Language of document : ECLI:EU:C:2023:271

SCHLUSSANTRÄGE DES GENRALANWALTS

ATHANASIOS RANTOS

vom 30. März 2023(1)

Rechtssache C143/22

Association Avocats pour la défense des droits des étrangers (ADDE),

Association nationale d’assistance aux frontières pour les étrangers (ANAFE),

Association de recherche, de communication et d’action pour l’accès aux traitements (ARCAT),

Comité inter-mouvements auprès des évacués (CIMADE),

Fédération des associations de solidarité avec tou-te-s les immigré-e-s (FASTI),

Groupe d’information et de soutien des immigrés (GISTI),

Ligue des droits de l’homme (LDH),

Le paria,

Syndicat des avocats de France (SAF),

SOS – Hépatites Fédération

gegen

Ministre de l’Intérieur,

Beteiligter:

Défenseur des droits

(Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Frankreich])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Grenzen, Asyl und Einwanderung – Richtlinie 2008/115/EG – Regelung für das Überschreiten der Grenzen durch Personen – Verordnung (EU) 2016/399 – Vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen – Folgen für die Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie“






 Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen fügt sich in eine Reihe von Rechtssachen ein, mit denen der Gerichtshof seit 2011 befasst wurde und die die Frage der Vereinbarkeit bestimmter Vorschriften des französischen Code de l’entrée et du séjour des étrangers et du droit d’asile (Gesetzbuch über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht) (im Folgenden: Ceseda) mit den Anforderungen der Richtlinie 2008/115/EG(2) sowie mit denjenigen der Verordnung (EU) 2016/399(3) (im Folgenden: Schengener Grenzkodex) betreffen(4). Insbesondere die beiden letztgenannten Rechtssachen, in denen die Urteile Affum und Arib u. a ergangen sind, sind für den vorliegenden Fall relevant.

2.        Im vorliegenden Fall reichten mehrere Verbände eine Klage beim Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) insbesondere auf Nichtigerklärung der Ordonnance (Beschluss) Nr. 2020–1733 vom 16. Dezember 2020 ein, die den legislativen Teil des Gesetzbuchs über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern und über das Asylrecht(5) enthält (im Folgenden: Ordonnance Nr. 2020–1733). Die entscheidende Frage im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren ist, ob ein Mitgliedstaat, der beschließt, gemäß dem Schengener Grenzkodex Kontrollen an den Binnengrenzen einzuführen, die Vorschriften der Richtlinie 2008/115 anwenden muss oder ob er auf Art. 14 dieses Kodex zurückgreifen kann, um einem Drittstaatsangehörigen die Einreise zu verweigern.

3.        In den vorliegenden Schlussanträgen schlage ich dem Gerichtshof vor, zu antworten, dass eine Situation wie die vom vorlegenden Gericht beschriebene wie die Situationen zu behandeln ist, die zu den Urteilen Affum und Arib u. a. geführt haben, und dass die Vorschriften der Richtlinie 2008/115 Anwendung finden. Art. 14 des Schengener Grenzkodex ist dagegen nicht anzuwenden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Schengener Grenzkodex

4.        In Art. 2 des Schengener Grenzkodex heißt es:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

1)      ‚Binnengrenzen‘

a)      die gemeinsamen Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen,

b)      die Flughäfen der Mitgliedstaaten für Binnenflüge,

c)      die See‑, Flussschifffahrts- und Binnenseehäfen der Mitgliedstaaten für regelmäßige interne Fährverbindungen;

2)      ‚Außengrenzen‘ die Landgrenzen der Mitgliedstaaten, einschließlich der Fluss- und Binnenseegrenzen, der Seegrenzen und der Flughäfen sowie der Flussschifffahrts‑, See- und Binnenseehäfen, soweit sie nicht Binnengrenzen sind;

…“

5.        Art. 6 dieses Kodex bestimmt:

„(1)      Für einen geplanten Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen, wobei der Zeitraum von 180 Tagen, der jedem Tag des Aufenthalts vorangeht, berücksichtigt wird, gelten für einen Drittstaatsangehörigen folgende Einreisevoraussetzungen:

a)      Er muss im Besitz eines gültigen Reisedokuments sein, das seinen Inhaber zum Überschreiten der Grenze berechtigt und folgende Anforderungen erfüllt:

i)      Es muss mindestens noch drei Monate nach der geplanten Ausreise aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten gültig [sein]. In begründeten Notfällen kann von dieser Verpflichtung abgesehen werden.

ii)      Es muss innerhalb der vorangegangenen zehn Jahre ausgestellt worden sein.

b)      Er muss im Besitz eines gültigen Visums sein, falls dies nach der [Verordnung (EG) Nr. 539/2001(6)] vorgeschrieben ist, außer wenn er Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder eines gültigen Visums für den längerfristigen Aufenthalt ist.

c)      Er muss den Zweck und die Umstände des beabsichtigten Aufenthalts belegen, und er muss über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowohl für die Dauer des beabsichtigten Aufenthalts als auch für die Rückreise in den Herkunftsstaat oder für die Durchreise in einen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet ist, verfügen oder in der Lage sein, diese Mittel rechtmäßig zu erwerben.

d)      Er darf nicht im [Schengener Informationssystem] zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein.

e)      Er darf keine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen eines Mitgliedstaats darstellen und darf insbesondere nicht in den nationalen Datenbanken der Mitgliedstaaten zur Einreiseverweigerung aus denselben Gründen ausgeschrieben worden sein.

