrem nationalen Recht vorgesehen, aber als solche nicht im Rahmenbeschluss enthalten sind?

2.      Bei Bejahung der vorstehenden Frage sowie zur Gewährleistung der Durchführbarkeit eines Europäischen Haftbefehls und zur angemessenen Inanspruchnahme des in Art. 15 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Mechanismus:

Hat die ausstellende Justizbehörde die Rechte der verschiedenen Mitgliedstaaten zu prüfen und zu untersuchen, um etwaige Gründe für die Ablehnung eines Europäischen Haftbefehls zu berücksichtigen, die im Rahmenbeschluss 2002/584 nicht vorgesehen sind?

3.      Unter Berücksichtigung der Antworten auf die vorstehenden Fragen sowie der Tatsache, dass nach Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 die Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls durch das Recht des Ausstellungsmitgliedstaats festgelegt ist:

Ist Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in dem Sinne auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde die Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde für die konkrete Strafsache anzweifeln und die Übergabe mit der Begründung ablehnen kann, dass ihrer Auffassung nach die ausstellende Justizbehörde für die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls nicht zuständig ist?

4.      Im Hinblick auf die Möglichkeit der vollstreckenden Justizbehörde, zu prüfen, ob die Grundrechte der gesuchten Person im Ausstellungsmitgliedstaat gewahrt werden:

a)      Gibt der Rahmenbeschluss 2002/584 der vollstreckenden Justizbehörde die Möglichkeit, die Übergabe der gesuchten Person mit der Begründung abzulehnen, dass sie auf der Grundlage eines Berichts der Arbeitsgruppe, der der nationalen Vollstreckungsbehörde von der gesuchten Person selbst vorgelegt wurde, der Ansicht ist, dass die Gefahr einer Verletzung der Grundrechte dieser Person im Ausstellungsmitgliedstaat besteht?

b)      Für die Zwecke der vorstehenden Frage: Stellt ein solcher Bericht eine objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angabe dar, die im Licht der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Ablehnung der Übergabe der gesuchten Person aufgrund der ernsthaften Gefahr einer Verletzung ihrer Grundrechte zu rechtfertigen vermag?

c)      Bei Bejahung der vorstehenden Frage: Über welche Anhaltspunkte muss der Mitgliedstaat nach dem Unionsrecht verfügen, um den Schluss ziehen zu können, dass im ausstellenden Mitgliedstaat die von der gesuchten Person geltend gemachte Gefahr einer Verletzung von Grundrechten besteht und die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls rechtfertigt?

5.      Hat es einen Einfluss auf die Beantwortung der vorstehenden Fragen, dass die Person, um deren Übergabe ersucht wird, in der Lage war, vor den Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats die Gewährleistung ihrer Grundrechte geltend zu machen sowie die Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde und den Haftbefehl anzufechten, und zwar in zwei Rechtszügen?

6.      Ist es für die Beantwortung der vorstehenden Fragen von Bedeutung, wenn die vollstreckende Justizbehörde einen Europäischen Haftbefehl aus Gründen ablehnt, die im Rahmenbeschluss 2002/584 nicht ausdrücklich vorgesehen sind, insbesondere weil die ausstellende Justizbehörde unzuständig sei und die ernsthafte Gefahr einer Verletzung der Grundrechte im Ausstellungsmitgliedstaat bestehe, und wenn sie dies tut, ohne von der ausstellenden Justizbehörde die spezifischen zusätzlichen Informationen anzufordern, die diese Entscheidung beeinflussen könnten?

7.      Ergibt sich aus den Antworten auf die vorstehenden Fragen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 unter den Umständen des vorliegenden Falles der Ablehnung der Übergabe einer Person unter Berufung auf die genannten Ablehnungsgründe entgegensteht?

Würde der Rahmenbeschluss 2002/584 das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) daran hindern, einen neuen Europäischen Haftbefehl gegen dieselbe Person und vor demselben Mitgliedstaat zu erlassen?

 Zum Verfahren vor dem Gerichtshof

 Zum Antrag auf Anwendung des beschleunigten Vorabentscheidungsverfahrens

23      Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

24      Zur Stützung seines Antrags führt das vorlegende Gericht aus, dass das Ausgangsverfahren strafrechtlichen Charakter habe, dass dieses Verfahren bis zur Antwort des Gerichtshofs auf das Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt worden sei und dass die gesuchten Personen keiner freiheitsentziehenden Maßnahme unterlägen.

25      Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

26      Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 31. März 2021 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, dem in Rn. 23 des vorliegenden Urteils genannten Antrag nicht stattzugeben.

27      Es ist nämlich darauf hinzuweisen, dass die Anwendung des beschleunigten Vorabentscheidungsverfahrens nicht von der Art des Rechtsstreits im Ausgangsverfahren als solcher abhängt, sondern von den der betreffenden Rechtssache eigenen besonderen Umständen, aus denen sich die außerordentliche Dringlichkeit der Entscheidung über diese Fragen ergeben muss (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 30. Mai 2018, KN, C‑191/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:383, Rn. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

28      Was das Ausgangsverfahren betrifft, hat das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) jedoch nicht das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände dargetan, die dieser Rechtssache eigen sind und aus denen sich eine außerordentliche Dringlichkeit ergeben kann.

29      Da das Vorabentscheidungsverfahren eine Aussetzung des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens in Erwartung der Antwort des Gerichtshofs mit sich bringt, kann somit zum einen diese Aussetzung, die notwendiger Bestandteil des Vorabentscheidungsmechanismus ist, keine Rechtfertigung dafür sein, eine Vorlage zur Vorabentscheidung dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 20. Januar 2014, Nguyen und Schönherr, C‑2/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:1999, Rn. 14 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Zum anderen stellt der Umstand, dass sich die von dem Ausgangsstrafverfahren betroffenen Personen derzeit nicht in Haft befinden, einen Grund dafür dar, das beschleunigte Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung nicht einzuleiten (vgl. in diesem Sinne Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 20. September 2018, Minister for Justice and Equality, C‑508/18 und C‑509/18, nicht veröffentlicht, EU:C:2018:766, Rn. 13 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 Zum Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens

31      Mit Schriftsatz, der am 7. November 2022 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen ist, haben Herr Puigdemont Casamajó, Herr Comín Oliveres, Herr Puig Gordi und Frau Ponsatí Obiols die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beantragt.

32      Zur Stützung dieses Antrags tragen sie vor, dass neue Tatsachen und Argumente, die zwischen den Parteien nicht erörtert worden seien, von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache sein könnten.

33      Im Einzelnen beziehen sie sich auf die Unterzeichnung des Beschlusses des Vizepräsidenten des Gerichtshofs vom 24. Mai 2022, Puigdemont i Casamajó u. a./Parlament und Spanien (C‑629/21 P[R], EU:C:2022:413), auf eine Stellungnahme des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen vom 30. August 2022, auf Entscheidungen der spanischen Gerichte, auf den Umstand, dass mehrere der im Ausgangsstrafverfahren Angeklagten von den spanischen Behörden ausspioniert worden seien, auf Stellungnahmen von Mitgliedern der Europäischen Kommission und auf eine Mitteilung der Zentralen Wahlkommission. Des Weiteren bringen sie eine Reihe von Kritikpunkten an den Schlussanträgen des Generalanwalts in der vorliegenden Rechtssache vor.

34      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof nach Art. 83 seiner Verfahrensordnung jederzeit nach Anhörung des Generalanwalts die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen kann, insbesondere wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält, wenn eine Partei nach Abschluss des mündlichen Verfahrens eine neue Tatsache unterbreitet hat, die von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs ist, oder wenn ein nicht erörtertes Vorbringen entscheidungserheblich ist.

35      Im vorliegenden Fall ist zum einen festzustellen, dass die von Herrn Puigdemont Casamajó, Herrn Comín Oliveres, Herrn Puig Gordi und Frau Ponsatí Obiols als neu dargestellten Tatsachen nicht von entscheidender Bedeutung für die Entscheidung des Gerichtshofs sein können.

36      Diese Tatsachen beziehen sich nämlich entweder auf die individuelle Situation der Angeklagten im Ausgangsstrafverfahren oder auf angebliche Mängel des spanischen Justizsystems. Im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens ist es jedoch nicht Sache des Gerichtshofs, diese individuelle Situation zu beurteilen oder zu ermitteln, ob die angeblichen Mängel erwiesen sind, sondern nur, die maßgeblichen Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen.