…“

6.        Art. 13 Abs. 1 dieses Kodex sieht vor:

„Die Grenzüberwachung dient insbesondere der Verhinderung des unbefugten Grenzübertritts, der Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität und der Veranlassung von Maßnahmen gegen Personen, die die Grenze unerlaubt überschreiten. Personen, die eine Grenze unerlaubt überschritten haben und die über kein Aufenthaltsrecht im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates verfügen, sind aufzugreifen und Verfahren zu unterziehen, die mit der Richtlinie [2008/115] in Einklang stehen.“

7.        In Art. 14 des Schengener Grenzkodex heißt es:

„(1)      Einem Drittstaatsangehörigen, der nicht alle Einreisevoraussetzungen des Artikels 6 Absatz 1 erfüllt und der nicht zu dem in Artikel 6 Absatz 5 genannten Personenkreis gehört, wird die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten verweigert. Davon unberührt bleibt die Anwendung besonderer Bestimmungen zum Asylrecht und zum internationalen Schutz oder zur Ausstellung von Visa für längerfristige Aufenthalte.

(2)      Die Einreiseverweigerung kann nur mittels einer begründeten Entscheidung unter genauer Angabe der Gründe für die Einreiseverweigerung erfolgen. Die Entscheidung wird von einer nach nationalem Recht zuständigen Behörde erlassen. Die Entscheidung tritt unmittelbar in Kraft.

Die begründete Entscheidung mit genauer Angabe der Gründe für die Einreiseverweigerung wird mit dem Standardformular nach Anhang V Teil B erteilt, das von der nach nationalem Recht zur Einreiseverweigerung berechtigten Behörde ausgefüllt wird. Das ausgefüllte Standardformular wird dem betreffenden Drittstaatsangehörigen ausgehändigt, der den Empfang der Entscheidung über die Einreiseverweigerung auf diesem Standardformular bestätigt.

(3)      Personen, denen die Einreise verweigert wird, steht ein Rechtsmittel zu. Die Verfahren für die Einlegung des Rechtsmittels bestimmen sich nach nationalem Recht. Dem Drittstaatsangehörigen werden auch schriftliche Angaben zu Kontaktstellen gemacht, die ihn über eine rechtliche Vertretung unterrichten können, die entsprechend dem nationalen Recht in seinem Namen vorgehen kann.

Die Einlegung eines solchen Rechtsmittels hat keine aufschiebende Wirkung im Hinblick auf die Entscheidung über die Einreiseverweigerung.

Wird im Rechtsmittelverfahren festgestellt, dass die Entscheidung über die Einreiseverweigerung unbegründet war, so hat der betreffende Drittstaatsangehörige unbeschadet einer nach nationalem Recht gewährten Entschädigung einen Anspruch auf Berichtigung des ungültig gemachten Einreisestempels und anderer Streichungen oder Vermerke durch den Mitgliedstaat, der ihm die Einreise verweigert hat.

(4)      Die Grenzschutzbeamten stellen sicher, dass ein Drittstaatsangehöriger, dem die Einreise verweigert wurde, das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats nicht betritt.

(6)      Die Modalitäten der Einreiseverweigerung sind in Anhang V Teil A festgelegt.“

8.        Art. 23 des Schengener Grenzkodex bestimmt:

„Das Ausbleiben der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen berührt nicht:

a)      die Ausübung der polizeilichen Befugnisse durch die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten nach Maßgabe des nationalen Rechts, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat; dies gilt auch in Grenzgebieten. Im Sinne von Satz 1 darf die Ausübung der polizeilichen Befugnisse insbesondere nicht der Durchführung von Grenzübertrittskontrollen gleichgestellt werden, wenn die polizeilichen Maßnahmen

i)      keine Grenzkontrollen zum Ziel haben;

ii)      auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen;

iii)      in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet;

iv)      auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden;

…“

9.        Art. 25 dieses Kodex sieht vor:

„(1)      Ist im Raum ohne Kontrollen an den Binnengrenzen die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht, so ist diesem Mitgliedstaat unter außergewöhnlichen Umständen die Wiedereinführung von Kontrollen an allen oder bestimmten Abschnitten seiner Binnengrenzen für einen begrenzten Zeitraum von höchstens 30 Tagen oder für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung, wenn ihre Dauer den Zeitraum von 30 Tagen überschreitet, gestattet. Die vorübergehende Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen darf in Umfang und Dauer nicht über das Maß hinausgehen, das zur Bewältigung der ernsthaften Bedrohung unbedingt erforderlich ist.