37      Was zum anderen die Kritik an den Schlussanträgen des Generalanwalts betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und die Verfahrensordnung keine Möglichkeit für die Parteien vorsehen, eine Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts einzureichen (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Außerdem stellt der Generalanwalt nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Mitwirkung erforderlich ist. Der Gerichtshof ist weder an diese Schlussanträge noch an ihre Begründung durch den Generalanwalt gebunden. Dass eine Partei nicht mit den Schlussanträgen des Generalanwalts einverstanden ist, kann folglich unabhängig von den darin untersuchten Fragen für sich genommen kein Grund sein, der die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens rechtfertigt (Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 42).

39      Der Gerichtshof kann zwar gemäß Art. 83 seiner Verfahrensordnung nach Anhörung des Generalanwalts jederzeit die Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens beschließen, insbesondere, wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält.

40      Im vorliegenden Fall ist der Gerichtshof jedoch nach Anhörung des Generalanwalts der Auffassung, dass er nach dem schriftlichen Verfahren und der bei ihm durchgeführten mündlichen Verhandlung über alle für die Entscheidung erforderlichen Informationen verfügt, zumal die gegen die Schlussanträge des Generalanwalts im Antrag auf Wiedereröffnung des mündlichen Verfahrens vorgebrachten Argumente bereits ausführlich zwischen den betreffenden Parteien und den Beteiligten erörtert worden sind.

41      Aus diesen Gründen ist dem Antrag nicht stattzugeben.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen 1 bis 6

42      Herr Puig Gordi, Herr Puigdemont Casamajó, Herr Comín Oliveres, Frau Ponsatí Obiols, Frau Rovira Vergés und Frau Gabriel Sabaté bestreiten die Zulässigkeit bestimmter Vorlagefragen.

43      Als Erstes machen Frau Ponsatí Obiols, Herr Puig Gordi, Herr Puigdemont Casamajó und Herr Comín Oliveres geltend, dass die Fragen 1 bis 6 für die Durchführung des Ausgangsstrafverfahrens, insgesamt betrachtet, offensichtlich nicht von Nutzen seien.

44      Diese Fragen bezögen sich auf die Vorschriften über die Vollstreckung Europäischer Haftbefehle, so dass die Antworten auf diese Fragen für das vorlegende Gericht nicht von Interesse seien, da dieses Gericht im Ausgangsstrafverfahren als ausstellende Justizbehörde fungiere. Zwar habe der Gerichtshof im Urteil vom 25. Juli 2018, AY (Haftbefehl – Zeuge) (C‑268/17, EU:C:2018:602), die Beantwortung von Fragen zur Vollstreckung Europäischer Haftbefehle, die von einer ausstellenden Justizbehörde gestellt worden seien, nicht verweigert; die Umstände des Ausgangsverfahrens unterschieden sich jedoch von denen der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen sei. In der letztgenannten Rechtssache habe die vollstreckende Justizbehörde nämlich nicht über den in Rede stehenden Europäischen Haftbefehl befunden, und der Gerichtshof habe über eine materiell-rechtliche Frage zum Grundsatz ne bis in idem entschieden, die sowohl für die ausstellende als auch für die vollstreckende Justizbehörde von Interesse gewesen sei.

45      Des Weiteren sei zu berücksichtigen, dass die Entscheidung des Appellationshofs Brüssel, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gegen Herrn Puig Gordi abzulehnen, nicht nur auf einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren, sondern auch auf einen Verstoß gegen seine Unschuldsvermutung gestützt werde. Die Fragen 1 bis 6 bezögen sich indessen nicht auf diesen letztgenannten Grund, was bedeute, dass die Antworten des Gerichtshofs auf diese Fragen jedenfalls nicht zu der Annahme führen könnten, dass dieser Europäische Haftbefehl vollstreckt werden müsse.

46      Ferner genössen drei der im Ausgangsstrafverfahren Angeklagten als Mitglieder des Europäischen Parlaments Immunität, so dass kein Europäischer Haftbefehl gegen sie erlassen werden könne, weshalb die Fragen 1 bis 6 in Bezug auf sie hypothetisch seien.

47      Als Zweites tragen Frau Ponsatí Obiols, Herr Puig Gordi, Herr Puigdemont Casamajó und Herr Comín Oliveres vor, dass die erste Frage jedenfalls aus einem anderen Grund unzulässig sei. Diese Frage ziele nämlich darauf ab, vom Gerichtshof Hinweise zur Auslegung des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu erhalten, anhand deren die Vereinbarkeit einer belgischen Gesetzesvorschrift mit dem Rahmenbeschluss beurteilt werden könne, obwohl diese Bestimmung unabhängig von der Antwort des Gerichtshofs in der belgischen Rechtsordnung anwendbar bleibe, da der Rahmenbeschluss keine unmittelbare Wirkung habe.

48      Als Drittes steht nach Ansicht von Frau Rovira Vergés und Frau Gabriel Sabaté die fünfte Frage insofern in keinem Zusammenhang mit dem Ausgangsverfahren, als die Angeklagten die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts nicht hätten rügen oder sich vor den spanischen Gerichten nicht auf ihre Grundrechte hätten berufen können.

49      Als Viertes tragen Frau Rovira Vergés und Frau Gabriel Sabaté vor, dass die sechste Frage für unzulässig erklärt werden müsse, und machen geltend, dass sich die vollstreckende Justizbehörde im vorliegenden Fall auf vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) vorgelegte zusätzliche Informationen gestützt habe und es nicht Sache des Gerichtshofs sei, darüber zu entscheiden, ob es für eine vollstreckende Justizbehörde zweckmäßig sei, einen Antrag auf zusätzliche Informationen zu stellen.

50      In Bezug auf diese verschiedenen Aspekte ist zunächst darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Ausgangsverfahren befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

51      Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die Auslegung des Unionsrechts, um die er ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 15. Juli 2021, The Department for Communities in Northern Ireland, C‑709/20, EU:C:2021:602, Rn. 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

52      Als Erstes ist in Bezug auf das Vorbringen, die Fragen 1 bis 6 seien für die Durchführung des Ausgangsstrafverfahrens nicht von Nutzen, festzustellen, dass das vorlegende Gericht klargestellt hat, dass das Vorabentscheidungsersuchen darauf abziele, ihm u. a. die Feststellung zu ermöglichen, ob es einen neuen Europäischen Haftbefehl gegen Herrn Puig Gordi erlassen könne, nachdem die Vollstreckung eines früheren gegen ihn erlassenen Europäischen Haftbefehls abgelehnt worden sei, und ob es die Europäischen Haftbefehle, die gegen andere Angeklagte in dem in Rede stehenden Ausgangsstrafverfahren erlassen worden seien, aufrechterhalten oder aufheben müsse.

53      Diese Erwägungen können es rechtfertigen, dass dieses Gericht als ausstellende Justizbehörde den Gerichtshof zu den Voraussetzungen für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls befragen kann.

54      Im Rahmen eines Verfahrens im Zusammenhang mit einem Europäischen Haftbefehl ist nämlich in erster Linie der Ausstellungsmitgliedstaat für die Gewährleistung der Grundrechte verantwortlich. Da die Ausstellung eines solchen Haftbefehls die Festnahme der Person, die Gegenstand dieses Haftbefehls ist, zur Folge haben kann, muss eine ausstellende Justizbehörde daher, um diese Rechte zu gewährleisten, über die Möglichkeit verfügen, den Gerichtshof mit einer Vorlage zur Vorabentscheidung zu befassen, um zu ermitteln, ob sie einen Europäischen Haftbefehl aufrechterhalten oder aufheben muss oder ob sie einen solchen Haftbefehl ausstellen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, AY [Haftbefehl – Zeuge], C‑268/17, EU:C:2018:602, Rn. 28 und 29, sowie vom 28. Januar 2021, Spetsializirana prokuratura [Erklärung der Rechte], C‑649/19, EU:C:2021:75, Rn. 39).

55      Dem Vorbringen von Frau Ponsatí Obiols, von dieser Möglichkeit dürfe kein Gebrauch gemacht werden, um zu ermitteln, unter welchen Voraussetzungen eine vollstreckende Justizbehörde, um die Einhaltung von Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) zu gewährleisten, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ablehnen müsse, kann nicht gefolgt werden, da die ausstellende Justizbehörde, um den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der loyalen Zusammenarbeit nachzukommen, keinen Europäischen Haftbefehl ausstellen oder aufrechterhalten darf, dessen Vollstreckung insbesondere deshalb abgelehnt werden müsste, um einen Verstoß gegen diesen Art. 47 Abs. 2 zu vermeiden (vgl. entsprechend Urteil vom 11. November 2021, Gavanozov II, C‑852/19, EU:C:2021:902, Rn. 60).

56      Ebenso kann mit dem von Frau Ponsatí Obiols angeführten Umstand, dass eine vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung des gegen Herrn Puig Gordi erlassenen Europäischen Haftbefehls bereits abgelehnt habe, nicht dargetan werden, dass die Fragen 1 bis 6 offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens stünden, da sich mit dem Vorliegen einer solchen ablehnenden Entscheidung vielmehr rechtfertigen lässt, dass sich das vorlegende Gericht die Frage stellt, ob es, ohne gegen das Unionsrecht zu verstoßen, einen neuen Europäischen Haftbefehl ausstellen darf, um die Übergabe von Herrn Puig Gordi zu erreichen, und ob neue Maßnahmen in Bezug auf die anderen Angeklagten im Ausgangsstrafverfahren erlassen werden müssen.

57      Da die Durchführung einer solchen Prüfung letztlich den Zweck verfolgt, die Rechte und Pflichten der ausstellenden Justizbehörde klarzustellen, reicht unter diesen Umständen die Tatsache, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht zu sämtlichen Gründen befragt, die vom Appellationshof Brüssel herangezogen wurden, um die Vollstreckung des gegen Herrn Puig Gordi erlassenen Europäischen Haftbefehls abzulehnen, nicht aus, um darzutun, dass die Fragen 1 bis 6 in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens stünden.

58      Außerdem kann mit dem Umstand, dass drei der im Ausgangsverfahren Angeklagten in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Europäischen Parlaments Immunität genießen, jedenfalls nicht dargetan werden, dass diese Fragen hypothetischen Charakter hätten, da andere Angeklagte in diesem Verfahren, darunter Herr Puig Gordi, keine solche Immunität genießen.

59      Was insbesondere die angebliche Unzulässigkeit der ersten Frage betrifft, genügt als Zweites der Hinweis, dass der Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV dafür zuständig ist, im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung der Handlungen der Organe der Europäischen Union zu entscheiden, unabhängig davon, ob sie unmittelbare Wirkung haben oder nicht (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. November 2012, Pringle, C‑370/12, EU:C:2012:756, Rn. 89, und vom 15. Januar 2013, Križan u. a., C‑416/10, EU:C:2013:8, Rn. 56).

60      Als Drittes ist in Bezug auf die angebliche Unzulässigkeit der fünften Frage festzustellen, dass das dahin gehende Vorbringen von Frau Rovira Vergés und Frau Gabriel Sabaté den Angaben widerspricht, die das vorlegende Gericht zum Ablauf des die gesuchten Personen betreffenden Verfahrens vor den spanischen Gerichten gemacht hat.

61      Im Rahmen des Verfahrens nach Art. 267 AEUV, das auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, ist indes allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits sowie die Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts zuständig (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Juli 2022, Volkswagen, C‑134/20, EU:C:2022:571, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62      Gleiches gilt als Viertes für das Vorbringen von Frau Rovira Vergés, wonach die sechste Frage für unzulässig erklärt werden müsse, weil sich die vollstreckende Justizbehörde im vorliegenden Fall auf zusätzliche Informationen gestützt habe, die vom Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) in seiner Eigenschaft als ausstellende Justizbehörde vorgelegt worden seien. Das Tribunal Supremo hat in seiner Vorlageentscheidung nämlich ausdrücklich hervorgehoben, dass es diese Informationen der vollstreckenden Justizbehörde nicht zur Verfügung gestellt habe, sondern dass eines seiner Mitglieder Fragen beantwortet habe, die von der belgischen Staatsanwaltschaft gestellt worden seien, um deren Argumentation für eine mündliche Verhandlung vorzubereiten, die im Laufe des Verfahrens zur Vollstreckung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehle stattgefunden habe.

63      Des Weiteren befragt das vorlegende Gericht entgegen dem, was Frau Gabriel Sabaté geltend macht, den Gerichtshof nicht dazu, ob es für eine vollstreckende Justizbehörde zweckmäßig sei, einen Antrag auf zusätzliche Informationen zu stellen, sondern, ob diese Justizbehörde verpflichtet ist, einen solchen Antrag zu stellen, bevor sie es ablehnen kann, einen Europäischen Haftbefehl unter Berufung auf die fehlende Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde für den Erlass eines Europäischen Haftbefehls und auf das Bestehen einer ernsthaften Gefahr der Verletzung von Grundrechten im Ausstellungsmitgliedstaat zu vollstrecken.

64      Eine solche Frage ist indessen als Frage, die die Auslegung des Unionsrechts betrifft, anzusehen. Infolgedessen ist der Gerichtshof verpflichtet, über sie zu entscheiden.

65      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Fragen 1 bis 6 zulässig sind.

 Zur Beantwortung der Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

66      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Rahmenbeschluss 2002/584 dahin auszulegen ist, dass eine vollstreckende Justizbehörde befugt ist, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls unter Berufung auf einen Ablehnungsgrund abzulehnen, der nicht aus diesem Rahmenbeschluss, sondern nur aus dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats hervorgeht.

67      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs zielt der Rahmenbeschluss 2002/584 darauf ab, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, beruhend auf dem hohen Maß an Vertrauen, das zwischen den Mitgliedstaaten bestehen muss (Urteil vom 29. April 2021, X [Europäischer Haftbefehl – Ne bis in idem], C‑665/20 PPU, EU:C:2021:339, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68      Zu diesem Zweck geht aus dem Rahmenbeschluss und insbesondere seinem Art. 1 Abs. 2 hervor, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz darstellt, während die Ablehnung der Vollstreckung als eng auszulegende Ausnahme ausgestaltet ist (Urteil vom 29. April 2021, X [Europäischer Haftbefehl – Ne bis in idem], C‑665/20 PPU, EU:C:2021:339, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

69      In diesem Zusammenhang ist erstens darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung voraussetzt, dass nur Europäische Haftbefehle im Sinne von Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 gemäß dessen Bestimmungen zu vollstrecken sind, so dass ein solcher Haftbefehl, der in dieser Bestimmung als „justizielle Entscheidung“ qualifiziert ist, von einer „Justizbehörde“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ausgestellt worden sein muss (Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

70      Zweitens darf die vollstreckende Justizbehörde keinem Europäischen Haftbefehl Folge leisten, der nicht die Mindesterfordernisse erfüllt, von denen seine Gültigkeit abhängt; dazu zählen die in Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 6. Dezember 2018, IK [Vollstreckung einer zusätzlichen Strafe], C‑551/18 PPU, EU:C:2018:991, Rn. 43, und vom 9. Oktober 2019, NJ [Staatsanwaltschaft Wien], C‑489/19 PPU, EU:C:2019:849, Rn. 29).

71      Drittens müssen oder können die vollstreckenden Justizbehörden die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus den in den Art. 3, 4 und 4a dieses Rahmenbeschlusses genannten Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung ablehnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Mai 2019, PF [Generalstaatsanwalt von Litauen], C‑509/18, EU:C:2019:457, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

72      Viertens kann das Bestehen einer Gefahr, dass die in den Art. 4 und 47 der Charta genannten Grundrechte verletzt werden, der vollstreckenden Justizbehörde erlauben, ausnahmsweise und nach einer angemessenen Prüfung auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 dieses Rahmenbeschlusses davon abzusehen, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C‑128/18, EU:C:2019:857, Rn. 83, und vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

73      Somit ist festzustellen, dass jeder der in der Rechtsprechung des Gerichtshofs bejahten Gründe, derentwegen die vollstreckende Justizbehörde verpflichtet sein oder es ihr ihr gestattet sein kann, einem Europäischen Haftbefehl nicht Folge zu leisten, auf den Rahmenbeschluss 2002/584 zurückgeht.

74      Außerdem geht aus dem Vorstehenden hervor, dass diese Gründe eine eng begrenzte Tragweite haben und es daher nur ausnahmsweise gestatten können, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen.

75      Ließe man zu, dass es jedem Mitgliedstaat freisteht, zu diesen Gründen weitere hinzuzufügen, die der vollstreckenden Justizbehörde gestatten, einen Europäischen Haftbefehl nicht zu vollstrecken, könnte dies zum einen die einheitliche Anwendung des Rahmenbeschlusses 2002/584 dadurch beeinträchtigen, dass seine Anwendung von nationalen Rechtsvorschriften abhängig gemacht wird, und zum anderen der in Art. 1 Abs. 2 dieses Rahmenbeschlusses genannten Pflicht, Europäische Haftbefehle zu vollstrecken, dadurch ihre Wirksamkeit nehmen, dass es in der Praxis jedem Mitgliedstaat gestattet wird, die Tragweite, die diese Pflicht für seine vollstreckenden Justizbehörden hat, frei festzulegen.