(2)      Kontrollen an den Binnengrenzen werden nur als letztes Mittel und im Einklang mit den Artikeln 27, 28 und 29 wiedereingeführt. Wird ein Beschluss zur Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen nach Artikel 27, 28 oder 29 in Betracht gezogen, so sind die in Artikel 26 beziehungsweise 30 genannten Kriterien in jedem einzelnen Fall zu Grunde zu legen.

(3)      Hält die ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in dem betreffenden Mitgliedstaat über den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Zeitraum hinaus an, so kann dieser Mitgliedstaat die Kontrollen an seinen Binnengrenzen unter Zugrundelegung der in Artikel 26 genannten Kriterien und gemäß Artikel 27 aus den in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten Gründen und unter Berücksichtigung neuer Umstände für weitere Zeiträume von höchstens 30 Tagen verlängern.

(4)      Der Gesamtzeitraum, innerhalb dessen Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereingeführt werden können, einschließlich etwaiger Verlängerungen nach Absatz 3 dieses Artikels, beträgt höchstens sechs Monate. Liegen außergewöhnliche Umstände im Sinne von Artikel 29 vor, so kann dieser Gesamtzeitraum gemäß Artikel 29 Absatz 1 auf eine Höchstdauer von zwei Jahren verlängert werden.“

10.      Art. 32 des Schengener Grenzkodex lautet:

„Bei Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen finden die einschlägigen Bestimmungen des Titels II entsprechend Anwendung.“

11.      Die Art. 5, 13 und 14 des Schengener Grenzkodex gehören zu Titel II („Außengrenzen“), während die Art. 23, 25 und 32 dieses Kodex zu Titel III („Binnengrenzen“) gehören.

12.      Anhang V Teil A des Schengener Grenzkodex sieht vor:

„1.      Im Falle einer Einreiseverweigerung

a)      füllt der zuständige Grenzschutzbeamte das in Teil B dargestellte Standardformular für die Einreiseverweigerung aus. Der betreffende Drittstaatsangehörige unterschreibt das Formular und erhält eine Kopie des unterschriebenen Formulars. Verweigert der Drittstaatsangehörige die Unterschrift, so vermerkt der Grenzschutzbeamte dies im Feld ‚Bemerkungen‘ des Formulars“;

b)      bringt der zuständige Grenzschutzbeamte in dem Pass einen Einreisestempel an, den er in Form eines Kreuzes mit schwarzer, dokumentenechter Tinte durchstreicht; zudem trägt er rechts neben diesem Stempel ebenfalls mit dokumentenechter Tinte den oder die Kennbuchstaben ein, die dem Grund oder den Gründen für die Einreiseverweigerung entsprechen und die in dem genannten Standardformular aufgeführt sind;

c)      annulliert oder hebt der zuständige Grenzschutzbeamte das Visum gemäß dem Verfahren des Artikels 34 der [Verordnung (EG) Nr. 810/2009(7)] auf;

d)      erfasst der zuständige Grenzschutzbeamte die Einreiseverweigerung akten- oder listenmäßig mit Angabe der Personalien und der Staatsangehörigkeit des betroffenen Drittstaatsangehörigen, des Grenzübertrittspapiers sowie des Einreiseverweigerungsgrundes und ‑datums.

2.      Ist der Drittstaatsangehörige, dem die Einreise verweigert wurde, von einem Beförderungsunternehmer an die Außengrenze verbracht worden, so geht die örtlich zuständige Behörde wie folgt vor:

a)      Sie ordnet gegenüber diesem Unternehmer an, den Drittstaatsangehörigen gemäß Artikel 26 des Schengener Durchführungsübereinkommens und gemäß der [Richtlinie 2001/51/EG(8)] zurückzunehmen und ihn umgehend in den Drittstaat, aus dem er befördert wurde, in den Drittstaat, der das Grenzübertrittspapier ausgestellt hat, oder in jeden anderen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet ist, zu befördern oder Mittel für seinen Rücktransport zu finden;

b)      sie trifft bis zur Durchführung des Rücktransports unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten nach Maßgabe des nationalen Rechts geeignete Maßnahmen, um die unerlaubte Einreise von Drittstaatsangehörigen, denen die Einreise verweigert wurde, zu verhindern.

…“

 Richtlinie 2008/115

13.      Art. 2 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie findet Anwendung auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige.

(2)      Die Mitgliedstaaten können beschließen, diese Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden:

a)      die einem Einreiseverbot nach Artikel 13 des Schengener Grenzkodex unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats auf dem Land‑, See- oder Luftwege aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten;

b)      die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist.

…“

14.      In Art. 3 dieser Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnen die Ausdrücke

2.      ‚illegaler Aufenthalt‘: die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats;

…“

15.      Art. 4 Abs. 4 dieser Richtlinie sieht vor:

„In Bezug auf die nach Artikel 2 Absatz 2 Buchstabe a vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgenommenen Drittstaatsangehörigen verfahren die Mitgliedstaaten wie folgt; sie:

a)      stellen sicher, dass diese nicht eine weniger günstige Behandlung erfahren oder ihnen nicht ein geringeres Maß an Schutz gewährt wird, als dies in Artikel 8 Absätze 4 und 5 (Beschränkung der Anwendung von Zwangsmaßnahmen), Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe a (Aufschub der Abschiebung), Artikel 14 Absatz 1 Buchstaben b und d (medizinische Notversorgung und Berücksichtigung der Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen) und Artikel 16 und 17 (Haftbedingungen) vorgesehen ist, und

b)      halten den Grundsatz der Nichtzurückweisung ein.“

16.      Art. 6 der Richtlinie 2008/115 bestimmt:

„(1)      Unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 erlassen die Mitgliedstaaten gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

(2)      Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, sind zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet Absatz 1 Anwendung.

(3)      Die Mitgliedstaaten können davon absehen, eine Rückkehrentscheidung gegen illegal in ihrem Gebiet aufhältige Drittstaatsangehörige zu erlassen, wenn diese Personen von einem anderen Mitgliedstaat aufgrund von zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie geltenden bilateralen Abkommen oder Vereinbarungen wieder aufgenommen [werden]. In einem solchen Fall wendet der Mitgliedstaat, der die betreffenden Drittstaatsangehörigen wieder aufgenommen hat, Absatz 1 an.

(6)      Durch diese Richtlinie sollen die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert werden, entsprechend ihren innerstaatlichen Rechtsvorschriften und unbeschadet der nach Kapitel III und nach anderen einschlägigen Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts und des einzelstaatlichen Rechts verfügbaren Verfahrensgarantien mit einer einzigen behördlichen oder richterlichen Entscheidung eine Entscheidung über die Beendigung eines legalen Aufenthalts sowie eine Rückkehrentscheidung und/oder eine Entscheidung über eine Abschiebung und/oder ein Einreiseverbot zu erlassen.“

 Französisches Recht

17.      Art. L. 332‑2 Ceseda in der Fassung der Ordonnance Nr. 2020‑1733 bestimmt:

„Die schriftliche und mit Gründen versehene Entscheidung über die Verweigerung der Einreise wird von einem Bediensteten getroffen, der zu einem gesetzlich festgelegten Personenkreis gehört.

In der Bekanntgabe der Verweigerung der Einreise wird auf das Recht des Ausländers hingewiesen, die Person, die er als diejenige Person angegeben hat, bei der er seinen Aufenthalt nehmen wird, sein Konsulat oder einen Rechtsbeistand seiner Wahl zu benachrichtigen oder benachrichtigen zu lassen. Es wird auch das Recht des Ausländers erwähnt, eine Rückführung vor Ablauf einer Frist von 24 Stunden unter den in Art. L. 333‑2 vorgesehenen Voraussetzungen abzulehnen.

Die Entscheidung und die begleitende Mitteilung der Rechte werden in einer ihm verständlichen Sprache übermittelt.

Eine besondere Aufmerksamkeit wird schutzbedürftigen Personen, insbesondere Minderjährigen mit oder ohne Begleitung eines Erwachsenen, gewährt.“

18.      Art. L. 332‑3 Ceseda, der aus der Ordonnance Nr. 2020‑1733 hervorgegangen ist, sieht vor:

„Das Verfahren in Art. L. 332‑2 wird auf die gegen den Ausländer erlassene Entscheidung über die Einreiseverweigerung nach Art. 6 des [Schengener Grenzkodex] angewandt. Es findet auch Anwendung bei den Kontrollen an einer Binnengrenze im Fall der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen unter den in Titel III Kapitel II des [Schengener Grenzkodex] vorgesehenen Voraussetzungen.“

 Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

19.      Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens erhoben beim Conseil d’État (Staatsrat) Klage u. a. auf Nichtigerklärung von Art. L. 332‑3 Ceseda. Sie machen insbesondere geltend, dass dieser Artikel gegen die Richtlinie 2008/115 verstoße, indem er erlaube, dass an den Binnengrenzen, an denen Kontrollen wiedereingeführt wurden, Einreisen verweigert würden.

20.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Gerichtshof in seinem Urteil Arib u. a. entschieden habe, dass Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 in Verbindung mit Art. 32 des Schengener Grenzkodex nicht für den Fall eines Drittstaatsangehörigen gelte, der in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze aufgegriffen werde und der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältig sei, auch wenn dieser Mitgliedstaat gemäß Art. 25 dieses Kodex wegen einer ernsthaften Bedrohung für die öffentliche Ordnung oder seine innere Sicherheit Kontrollen an dieser Grenze wiedereingeführt habe.

21.      Am 27. November 2020 entschied dieses Gericht, dass Art. L. 213‑3‑1 Ceseda, der vorgesehen habe, dass bei der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen einem Ausländer, der unmittelbar aus dem Hoheitsgebiet einer Vertragspartei des Schengener Übereinkommens komme, gemäß Art. L 213‑2 Ceseda die Einreise verweigert werden könne, wenn er in den europäischen Teil des französischen Hoheitsgebiets eingereist sei, indem er unberechtigt eine Binnengrenze auf dem Land überschritten habe und in einem Gebiet zwischen dieser Grenze und einer zehn Kilometer dahinter gezogenen Linie kontrolliert worden sei, gegen die Richtlinie 2008/115 in der Auslegung des Gerichtshofs der Europäischen Union im Urteil Arib u. a. verstoße.