76      Eine solche Auslegung wäre ein Hindernis für das reibungslose Funktionieren des mit diesem Rahmenbeschluss eingeführten vereinfachten und wirksamen Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, und liefe damit dem vom Rahmenbeschluss verfolgten Ziel zuwider, auf das in Rn. 67 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist.

77      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die belgischen Gerichte die Vollstreckung des Herrn Puig Gordi betreffenden Europäischen Haftbefehls abgelehnt und sich dabei auf Art. 4 Nr. 5 des Gesetzes vom 19. Dezember 2003 über den Europäischen Haftbefehl gestützt haben, wonach die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist, wenn ernsthafte Gründe für die Annahme vorliegen, dass die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls die im Unionsrecht niedergelegten Grundrechte der betreffenden Person gefährden könnte.

78      Eine solche Bestimmung, sofern sie dahin ausgelegt wird, dass sie dieselbe Tragweite wie Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 hat, gestattet die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls jedoch nur in dem in Rn. 72 des vorliegenden Urteils genannten Rahmen und kann daher nicht als konstitutiv für einen Grund zur Ablehnung der Vollstreckung erachtet werden, der nicht aus diesem Rahmenbeschluss hervorgeht.

79      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 dahin auszulegen ist, dass eine vollstreckende Justizbehörde nicht befugt ist, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls unter Berufung auf einen Ablehnungsgrund abzulehnen, der nicht aus diesem Rahmenbeschluss, sondern nur aus dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats hervorgeht. Eine solche Justizbehörde kann aber eine nationale Bestimmung anwenden, die vorsieht, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt wird, wenn diese Vollstreckung zu einer Verletzung eines im Unionsrecht niedergelegten Grundrechts führen würde, sofern die Tragweite dieser Bestimmung nicht über die von Art. 1 Abs. 3 dieses Rahmenbeschlusses in der Auslegung durch den Gerichtshof hinausgeht.

 Zur zweiten Frage

80      In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage erübrigt sich eine Beantwortung der zweiten Frage.

 Zur dritten Frage

81      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen sind, dass die vollstreckende Justizbehörde überprüfen kann, ob ein Europäischer Haftbefehl von einer dafür zuständigen Justizbehörde ausgestellt wurde, und die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls ablehnen kann, wenn dies ihres Erachtens nicht der Fall ist.

82      Wie in Rn. 69 des vorliegenden Urteils ausgeführt, geht aus Art. 1 Abs. 1 und 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 hervor, dass nur die von einer Justizbehörde im Sinne von Art. 6 Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses ausgestellten Europäischen Haftbefehle vollstreckt werden müssen.

83      Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sieht vor, dass als ausstellende Justizbehörde die Justizbehörde des Ausstellungsmitgliedsstaates anzusehen ist, die nach dem Recht dieses Staates für die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls zuständig ist.

84      Aus der Rechtsprechung geht hervor, dass der Begriff „Justizbehörde“ im Sinne dieser Bestimmung in der gesamten Union einer autonomen und einheitlichen Auslegung bedarf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 49) und dass dieser Begriff verlangt, dass die betreffende Behörde bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben im Zusammenhang mit der Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unabhängig handelt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 38).

85      Demzufolge obliegt es zwar der vollstreckenden Justizbehörde, sich vor der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu vergewissern, dass dieser tatsächlich von einer Justizbehörde im Sinne dieses Art. 6 Abs. 1 ausgestellt wurde; die vollstreckende Justizbehörde kann aber nicht auf der Grundlage dieser Bestimmung prüfen, ob die ausstellende Justizbehörde nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats dafür zuständig ist, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen.

86      Der Unionsgesetzgeber hat nämlich zwar einen autonomen und einheitlichen Begriff der „Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses 2002/584 geschaffen, er hat es aber jedem Mitgliedstaat überlassen, im Rahmen seiner Verfahrensautonomie die für den Erlass eines Europäischen Haftbefehls zuständigen Justizbehörden zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. November 2016, Kovalkovas, C‑477/16 PPU, EU:C:2016:861, Rn. 31, und vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 48).

87      Da diese Bestimmung in Anbetracht dieser vom Unionsgesetzgeber getroffenen Entscheidung somit ausschließlich nach dem Recht eines jeden Mitgliedstaats erfolgt, ist es Sache der Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats, in dem von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 festgelegten Rahmen und gegebenenfalls unter der Aufsicht höherer nationaler Gerichte ihre Zuständigkeit für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls im Hinblick auf das Recht dieses Mitgliedstaats zu prüfen.

88      Wie der Generalanwalt in Nr. 74 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, würde die Annahme, dass die Beurteilung, die die ausstellende Justizbehörde hinsichtlich ihrer eigenen Zuständigkeit angestellt hat, im Nachgang von der vollstreckenden Justizbehörde überprüft werden kann, darauf hinauslaufen, der vollstreckenden Justizbehörde eine allgemeine Funktion der Kontrolle der im Ausstellungsmitgliedstaat erlassenen verfahrensrechtlichen Entscheidungen zuzuerkennen, was dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zuwiderliefe, der gemäß dem sechsten Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2002/584 den Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit darstellt.

89      Infolgedessen ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen sind, dass die vollstreckende Justizbehörde nicht überprüfen darf, ob ein Europäischer Haftbefehl von einer dafür zuständigen Justizbehörde ausgestellt wurde, und die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls nicht ablehnen darf, wenn dies ihres Erachtens nicht der Fall ist.

 Zu den Fragen 4 c) und 5

90      Vorab ist zum einen festzustellen, dass die Frage 4 c) allgemein die Informationen betrifft, über die die vollstreckende Justizbehörde verfügen muss, um die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls mit der Begründung abzulehnen, dass diese Vollstreckung die Gefahr einer Verletzung der Grundrechte im Ausstellungsmitgliedstaat nach sich zöge, weshalb diese Teilfrage als Erstes zu behandeln ist.

91      Zum anderen geht ungeachtet der allgemeinen Formulierung dieser Teilfrage aus der Vorlageentscheidung hervor, dass sich das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof), genauer gesagt, die Frage stellt, ob es für die Zwecke dieser Vollstreckung relevant ist, dass behauptet wird, es drohe der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, nach ihrer Übergabe an diesen Mitgliedstaat insofern eine Verletzung von Art. 47 Abs. 2 der Charta, als diese Person von einem Gericht verurteilt würde, das dafür nicht zuständig ist.

92      Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen 4 c) und 5, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, zu entscheiden hat, dessen Vollstreckung ablehnen kann, wenn sie der Meinung ist, dass diese Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat Gefahr läuft, dass ein Gericht, das dafür nicht zuständig ist, über sie Recht spricht, auch wenn sich diese Person vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats auf ihre Grundrechte berufen konnte, um die Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde und diesen Europäischen Haftbefehl zu beanstanden.

93      Es ist darauf hinzuweisen, dass sowohl der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten als auch der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten beruht, im Unionsrecht fundamentale Bedeutung haben, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen. Konkret verlangt der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat, dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 40 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

94      Bei der Durchführung des Unionsrechts können die Mitgliedstaaten somit unionsrechtlich verpflichtet sein, die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie weder die Möglichkeit haben, von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte als das durch das Unionsrecht gewährleistete zu verlangen, noch – von Ausnahmefällen abgesehen – prüfen können, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 41 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

95      Das hohe Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten, auf dem der Mechanismus des Europäischen Haftbefehls beruht, gründet sich dabei auf die Prämisse, dass die Strafgerichte der übrigen Mitgliedstaaten, die nach der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls das Verfahren der Strafverfolgung, der Strafvollstreckung oder der Verhängung einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung sowie das strafrechtliche Hauptverfahren zu führen haben werden, den Anforderungen genügen, die mit dem in Art. 47 Abs. 2 der Charta garantierten Grundrecht auf ein faires Verfahren verbunden sind. Diesem Grundrecht kommt nämlich als Garant für den Schutz aller dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte und für die Wahrung der in Art. 2 EUV genannten Werte, die den Mitgliedstaaten gemeinsam sind, u. a. des Werts der Rechtsstaatlichkeit, grundlegende Bedeutung zu (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

96      Daher hat zwar in erster Linie jeder Mitgliedstaat, um die volle Anwendung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung zu gewährleisten, auf denen die Funktionsweise dieses Mechanismus beruht, unter der abschließenden Kontrolle durch den Gerichtshof sicherzustellen, dass die diesem Grundrecht innewohnenden Anforderungen gewahrt bleiben, und alle Maßnahmen zu unterlassen, die diese Unabhängigkeit untergraben könnten. Besteht jedoch eine echte Gefahr, dass die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, im Fall ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde eine Verletzung des genannten Grundrechts erleidet, kann es der vollstreckenden Justizbehörde, worauf in Rn. 72 des vorliegenden Urteils hingewiesen wurde, gestattet sein, ausnahmsweise, auf der Grundlage des Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584, davon abzusehen, dem betreffenden Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 46 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

97      Hierzu geht aus der Rechtsprechung hervor, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, zu entscheiden hat – wenn sie über Anhaltspunkte für das Vorliegen einer echten Gefahr der Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 der Charta verbürgten Grundrechts auf ein faires Verfahren aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats verfügt –, konkret und genau prüfen muss, ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 52, sowie 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 50).