22.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts übernimmt Art. L. 332‑3 Ceseda, der Gegenstand der bei ihm in dieser Rechtssache anhängigen Klage sei, nicht die Bestimmungen von Art. L. 213‑3‑1 Ceseda, so dass Art. L. 332‑3 Ceseda nicht die Rechtskraft missachte. Jedoch sehe Art. L. 332‑3 Abs. 2 Ceseda vor, dass in dem Fall, dass Kontrollen an den Binnengrenzen unter den in Titel III Kapitel II des Schengener Grenzkodex vorgesehenen Voraussetzungen wieder eingeführt worden seien, bei der Durchführung von Kontrollen an den Binnengrenzen die Einreise verweigert werden könne.

23.      Das vorlegende Gericht ist der Auffassung, dass zu entscheiden sei, ob in einem solchen Fall einem Drittstaatsangehörigen, der unmittelbar aus dem Hoheitsgebiet einer Vertragspartei des Schengener Übereinkommens komme und sich bei einer zugelassenen Grenzübergangstelle melde, ohne im Besitz der für eine Erlaubnis zur Einreise nach Frankreich oder für das Recht, sich dort aufzuhalten, erforderlichen Dokumente zu sein, die Einreise nach Art. 14 des Schengener Grenzkodex verweigert werden könne, ohne dass die Richtlinie 2008/115 Anwendung finde.

24.      Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État (Staatsrat) mit Entscheidung vom 24. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 1. März 2022, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Kann im Fall der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen gemäß Titel III Kapitel II des Schengener Grenzkodex einem Ausländer, der unmittelbar aus dem Hoheitsgebiet einer Vertragspartei des Schengener Übereinkommens kommt, bei den an dieser Grenze durchgeführten Kontrollen die Einreise nach Art. 14 dieses Kodex verweigert werden, ohne dass die Richtlinie 2008/115 Anwendung findet?

25.      Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens, der Défenseur des droits (Bürgerbeauftragter), die französische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben Erklärungen abgegeben. Diese Parteien haben in der Sitzung vom 19. Januar 2023 mündlich verhandelt.

 Würdigung

26.      Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen ob im Fall der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen unter den in Titel III Kapitel II des Schengener Grenzkodex vorgesehenen Voraussetzungen Art. 14 dieses Kodex oder die Richtlinie 2008/115 Anwendung findet.

27.      Ich weise vorab darauf hin, dass es nicht darum geht, die Rechtmäßigkeit der Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen festzustellen, sondern nur die Folgen einer solchen Wiedereinführung(9).

28.      Ich schlage dem Gerichtshof vor, zu antworten, dass die Richtlinie 2008/115 Anwendung findet, Art. 14 des Schengener Grenzkodex dagegen nicht anwendbar ist. Dieses Ergebnis ergibt sich meines Erachtens aus der Argumentation des Gerichtshofs in den Rechtssachen, in denen die Urteile Affum und Arib u. a ergangen sind.

 Zur Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/115

29.      Ziel der Richtlinie 2008/115 ist nach ihrem Art. 1 die Festlegung gemeinsamer Normen und Verfahren, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten und dem Völkerrecht anzuwenden sind. Aus dem vierten Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergibt sich, dass sie eine wirksame Rückkehrpolitik als notwendigen Bestandteil einer gut geregelten Migrationspolitik mit klaren, transparenten und fairen Vorschriften unterlegen soll.

30.      Der in ihrem Art. 2 festgelegte persönliche Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 ist weit(10). Nach ihrem Art. 2 Abs. 1 findet die Richtlinie auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige Anwendung. Der Begriff „illegaler Aufenthalt“ wird in Art. 3 Nr. 2 dieser Richtlinie definiert als „die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Artikel [6] des Schengener Grenzkodex[(11)] oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats“(12). Aus dieser Definition geht hervor, dass jeder Drittstaatsangehörige, der sich, ohne die Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt zu erfüllen, im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet, schon allein deswegen dort illegal aufhältig ist, ohne dass Voraussetzungen für die Mindestdauer einer solchen Anwesenheit oder hinsichtlich der Absicht zum Verbleib in diesem Hoheitsgebiet bestünden(13). Darüber hinaus zählt die nur zeitweilige oder vorübergehende Art dieser Anwesenheit auch nicht zu den in Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 genannten Gründen, aus denen die Mitgliedstaaten beschließen können, einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie auszuschließen(14).