98      Was die Anwendbarkeit dieser zweistufigen Prüfung auf den Grund für die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls betrifft, die Gegenstand der Frage 4 c) ist, ist darauf hinzuweisen, dass die vollstreckende Justizbehörde u. a. verpflichtet ist, eine solche Prüfung vorzunehmen, um zu beurteilen, ob für die betreffende Person im Fall der Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat eine echte Gefahr der Verletzung ihres in Art. 47 Abs. 2 der Charta verankerten Grundrechts auf ein faires Verfahren vor einem zuvor durch Gesetz errichteten Gericht bestand (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 66).

99      Aus der im Rahmen der Auslegung von Art. 47 der Charta zu berücksichtigenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Oktober 2021, Openbaar Ministerie [Recht auf Anhörung durch die vollstreckende Justizbehörde], C‑428/21 PPU und C‑429/21 PPU, EU:C:2021:876, Rn. 64) geht hervor, dass die Zuständigkeit eines Gerichts für die Entscheidung eines Falls gemäß den maßgeblichen nationalen Vorschriften mit dem Erfordernis eines „auf Gesetz beruhenden Gerichts“ im Sinne von Art. 6 Abs. 1 dieser Konvention in engem Zusammenhang steht (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteile vom 20. Juli 2006, Sokurenko und Strygun/Ukraine, CE:ECHR:2006:0720JUD002945804, §§ 26 bis 29, sowie vom 1. Dezember 2020, Guðmundur Andri Ástráðsson/Island, CE:ECHR:2020:1201JUD002637418, §§ 217 und 223).

100    Insbesondere kann ein nationaler Oberster Gerichtshof, der in erster und letzter Instanz in einem Strafverfahren entscheidet, ohne über eine ausdrückliche Rechtsgrundlage zu verfügen, die ihm die Zuständigkeit verleiht, über sämtliche Angeklagte zu urteilen, nicht als ein auf Gesetz beruhendes Gericht im Sinne von Art. 6 Abs. 1 dieser Konvention angesehen werden (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteile vom 22. Juni 2000, Coëme u. a./Belgien, CE:ECHR:2000:0622JUD003249296, §§ 107 bis 110, sowie vom 2. Juni 2005, Claes u. a./Belgien, CE:ECHR:2005:0602JUD004682599, §§ 41 bis 44).

101    Unter diesen Umständen kann die vollstreckende Justizbehörde, wie aus der Antwort auf die dritte Frage hervorgeht, zwar nicht die Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde überprüfen; es obliegt der vollstreckenden Justizbehörde aber, wenn die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, geltend macht, ihr drohe nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat insofern eine Verletzung von Art. 47 Abs. 2 der Charta, als dort ein Gericht über sie Recht sprechen werde, das dafür nicht zuständig sei, die Stichhaltigkeit dieser Behauptung im Rahmen der in Rn. 97 des vorliegenden Urteils genannten zweistufigen Prüfung zu untersuchen.

102    In Bezug auf den Inhalt dieser Prüfung ist festzustellen, dass die Justizbehörde, die den fraglichen Europäischen Haftbefehl vollstreckt, im Rahmen eines ersten Schritts ermitteln muss, ob es objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben gibt, die nahelegen, dass im Ausstellungsmitgliedstaat aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in diesem Mitgliedstaat oder aufgrund von Mängeln, die eine objektiv identifizierbare Personengruppe betreffen und der die betreffende Person angehört, eine echte Gefahr der Verletzung des von Art. 47 Abs. 2 der Charta gewährleisteten Grundrechts auf ein faires Verfahren gegeben ist, die insbesondere mit der Verkennung des Erfordernisses eines durch Gesetz errichteten Gerichts zusammenhängt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89, sowie vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 67).

103    Im Zusammenhang mit Behauptungen zur Gefahr, dass über die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, ein Gericht Recht spricht, das dafür nicht zuständig ist, muss die vollstreckende Justizbehörde bei der Beurteilung der Frage, ob solche Mängel dargetan wurden, eine Gesamtwürdigung des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats im Hinblick auf das Erfordernis eines durch Gesetz errichteten Gerichts vornehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 77). Diese Justizbehörde muss davon ausgehen, dass diese Mängel erwiesen sind, wenn aus der Gesamtwürdigung hervorgeht, dass die Angeklagten in diesem Mitgliedstaat im Allgemeinen über keinen wirksamen Rechtsbehelf verfügen, mit dem die Zuständigkeit des Strafgerichts, das über sie zu urteilen hat, in der Form, dass dieses Gericht seine eigene Zuständigkeit prüft, oder im Wege eines bei einem anderen Gericht einzulegenden Rechtsbehelfs kontrolliert werden kann.

104    Insofern sich Behauptungen, dass ein Gericht des Ausstellungsmitgliedstaats nicht dafür zuständig sei, über die Person, gegen die sich der Europäische Haftbefehl richtet, Recht zu sprechen, nicht mit einer Beanstandung der Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde oder der Voraussetzungen für die Ausstellung dieses Europäischen Haftbefehls decken, kann der Umstand, dass diese Zuständigkeit oder diese Voraussetzungen vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats gerügt werden können oder in dem in Rede stehenden Verfahren tatsächlich gerügt wurden, als solcher nicht als für die Entscheidung über die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls ausschlaggebend erachtet werden.

105    Der Ablauf der den Europäischen Haftbefehl betreffenden Verfahren vor den Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats muss jedoch, soweit er Hinweise zu den Praktiken dieser Gerichte und zu ihrer Auslegung der maßgeblichen nationalen Vorschriften gibt, von der vollstreckenden Justizbehörde bei ihrer Gesamtwürdigung des voraussichtlichen Ablaufs des auf die Übergabe einer Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, folgenden Strafverfahrens berücksichtigt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2019, Dorobantu, C‑128/18, EU:C:2019:857, Rn. 80 und die dort angeführte Rechtsprechung), und zwar insbesondere in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der nach dem Recht dieses Mitgliedstaats dasselbe Gericht grundsätzlich dazu berufen ist, die Aufgaben der ausstellenden Justizbehörde und des in der Sache entscheidenden Gerichts wahrzunehmen.

106    In einem zweiten Schritt muss die vollstreckende Justizbehörde konkret und genau untersuchen, inwieweit sich die im ersten Schritt der in Rn. 97 des vorliegenden Urteils genannten Prüfung festgestellten Mängel auf der Ebene der Verfahren gegen die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, auswirken können und ob es in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person, der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des der Ausstellung dieses Haftbefehls zugrunde liegenden Sachverhalts ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer echten Gefahr der Verletzung ihres von Art. 47 Abs. 2 der Charta gewährleisteten Rechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt sein wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie [Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde], C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 55, sowie vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht] C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 53).

107    Wenn sich diese Gefahr nach den Behauptungen der gesuchten Person daraus ergibt, dass über sie im Fall der Übergabe ein Gericht Recht sprechen wird, das dafür nicht zuständig ist, kann das Vorliegen einer solchen Gefahr nur dann festgestellt werden, wenn in Anbetracht der im Ausstellungsmitgliedstaat anwendbaren Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die gerichtlichen Verfahrensregeln die fehlende Zuständigkeit des Gerichts offensichtlich ist, das wahrscheinlich in dem Verfahren entscheiden wird, das in diesem Mitgliedstaat gegen diese Person geführt werden wird.

108    Obwohl eine solche fehlende Zuständigkeit geeignet wäre, legitime Bedenken insbesondere hinsichtlich der Unparteilichkeit des betreffenden Gerichts zu wecken und der Übergabe dieser Person entgegenzustehen, lässt sich eine solche Feststellung nämlich nicht wirksam darauf stützen, dass hinsichtlich der genauen Bedeutung dieser Vorschriften zwischen den Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats und denen des Vollstreckungsmitgliedstaats Uneinigkeit besteht.

109    Soweit aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, dass sich das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) insbesondere die Frage stellt, ob es der vollstreckenden Justizbehörde möglich ist, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wegen einer Gefahr der Verletzung von Art. 47 Abs. 2 der Charta abzulehnen, ohne das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel im Ausstellungsmitgliedstaat festgestellt zu haben, ist schließlich darauf hinzuweisen, dass die erlangten Informationen auf den beiden Stufen der in Rn. 97 des vorliegenden Urteils genannten Prüfung anhand unterschiedlicher Kriterien zu analysieren sind, so dass diese Prüfungsschritte einander nicht überschneiden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Openbaar Ministerie (Unabhängigkeit der ausstellenden Justizbehörde), C‑354/20 PPU und C‑412/20 PPU, EU:C:2020:1033, Rn. 56).

110    Hierzu geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Feststellung von Anhaltspunkten für systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats es nicht rechtfertigen kann, dass diese Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ablehnt, ohne den zweiten Schritt der in Rn. 97 des vorliegenden Urteils genannten Prüfung abgeschlossen zu haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 81).

111    Wenn eine Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, geltend macht, dass ihr deshalb eine Verletzung von Art. 47 Abs. 2 der Charta drohe, weil über sie ein Gericht des Ausstellungsmitgliedstaats Recht sprechen werde, das dafür nicht zuständig sei, die vollstreckende Justizbehörde aber der Auffassung ist, die ihr vorliegenden Anhaltspunkte stellten keine objektiven, zuverlässigen, genauen und gebührend aktualisierten Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems dieses Mitgliedstaats oder von Mängeln dar, die den gerichtlichen Schutz einer objektiv identifizierbaren Gruppe von Personen beeinträchtigten, zu der auch diese Person gehöre, darf diese Behörde die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls ebenfalls nicht aufgrund des von dieser Person geltend gemachten Grundes ablehnen.

112    Es ist nämlich zu betonen, dass dann, wenn die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats Rechtsbehelfe vorsieht, mit denen die Zuständigkeit des Strafgerichts, das über eine Person zu urteilen hat, die in Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls übergeben wurde, in der Form kontrolliert werden kann, dass dieses Gericht seine eigene Zuständigkeit prüft, oder im Wege eines bei einem anderen Gericht einzulegenden Rechtsbehelfs kontrolliert werden kann, die Gefahr, dass über diese Person ein Gericht dieses Mitgliedstaats Recht sprechen wird, das dafür nicht zuständig ist, grundsätzlich dadurch ausgeschlossen werden kann, dass die genannte Person diese Rechtsbehelfe einlegt.

113    Außerdem ist in Anbetracht der Art der Verletzung von Art. 47 Abs. 2 der Charta, die eine Person geltend macht, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet und die sich in einer Situation wie der in der Frage 4 c) genannten befindet, festzustellen, dass die Einlegung solcher Rechtsbehelfe es ermöglichen muss, sofern sie wirksam sind, den Eintritt dieses Verstoßes oder jedenfalls eines nicht wiedergutzumachenden Schadens, der sich aus diesem Verstoß ergibt, zu verhindern.

114    Wenn keine objektiven, zuverlässigen, genauen und gebührend aktualisierten Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel des Funktionierens des Justizsystems dieses Mitgliedstaats oder von Mängeln, die den gerichtlichen Schutz einer objektiv identifizierbaren Gruppe von Personen beeinträchtigten, zu der auch die betreffende Person gehört, vorliegen, besteht für die vollstreckende Justizbehörde indessen kein triftiger Grund für die Annahme, dass es die in Rn. 112 des vorliegenden Urteils genannten Rechtsbehelfe nicht gäbe oder dass sie nicht wirksam wären. Wie der Generalanwalt in Nr. 116 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist diese Justizbehörde gemäß dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens vielmehr gehalten, ihre Prüfung auf das Bestehen und die Wirksamkeit dieser Rechtsbehelfe zu stützen.

115    Das Vertrauen, das den Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats somit entgegenzubringen ist, stellt im Übrigen die logische Folge des in Rn. 54 des vorliegenden Urteils erwähnten Grundsatzes dar, wonach es in erster Linie in den Verantwortungsbereich dieses Mitgliedstaats fällt, die Wahrung der Grundrechte einer Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, zu gewährleisten.

116    Würde ein solches Vertrauen nicht bestehen, müsste die vollstreckende Justizbehörde, sobald ihr Behauptungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden zugetragen werden, prüfen, ob die Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats ihre eigenen Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die gerichtlichen Verfahrensvorschriften in einem Einzelfall anwenden, was, wie in Rn. 88 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zuwiderliefe, der dem Rahmenbeschluss 2002/584 zugrunde liegt. Nach ständiger Rechtsprechung darf dieser Rahmenbeschluss im Licht der Bestimmungen der Charta allerdings nicht so ausgelegt werden, dass dadurch die Wirksamkeit des Systems der justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten beeinträchtigt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 47).

117    Die vorstehende Auslegung ermöglicht es somit, zu gewährleisten, dass eine von der vollstreckenden Justizbehörde angestellte Prüfung, ob das in Art. 47 Abs. 2 der Charta vorgesehene Recht durch die Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats geachtet wird, gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs nur unter außergewöhnlichen Umständen in Betracht gezogen werden darf (vgl. in diesem Sinne Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 191).

118    Mit dieser Auslegung kann auch sichergestellt werden, dass neben den Gewährleistungen, die sich für die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, aus Art. 47 der Charta ergeben, andere Interessen wie die Notwendigkeit, gegebenenfalls die Grundrechte der Opfer der betreffenden Straftaten zu wahren, berücksichtigt werden (vgl. entsprechend Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 60 bis 63).

119    Nach alledem ist auf die Fragen 4 c) und 5 zu antworten, dass Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, zu entscheiden hat, dessen Vollstreckung nicht mit der Begründung ablehnen darf, dass diese Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat Gefahr läuft, dass ein Gericht über sie Recht spricht, das dafür nicht zuständig ist, außer wenn

–        diese Justizbehörde zum einen im Hinblick auf das Erfordernis eines durch Gesetz errichteten Gerichts über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats oder von Mängeln verfügt, die den gerichtlichen Schutz einer objektiv identifizierbaren Gruppe von Personen beeinträchtigen, zu der auch die betreffende Person gehört, die zur Folge haben, dass den betreffenden Rechtssuchenden in diesem Mitgliedstaat im Allgemeinen kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung steht, mit dem die Zuständigkeit des Strafgerichts, das über sie Recht zu sprechen hat, überprüft werden kann, und

–        diese Justizbehörde zum anderen feststellt, dass es unter den besonderen Umständen der in Rede stehenden Rechtssache ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass insbesondere unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Situation, der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des der Ausstellung dieses Haftbefehls zugrunde liegenden Sachverhalts oder jedes anderen maßgeblichen Umstands das Gericht, das wahrscheinlich in dem Verfahren, das gegen diese Person im Ausstellungsmitgliedstaat geführt werden wird, zu entscheiden hat, offensichtlich nicht dafür zuständig ist.

120    Dass sich die betreffende Person vor den Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats auf ihre Grundrechte berufen konnte, um die Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde und den Europäischen Haftbefehl, der gegen sie erlassen wurde, anzufechten, ist insoweit nicht ausschlaggebend.

 Zur Frage 4 a) und b)

121    Mit seiner Frage 4 a) und b) möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass in einer Situation, in der eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, geltend macht, dass sie nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat Gefahr laufe, dass ein Gericht über sie Recht spreche, das dafür nicht zuständig sei, das Vorliegen eines Berichts der WGAD für sich allein genommen es rechtfertigen kann, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls ablehnen kann, oder, wenn dies nicht der Fall ist, dies von dieser Justizbehörde berücksichtigt werden kann, um zu entscheiden, ob die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls aus dem von dieser Person geltend gemachten Grund abzulehnen ist.

122    Aus der Antwort auf die Frage 4 c) geht hervor, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nur dann mit der Begründung abgelehnt werden kann, dass die von ihm betroffene Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat Gefahr läuft, dass ein Gericht über sie Recht spricht, das dafür nicht zuständig ist, sofern die vollstreckende Justizbehörde zum einen das Vorliegen einer echten Gefahr bejaht, dass in diesem Mitgliedstaat gegen das von Art. 47 Abs. 2 der Charta gewährleistete Grundrecht auf ein faires Verfahren verstoßen wird, weil systemische oder allgemeine Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems dieses Mitgliedstaats oder Mängel vorliegen, die den gerichtlichen Schutz einer objektiv identifizierbaren Gruppe von Personen, zu denen diese Person gehört, beeinträchtigen, und diese vollstreckende Justizbehörde zum anderen feststellt, dass das Gericht, das wahrscheinlich in dem Verfahren, das im Ausstellungsmitgliedstaat gegen diese Person geführt werden wird, zu entscheiden hat, offensichtlich unzuständig ist.