31.      Überdies hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Begriffe „illegaler Aufenthalt“ und „illegale Einreise“ im Kontext der Richtlinie 2008/115 miteinander in engem Zusammenhang stehen, weil nämlich die illegale Einreise einen der tatsächlichen Umstände darstellt, der zu einem illegalen Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats führen kann(15). Da ein Drittstaatsangehöriger, der illegal in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats eingereist ist und deshalb als dort illegal aufhältig angesehen wird, also nach Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 – vorbehaltlich ihres Art. 2 Abs. 2 – in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt, ist er den darin vorgesehenen gemeinsamen Normen und Verfahren im Hinblick auf seine Abschiebung zu unterwerfen, sofern sein Aufenthalt nicht gegebenenfalls legalisiert wurde(16).

32.      Nach Art. 2 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 haben die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die Richtlinie in bestimmten, klar umschriebenen Fällen nicht anzuwenden. Nach Art. 2 Abs. 2 Buchst. a kann ein Mitgliedstaat nämlich beschließen, diese nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die einem Einreiseverbot nach Art. 14 des Schengener Grenzkodex(17) unterliegen oder die von den zuständigen Behörden in Verbindung mit dem illegalen Überschreiten der Außengrenze eines Mitgliedstaats aufgegriffen bzw. abgefangen werden und die nicht anschließend die Genehmigung oder das Recht erhalten haben, sich in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten.

33.      Der Gerichtshof hatte bereits die Gelegenheit, klarzustellen, dass aus Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 hervorgeht, dass sich die beiden von dieser Bestimmung erfassten Situationen ausschließlich auf das Überschreiten einer Außengrenze eines Mitgliedstaats, wie in Art. 2 Nr. 2 des Schengener Grenzkodex definiert, beziehen und somit nicht das Überschreiten einer gemeinsamen Grenze von Mitgliedstaaten, die zum Schengen‑Raum gehören, betreffen. Diese Vorschrift kann es somit den Mitgliedstaaten nicht gestatten, illegal aufhältige Drittstaatsangehörige vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 auszuschließen, weil sie illegal über eine Binnengrenze eingereist sind(18). Der Gerichtshof hat darüber hinaus festgestellt, dass hinsichtlich der ersten in Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie genannten Situation feststeht, dass nach Art. 14 des Schengener Grenzkodex nur den Drittstaatsangehörigen die Einreise verweigert wird, die eine Außengrenze überschreiten wollen, um in den Schengen‑Raum einzureisen(19).

34.      Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse kann das Vorbringen der französischen Regierung, wonach ein Drittstaatsangehöriger, dem die Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verweigert worden sei, sich nicht im Hoheitsgebiet eines dieser Mitgliedstaaten befinde, nicht durchgreifen, denn ein solches Vorbringen käme einer einseitigen Beschränkung des Anwendungsbereichs der Richtlinie durch einen Mitgliedstaat gleich. Dieser Mitgliedstaat könnte nämlich einen bereits begründeten Aufenthalt zurücknehmen. Meines Erachtens ist kein Raum für eine solche einseitige Beschränkung des Anwendungsbereichs dieser Richtlinie.

35.      Als vorläufiges Ergebnis ist festzuhalten, dass die Französische Republik nicht auf der Grundlage von Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 beschließen kann, diese Richtlinie auf einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der an einer Grenze aufgegriffen wird, nicht anzuwenden.

36.      Dieser Feststellung füge ich hinzu, dass sie genau der Lösung entspricht, zu der der Gerichtshof gekommen ist, als er entschieden hat, dass die Richtlinie 2008/115 auf die Situation eines Drittstaatsangehörigen anwendbar ist, der in unmittelbarer Nähe einer Binnengrenze aufgegriffen wird und der im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats illegal aufhältig ist, auch wenn dieser Mitgliedstaat gemäß dem Schengener Grenzkodex Kontrollen an dieser Grenze wiedereingeführt hat(20). Meines Erachtens muss dies auch dann gelten, wenn die Person direkt an der Grenze aufgegriffen wird.

37.      Nach diesen Erkenntnissen muss ein Mitgliedstaat die Richtlinie 2008/115 gegenüber jeder an einer Binnengrenze im Schengen-Raum aufgegriffenen Person anwenden.

38.      Die Bestimmungen des Schengener Grenzkodex, einschließlich dessen Art. 14, können diese Feststellung nicht ändern.

 Zur Anwendbarkeit von Art. 14 des Schengener Grenzkodex

39.      Der Schengener Grenzkodex regelt das Überschreiten der Grenzen durch Personen.

40.      Personen sollen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit, beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden. Die kontrollfreie Grenzüberquerung ist faktisch nur möglich, wenn sie jeden betrifft(21). Der Wegfall von Binnengrenzkontrollen erstreckt sich somit infolge des Wesens der Kontrolllosigkeit notwendigerweise auch auf Drittstaatsangehörige(22). Dies bedeutet auch, dass der Zugang über die Außengrenzen der Mitgliedstaaten unter das Unionsrecht fällt.

41.      Art. 14 des Schengener Grenzkodex, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, einem Drittstaatsangehörigen, der nicht die Einreisevoraussetzungen von Art. 6 Abs. 1 des Kodex erfüllt(23), an einer Außengrenze die Einreise in das Hoheitsgebiet zu verweigern, findet keine Anwendung auf eine Binnengrenze, auch nicht – auf der Grundlage von Art. 32 dieses Kodex – entsprechend. Die ratio legis dieser Vorschriften ist nämlich, dass es den Mitgliedstaaten mit Außengrenzen obliegt, darüber zu wachen, dass Drittstaatsangehörige ohne Einreiseberechtigung nicht in den Schengen-Raum eindringen. Sobald solche Drittstaatsangehörigen eingereist sind, obliegt es jedem Mitgliedstaat, nicht die Einreise auf der Grundlage des Schengener Grenzkodex zu verweigern, sondern die Richtlinie 2008/115 anzuwenden.

42.      Dazu kommt, dass die Mitgliedstaaten(24) an den Außen‑ und an den Binnengrenzen nicht die gleichen rechtlichen Interessen verfolgen: Ein Mitgliedstaat, der nach dem Schengener Grenzkodex den Auftrag hat, die Außengrenzen dieses Raumes zu überwachen, handelt im Interesse aller Mitgliedstaaten des Schengen-Raums. Ein Mitgliedstaat, der Kontrollen an den Binnengrenzen wiedereinführt, macht dies im eigenen Interesse(25).

43.      Auf der Grundlage der vorstehenden Erwägungen schlage ich vor, auf die Vorlagefrage zu antworten, dass im Fall der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen unter den in Titel III Kapitel II des Schengener Grenzkodex vorgesehenen Voraussetzungen die Bestimmungen der Richtlinie 2008/115 Anwendung finden. Art. 14 dieses Kodex ist dagegen nicht anzuwenden.

 Abschließende Erwägungen – Möglichkeiten der Mitgliedstaaten nach der Richtlinie 2008/115

44.      Obwohl bei vorübergehender Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen unter Umständen, wie sie vom vorlegenden Gericht beschrieben werden, die Richtlinie 2008/115 Anwendung findet und Art. 14 des Schengener Grenzkodex nicht anwendbar ist, verfügen die Mitgliedstaaten dennoch über mehrere Möglichkeiten, um eine wirksame Rückführung von illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen sicherzustellen.

45.      In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass im Zentrum des Rückführungsverfahrens, das durch die Richtlinie 2008/115 eingeführt wurde, die Rückkehrentscheidung steht, und dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 6 Abs. 1 dieser Richtlinie verpflichtet sind(26), sie gegenüber allen illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen zu erlassen(27). Diese Bestimmung ist der Mittelpunkt der Richtlinie, um den herum die anderen Bestimmungen angeordnet sind(28). Die den Mitgliedstaaten aus den Art. 6 ff. der Richtlinie 2008/115 erwachsenden Pflichten sind anhaltend, kontinuierlich und gelten ununterbrochen in dem Sinne, dass sie automatisch entstehen, sobald die Voraussetzungen dieser Bestimmungen erfüllt sind(29). Mit anderen Worten: Sobald sich ein Drittstaatsangehöriger illegal aufhält und die in Art. 6 Abs. 2 bis 5 dieser Richtlinie genannten Ausnahmen nicht greifen, ist ein Mitgliedstaat verpflichtet, eine Rückführungsentscheidung zu erlassen und sie zu vollstrecken.

46.      Falls ein Drittstaatsangehöriger, gegen den eine Rückführungsentscheidung ergangen ist, eine Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit darstellt, hindert die Richtlinie 2008/115 einen Mitgliedstaat nicht daran, diesen Drittstaatsangehörigen zu inhaftieren(30). In einer solchen Situation wäre der betreffende Mitgliedstaat nicht verpflichtet, eine Frist für die freiwillige Ausreise gemäß Art. 7 Abs. 4 dieser Richtlinie zu gewähren.

47.      Darüber hinaus möchte ich auf Art. 6 Abs. 3 der Richtlinie 2008/115 hinweisen, nach dem die Mitgliedstaaten davon absehen können, eine Rückführungsentscheidung gegen illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältige Drittstaatsangehörige zu erlassen, wenn diese Personen von einem anderen Mitgliedstaat aufgrund von zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie geltenden bilateralen Abkommen oder Vereinbarungen wieder aufgenommen wird.

48.      Führt eine außergewöhnlich große Zahl von Drittstaatsangehörigen, deren Rückführung sicherzustellen ist, zu einer unvorhersehbaren Überlastung der Kapazitäten der Hafteinrichtungen eines Mitgliedstaats oder seines Verwaltungs- oder Justizpersonals, so kann der betreffende Mitgliedstaat dringliche Maßnahmen nach Art. 18 der Richtlinie 2008/115 erlassen.

 Ergebnis

49.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefrage des Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich) wie folgt zu antworten:

Im Fall der vorübergehenden Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen unter den in Titel III Kapitel II der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) vorgesehenen Voraussetzungen findet die Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger Anwendung. Art. 14 dieser Verordnung ist dagegen nicht anzuwenden.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. 2008, L 348, S. 98).