123    Da eine solche Feststellung auf objektiven, zuverlässigen, genauen und gebührend aktualisierten Anhaltspunkten in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats sowie auf einer konkreten und genauen Prüfung der individuellen Situation der gesuchten Person beruhen muss, kann ein Bericht der WGAD, der nach den Angaben des vorlegenden Gerichts nicht unmittelbar diese Situation betrifft, nicht dafür ausreichend sein, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der sich gegen diese Person richtet, abzulehnen.

124    Allerdings geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass sich die objektiven, zuverlässigen, genauen und gebührend aktualisierten Anhaltspunkte, auf die sich die vollstreckende Justizbehörde stützen muss, um den ersten Schritt der in Rn. 97 des vorliegenden Urteils genannten Prüfung abzuschließen, u. a. aus Entscheidungen internationaler Gerichte wie Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, aus Entscheidungen von Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats oder aus Entscheidungen, Berichten und anderen Schriftstücken von Organen des Europarats oder aus dem System der Vereinten Nationen ergeben können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. April 2016, Aranyosi und Căldăraru, C‑404/15 und C‑659/15 PPU, EU:C:2016:198, Rn. 89).

125    Da das Mandat der WGAD aus den Resolutionen 15/18, 20/16 und 33/30 des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen hervorgeht, der selbst mit der Resolution 60/251 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 15. März 2006 geschaffen wurde, kann daher ein von der WGAD erstellter Bericht zu den Gesichtspunkten gehören, die im Rahmen des ersten Prüfungsschritts berücksichtigt werden können, ohne dass die vollstreckende Justizbehörde jedoch an die Schlussfolgerungen in diesem Bericht gebunden ist.

126    Infolgedessen ist auf die Frage 4 a) und b) zu antworten, dass Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass in einer Situation, in der eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, geltend macht, dass sie nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat Gefahr laufe, dass ein Gericht über sie Recht spreche, das dafür nicht zuständig sei, das Vorliegen eines Berichts der WGAD, der nicht unmittelbar die Situation dieser Person betrifft, es für sich allein genommen nicht rechtfertigen kann, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls ablehnt, ein solcher Bericht aber von dieser Justizbehörde zusammen mit anderen Gesichtspunkten berücksichtigt werden kann, um das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems dieses Mitgliedstaats oder von Mängeln zu prüfen, die den gerichtlichen Schutz einer objektiv identifizierbaren Gruppe von Personen, zu der auch diese Person gehört, beeinträchtigen.

 Zur sechsten Frage

127    Vorab ist festzustellen, dass die sechste Frage die Möglichkeit betrifft, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls entweder mit der Begründung abzulehnen, dass die ausstellende Justizbehörde für die Ausstellung dieses Europäischen Haftbefehls nicht zuständig ist oder dass die Person, gegen die sich dieser Haftbefehl richtet, nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat Gefahr läuft, dass ein Gericht über sie Recht spricht, das dafür nicht zuständig ist.

128    Da der Antwort auf die dritte Frage zu entnehmen ist, dass der erste dieser beiden Gründe die Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls jedenfalls nicht rechtfertigen kann, ist die sechste Frage nur zu prüfen, soweit sie den zweiten dieser Gründe betrifft.

129    Demzufolge ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner sechsten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass die vollstreckende Justizbehörde, ohne die ausstellende Justizbehörde zuvor um zusätzliche Informationen gebeten zu haben, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls mit der Begründung ablehnt, dass die Person, gegen die sich dieser Haftbefehl richtet, Gefahr läuft, dass über sie nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat ein Gericht Recht sprechen wird, das dafür nicht zuständig ist.

130    Nach Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 bittet die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie der Ansicht ist, dass die vom Ausstellungsmitgliedstaat übermittelten Informationen nicht ausreichen, um über die Übergabe entscheiden zu können, um die unverzügliche Übermittlung der notwendigen zusätzlichen Informationen.

131    Ferner geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV verankerte Pflicht zu loyaler Zusammenarbeit, um insbesondere eine Lähmung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Haftbefehls zu vermeiden, den Dialog zwischen den vollstreckenden und den ausstellenden Justizbehörden leiten muss. Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten insbesondere gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

132    In dieser Hinsicht müssen die ausstellenden und die vollstreckenden Justizbehörden im Hinblick auf eine wirksame justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen umfassend von den Instrumenten Gebrauch machen, die namentlich in Art. 8 Abs. 1 und in Art. 15 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehen sind, um das gegenseitige Vertrauen zu fördern, das dieser Zusammenarbeit zugrunde liegt (Urteil vom 22. Februar 2022, Openbaar Ministerie [Im Ausstellungsmitgliedstaat durch Gesetz errichtetes Gericht], C‑562/21 PPU und C‑563/21 PPU, EU:C:2022:100, Rn. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

133    In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass, wie sich aus Rn. 107 des vorliegenden Urteils ergibt, die vollstreckende Justizbehörde mit der Begründung, dass die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat Gefahr läuft, dass über sie ein Gericht Recht sprechen wird, das dafür nicht zuständig ist, die Vollstreckung des Haftbefehls insbesondere nur unter der Voraussetzung ablehnen darf, dass sie festgestellt hat, dass in Anbetracht der im Ausstellungsmitgliedstaat anwendbaren Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die gerichtlichen Verfahrensregeln die fehlende Zuständigkeit des Gerichts offensichtlich ist, das wahrscheinlich in dem Verfahren zu entscheiden hat, das in diesem Mitgliedstaat gegen die genannte Person geführt werden wird.

134    Da eine solche Feststellung notwendigerweise auf einer Analyse des Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats beruht, kann die vollstreckende Justizbehörde diese Feststellung nicht treffen, ohne zuvor die ausstellende Justizbehörde um zusätzliche Informationen über diese Vorschriften gebeten zu haben, da sie sonst gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verstieße.

135    Es ist allerdings hervorzuheben, dass sich aus der Antwort auf die Frage 4 c) ergibt, dass sich ein solches Ersuchen in dem Fall nicht rechtfertigen lässt, in dem die vollstreckende Justizbehörde der Ansicht ist, über keine objektiven, zuverlässigen, genauen und gebührend aktualisierten Anhaltspunkte zu verfügen, mit denen das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems dieses Mitgliedstaats oder von Mängeln belegt werden kann, die den gerichtlichen Schutz einer objektiv identifizierbaren Gruppe von Personen beeinträchtigen, zu der auch die betreffende Person gehört. Denn diese Behörde vermag in einem solchen Fall die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht unter Verweis auf eine offensichtlich fehlende Zuständigkeit des Gerichts abzulehnen, das wahrscheinlich über diese Person Recht zu sprechen hat.

136    Infolgedessen ist auf die sechste Frage zu antworten, dass Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass er dem entgegensteht, dass die vollstreckende Justizbehörde, ohne die ausstellende Justizbehörde zuvor um zusätzliche Informationen gebeten zu haben, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls mit der Begründung ablehnt, dass die Person, gegen die sich dieser Haftbefehl richtet, Gefahr läuft, dass über sie nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat ein Gericht Recht sprechen wird, das dafür nicht zuständig ist.

 Zur siebten Frage

137    Das vorlegende Gericht stellt klar, dass es den Gerichtshof um eine Antwort auf die siebte Frage ersucht, wenn sich aus den Antworten auf die Fragen 1 bis 6 ergibt, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 unter den Umständen des Ausgangsverfahrens einer Ablehnung der Übergabe einer Person aus den in diesen Fragen genannten Gründen entgegensteht.

138    Da Art. 267 AEUV dem Gerichtshof nicht die Befugnis verleiht, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Bouygues travaux publics u. a., C‑17/19, EU:C:2020:379, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung), ist unbeschadet dessen, wie die zuständigen Gerichte die Möglichkeit beurteilen werden, die vom vorlegenden Gericht im Ausgangsverfahren erlassenen Europäischen Haftbefehle zu vollstrecken, die siebte Frage für alle Fälle zu beantworten.

139    Mit seiner siebten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Rahmenbeschluss 2002/584 dahin auszulegen ist, dass er dem Erlass mehrerer aufeinanderfolgender Europäischer Haftbefehle gegen eine gesuchte Person entgegensteht, um ihre Übergabe durch einen Mitgliedstaat zu erreichen, nachdem die Vollstreckung eines ersten Europäischen Haftbefehls gegen diese Person von diesem Mitgliedstaat abgelehnt wurde.

140    In diesem Zusammenhang ist sogleich festzustellen, dass keine Bestimmung des Rahmenbeschlusses 2002/584 den Erlass mehrerer aufeinanderfolgender Europäischer Haftbefehle gegen eine Person – auch dann nicht, wenn die Vollstreckung eines ersten Europäischen Haftbefehls gegen diese Person abgelehnt wurde – ausschließt.

141    Des Weiteren kann sich eine solche Ausstellung als notwendig erweisen – insbesondere nachdem die Gesichtspunkte, die der Vollstreckung eines früheren Europäischen Haftbefehls entgegenstanden, beseitigt wurden, oder wenn die Entscheidung über die Ablehnung der Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls unionsrechtswidrig war –, um das Verfahren zur Übergabe einer gesuchten Person abzuschließen und, wie der Generalanwalt in Nr. 137 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, mithin die Erreichung des mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 verfolgten Ziels der Bekämpfung der Straflosigkeit zu fördern.

142    Allerdings geht zum einen aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass der Erlass eines Europäischen Haftbefehls, dessen Vollstreckung zu einem Verstoß gegen Art. 47 der Charta führen würde und die unter den in der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs dargestellten Voraussetzungen von der vollstreckenden Justizbehörde abgelehnt werden müsste, nicht mit den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der loyalen Zusammenarbeit vereinbar ist (vgl. entsprechend Urteil vom 11. November 2021, Gavanozov II, C‑852/19, EU:C:2021:902, Rn. 60).

143    Demzufolge darf eine ausstellende Justizbehörde, wenn sich die Umstände nicht ändern, keinen neuen Europäischen Haftbefehl gegen eine Person ausstellen, nachdem eine vollstreckende Justizbehörde gemäß dem, was ihr Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta vorschreibt, die Vollstreckung eines früheren gegen diese Person erlassenen Europäischen Haftbefehls abgelehnt hat.

144    Da der Erlass eines Europäischen Haftbefehls, wie in Rn. 54 des vorliegenden Urteils festgestellt wurde, die Festnahme der Person, gegen die der Haftbefehl besteht, zur Folge haben und damit deren individuelle Freiheit beeinträchtigen kann, muss die Justizbehörde, die beabsichtigt, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, zum anderen prüfen, ob seine Ausstellung in Anbetracht der Besonderheiten des Einzelfalls verhältnismäßig ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Mai 2019, PF [Generalstaatsanwalt von Litauen], C‑509/18, EU:C:2019:457, Rn. 49, und vom 13. Januar 2021, MM, C‑414/20 PPU, EU:C:2021:4, Rn. 64).

145    Im Rahmen einer solchen Prüfung muss diese Justizbehörde insbesondere die Art und die Schwere der Tat, derentwegen die gesuchte Person verfolgt wird, die Folgen des oder der zuvor gegen sie erlassenen Europäischen Haftbefehle für diese Person oder die voraussichtliche Vollstreckung eines etwaigen neuen Europäischen Haftbefehls berücksichtigen.

146    Nach alledem ist auf die siebte Frage zu antworten, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 dahin auszulegen ist, dass er dem Erlass mehrerer aufeinanderfolgender Europäischer Haftbefehle gegen eine gesuchte Person, um ihre Übergabe durch einen Mitgliedstaat zu erreichen, nachdem die Vollstreckung eines ersten Europäischen Haftbefehls gegen diese Person von diesem Mitgliedstaat abgelehnt wurde, nicht entgegensteht, sofern die Vollstreckung eines neuen Europäischen Haftbefehls nicht zu einem Verstoß gegen Art. 1 Abs. 3 dieses Rahmenbeschlusses führt und der Erlass dieses neuen Europäischen Haftbefehls verhältnismäßig ist.

 Kosten

147    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

eine vollstreckende Justizbehörde nicht befugt ist, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls unter Berufung auf einen Ablehnungsgrund abzulehnen, der nicht aus diesem Rahmenbeschluss, sondern nur aus dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats hervorgeht. Eine solche Justizbehörde kann aber eine nationale Bestimmung anwenden, die vorsieht, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abgelehnt wird, wenn diese Vollstreckung zu einer Verletzung eines im Unionsrecht niedergelegten Grundrechts führen würde, sofern die Tragweite dieser Bestimmung nicht über die von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in geänderter Fassung in der Auslegung durch den Gerichtshof hinausgeht.

2.      Art. 1 Abs. 1 und 2 sowie Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung

sind dahin auszulegen, dass

dass die vollstreckende Justizbehörde nicht überprüfen darf, ob ein Europäischer Haftbefehl von einer dafür zuständigen Justizbehörde ausgestellt wurde, und die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls nicht ablehnen darf, wenn dies ihres Erachtens nicht der Fall ist.

3.      Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass

die vollstreckende Justizbehörde, die über die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, zu entscheiden hat, dessen Vollstreckung nicht mit der Begründung ablehnen darf, dass diese Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat Gefahr läuft, dass ein Gericht über sie Recht spricht, das dafür nicht zuständig ist, außer wenn

–        diese Justizbehörde zum einen im Hinblick auf das Erfordernis eines durch Gesetz errichteten Gerichts über objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Anhaltspunkte für das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats oder von Mängeln verfügt, die den gerichtlichen Schutz einer objektiv identifizierbaren Gruppe von Personen beeinträchtigen, zu der auch die betreffende Person gehört, die zur Folge haben, dass den betreffenden Rechtssuchenden in diesem Mitgliedstaat im Allgemeinen kein wirksamer Rechtsbehelf zur Verfügung steht, mit dem die Zuständigkeit des Strafgerichts, das über sie Recht zu sprechen hat, überprüft werden kann, und

–        diese Justizbehörde zum anderen feststellt, dass es unter den besonderen Umständen der in Rede stehenden Rechtssache ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass insbesondere unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Situation, der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des der Ausstellung dieses Haftbefehls zugrunde liegenden Sachverhalts oder jedes anderen maßgeblichen Umstands das Gericht, das wahrscheinlich in dem Verfahren, das gegen diese Person im Ausstellungsmitgliedstaat geführt werden wird, zu entscheiden hat, offensichtlich nicht dafür zuständig ist.

Dass sich die betreffende Person vor den Gerichten des Ausstellungsmitgliedstaats auf ihre Grundrechte berufen konnte, um die Zuständigkeit der ausstellenden Justizbehörde und den Europäischen Haftbefehl, der gegen sie erlassen wurde, anzufechten, ist insoweit nicht ausschlaggebend.

4.      Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte

dahin auszulegen, dass

in einer Situation, in der eine Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, geltend macht, dass sie nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat Gefahr laufe, dass ein Gericht über sie Recht spreche, das dafür nicht zuständig sei, das Vorliegen eines Berichts der Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungen, der nicht unmittelbar die Situation dieser Person betrifft, es für sich allein genommen nicht rechtfertigen kann, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung dieses Europäischen Haftbefehls ablehnt, ein solcher Bericht aber von dieser Justizbehörde zusammen mit anderen Gesichtspunkten berücksichtigt werden kann, um das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems dieses Mitgliedstaats oder von Mängeln zu prüfen, die den gerichtlichen Schutz einer objektiv identifizierbaren Gruppe von Personen, zu der auch diese Person gehört, beeinträchtigen.

5.      Art. 15 Abs. 2 des Rahmenbeschluss 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

er dem entgegensteht, dass die vollstreckende Justizbehörde, ohne die ausstellende Justizbehörde zuvor um zusätzliche Informationen gebeten zu haben, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls mit der Begründung ablehnt, dass die Person, gegen die sich dieser Haftbefehl richtet, Gefahr läuft, dass über sie nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat ein Gericht Recht sprechen wird, das dafür nicht zuständig ist.

6.      Der Rahmenbeschluss 2002/584 in durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

er dem Erlass mehrerer aufeinanderfolgender Europäischer Haftbefehle gegen eine gesuchte Person, um ihre Übergabe durch einen Mitgliedstaat zu erreichen, nachdem die Vollstreckung eines ersten Europäischen Haftbefehls gegen diese Person von diesem Mitgliedstaat abgelehnt wurde, nicht entgegensteht, sofern die Vollstreckung eines neuen Europäischen Haftbefehls nicht zu einem Verstoß gegen Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in geänderter Fassung führt und der Erlass dieses neuen Europäischen Haftbefehls verhältnismäßig ist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Spanisch.