3      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2016, L 77, S. 1).


4      Vgl. Urteile vom 6. Dezember 2011, Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807), vom 5. November 2014, Mukarubega (C‑166/13, EU:C:2014:2336), vom 11. Dezember 2014, Boudjlida (C‑249/13, EU:C:2014:2431), vom 7. Juni 2016, Affum (C‑47/15, im Folgenden: Urteil Affum, EU:C:2016:408), und vom 19. März 2019, Arib u. a. (C‑444/17, im Folgenden: Urteil Arib u. a., EU:C:2019:220).


5      JORF Nr. 315 vom 30. Dezember 2020, Text Nr. 41.


6      Verordnung des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. 2001, L 81, S 1).


7      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. 2009, L 243, S. 1).


8      Richtlinie des Rates vom 28. Juni 2001 zur Ergänzung der Regelungen nach Artikel 26 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 (JO 2001, L 187, S. 45).


9      Diese Rechtmäßigkeit wird im vorliegenden Fall nämlich nicht bestritten.


10      Vgl. auch Lutz, F., „Directive 2008/115/EC of the European Parliament and of the Council of 16 December 2008 on common standards and procedures in Member States for returning illegally staying third-country nationals“, in Hailbronner, K., und Thym, D. (Hrsg.), EU Immigration and Asylum Law – a Commentary, 2. Aufl., 2016, C. H. Beck, Hart, Nomos, München, Oxford, Baden-Baden, Art. 2, Nr. 3.


11      Dieser Art. 6 hat Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. März 2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) (ABl. 2006, L 105, S. 1) ersetzt, auf den Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2008/115 Bezug nimmt.


12      Hervorhebung nur hier.


13      Vgl. Urteil Affum (Rn. 48).


14      Vgl. Urteil Affum (Rn. 48).


15      Vgl. Urteil Affum (Rn. 60).


16      Vgl. Urteil Affum (Rn. 61).


17      Art. 14 des Schengener Grenzkodex hat Art. 13 der Verordnung Nr. 562/2006 ersetzt, auf den Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2008/115 Bezug nimmt.


18      Vgl. Urteil Affum (Rn. 69).


19      Vgl. Urteil Affum (Rn. 70).


20      Vgl. Urteil Arib u. a. (Rn. 67).


21      Vgl. dazu Hoppe, M., in Lenz, C. O., und Borchardt, K.‑D. (Hrsg.), EU-Verträge Kommentar, Bundesanzeiger Verlag, 6. Aufl., Köln, 2013, Art. 77 AEUV, Rn. 5.


22      Vgl. dazu Müller-Graff, P.‑Chr., in Pechstein, M., Nowak, C., Häde, U., (Hrsg.), Frankfurter Kommentar zu EUV, GRC und AEUV, Band II, Mohr Siebeck, Tübingen, 2017, Art. 77 AEUV, Rn. 1.


23      Und der nicht zu dem in Art. 6 Abs. 5 des Schengener Grenzkodex genannten Personenkreis gehört.


24      Es ist darauf hinzuweisen, dass der Ausdruck „Mitgliedstaaten“ nur die Mitgliedstaaten der Union umfasst, die am Schengen-Raum teilnehmen, sowie die daran teilnehmenden Drittstaaten; vgl. auch Erwägungsgründe 21 bis 28 des Schengener Grenzkodex.


25      Vgl. in diesem Sinne auch Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache Arib u. a. (C‑444/17, EU:C:2018:836, Nrn. 58 und 59).


26      Vgl. Urteil vom 6. Dezember 2011, Achughbabian (C‑329/11, EU:C:2011:807, Rn. 31). Zur Verbindlichkeit von Art. 6 der Richtlinie 2008/115 vgl. auch Slama, S., „La transposition de la directive ‚retour‘: vecteur de renforcement ou de régression des droits des irréguliers?“ in Dubin, L., La Légalité de la lutte contre l’immigration irrégulière par l’Union européenne, Bruylant, Brüssel, 2012, S. 289 bis 345, insbesondere S. 330.


27      Diese Pflicht gilt unbeschadet einer Reihe von Ausnahmen, die in Art. 6 Abs. 2 bis 5 der Richtlinie 2008/115 aufgeführt sind. Art. 6 Abs. 6 dieser Richtlinie ermächtigt die Mitgliedstaaten, gleichzeitig mit einer Rückführungsanordnung einen rechtmäßigen Aufenthalt zu beenden.


28      Vgl. auch Hörich, D., „Die Rückführungsrichtlinie: Entstehungsgeschichte, Regelungsgehalt und Hauptprobleme“, Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, 2011, S. 281 bis 286, insbesondere S. 283.


29      Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Szpunar in der Rechtssache Celaj (C‑290/14, EU:C:2015:285, Nr. 50).


30      Vgl. insoweit Urteile Arib u. a. (Rn. 66), und vom 2. Juli 2020, Stadt Frankfurt am Main (C‑18/19, EU:C:2020:511, Rn. 41 ff.).